Kapitel 1a: Jugend – was ist das?

Klagen über einen vermeintlichen, der Jugend angelasteten Sittenverfall gibt es schon so lange wie die romantische Verklärung dieser Lebensphase. Im ersten Extremfall arbeitet man sich kulturpessimistisch an der amoralischen sprichwörtlichen »Jugend von heute« ab. Im zweiten richten sich die Hoffnungen der Gesellschaft auf einen von der jungen Generation getragenen, mal revolutionären, mal stillen Wandel hin zu einem neuen Utopia.

Beide dieser vereinfachenden Standpunkte, der verdammende wie der idealisierende, implizieren nicht nur irrigerweise einen monolithischen Block junger Menschen mit uniformen Wünschen und Bedürfnissen. Sie entlarven die Jugend, um die es hier vermeintlich geht, auch als eine Projektionsfläche, auf der die drängendsten Probleme unserer Zeit abgehandelt werden. Und das sind naturgemäß solche, die von den Jugendlichen selbst am allerwenigsten verursacht worden sind, für die sie aber dennoch kollektiv in Geiselhaft genommen werden: Sei es, weil man ihnen gegenwärtige Lasten aufbürdet oder aber die Verantwortung, die Verfehlungen vorangegangener Generationen wieder wettzumachen. Denn auf Langfristigkeit abzielende politische Entscheidungen (von den Pensionen bis hin zum Klimaschutz) werden regelmäßig pathetisch im Namen einer Jugend legitimiert, die in diesem Fall üblicherweise unter dem Etikett »unserer Kinder und Enkelkinder« auftritt. Die junge Generation muss also für zukünftige Belastungen den Kopf hinhalten, in der Tagespolitik spielt sie aber nur dann eine Hauptrolle, wenn es um jugendpolitische Themen geht – sei es die Herabsetzung des Wahlalters oder die Neuordnung der Gesetzgebungen zum Jugendschutz. In den großen gesellschaftspolitischen Diskussionen hingegen treten Jugendliche, wohl nicht zuletzt auch deswegen, weil ihnen politisch schlagkräftige Interessensvertretungen fehlen, als Interessensgruppe kaum auf. (vgl. Czejkowska 2012: 17) Ein »Youth Mainstreaming«, das heißt die Betrachtung politischer Fragestellungen auch aus einer generationellen Perspektive, findet nicht statt.

Jugendliche Subkulturen als bevorzugte Vergemeinschaftungsformen

Tatsächlich ist die Jugend ein Lebensalter, das heute so heterogen ist wie niemals zuvor. Dies hängt zum einen mit der zunehmenden Verlängerung der Jugendphase zusammen, die sowohl früher beginnt als auch später endet, zum anderen aber auch mit der fortschreitenden Differenzierung innerhalb der Jugend. Zwar hat der sozioökonomische Hintergrund nach wie vor entscheidenden Einfluss auf Lebenschancen wie Lebensstile, dennoch bestimmt er den Lebensstil nicht mehr im gleichen Maße wie noch bis zur Zwischenkriegszeit. Tritt einem in den Romanen der klassischen Moderne, etwa in Robert Musils »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« von 1906 oder in Friedrich Torbergs »Der Schüler Gerber« aus dem Jahr 1930, noch ein in Interessenslagen und in Fragen des Lebensstils relativ homogener Typus des (in diesen beiden Fällen) bürgerlichen Gymnasiasten entgegen, so ist man beim Besuch einer zeitgenössischen Gymnasialklasse mit einer Vielzahl unterschiedlicher Lebensausrichtungen konfrontiert. Reggae-Fans sitzen neben Computernerds, körperbewusste Angehörige der Fitness- oder Beachvolleyball-Szene unterhalten sich in der großen Pause mit Metalheads. Die Angehörigen dieser unterschiedlichen Jugendszenen unterscheiden sich dabei nicht nur in ihrer Kleidung, auch ihre Sprache, ihre Körperbilder, Werthaltungen und Interessen können mitunter höchst verschieden sein. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierte Marcel Proust zur Charakterisierung einer seiner Hauptfiguren, Odette, in seinem Romanwerk »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«: »[S]ie wurde von ihrer Toilette eingehüllt wie von dem zarten, vergeistigten Apparat einer ganzen Kultur.« (Proust 2011: 277) Dieser Satz, der eine Verbindungslinie und Einheit zwischen Tradition, sozialer Position und Lebensstil unnachahmlich beschreibt, würde einem bei der Betrachtung zeitgenössischer jugendkultureller Stilistiken so nicht mehr einfallen.

Denn auch wenn Jugendszenen, wie Skater, Punks oder Hip-Hopper, nicht als rein ästhetische Oberflächenphänomene, sondern auch als Wertegemeinschaften zu verstehen sind, verkörpern sie doch eher, wie man ihn Anlehnung an Proust sagen könnte, einen »schrillen, theatralischen Apparat einer partikulären Kultur«. Sie stellen dabei zwar keinen eindeutig schichtspezifischen Habitus zur Schau und stehen in der Theorie allen Jugendlichen offen. In der Praxis zeigt sich aber, dass Szenen keineswegs Sammelbecken von Jugendlichen ganz unterschiedlicher sozialer Herkunft sind. So finden wir etwa in der alternativen Indieszene vor allem gebildete urbane Mittelschichten vor, während Hip-Hop eher eine Szene der bildungsferneren Milieus darstellt. Gerade wegen ihrer relativen Offenheit spielen Szenen in der Sozialisation Jugendlicher seit den 1950er-Jahren in steigendem Ausmaß eine entscheidende Rolle: Sie helfen den jungen Menschen bei der Ablösung von tradierten kulturellen Schemata, indem sie es ihnen ermöglichen, Zeit in einer Gruppe zu verbringen, in der das Zusammengehörigkeitsgefühl auf Basis spontan geteilter Interessen und Erfahrungen beruht und nicht auf dem historischen Ballast familiärer Bande oder lange zurückweisender Traditionslinien. (vgl. Schäfers/Scherr 2005: 133) Was Jugendszenen diesbezüglich auszeichnet, sind ihre sehr niedrigen Ein- und Austrittsbarrieren. Man kann ein- und wieder aussteigen, wann es einem passt, auch die Zugehörigkeit zu mehreren Szenen, ob gleichzeitig und hintereinander, ist problemlos möglich. Das unterscheidet Jugendkulturen von traditionellen Modi der Vergemeinschaftung – einer Religionsgemeinschaft oder einer Partei tritt man schließlich kaum nach Lust und Laune bei und auch Mehrfachmitgliedschaften sind in beiden Fällen ausgeschlossen. Jugendszenen sind als Orte der Sozialisation auch deswegen so wichtig geworden, weil sie, anders als zu ihren Anfängen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nicht mehr nur einer kleinen Bildungselite vorbehalten, sondern zu einem Massenphänomen geworden sind. War die bündische Wandervogelbewegung noch auf eine kleine Gruppe von (männlichen) Oberschülern und Gymnasiasten beschränkt (vgl. Breyvogel 2005: 13), fühlen sich heute rund drei Viertel der deutschen und österreichischen Jugendlichen mindestens einer Jugendszene zugehörig. (vgl. Institut für Jugendkulturforschung 2012a)

Wie wir aus Gerhard Schulzes Studie zur Erlebnisgesellschaft wissen, sind Lebensstilgemeinschaften kein jugendtypisches Phänomen, sondern prägen auch die Elterngeneration. Auch diese ist in Milieus formiert, die vor allem auf geteilten Lebensstilen und Freizeitpräferenzen fußen. Allerdings weisen diese Milieus, vergleicht man sie mit Jugendszenen, noch eine vergleichsweise starke berufsständische Orientierung auf. So versammeln sich innerhalb des Niveaumilieus etablierte Akademiker, während das Harmoniemilieu die ältere Arbeiterschaft vereint. Deren jugendliche Pendants sind das Selbstverwirklichungsmilieu der Studenten bzw. das Unterhaltungsmilieu der jungen Arbeiter. (vgl. Schulze 2005: 279)

Jugend – eine Erfindung des 20. Jahrhunderts

Einen Begriff von Jugend kannte bereits die Antike. So bezeichnet man den Jugendlichen im Lateinischen als »iuventus«, das Griechische kennt neben dem »pais« (Knaben) auch den »éphebos« (Jüngling). Die griechische Antike unterteilte das Leben in bis zu sieben unterschiedliche Abschnitte, von denen drei weitestgehend mit der heute gebräuchlichen Definition von Jugend übereinstimmen. Das europäische Mittelalter kannte bis zu zehn. Auch in der frühen Neuzeit bezeichnete eine Vielfalt unterschiedlicher Begriffe jenen Lebensabschnitt, der der Kindheit folgt und mit dem Erwachsenenalter abschließt. (vgl. Ferchhoff 2007: 85) Viele dieser historischen Begriffe spiegeln sich nach wie vor in der Gegenwartssprache in der einen oder anderen Art wider, angefangen beim Fußballverein »Juventus Turin« über die »Pädagogik« bis hin zum Fachbegriff der »Ephebophilie«, der das sexuelle Hingezogensein zu Heranwachsenden bezeichnet.

Obwohl die Begrifflichkeiten bis in die Antike zurückreichen, bildete sich erst zur Wende vom 19. zum 20 Jahrhunderts ein moderner Jugendbegriff heraus, der bis in die Gegenwart hinein nachwirkt und der die Jugend nicht nur als ein Abstraktum kennt, sondern sie als eine sozial und kulturell eigenständige Lebensphase beschreibt. Wegbereiter dieses Konzepts war der US-amerikanische Psychologe G. Stanley Hall (1844–1924). Er definierte die Jugendphase als jene, innerhalb derer junge Menschen im formalen Bildungssystem verbleiben sollten. Diese Altersspanne setzt er bei rund 14 bis 21 Jahren fest. Dieses Lebensalter, so Hall in Anlehnung an Rousseau, sei das einer Zügellosigkeit, die sich nicht nur in der Sexualität, sondern auch in der Kriminalstatistik niederschlage. Deswegen plädierte er dafür, diese gesellschaftsschädigenden Impulse ihrer Entfaltungsmöglichkeiten dadurch zu berauben, indem man die Jugendlichen unter pädagogische Obhut stellt, um deren Triebe besser kontrollieren und einhegen zu können. Solange sich Jugendliche in der Schule aufhielten, könnten sie weder ihren Sexualtrieb ungehemmt ausleben, noch sich kriminellen Aktivitäten widmen. (vgl. Savage 2008: 83) Sein Projekt verstand sich folglich sowohl als eines der Bildung als auch der Zivilisierung. Das Bildungssystem sollte destruktive Triebe zügeln und gleichzeitig für die Gesellschaft nützliche Individuen hervorbringen.

An diesem Ansatz ist zweierlei bemerkenswert: Erstens basiert Halls Definition nicht alleine auf entwicklungsbiologischen Überlegungen, sondern weist erstmals explizit auf die soziale Konstruktion der Lebensphase Jugend hin. Zweitens klingt in seiner Argumentation eine Debatte an, die bis zum heutigen Tage nicht abgeschlossen ist: Jene über die Freiräume, die man der Jugend gewährt bzw. das Ausmaß an Kontrolle, das man für zweckmäßig hält, über sie auszuüben. Gegenwärtig begegnen wir ganz ähnlichen Argumenten in der intensiv geführten Diskussion um die verpflichtende Ganztagsschule. Wer mehr Zeit in der Schule verbringe, so deren Befürworter, verbringe gleichzeitig weniger Zeit mit im besten Fall sinnfreien oder im schlimmsten Fall gefährlichen Beschäftigungen. Als sinnfrei gelten ehedem hochgradig wertgeschätzte Zeiträume der Kontemplation, der Muße oder des Dolcefarniente. Diese werden zunehmend beschnitten, da man sich in ihnen keine auf den ersten Blick arbeitsmarktfähigen Kompetenzen aneignet. Unter gefährliche Beschäftigungen fallen gegenwärtig, anders als zur letzten Jahrhundertwende, weniger unmittelbar delinquentes Verhalten als der exzessive Medienkonsum (TV, gewalttätige Filme oder Computerspiele, der Zeitvertreib in sozialen Netzwerken etc.) mit seinen vermeintlich schädlichen Folgen. Auch heute wird, wie schon ehedem bei Hall, eine scharfe Trennlinie zwischen produktiver und destruktiver Freizeit gezogen. Destruktive Freizeit ist dabei jene, die unbeaufsichtigt, produktive Freizeit ist solche, die unter Beaufsichtigung stattfindet und die vor allem dem Kompetenzerwerb dienen soll, sei es in der Schule, oder bei organisierten Freizeitangeboten. Letztlich unterscheiden sich lediglich die Vorzeichen: Hall wollte mit der fortschreitenden Pädagogisierung des Jugendalters die Kriminalität bekämpfen, in unserer Zeit hingegen stellt die Unproduktivität das größte Übel dar.

Die Jugendphase dehnt sich aus

In Deutschland ist nach dem Gesetz Jugendlicher, wer schon 14 aber noch nicht 18 Jahre alt ist. Auch in Österreich werden als Jugendliche all jene Menschen bezeichnet, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. In einigen Bundesländern wird zusätzlich noch zwischen Kindern (bis zum vollendeten 14. Lebensjahr) und Jugendlichen (ab dem 14. bis zum 18. Geburtstag) differenziert. Versteht man Jugend allerdings nicht alleine als eine durch strikte Ober- und Untergrenzen fest umrissene, standardisierte Alterskohorte, sondern als eine Lebensphase, die auch sozial, ökonomisch und kulturell geprägt und geformt ist, scheint die Abgrenzung des Kindes- vom Jugendalter genau wie jene des Jugend- vom Erwachsenenalter viel weniger eindeutig. Unter diesem Gesichtspunkt dehnt sich die Lebensphase Jugend je nach situativen Umständen mehr oder weniger aus. Die jeweiligen Übergänge von der einen in die nächste Phase sind zudem flüssig und unscharf und entziehen sich einer präzisen Datierung. Auch deswegen kann man nicht von »der Jugend« als einem monolithischen Block ausgehen, denn wie lange jemand als jugendlich gilt und auch, wie lange er oder sie sich selbst als jugendlich wahrnimmt, unterscheidet sich von Fall zu Fall deutlich. Als generelle Tendenz lässt sich dennoch feststellen, dass die Jugend immer länger andauert. Sie beginnt immer früher und endet immer später. Schon 11-Jährige sehen sich selbst oft nicht mehr als Kinder, so mancher 25-Jähriger hingegen betrachtet sich noch nicht als vollständig erwachsen, weil er oder sie noch einen jugendlichen Lebensstil pflegt. Auch in der zeitgenössischen Jugendforschung wird nicht mit einer einheitlichen Jugenddefinition gearbeitet, wie man an den Untersuchungsgruppen der größten deutschen und österreichischen Jugendstudien feststellen kann. Während die im Jahr 2010 zum letzten Mal durchgeführte Jugendstudie der Deutschen Shell auf die Altersgruppe der 12- bis 25-Jährigen fokussiert (vgl. Deutsche Shell 2011), untersucht die österreichische Jugend-Wertestudie 2011 das Segment der 14- bis 29-Jährigen. (vgl. Institut für Jugendkulturforschung 2012b)

Für diese Entwicklung ist eine Vielzahl von Gründen verantwortlich. Die finanzielle Selbstständigkeit, das Hineinwachsen in eine Konsumentenrolle, das Einnehmen einer politischen Bürgerrolle und Heirat bzw. Familiengründung gelten idealtypisch als jene Statuspassagen, die der junge Mensch zu durchlaufen hat, um vom Jugendlichen zum Erwachsenen zu werden. Aber diese Ereignisse finden heute durchschnittlich viel früher statt (jedoch nicht bei der Übernahme der Konsumenten- und der Bürgerrolle, die mit dem aktiven Wahlrecht eingenommen wird), liegen zeitlich weit auseinander oder sind im Lebenslauf gar nicht mehr eindeutig verortbar. Dies wird etwa darin deutlich, wenn junge Erwachsene noch zum Teil auf die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern angewiesen sind, weil sie sich in Ausbildung befinden. Der deutsche Jugendforscher Klaus Hurrelmann spricht deswegen davon, dass die Jugendphase vor allem durch Statusinkonsistenz, also ein Noch-Nicht-Festgelegt-Sein auf eine bestimmte Rolle, gekennzeichnet ist. Während man in einigen Lebensbereichen erwachsen agiert, indem man etwa an Wahlen teilnimmt, steht man mit dem anderen Bein, etwa finanziell, noch nicht in der Selbstständigkeit. (vgl. Hurrelmann 2005: 39)

Schon G. Stanley Hall plädierte Ende des 19. Jahrhunderts dafür, möglichst viele junge Menschen möglichst lange in den pädagogischen Institutionen verweilen zu lassen und schlug vor, eben diesen Zeitraum als »Jugend« zu bezeichnen. (s. o.) In diesem Punkt hat er die Gegenwart bis zu einem gewissen Grad vorweggenommen, denn junge Menschen verbleiben aufgrund der Bildungsexpansion immer länger in Ausbildungszusammenhängen. Da aber Arbeitsplätze gerade für Junge in vielen europäischen Ländern knapp sind (man denke hier an die im Zuge der Krisen seit 2008 explodierten Jugendarbeitslosigkeitszahlen in Spanien, Griechenland, Portugal etc.), verschiebt sich die Aufnahme einer Erwerbsarbeit und damit die finanzielle Selbstständigkeit auf einen immer späteren Zeitpunkt. Gleichzeitig ist es aber für viele Schülerinnen und Schüler selbstverständlich, neben der Schule oder in den Ferien zu arbeiten und dabei eigenes Geld zu verdienen. Damit wachsen junge Menschen sehr früh in die Konsumentenrolle hinein, ohne dabei aber finanziell vollständig auf eigenen Beinen zu stehen – ein weiterer Aspekt, der als Voraussetzung für das Erwachsensein erachtet wird. Mit der immer späteren wirtschaftlichen Unabhängigkeit, aber auch mit einem generell harmonischen Verhältnis zu den eigenen Eltern, geht wiederum einher, dass man Komfort und Versorgungslage im »Hotel Mama« (in seltenen Fällen auch im »Hotel Papa«) wieder zu schätzen beginnt und immer später von zu Hause auszieht. Vor allem junge Männer gründen häufig erst in der zweiten Hälfte des dritten Lebensjahrzehnts einen eigenen Haushalt. Rund drei Viertel der 20- bis 24-Jährigen und immer noch mehr als ein Drittel der 25- bis 29-Jährigen von ihnen wohnt noch mit (zumindest) einem Elternteil zusammen. Unter den jungen Frauen beträgt dieser Anteil lediglich 55 Prozent bei den 20- bis 24-Jährigen und weniger als 20 Prozent bei den 25- bis 29-Jährigen. (vgl. Statistik Austria 2011)

Auch beim durchschnittlichen Erstheiratsalter und beim Zeitpunkt, an dem das erste Kind auf die Welt kommt, macht sich der Trend einer länger andauernden Jugendphase statistisch bemerkbar. Lag das mittlere Erstheiratsalter der Frauen im Jahr 1961 noch bei 21,9 Jahren, stieg es bis 2010 kontinuierlich auf 29,3 Jahre an. Und während die Männer 1961 bei ihrer ersten Heirat im Mittel 24,8 Jahre alt waren, betrug dieser Wert im Jahr 2010 bereits 31,9 Jahre. (vgl. Statistik Austria 2012: 79) Gerade bei Heirat und Familiengründung stellt sich aber die Frage, inwieweit diese in einer Zeit, in der immer mehr Menschen bewusst auf Heirat und/oder eigene Kinder verzichten, als aussagekräftige Indikatoren für das Erwachsensein gewertet werden können. Denn diese beiden Ereignisse sind inzwischen nicht mehr unbedingt Teil der Normalbiografie, sondern bleiben weitestgehend der Disposition des oder der Einzelnen überlassen.

Ein weiterer Grund für die Ausdehnung der Jugendphase liegt auf der Ebene der Kultur. Da die typischen Statuspassagen: finanzielle Selbstständigkeit, Übernahme einer Konsumenten- und Bürgerrolle und Familiengründung, anders als ehedem zeitlich sehr weit auseinanderliegen können oder, im Falle der Familiengründung, teils gar nicht mehr vollzogen werden, verbleiben die jungen Menschen verhältnismäßig lange in einer statusinkonsistenten Grauzone zwischen dem Jugendlich- und dem Erwachsensein. Trotz Volljährigkeit (aus juristischer Perspektive) orientieren sie sich dabei kulturell weiterhin an den Stilwelten und Ästhetiken von Jugendkulturen, anstatt sich den »erwachsenen« Lebensstilen der Elterngeneration anzunähern – wobei es gerade im Falle der aktuellen Elterngeneration fraglich ist, inwieweit diese überhaupt noch stereotype »erwachsene« Lebensstile an den Tag legt. Eine 26-jährige Studentin etwa mag zwar schon von zu Hause ausgezogen sein, wird in ihrem Studium aber noch von den Eltern unterstützt und möchte sich zuerst auf dem Arbeitsmarkt etablieren, bevor sie eine Familie gründet. Ein junger Selbstständiger von 22 Jahren kann zwar schon früh geheiratet haben, lebt aber weiterhin in finanziell unsicheren Verhältnissen und wohnt deswegen noch, zusammen mit seiner Frau, in einer abgetrennten Wohnung im Haus seiner Eltern. Beide fühlen sich vielleicht nicht mehr vollständig als Jugendliche, aber auch nicht komplett erwachsen. Sie besuchen die gleichen Lokale wie in ihrer Jugendzeit, hören noch die gleiche Musik, tragen jugendlich anmutende Kleidung oder fühlen sich sogar noch einer Jugendszene zugehörig. So deklarieren sich etwa drei Viertel der deutschen und österreichischen 16- bis 19-Jährigen als Angehörige einer Jugendszene und im Alterssegment der 20- bis 29-Jährigen beträgt dieser Anteil immer noch rund 70 Prozent, in einem Alter also, in dem man noch vor 50 Jahren klar der Welt der Erwachsenen zugerechnet worden wäre. (vgl. Institut für Jugendkulturforschung 2012a)

Die ewige Jugend und das Steigerungsspiel

Das Phänomen der Herausbildung unterschiedlicher jugendkultureller Stile und deren weite Verbreitung seit den 1950er-Jahren betrifft somit mittelbar nicht alleine die Altersgruppe der unter 30-Jährigen. Die Unterschiede zwischen Jugendlichen, jungen und nicht mehr ganz jungen Erwachsenen werden zunehmend kleiner. Denn die Gesellschaft an sich sowie deren Wahrnehmung von Jugendlichkeit haben sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Lange Zeit galten Kinder und Jugendliche als noch nicht ganz vollständige Erwachsene: Sie hatten sich wie Erwachsene zu benehmen und aufzutreten, auch in Kleidung und Beschäftigungen unterschieden sie sich kaum von den erwachsenen Vorbildern. Man denke etwa an die Darstellung von Kindern in der Malerei vergangener Jahrhunderte: So etwas wie eine Jugendmode gab es damals einfach nicht. Die Kindheit und die Jugendphase war vor allem eine, in der für das Erwachsensein geübt wurde. Sie war das Trainingsgelände dafür, sich die sozialen Codes und Umgangsformen der Erwachsenenwelt anzueignen. Typisch jugendliche Verhaltensweisen existierten nicht, oder man musste sich diese so schnell wie möglich abgewöhnen. Seit aber die Jugend als eine eigene, distinkte Lebensphase etabliert ist, pflegen junge Menschen Lebensstile, die sich von jenen der Erwachsenen unterscheiden dürfen oder gar müssen. Idealtypisch hat der oder die Erwachsene Verantwortung zu übernehmen, während dem oder der Jugendlichen zugestanden wird, sich auszuprobieren und im Experimentieren mit unterschiedlichen Möglichkeiten eigenverantwortlich einen Platz in der Welt zu finden. Diese strikte Differenzierung zwischen Jugendlichkeit und Erwachsenenleben beginnt sich in der Postmoderne mit ihrer Fetischisierung der Jugendphase aufzulösen. Auf der einen Seite wird inzwischen auch Jugendlichen abgefordert, Verantwortung für die eigene Lebensplanung zu übernehmen. Über die Gestaltung der Zukunft entscheiden nicht mehr die Familiengeschichte und in den meisten Fällen auch nicht die Eltern, sondern die Jugendlichen werden selbst in die Verantwortung genommen. Auf der anderen Seite verstehen aber auch die Erwachsenen in Zeiten der neoliberalen Flexibilisierung aller Lebensbereiche ihr Dasein als ein immerwährendes Entwicklungsprojekt. Vormals Wünschenswertes und typisch Erwachsenes, wie Stabilität, Kontinuität, langfristige Planungssicherheit, gelten gegenwärtig eher als Hemmschuhe denn als Garanten für eine gelungene Lebensführung. An ihre Stelle treten lebenslanges Lernen, regelmäßige berufliche Neuorientierungen und Partnerschaften auf Zeit (»Lebensabschnittspartnerschaften«), also, je nach Sichtweise, Privilegien oder Lasten, die einst nur jungen Menschen zugestanden wurden.

Dahinter steht eine Logik der ständigen Selbstoptimierung, die der deutsche Soziologe Gerhard Schulze mit der Metapher des »Steigerungsspiels« als einen der Grundzüge moderner Gesellschaften beschreibt. Endgültige Ziele existieren nicht mehr, denn »[c]harakteristisch für die Steigerungslogik ist die Vorläufigkeit aller Zielvorstellungen. Worauf immer sich die Absichten richten mögen, es handelt sich nur um Durchgangsstationen, Zwischenziele, Stufen nach oben, die man wohl bald hinter sich lassen wird. Das jeweils nächstliegende Ziel wird die Plattform sein, von der aus das übernächste Ziel bestimmt wird. Die Ziele der Steigerungslogik ergeben sich aus einer unendlichen Serie nach oben offener Wertvergleiche.« (Schulze 2004: 93) Der Begriff der Steigerungslogik, zumindest im Geltungsbereich des privaten Lebensvollzuges, wirkt insofern verwirrend, weil das hier beschriebene »Mehr« nicht unbedingt nach einem quantitativen Mehr im Sinne von »mehr Geld, ein größeres Haus, ein teureres Auto« ausgerichtet sein muss. Lässt sich diese Rechnung noch in der Ökonomie, wo simples Wachstum des BIP nicht ausreicht, sondern das Wachstum zweiter Ordnung (als Wachstum des Wachstums) der entscheidende Indikator für wirtschaftliche Prosperität verstanden wird, noch relativ eindeutig aufstellen, wird dies in der Sphäre des Privatlebens schon schwieriger. Denn hier steht ein mittels statistischer Indikatoren und Kennzahlen nicht messbares, subjektives Mehr an Glück im Vordergrund. Und gerade die postmaterialistisch eingestellten Jugendlichen finden dieses Mehr an Glück nicht im Besitz.

Da den ideologieskeptischen, undogmatischen Jugendlichen die durch Stand und Herkunft weitestgehend vorgegebenen Wege nicht mehr zu Verfügung stehen, müssen sie ständig zwischen den ihnen angebotenen alternativen Möglichkeiten auswählen. Der älteste Sohn des Bauern übernimmt nicht mehr wie selbstverständlich den Hof, der Anwaltssohn nicht mehr die Kanzlei. Die Mädchen warten nicht mehr darauf, verheiratet zu werden. Noch komplizierter wird es, wenn Glück (zumindest theoretisch) auch über ein quantitatives Weniger erreicht werden kann: Der allerorts geäußerte Neujahrsvorsatz, sich fortan stärker auf »das Wesentliche« konzentrieren zu wollen, sowie das Modeschlagwort des »Downshifting« legen Zeugnis von dieser Denkweise ab. Die Vielfalt an Möglichkeiten stellt den jungen Menschen von heute auch auf der Jagd nach dem Glück vor den Zwang, sich zwischen sehr unterschiedlichen, kaum vergleichbaren Alternativen zu entscheiden und erweckt in ihm damit auch die Angst, die falsche Wahl zu treffen.

In der langfristigen Lebensplanung gerade der Bildungsschichten lautet eine gängige Strategie, diesen Glückszuwachs auf dem Weg der ständigen Veränderung der eigenen Lebensumstände, die mit einer Akkumulation (also wiederum einem, wenn auch ideellen, Mehr) unterschiedlicher Erfahrungen einhergehen sollen, anzustreben. Ziel eines solchen Lebensweges soll die persönliche Weiterentwicklung sein, die man in einer andauernden Veränderung der Lebenssituation zu erreichen sucht. Freilich müssen Fragen nach faktischem Glücksgewinn dabei immer unbeantwortet bleiben, weil sich subjektive Gefühle naturgemäß nicht mit aus der ökonomischen Sphäre entlehnten Modellen messen lassen. Momente des Glücks werden schal angesichts verpasster Chancen oder gar der Aussicht nach noch mehr Glück, mit einem anderen Partner, einem anderen Job oder dem Leben in einer anderen Stadt. Damit ist Veränderungsbereitschaft, die vormals ein Privileg der Jugend war, inzwischen zu einer Pflicht für jeden Einzelnen, ob jung oder alt, geworden. Sie gilt als Grundvoraussetzung für ein gelungenes Leben, denn nur wer sich verändert, wird die sich ihm bietenden Chancen flexibel erkennen und nützen können. Der bewahrende Mensch kann und will das Steigerungsspiel nicht mitmachen. Am Ende des Entwicklungsprojekts Jugend stand ehedem der »fertige Erwachsene«, den es nicht mehr gibt. Vielmehr endet das Projekt der Selbstvervollkommnung im Idealfall erst mit dem Tod, denn: Besser geht es immer.

Jugend als Vorbild

Aus der Perspektive der Maximierung des Glücks verläuft das Leben nicht mehr teleologisch, also auf ein bestimmtes Ziel hin orientiert, sondern als ergebnisoffener Prozess. Demgemäß stehen im Zentrum allen Strebens keine Zielwerte mehr, sondern bestenfalls Verfahrenswerte. Ein endgültiges Ziel ist nicht mehr in Sicht. Die Frage nach dem gelungenen Leben ist somit eine des »Wie«, nicht des »Wohin«. Unter diesem Paradigma geraten Jugendliche zunehmend (und unfreiwillig) in die Rolle kultureller Meinungsführer – denn typischerweise jugendlich konnotierte Eigenschaften wie Belastbarkeit und Flexibilität gelten schon lange nicht mehr lediglich im Berufsleben als essenziell. Sie sind zu kulturellen Leitwerten geworden, indem sie inzwischen Schlüsselanforderungen für alle Lebensbereiche darstellen. So fordert etwa eine exemplarische Stellenausschreibung im Öffentlichen Dienst neben einem abgeschlossenen Hochschulstudium auch »Eigenverantwortlichkeit und Kooperationsbereitschaft, Innovationsbereitschaft, Durchsetzungsfähigkeit und Belastbarkeit«. (Die ZEIT 2013: 80) Einen Hinweis für den Grund dieses Bedeutungswandels von Jugend findet man bei der amerikanischen Ethnologin Margaret Mead. In ihrem 1970 erschienen Buch »Culture and Commitment« (deutsch: »Der Konflikt der Generationen. Jugend ohne Vorbild«) setzt sie sich aus ethologischer Perspektive mit der Entwicklung von Zivilisationen und mit den damit einhergehenden Veränderungen der Machtverhältnisse zwischen Jung und Alt auseinander und konstatiert dabei einen Kulturwandel zugunsten der Jungen.

Die Vergangenheit: Jugend ohne Einfluss

Zentral in Meads Konzept ist das Tempo der Entwicklung von Wissensbeständen, die sie in engem Zusammenhang mit der Entwicklung ganzer Kulturen sieht. Ihr zufolge verläuft die Entwicklung von Kulturen typischerweise in drei Phasen, wobei die jeweils aktuelle Phase ihre Vorstufen nicht spurlos ablöst. Vielmehr verläuft der Prozess insofern evolutionär, als der Status quo immer auch Merkmale der eigenen Vergangenheit in sich trägt, wenn auch diese Merkmale zunehmend in den Hintergrund treten und kulturell an Bedeutung verlieren. (vgl. Mead 1973)

Traditionelle Kulturen beschreibt Mead als postfigurative Kulturen. Solche Kulturen kennzeichnet ein verhältnismäßig langsamer Zuwachs an Wissen und eine große Konstanz innerhalb der jeweils verfügbaren Wissensbestände. Ihre Angehörigen berufen sich auf einen durch Tradition überlieferten, oft mythologischen Erkenntnisschatz, der von Generation zu Generation weitestgehend unverändert weitergegeben wird. Einmal Gelerntes behält somit über die gesamte eigene Lebensspanne hinweg seine Gültigkeit. In einer solchen Kultur lernen die (unerfahrenen) Jungen von den (erfahrenen) Alten. Alte Menschen genießen großen Respekt, da sie aufgrund ihres langen Lebens größere Anteile des bestehenden Wissens kennen. Damit können sie in allen Fragen des praktischen Lebens konsultiert werden. Da sich die Gegenwart nur unwesentlich von der Vergangenheit unterscheidet, solche Kulturen also als statisch beschrieben werden können, gelten die Lösungskonzepte der Vergangenheit in der Gegenwart noch genau so wie ehedem. Da sich Vergangenheit und Zukunft nicht voneinander unterscheiden, geht der postfigurative Mensch davon aus, dass die Zukunft nicht viel Neues bringen und sich von der Gegenwart kaum unterscheiden werde. Postfigurative Stereotypen wären etwa der weise Karatemeister, der nicht nur in Fragen des Karates allzeit Bescheid weiß, oder der »Großvater« aus dem gleichnamigen Lied der Austropopper STS.

Die darauf folgende Stufe nennt Margaret Mead »kofigurative Kulturen«. Hier geht der kulturelle Wandel zwar schneller vor sich als in postfigurativen Kulturen, er bleibt aber überschaubar genug, um sich an der eigenen Generation orientieren zu können. Man geht zwar nicht mehr davon aus, dass sich Gegenwart und Zukunft gleichen würden, der Wandel erscheint aber als kontrollierbar, wodurch sich die Zukunft letztlich nur als eine optimierte Gegenwart darstellt. Demzufolge herrscht insbesondere in kofigurativen Kulturen ein expliziter Zukunftsoptimismus vor.

Die Zukunft: Jugend ohne Vorbilder

Auf die kofigurative folgt schlussendlich die präfigurative Kultur, deren Eintritt Mead auf die 1970er-Jahre datiert. Präfigurative Kulturen sind durch rasenden Wandel gekennzeichnet. Betrachtet man den (zumindest quantitativen) Wissenszuwachs und die immer kürzer werdende Halbwertszeit von Wissen in der Gegenwart, so ist man geneigt, ihrer Diagnose zuzustimmen. Besonders deutlich zeigt sich das präfigurative Element im Feld der Technologie. Die schulischen Informatik-Lehrpläne der späten 1990er-Jahre sind heute nicht nur buchstäblich aus dem letzten Jahrhundert, die Rechenleistung der damaligen Computer wird von winzigen Mobiltelefonen der aktuellen Generation bei Weitem übertroffen. Ähnlich verhält es sich mit der Popkultur, in der der letzte Schrei ebenso schnell verklingt, wie er zuvor von der postmodernen Kulturindustrie mittels raffinierter Marketingstrategien zum nächsten Hype aufgeblasen wurde.

Eine solche Kultur ist durch zweierlei Aspekte gekennzeichnet: Erstens entgleitet ihren Angehörigen das Gefühl der Vorhersehbarkeit und der Planbarkeit von Zukunft. Gilt in der Postfigurativität noch das Prinzip Zukunft = Gegenwart, in der Kofigurativität Zukunft > Gegenwart, so lautet die Gleichung heutzutage Zukunft ≠ Gegenwart. Worin sich das Morgen vom Heute unterscheiden könnte, ob es besser oder schlechter sein wird als eben dieses Heute, vermag niemand verlässlich zu prognostizieren. Der deutsche Soziologe Heinz Bude beschreibt diese zunehmende Ungewissheit in seinem Buch »Die Ausgeschlossenen« wie folgt: »[Die] soziale Stufenleiter ist überhaupt glitschiger geworden. Der Absturz scheint von überall möglich. Natürlich gibt es schützende Ressourcenausstattungen in Form von Vermögensrücklagen, Bildungstiteln und nützlichen Freunden, aber das Vertrauen, der Lebensverlauf halte sich im Positiven wie im Negativen im Rahmen erwartbarer Wahrscheinlichkeiten, ist offenbar abhanden gekommen.« (Bude 2008: 33) Das bedeutet nicht, dass die Zukunft in der Vergangenheit tatsächlich minutiös geplant werden konnte. Dem modernen Menschen kommt lediglich das Zutrauen in die eigene Selbstwirksamkeit abhanden, da er sich nicht einmal mehr der beruhigenden Illusion von Berechenbarkeit hingeben kann. Dies gilt für den Lauf der großen Welt ebenso wie für jenen des eigenen Lebens. Auch dies ist ein Grund für die Dominanz von relativen Verfahrens- gegenüber absoluten Zielwerten. Denn es steht nicht mehr alleine das Erreichen des Ziels infrage, sondern auch, ob einem das, was heute als erstrebenswert gilt, morgen, übermorgen oder gar in zehn Jahren immer noch attraktiv erscheint oder nicht.

Zweitens verschiebt sich die kulturelle Meinungsführerschaft zunehmend von den Alten zu den Jungen. Wenn auch junge Menschen heute genau so wenig wie früher über reale Macht in Politik und Wirtschaft verfügen (es sei denn als jene Zielgruppe, die die Trends setzt), so orientieren sich ältere Menschen in vielen Lebensbereichen an jüngeren, was ein historisch neuartiges Phänomen darstellt. Anders als in vormaligen Zeiten ist das Jugendalter keine kurze Phase des Übergangs von der Kindheit zum Erwachsenenalter mehr, Jugendlichkeit an sich ist zu einem Ideal geworden, dem man so lange wie möglich anhängt und nachzueifern sucht. Typisch jugendliche Eigenschaften wie Flexibilität und Belastbarkeit gehören (anders als postfigurative Tugenden wie Weisheit, Lebenserfahrung oder Besonnenheit) heute in jede bessere Stellenausschreibung. Kontinuität ist als Statik verschrien, permanente Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft (auch das ein ehedem typisches Privileg der Jugend) wird als das neue Leitbild einer gelungenen Lebensgestaltung propagiert. Junge Gesichter strahlen uns von jedem Werbeplakat entgegen und Menschen weit jenseits der 60 werden vom Marketing als »Junggebliebene« adressiert. Das Prädikat »alt« wird überhaupt nur mehr pejorativ gebraucht. Die Gegenwartsjugend hat die kulturelle Herrschaft übernommen.

Aus diesen Ausführungen wird aber auch deutlich, dass innerhalb einer Gesellschaft mehrere kulturelle Schemata parallel nebeneinander existieren können, ja dass dies sogar den Normalfall darstellt. Innerhalb unterschiedlicher gesellschaftlicher Felder dominieren nach wie vor jeweils verschiedene kulturelle Paradigmen. Der Macht der Jungen im Konsum und in vielen Bereichen, die vormals Erwachsenen vorbehalten waren (man denke etwa an den inzwischen selbstverständlichen Einsatz zeitgenössischer Popmusik und Videoinstallationen in Theaterinszenierungen), steht nach wie vor eine Ohnmacht in den Sphären der Wirtschaft und Politik gegenüber. Das Postfigurative besteht zudem auch in Nischen von Gesellschaften mit ansonsten präfigurativem Mainstream fort: So lässt sich etwa die katholische Kirche immer noch eindeutig der Sphäre der postfigurativen Kultur zuordnen.