Impressum

Die amerikanische Originalausgabe The Gray Man erschien 2009 im Verlag Jove Books.

Copyright © 2009 by Mark Strode Greaney

1. Auflage Oktober 2015

Copyright © dieser Ausgabe 2015 by Festa Verlag, Leipzig

Lektorat: Alexander Rösch

Titelbild: Panthermedia (Bildnummer: 9219830)

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-406-5

www.Festa-Verlag.de

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8

Kurt Riegel war 52 Jahre alt und genauso groß, blond und kräftig gebaut, wie es sein deutsch klingender Name für einen Ausländer suggerierte. Vor 17 Jahren hatte er gleich nach der Bundeswehr bei der Laurent Group angeheuert und sich im Unternehmen hochgearbeitet. Er begann seine Laufbahn als stellvertretender Sicherheitschef der Hamburger Niederlassung, bekleidete dann ein halbes Dutzend Posten in der Dritten Welt, einer davon anrüchiger und gefährlicher als der andere, womit er sich seinen Platz als ›Vizepräsident für Sicherheitsoperationen im Risikomanagement‹ auf dem bequemen Bürostuhl in der Pariser Zentrale erarbeitet hatte. Hinter dieser vollmundigen Bezeichnung verbarg sich ein schmutziges Geschäft.

Riegel war der Mann, den man anrief, wenn etwas Unangenehmes erledigt werden musste. Projekte, die nicht in den Büchern auftauchten, schwarze Kassen, Personalprobleme, die förmlich nach dem Besuch eines Schlägertrupps schrien. Hausdurchsuchungen, Abhöraktionen, Industriespionage, gezielt gestreute Fehlinformationen an die Medien, selbst Auftragskiller gehörten zu seinem Repertoire. Wenn Riegels Agenten in deinem Büro auftauchten, bedeutete das entweder, dass sie dir ein kniffliges Problem vom Hals schafften, oder dass du selbst als kniffliges Problem betrachtet wurdest und jemand sie geschickt hatte, um dich zu beseitigen.

Da Riegel der Abteilung für unangenehme Aufgaben vorstand, gab es für ihn keine Möglichkeit, innerhalb des Unternehmens noch weiter aufzusteigen. Niemand hätte dem oberen Problemlöser eine öffentliche Position zugeteilt. Aber Riegel störte sich nicht daran, dass er das Ende seiner persönlichen Fahnenstange erreicht hatte. Im Gegenteil, er hatte sich durch seine Arbeit quasi unkündbar gemacht und gleichzeitig eine Art Dynastie errichtet. In den vier Jahren unter ihm als Vizepräsident hatten seine Agenten drei Anwärter auf hohe politische Ämter in Afrika ausgeschaltet, dazu drei führende Menschenrechtsaktivisten in Asien, einen kolumbianischen General, zwei Enthüllungsjournalisten und fast 20 Angestellte der Laurent Group, die sich auf die eine oder andere Weise bei ihren Bossen sehr unbeliebt gemacht hatten. Im Unternehmen gab es nur einen Mann, der von all diesen Operationen wusste. Riegel sorgte dafür, dass seine Untergebenen nicht zu viel miteinander zu tun hatten, und seine Vorgesetzten wussten genug über seine Arbeitsweise, um nicht mehr darüber erfahren zu wollen.

Probleme tauchten auf, man rief Riegel an, Probleme verschwanden, und Riegel genoss die schweigende Wertschätzung der Bosse.

Kurt Riegel war ein überaus mächtiger Mann.

Er fühlte sich in dem teakholzgetäfelten Arbeitszimmer im Pariser Stammhaus der Firma sehr wohl. Der Raum war wie er: groß und kräftig gebaut, aber auch ruhig und diskret, fast versteckt zwischen IT und Konkurrenzspionage im Südflügel des Laurent-Group-Geländes. An den Wänden hingen mehr als ein Dutzend riesige Jagdtrophäen. In Montmartre gab es einen Präparator, der fast schon davon leben konnte, die Souvenirs von Kurts afrikanischen Safaris und kanadischen Expeditionen auszustopfen. Nashorn, Löwe, kanadischer und skandinavischer Elch – sie alle starrten aus erhöhter Position mit leerem Blick hinab.

Seine täglichen Gymnastikübungen absolvierte er ebenfalls in diesem Büro, immer pünktlich um fünf Uhr nachmittags. Er hatte seine schweißtreibenden 100 Kniebeugen fast vollständig hinter sich gebracht, als das Telefon klingelte. Es gab mehrere Leitungen, deren Klingeln er ignorieren konnte, bis er seine Übungen abgeschlossen hatte, aber dieser Anruf kam über die verschlüsselte Nummer, seine Hotline, und er hatte bereits den ganzen Tag darauf gewartet.

Er griff nach einem Handtuch, ging zum Schreibtisch und schaltete den Lautsprecher ein.

»Riegel.«

»Guten Tag, Mr. Riegel. Hier ist Lloyd aus der Rechtsabteilung.«

Riegel nahm ein paar Schlucke aus der Flasche mit Vitaminwasser und setzte sich auf die Tischkante.

»Nun, Lloyd aus der Rechtsabteilung, was kann ich für Sie tun?« Riegels Stimme war kräftig und passte zu dem Artillerie-Offizier, der er einst gewesen war.

»Man sagte mir, dass Sie meinen Anruf erwarten.«

»Niemand Geringerer als der Generaldirektor persönlich hat mich kontaktiert. Marc Laurent wies mich an, alles stehen und liegen zu lassen und mich vollkommen dem Projekt zu widmen, das Sie an mich herantragen. Er hat mich außerdem informiert, dass Sie ein paar harte Jungs und einen Nachrichtenspezialisten benötigen. Ich hoffe, dass der Techniker und die weißrussischen Paramilitärs, die ich geschickt habe, Ihnen von Nutzen sein konnten.«

»Ja, vielen Dank dafür. Der Techniker ist hier bei mir, und die schweren Jungs sind derzeit in Frankreich und tun genau das, was ich ihnen aufgetragen habe«, erklärte Lloyd.

»Gut. Dies ist das erste Mal, dass Marc Laurent mich selbst angerufen hat, um darum zu bitten, dass ich einer Operation meine ganze Aufmerksamkeit widme. Ich bin sehr gespannt. In was für einen Schlamassel habt ihr Jungs in der Rechtsabteilung euch denn gebracht?«

»Tja. Also, diese Angelegenheit muss äußerst schnell erledigt werden. Es ist zum Besten der Firma.«

»Dann lassen Sie uns keinen weiteren Moment verschwenden. Was benötigen Sie noch, außer dem Team, das ich geschickt habe?«

Lloyd schwieg kurz. Dann stieß er hervor: »Nun, ich hasse es, Sie damit schockieren zu müssen, aber Sie müssen dringend einen Mann töten.«

Riegel antwortete zunächst nicht.

»Sind Sie noch dran?«

»Ich warte darauf, dass Sie etwas Schockierendes sagen.«

»Ich nehme an, Sie haben dergleichen schon mal erledigt?«

»Hier beim Risikomanagement sagen wir gern, dass es für jedes Problem zwei Möglichkeiten gibt: Man kann es tolerieren oder man kann es eliminieren. Wenn man bereit ist, ein Problem zu tolerieren, Mr. Lloyd, dann klingelt dieses Telefon nicht.«

Nach einer kurzen Atempause fragte Lloyd: »Sind Sie mit den Details des Erdgasvertrags von Lagos vertraut?«

Riegel erwiderte sofort: »Ich hatte schon vermutet, dass dieser Auftrag mit dem nigerianischen Fiasko zu tun hat. Es geht das Gerücht, dass irgendein idiotischer Anwalt drüben in der Rechtsabteilung vergessen hat, den Vertrag gegenzulesen, und jetzt ziehen sich die Nigerianer aus einem zehn Milliarden Dollar schweren Geschäft zurück, in das wir bereits 200 Millionen investiert haben. Ich habe fest damit gerechnet, in dieser Sache kontaktiert zu werden.«

»Ja, also, die Sache gestaltet sich ein wenig komplizierter.«

»Hört sich nicht besonders kompliziert an. Ich brauche nur die Adresse des schuldigen Anwalts. Wir werden dafür sorgen, dass es nach Selbstmord aussieht. Der dumme Wichser sollte das einzig Richtige tun und sich tatsächlich selbst aus dem Verkehr ziehen, aber diese Art von Loyalität zum Arbeitgeber kann man von einem Anwalt leider nicht erwarten. Nichts für ungut, Lloyd aus der Rechtsabteilung.«

»Nein! Nein, Riegel, Sie haben das falsch verstanden. Jemand anders muss sterben.«

Riegel räusperte sich. »Na, dann erzählen Sie mal.«

Lloyd berichtete dem Vizepräsidenten von der Ermordung Isaac Abubakers und der Weigerung des Präsidenten, den korrigierten Vertrag zu unterzeichnen, bevor man ihm nicht den Beweis für den Tod des Mörders seines Bruders geliefert hatte.

Kurt schnaubte. »Erst steigen wir mit diesen Diktatoren ins Bett, und dann tun wir ganz überrascht, wenn sie uns plötzlich an den Eiern haben.« Riegels Englisch war nicht nur fehlerfrei, sondern auch typisch amerikanisch im Ausdruck. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, nahm einen Stift zur Hand und zog einen Notizblock zu sich heran. »Wir müssen also den Auftragskiller identifizieren, ausfindig machen und eliminieren?«, wollte Riegel wissen.

»Er wurde bereits identifiziert.«

»Er muss nur noch ausgeschaltet werden? Ich hatte nach Mr. Laurents Anruf mit einer deutlich komplizierteren Angelegenheit gerechnet.«

»Nun ja, dieser Attentäter ist kein Anfänger.«

»Die einzige Schwierigkeit bei nichtstaatlichen Auftragsmördern besteht darin, sie zu identifizieren. Wenn Sie wissen, wer es ist, haben wir ihn binnen 24 Stunden gefunden und getötet.«

»Das wäre der Idealfall.«

»Es sei denn natürlich, wir reden über Gray Man. Der ist ein paar Klassen besser als der Rest.«

Lloyd antwortete nichts darauf.

Nachdem der Amerikaner so lange gezögert hatte, pfiff Riegel durch die Zähne. »Ach so! Wir reden wirklich über Gray Man, nicht wahr?«

»Ist das ein Problem?«

Nun war es an Riegel zu zögern. Schließlich erwiderte er: »Es macht die Sache tatsächlich etwas komplizierter ... aber es ist kein Problem. Er ist extrem geschickt darin, nicht aufzufallen und wirklich unterzutauchen, daher auch sein Spitzname. Es wird nicht leicht sein, ihn aufzuspüren, aber die gute Nachricht ist, dass er nicht damit rechnen wird, dass wir es auf ihn abgesehen haben.«

Wieder blieb Lloyd eine Antwort schuldig.

»Oder weiß er das bereits?«

»Ich habe letzte Nacht einen Mordversuch arrangiert, aber der ist misslungen. Er lebt noch.«

»Wie viele Männer hat er getötet?«

»Fünf.«

»Idiot.«

»Mr. Riegel, Gray Man ist sicher kein Idiot. In der Vergangenheit hat er ...«

»Natürlich ist er kein Idiot! Sie sind der Idiot! Ein verdammter Rechtsverdreher, der versucht, ein Attentat auf den besten Killer der Welt einzufädeln. Das war zweifellos irgendeine schlecht geplante, hastig ausgeführte Katastrophe von Operation, nicht wahr? Sie hätten sofort zu mir kommen müssen. Jetzt wird er noch vorsichtiger sein, denn natürlich erwartet er, dass derjenige, der es auf ihn abgesehen hat, noch ein zweites Mal zuschlägt.«

»Ich bin kein Idiot, Riegel. Ich habe seinen Mittelsmann in meiner Gewalt. Ich habe ihn überzeugen können, uns dabei zu helfen, Gentry aus seinem Versteck zu locken.«

»Wer ist Gentry?«

»Courtland Gentry ist Gray Man.«

Riegel setzte sich aufrecht hin. Sein vierschrötiger Körper verkrampfte sich. »Wie kommt es, dass Sie über seine Identität informiert sind?«

»Es steht mir nicht zu, darüber zu sprechen.«

»Wer ist der Mittelsmann?« Es schmeckte Riegel überhaupt nicht, dass er nicht der Erste im Unternehmen war, dem diese Art von Information vorlag. Schließlich verfügte er über sein eigenes Nachrichtennetzwerk. Bei dem Gedanken daran, dass irgendein scheiß-amerikanischer Anwalt diese geheimen Informationen herumposaunte, als handle es sich um ganz alltägliche Dinge, ballte er die Fäuste.

»Der Name seines Mittelsmanns lautet Don Fitzroy. Er ist Brite, der Kopf einer legalen Sicherheitsfirma hier in London, und arbeitet sogar manchmal für uns ...«

Riegels Fingerknöchel wurden bereits weiß. »Bitte, Lloyd aus der Rechtsabteilung, sagen Sie mir, dass Sie nicht etwa Sir Donald Fitzroy gekidnappt haben!«

»Doch, das habe ich. Und seinen Sohn und dessen Familie halte ich auf einem Firmengrundstück der Laurent Group in der Normandie fest.«

Riegel ließ seine breiten Schultern resigniert sinken und legte den Kopf in die Hände. Nach mehreren Sekunden hob er den Blick und starrte auf den Lautsprecher. »Man hat mir unmissverständlich klargemacht, dass Sie der Verantwortliche für diese Operation sind. Meine Aufgabe ist es, Sie mit Männern, Material und Informationen zu versorgen. Und mit jeglichem Ratschlag, der mir dazu einfällt.«

»Das ist richtig.«

»Wieso beginnen wir dann nicht mit einem Ratschlag?«

»Wunderbar.«

»Mein Rat an Sie, Lloyd aus der Rechtsabteilung, ist ganz einfach. Entschuldigen Sie sich bei Sir Donald für das riesige Missverständnis, lassen Sie ihn und seine Familie frei, ziehen Sie sich in Ihre Wohnung zurück, stecken Sie sich eine Pistole in den Mund und drücken Sie verdammt noch mal ab! Sich Fitzroy zum Feind zu machen, war ein gewaltiger Fehler.«

»In diesem Fall können Sie sich weitere Ratschläge sparen und mir einfach mehr Männer zur Verfügung stellen. Ich weiß nicht, wo sich Gray Man im Augenblick aufhält, aber ich weiß, wo er als Nächstes hingehen wird. Fitzroy wird ihn in die Normandie schicken. Er wird auf dem Landweg von Osten her kommen. Den Ausgangspunkt seiner Reise kenne ich noch nicht, aber wenn Sie mir ausreichend Unterstützung geben, verteile ich Männer über ganz Europa, damit sie ihn jagen können. Ihn einkreisen, wenn er sich dem Ziel nähert.«

»Wieso sollte er in die Normandie kommen? Um Fitzroys Familie zu retten?«

»Genau. Der wird ihm sagen, dass die Nigerianer sie entführt haben und sie festhalten, bis Fitzroy ihn ans Messer liefert. Und Gentry wird sich bereit erklären, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.«

Riegel trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Ihre Einschätzung mag richtig sein. Ihm eilt der Ruf eines Beschützers voraus und den französischen Behörden traut er das sicher nicht zu.«

»Genau. Von Ihnen brauche ich also lediglich ein Überwachungsteam und ein Mordkommando. Zu diesem Zeitpunkt bewacht Ihre Gang aus Minsk die Familie in Frankreich, aber ich sähe Gentry lieber tot, bevor er die Normandie erreicht, denn die Zeit drängt.«

»Er ist Gray Man. Sie brauchen mehr als das.«

»Was schlagen Sie vor? Ich meine, abgesehen davon, dass ich mich selbst töten soll?«

Riegel starrte die gegenüberliegende Wand an. Der Kopf eines wilden Ebers erwiderte seinen Blick. Kurt nickte langsam, als ihm ein Gedanke kam. »Um diese Sache so kurzfristig zu erledigen, brauchen Sie 100 Paar Augen.«

»Und die können Sie mir liefern? Überwachungsexperten?«

»Wir nennen sie intern Straßenmaler.«

»Warum auch immer. Die können Sie mir zur Verfügung stellen?«

»Natürlich. Und Sie werden außerdem ein Dutzend Teams brauchen, die aufs Jagen und Töten spezialisiert sind. An jeder möglichen Route muss eins dieser Teams platziert werden und Sie brauchen eine Kommandozentrale, die diese Aktion steuert. Und dann loben Sie einen Bonus für das Team aus, das die Zielperson zuerst findet und tötet.«

Bei der Größenordnung, die Riegel mit einem Mal ins Spiel brachte, schien Lloyd schwindlig zu werden. Seine Stimme klang jedenfalls fassungslos: »Ein Dutzend Teams?«

»Natürlich nicht unsere eigenen Männer, denn die könnten mit der Laurent Group in Verbindung gebracht werden. Und auch keine Leute aus der jeweiligen Region, denn die wären der Polizei dort bekannt, was die Jagd nur unnötig erschwert. Nein, wir benötigen ausländische Agenten, und zwar am besten von weit her. Harte Kerle, wenn Sie wissen, was ich meine, Lloyd aus der Rechtsabteilung. Harte Jungs, die sich nicht scheuen, die Drecksarbeit zu erledigen, wenn sich keine andere Lösung findet.«

»Sie sprechen von Söldnern.«

»Keineswegs. Gray Man hat bisher noch jedes Team von Killern umgangen oder ausgeschaltet, das auf ihn angesetzt wurde. Nein, wenn wir auf Nummer sicher gehen wollen, müssen wir auf etablierte Feldeinheiten zurückgreifen. Mordkommandos der Regierung.«

»Ich verstehe nicht ganz. Von welcher Regierung reden wir hier?«

»Wir unterhalten Zweigstellen in 80 Ländern der Erde. Ich habe Verbindungen zu den Köpfen der Nationalen Sicherheit in Dutzenden Dritte-Welt-Staaten. Und diese Männer verfügen in ihren Heimatländern über ganze Horden von Agenten, um dafür zu sorgen, dass die Einwohner parieren, und um sich die Feinde ihrer Regierung vom Leib zu schaffen.«

Riegel machte eine Pause und dachte noch einmal über seinen Plan nach. »Ja, ich werde mich an meine Kontakte in den Regierungsämtern der Dritten Welt wenden. Dort geht es anders zu als bei uns, und ich bin sicher, dass ich dort die richtigen Männer finde. Männer ohne jeden Skrupel. Wenn ich denen erkläre, worum es geht, sind einen halben Tag später zehn Firmenjets nach Europa unterwegs, und in jedem dieser Flieger werden die bösesten Buben mit den fettesten Kanonen sitzen. Jedes Team erhält dieselbe Aufgabe. Die werden sich darum kloppen, Gray Man zu ermorden.«

»Wie bei einem Wettbewerb?«

»Ganz genau.«

»Unglaublich.«

»So was haben wir schon gemacht. Zugegeben, in etwas kleinerem Rahmen, aber es hat schon in der Vergangenheit Anlässe gegeben, mehrere Teams gleichzeitig auf ein und dasselbe Ziel anzusetzen.«

»Aber ich verstehe immer noch nicht, was diese Regierungen veranlassen sollte, uns zu helfen.«

»Nicht die Regierungen selbst, sondern ihre Nachrichtendienste. Können Sie sich vorstellen, was ein Kopfgeld von 20 Millionen Dollar, das plötzlich dem Etat der Geheimpolizei zufließt, in einem Land wie ... sagen wir Albanien ... was das für die Sicherheit und Stabilität dieses Landes bedeutet? Oder für die ugandische Armee? Das indonesische Nachrichtenministerium? Diese Organisationen arbeiten manchmal auch unabhängig von den Anweisungen ihrer Staatsoberhäupter, wenn das den Zwecken der Organisationen selbst oder ihrer Köpfe dient. Ich weiß, in welchen Ländern es der innere Sicherheitsapparat seinen Leuten erlaubt, für Geld zu töten. Glauben Sie mir, ich weiß, wo das zweifellos funktioniert.«

Eine Pause entstand, bevor Lloyd antwortete: »Verstehe. Diese Behörden brauchen sich keine Sorgen über einen amerikanischen Vergeltungsschlag zu machen. Sie wissen, dass die CIA sich wohl kaum die Mühe machen wird, die Mörder von Gray Man zu jagen.«

»Lloyd, es ist sogar wahrscheinlich, dass das erfolgreiche Team sich selbst an die CIA wendet, um von denen ebenfalls ein Kopfgeld einzustreichen. Langley ist doch selbst seit Jahren hinter ihm her. Er hat schließlich auch zwei ihrer Agenten getötet, wissen Sie?«

»Ja, das weiß ich. Ihr Plan gefällt mir, Riegel. Aber können wir so eine Nummer ohne Aufsehen über die Bühne bringen? Ohne negative Auswirkungen auf die Firma, meine ich.«

»Meine Einheit betreibt mehrere Deckmantel-Unternehmen, einzig und allein, um bei größeren Schwierigkeiten alles abstreiten zu können. Wir werden Pilotencrews der Laurent Group einsetzen, aber die Maschinen fliegen im Namen solcher Mantelfirmen. Auf diese Weise schaffen wir die Mordkommandos und ihre Waffen aufs europäische Festland. Das wird eine Stange Geld kosten, aber Marc Laurent hat mich angewiesen, alle verfügbaren Mittel einzusetzen, um die Operation erfolgreich durchzuführen.«

Riegels Verbindungen zu den höchsten Etagen des Unternehmens waren besser als seine eigenen, aber Lloyds Instinkt veranlasste ihn, seine eigene Position noch einmal klar zum Ausdruck zu bringen. »Ich bin weiterhin für diese Operation verantwortlich. Ich werde die Bewegungen der Beobachter und Schützen koordinieren. Sie versorgen mich lediglich mit dem entsprechenden Personal.«

»Einverstanden. Ich werde unseren kleinen Wettkampf in die Wege leiten und alle Männer herholen. Sie führen die Teams. Aber halten Sie mich über den Fortschritt der Aktion auf dem Laufenden und zögern Sie nicht, mich um Rat zu bitten, wenn es Fragen gibt. Ich bin Großwildjäger, Mr. Lloyd. Gray Man durch die Straßen Europas zu jagen, wird vielleicht die bedeutendste Expedition meiner Karriere.« Er schwieg kurz. »Ich wünschte nur, Sie hätten sich nicht mit Fitzroy angelegt.«

»Überlassen Sie den ruhig mir.«

»Oh, das werde ich ganz sicher. Sir Donald und seine Familie sind ganz allein Ihr Problem, nicht meins.«

»Schon so gut wie erledigt.«

9

Gentry hatte das Glück auf seiner Seite. Nachdem er weniger als eine Stunde lang nach Norden in Richtung der türkischen Grenze gehumpelt war, sammelte ihn eine Streife der kurdischen Polizei auf. Die Kurden im Nordirak liebten die Amerikaner, insbesondere amerikanische Soldaten, und aufgrund der zerfetzten Uniform und seiner Verletzungen hielten sie ihn für einen Agenten einer US-Spezialeinheit. Court tat nichts, um ihnen diese Annahme auszureden. Sie fuhren ihn nach Mossul, wo man ihn in einer Klinik, die mit amerikanischen Regierungsgeldern erbaut worden war, behandelte und sein Bein neu verband. Nur sieben Stunden, nachdem er ohne Fallschirm auf dem Rücken aus dem Hinterteil eines Flugzeugs gefallen war, bestieg der amerikanische Auftragskiller eine Linienmaschine nach Tiflis, der Hauptstadt Georgiens. Er trug eine frisch gebügelte Hose und ein Hemd aus Leinen.

Aber diese deutliche Verbesserung der Umstände ließ sich nicht auf bloßes Glück zurückführen. Einer von Courts Notfallplänen sah vor, sich selbst einen Weg aus dem Irak heraus suchen zu müssen. Um sich für diese Eventualität zu rüsten, hatte er im Vorfeld einen falschen Pass, gefälschte Visa für Georgien und die Türkei, Bargeld und ein paar andere notwendige Kleinigkeiten in sein Hosenbein eingenäht.

Gentry mochte von Zeit zu Zeit ganz einfach nur Glück haben, aber er verließ sich nie darauf. Er bereitete sich stets auf alles vor.

Nachdem er den georgischen Zoll mit seinem kanadischen Pass anstandslos als freiberuflicher Journalist Martin Baldwin passiert hatte, erwarb er ein Flugticket nach Prag in der Tschechischen Republik. Die Maschine war fast komplett leer und nach fünfstündigem Flug landete Court kurz nach 22 Uhr auf dem Václav Havel Airport in Ruzyne.

Er kannte Prag wie seine Westentasche, denn er hatte dort einmal einen Auftrag erledigt und tauchte oft in den Vorstädten unter, wenn es wieder mal notwendig wurde.

Nach einer Fahrt mit dem Taxi und einem kurzen Trip mit der U-Bahn schlenderte er zu Fuß durch die kopfsteingepflasterten Gassen im Bezirk Staré Město, wo er sich in ein winziges Dachzimmer in einem Hotel einquartierte, einen halben Kilometer vom Fluss Moldau entfernt. Nach einer langen Dusche, die seine Haut bereits schrumpeln ließ, hatte er sich gerade aufs Bett gesetzt, um die Wunde erneut zu verbinden, als das Satellitentelefon im neuen Rucksack klingelte.

Court blickte auf das Display. Fitzroy rief an, aber Gentry kümmerte sich weiter um das Verarzten seiner Schusswunde. Er konnte auch noch am nächsten Morgen mit Don reden.

Die Möglichkeit, dass Sir Donald selbst seine Männer beauftragt haben könnte, ihn zu töten, zog er gar nicht erst in Betracht. Vielmehr machte es ihn wütend, dass Fitzroys Operation offenbar so schlecht geplant gewesen war, dass die Nigerianer sich einfach in die laufende Mission einklinken konnten und es beinahe geschafft hatten, aus seinen Rettern ein Erschießungskommando zu machen. Fitzroy war entschieden dagegen gewesen, dass Court den Anschlag auf Abubakers Leben ausführte, nachdem der Geldgeber gestorben war. Jetzt fragte Gentry sich unwillkürlich, ob Fitzroy mit Absicht geschlampt hatte, um ihm seine Missbilligung zu zeigen.

Fitzroys institutionalisiertes System zur Unterstützung seiner Leute wurde überall nur das ›Netzwerk‹ genannt. Das Netzwerk stellte im Einsatz die einzige Infrastruktur dar, auf die Gentry sich verlassen konnte. Es bestand aus zugelassenen Ärzten, die einen verwundeten Mann zusammenflickten, ohne Fragen zu stellen, aus Frachtpiloten, die einen Passagier an Bord nahmen, ohne sich sein Gepäck näher anzusehen, oder aus seriösen Druckereibesitzern, die jedes benötigte Dokument fälschen konnten. Die Liste der Beteiligten war lang und über die Jahre immer weiter gewachsen. Gentry nutzte das Netzwerk nur sporadisch und weitaus seltener als die anderen Männer, die für Fitzroy arbeiteten. Gray Man galt schließlich als Ein-Mann-Armee. Aber jeder Mann, der in einem solch harten Geschäft tätig war, brauchte von Zeit zu Zeit einmal Hilfe, selbst ein Mann wie Gentry.

Er arbeitete inzwischen seit vier Jahren für Fitzroy. Wenige Monate nach dem Abend, an dem die CIA ihm klargemacht hatte, dass sie die Dienste ihres erfahrensten und erfolgreichsten Killers nicht länger benötigte, hatte er bei Cheltenham angefangen. Court erinnerte sich gut an jenen Abend. Dem Hinweis auf die Unzufriedenheit seines Arbeitgebers war sofort eine Bombe in seinem Auto gefolgt, dann ein Mordkommando in seiner Wohnung und schließlich ein internationaler Haftbefehl, ausgestellt vom Justizministerium und über Interpol an jede Polizeidienststelle auf dem Planeten verteilt.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Gentry verzweifelt nach einer Tätigkeit gesucht, die ihm ein Leben finanzierte, in dem er sich fortlaufend vor den amerikanischen Behörden verstecken musste, also kontaktierte er Donald Fitzroy. Der Engländer leitete ein auf den ersten Blick absolut seriöses Sicherheitsunternehmen, aber Gentry hatte bereits mehrfach mit der dunklen Seite von Cheltenham Security Services zu tun gehabt, während er noch in der paramilitärischen Einheit der CIA gekämpft hatte. Fitzroy schien ihm ein naheliegender Ansprechpartner für einen arbeitslosen Todesschützen zu sein, der dringend einen Job brauchte.

In den vergangenen vier Jahren war er zu einer Art Star in der Welt der unabhängigen Agenten aufgestiegen. Obwohl praktisch niemand seinen richtigen Namen kannte oder wusste, dass er für Fitzroy arbeitete, galt Gray Man in der westlichen Welt als Legende.

Und wie bei jeder Legende hatten die Märchenerzähler viele Einzelheiten aufgebläht, ausgeschmückt oder gleich komplett hinzugedichtet. Eines der Details aus dem Mythos um Gray Man entsprach aber der Wahrheit: Er nahm ausschließlich Aufträge an, die sich gegen Ziele richteten, die es seiner Auffassung nach verdient hatten, außergerichtlich verurteilt und exekutiert zu werden. In der Welt käuflicher Mörder galt das als vollkommen einzigartig, und es trug zwar dazu bei, dass sein Ruf ihm vorauseilte, führte aber auch dazu, dass er sehr genau hinschaute, welche Aufträge er annahm und welche nicht.

Er hatte absolut nichts gegen schwierigste Operationen. Er machte sich oft ganz allein auf den Weg ins Feindesland, stellte sich Legionen von Feinden entgegen und baute sich auf diese Weise ein Renommee und ein Bankkonto auf, die in diesem Geschäft quasi konkurrenzlos waren, auch wenn sich zugegebenermaßen die gesamte Branche sehr bedeckt hielt, was Einsätze und Honorare anging. In vier Jahren hatte er zwölf Aufträge erfolgreich erledigt – gegen Terroristen und deren Finanziers, Mädchenhändlerringe, Drogen- und Waffenhändler und nicht zuletzt gegen Bosse der russischen Mafia. Es wurde gemunkelt, dass er jetzt schon über mehr Geld verfügte, als er jemals ausgeben konnte. Deshalb gingen viele davon aus, dass er seine Taten beging, um Unrecht zu sühnen, die Schwachen zu beschützen und die Welt mit seinem Revolverlauf zu einem besseren Ort zu machen.

Der Mythos war reine Fiktion, entsprach nicht der Realität, aber im Gegensatz zu den meisten Fiktionen gab es den Mann, der im Zentrum dieser Geschichte stand, tatsächlich. Seine Motive waren komplex und schwer zu durchschauen. Er war kein Superheld wie aus einem Comic, aber insgeheim hielt er sich für einen von den Guten.

Nein, das Geld brauchte er längst nicht mehr, und er wurde auch nicht von Todessehnsucht angetrieben. Court Gentry war aus dem einfachen Grund zu Gray Man geworden, weil er glaubte, dass es böse Menschen auf dieser Welt gab, die den Tod wirklich verdienten.

Lloyd und seine beiden nordirischen Handlanger brachten Fitzroy in eine Limousine der Laurent Group und fuhren im dichten Regen mit ihm durch die Stadt. Sie sprachen nicht miteinander. Fitzroy saß stumm auf dem Rücksitz, den Hut auf den Knien, und starrte hinaus in die regnerische Nacht wie ein Mann, der weiß, dass er seinen Kampf verloren hat. Lloyd telefonierte die ganze Zeit, ein Anruf nach dem anderen, und stimmte sich laufend mit Riegel ab, der Leute auf der ganzen Welt kontaktierte, um den hastig erdachten Plan in die Tat umzusetzen.

Kurz nach eins in der Nacht hielt die Limo vor der britischen Geschäftsstelle der Laurent Group. Die hiesige Dependance des französischen Unternehmens breitete sich auf einem Gelände mit drei zusammenhängenden Gebäuden in Fulham aus. Lloyd, seine Schläger und ihre Fracht rollten durch das Eingangstor, an zwei Posten mit Wächtern und Waffen vorbei, und dann eine Straße entlang bis zu einem einstöckigen Bau, neben dem sich ein Hubschrauberlandeplatz befand.

»Das hier wird nun für einige Zeit Ihr Zuhause sein, Sir Donald. Ich entschuldige mich im Voraus dafür, dass es Ihren Ansprüchen womöglich nicht entspricht, aber wenigstens werden Sie nicht einsam sein. Meine Männer und ich weichen nicht von Ihrer Seite, bis alles zu unserer Zufriedenheit erledigt ist. Und dann bringen wir Sie zurück in die Bayswater Road und setzen Sie wieder an Ihren hübschen Schreibtisch. Zum Abschied tätscheln wir Ihnen auch gern die Glatze.«

Fitzroy schwieg. Er folgte der Eskorte durch den Regen in das Gebäude und dann durch einen langen Korridor. Als er an zwei weiteren Männern vorbeiging, die in der kleinen Küche standen, identifizierte er sie sofort als Sicherheitsoffiziere in Zivil. Einen Moment lang flackerte Hoffnung in seinem Blick auf, aber Lloyd las seine Gedanken und winkte ab.

»Sorry, Sir Donald, das sind keine von Ihren Jungs, sondern ein paar Schwergewichte aus unserer Zweigstelle in Edinburgh. Diese Schotten gehören zu meinem Gefolge, nicht zu Ihrem.«

Fitzroy setzte seinen Weg fort und murmelte: »Ich kenne 1000 Kerle wie die. Die folgen niemandem. Sie tun das nur fürs Geld und wenden sich gegen einen, sobald der Preis stimmt.«

Lloyd wedelte mit einer Chipkarte vor dem Lesegerät neben der Tür am Ende des Flurs auf und ab. »Dann habe ich ja Glück, dass ich sie so gut bezahlen kann.«

Sie betraten ein großes Besprechungszimmer mit einem Eichentisch und Stühlen mit hoher Rückenlehne, an dessen Wänden sich Flachbildschirme und Computer aneinanderreihten, und ein LCD-Bildschirm, auf dem eine Landkarte von Westeuropa eingeblendet wurde.

Lloyd scherzte: »Warum setzen Sie sich nicht an den Ehrenplatz? In Anbetracht Ihres Ritterschlags bitte ich um Verzeihung, dass wir keine Tafelrunde auftreiben konnten. Ich fürchte, es hat nur für einen schlichten ovalen Tisch gereicht.« Der Amerikaner fand sich offenbar wirklich witzig.

Die beiden Schotten positionierten sich auf Stühlen in der Nähe der Tür und die Nordiren blieben vorerst lieber stehen. Ein dünner, dunkelhäutiger Mann im kastanienbraunen Anzug betrat den Raum und nahm am Tisch Platz. Er stellte eine Flasche vor sich ab.

»Mr. Felix hier arbeitet für Präsident Abubaker«, erklärte Lloyd knapp. »Er ist hier, um sicherzugehen, dass wir Gray Man wirklich töten.«

Mr. Felix nickte Fitzroy über den Tisch hinweg zu.

Dann besprach sich Lloyd leise mit einem jungen Mann mit Pferdeschwanz und Nasenring, dessen Hipster-Brille das Licht der Computerbildschirme auf dem Schreibtisch vor ihm reflektierte. Er sah zu Lloyd auf und flüsterte ihm etwas zu.

Lloyd wandte sich an Sir Donald. »Wir liegen bisher gut in der Zeit. Alles ist optimal aufeinander abgestimmt. Dieser Mann ist für die Kommunikation zwischen Beobachtern, Jägern und mir verantwortlich. Nennen wir ihn einfach den Techniker.«

Der junge Mann stand auf und hielt Sir Donald höflich die Hand hin, als ob er keine Ahnung hätte, dass er gerade einem Entführungsopfer vorgestellt wurde.

Fitzroy ignorierte die Geste.

In diesem Moment empfing der Techniker einen Anruf per Headset. Danach wandte er sich mit sanfter Stimme und britischem Akzent an Lloyd.

Lloyd antwortete: »Perfekt. Schicken Sie sofort ein paar Männer hin. Finden Sie heraus, wo genau er sich aufhält.«

Er lächelte Fitzroy zu. »Es wurde aber auch höchste Zeit, dass es das Glück gut mit uns meint, finden Sie nicht auch? Gentry ist in Tiflis gesichtet worden, als er ein Flugzeug nach Prag bestieg. Die Maschine ist bereits gelandet, also können wir ihn nicht direkt vom Airport aus verfolgen, aber meine Männer überprüfen sämtliche Hotels. Wenn alles gut geht, empfängt ihn morgen früh nach dem Aufwachen ein Mordkommando vor der Tür.«

Eine Stunde später saß Lloyd gegenüber von Fitzroy am Tisch. Die Lampen waren gedimmt und der Techniker postierte eine Leuchte hinter dem Amerikaner. Eine fernbedienbare Kamera an der Decke richtete ihre Optik exakt auf sein Gesicht, und dann präsentierte ein Monitor seine Silhouette. Das so entstandene Bild glich einem Scherenschnitt. Der junge Anwalt hob unwillkürlich seinen Arm und winkte, um sicher zu sein, dass er wirklich sich selbst auf dem Bildschirm sah.

Als Nächstes erwachten nach und nach alle LCD-Bildschirme an der Seitenwand parallel zum Tisch zum Leben. Am unteren Rand wurden jeweils ein Ort und die lokale Zeit eingeblendet. Luanda in Botsuana war die erste Station, die online ging. Dort saßen vier Männer in einem ganz ähnlichen Besprechungszimmer. Sie wurden von hinten angestrahlt, sodass man nur ihre Umrisse erkennen konnte, ähnlich wie bei Lloyd. Danach kam Jakarta in Indonesien an die Reihe. Hier erkannte man sechs Gestalten, die Schulter an Schulter an einem Tisch saßen und auf einen Monitor starrten. Es folgte Tripolis in Libyen, eine Minute später erwachten zeitgleich Caracas in Venezuela, Pretoria in Südafrika und Riad in Saudi-Arabien zum Leben. Innerhalb der nächsten fünf Minuten gesellten sich die Übertragungen aus Albanien, Sri Lanka, Kasachstan und Bolivien dazu. Der Techniker brauchte eine weitere Minute, um auch Freetown in Liberia auf eines der Displays zu schicken, und schließlich startete auch die Übertragung aus Südkorea. Ein einzelner Asiate saß in einem kleineren Raum an einem Schreibtisch.

Es handelte sich um die behördlichen Mordkommandos, die Kurt Riegel für diese Jagd mobilisiert hatte. Riegel hatte bereits mit den Köpfen der jeweiligen Organisationen gesprochen, die die Teams zur Verfügung stellten. Er hatte nicht vor, auch die Ansprache an die Teams selbst zu leiten. Das war Lloyds Aufgabe. Wie Riegel nochmals bekräftigt hatte, unterstützte er die Aktion lediglich, indem er die Vorarbeit leistete und auf Wunsch beratend zur Seite stand.

Bevor die verschiedenen Orte auch per Audiokanal miteinander verbunden wurden, rief Lloyd dem Techniker quer durch den Raum zu: »Wo ist der Rest der Koreaner?«

Der junge Mann schaute kurz auf ein Blatt Papier. »Die haben nur einen einzelnen Mann bereitgestellt. Aber ich schätze nicht, dass das einen Unterschied macht. Insgesamt haben wir mehr als 50 Leute in den zwölf Teams.«

Dann versicherte der Techniker Lloyd noch einmal, dass seine Stimme sowohl technisch als auch per Software bis zur völligen Unkenntlichkeit entstellt wurde.

Zuletzt glich er die Audioverbindung mit den Übersetzern ab, die dort, wo sie benötigt wurden, außerhalb des Erfassungsbereichs der Kameras, mit im Raum saßen. Dann räusperte sich Lloyd einmal. Seine Silhouette hob kurz die Hand und senkte sie wieder.

»Meine Herren, ich weiß, dass man Sie bereits in groben Zügen über die Mission informiert hat, auf die wir Sie schicken möchten. Die Sache ist wirklich ganz simpel: Ich muss einen Mann aufspüren, aber das soll nicht Ihre Sorge sein. Ich habe fast 100 Straßenmaler auf Abruf, beziehungsweise in diesem Augenblick bereits darauf angesetzt, das Operationsgebiet zu durchkämmen. Sobald der Mann aufgespürt ist, muss er neutralisiert werden. Darin besteht Ihre Aufgabe.«

Die Darstellung auf den Monitoren der zwölf weit voneinander entfernten Orte wechselte. Das Farbfoto eines glatt rasierten Court Gentry in Sakko und mit Drahtgestell-Brille wurde eingeblendet. Lloyd hatte das Passbild eines gefälschten Ausweises aus der CIA-Akte gewählt. »Das ist Gray Man, Court Gentry. Die Fotografie, die Sie hier sehen, ist fünf Jahre alt. Leider kann ich Ihnen nicht sagen, wie sich seine äußere Erscheinung inzwischen verändert hat. Lassen Sie sich nicht von dem harmlosen Aussehen täuschen. Er war der beste Kopfjäger, der je für die CIA gearbeitet hat.«

Jemand murmelte etwas auf Spanisch. Lloyd verstand nur ein einziges Wort: »Milošević.«

»Ja, ich habe mir schon gedacht, dass der Ruf des Mannes bereits zu einigen von Ihnen durchgedrungen ist. Über seine Operationen sind eine Menge Gerüchte im Umlauf. Manche sagen, dass er Milošević umgebracht hat, andere sagen, er war es nicht. Manche sagen auch, dass er für die Geschehnisse in Kiew im vergangenen Jahr verantwortlich gewesen sein soll ... allerdings halten das die meisten klar denkenden Menschen für unmöglich. Ich weiß jedenfalls über einige seiner erledigten Jobs detailliert Bescheid, die er sowohl im Dienst der US-Regierung als auch auf eigene Rechnung angenommen hat. Glauben Sie mir also, wenn ich Ihnen versichere, dass Mr. Gentry der furchteinflößendste Soloagent ist, der Ihnen je begegnen wird.«

Eine neue Stimme meldete sich zu Wort und warf ein: »Er sieht aus wie eine Schwuchtel.« Der Akzent ließ Lloyd zum Bildschirm der Südafrikaner herumfahren.

Seine verzerrte Stimme hallte aus den Lautsprechern. »Dann ist er wohl die Schwuchtel, die plötzlich vor Ihnen steht und Ihnen einen Eispickel zwischen die Rippen rammt, mit dem er Ihre Lunge punktiert. Und dann steht er über Ihnen, während Sie qualvoll an Ihrem eigenen Blut ersticken.« Der amerikanische Anwalt klang jetzt wütend. »Wenn Sie ihn getötet haben, dann können Sie mir erzählen, was für ein verdammter Witz dieser Gray Man gewesen ist. Bis dahin schlage ich vor, dass Sie Ihre unreifen Kommentare für sich behalten.«

Der Südafrikaner schwieg.

Lloyd fuhr fort. Er funkelte die Umrisse der Männer in Pretoria weiterhin wütend an. »Gray Man ist ein Experte als Scharfschütze auf Distanz, kann mit Hieb- und Stichwaffen umgehen und beherrscht auch Krav Maga, die Kampfkunst der israelischen Spezialkräfte. Er kann Sie mit dem Gewehr, der Pistole oder auch ganz ohne Waffen erledigen. Aus einem Kilometer Entfernung oder ganz aus der Nähe, wo Sie seinen Atem noch im Nacken spüren, wenn es längst zu spät ist. Er hat eine intensive Sprengstoffausbildung genossen und kennt sich sogar mit diversen Giften aus. In CIA-Kreisen kursiert das Gerücht, dass er einst in einem Restaurant in Lahore in Pakistan eine Zielperson mit einem Blasrohr getötet hat, ohne dass deren Leibwächter ihn bemerkten.« Lloyd machte eine Kunstpause in seiner Geschichte. »Gentry saß direkt am Nebentisch. Er hat einfach weitergegessen, während das Opfer tot vom Stuhl kippte.«

Er räusperte sich noch einmal. »Sobald wir hier fertig sind, besteigen Sie alle ein Flugzeug. Wir schicken ein Dutzend Teams in einem Dutzend Maschinen in ein Dutzend Städte entlang der Route, von der wir annehmen, dass Gentry sie in den kommenden 48 Stunden durch Europa nehmen wird. Ich werde alle Aktivitäten von hier aus überwachen und koordinieren und alle Informationen an Sie weitergeben, die uns von den Beobachtungsposten erreichen. Jedes Team, das sich an der Jagd auf Gentry beteiligt und die Sache lebend übersteht, erhält eine Million Dollar plus Spesen. Und das Team, das ihn am Ende erledigt, erhält einen Bonus in Höhe von 20 Millionen Dollar.«

»Was werden die USA tun, wenn wir ihn ausschalten?«, fragte eine laute, afrikanisch klingende Stimme.

Lloyd schaute auf die Übertragung aus Liberia, war aber nicht sicher, wer von ihnen die Frage gestellt hatte. »Das haben wir bereits mit den Führern Ihrer Organisationen abgeklärt. Der Mann wurde von den amerikanischen Behörden bereits mit einem Bann belegt. Die CIA hat einen Schießbefehl ausgegeben. Er hat keine Freunde, keine nahen Familienangehörigen. Kein Mensch auf dieser Welt wird um ihn trauern, wenn er stirbt.«

Kurz darauf meldete sich jemand in einer asiatischen Sprache zu Wort. Als er fertig war, wollte der Übersetzer wissen: »Wo ist er jetzt?«

»Er ist gestern Abend nach Prag geflogen. Unsere Agenten fragen in jedem Hotel nach ihm, aber im Augenblick wissen wir nicht, ob er sich immer noch dort aufhält.«

»Welches Team schicken Sie nach Prag?«, fragte jemand.

»Die Albaner. Sie sind am dichtesten dran.«

»Das ist aber nicht fair!«, rief einer der Südafrikaner.

Lloyd setzte die Brille ab und massierte den Nasenrücken. »Ich will die Albaner nicht beleidigen, aber ich glaube nicht unbedingt, dass das erste Team, dem er über den Weg läuft, auch jenes sein wird, das ihn erwischt.«

Von den Albanern erklang ärgerliches Schimpfen, aber ein herrisches Zischen ließ den Protest sofort verstummen.

»Wir werden Gentry in den nächsten zwei Tagen auf jeden Fall töten. Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass uns das nur gelingt, indem wir ihn zermürben. Viele von Ihnen könnten bei dieser Aktion draufgehen.« Er hielt kurz inne, aber sein halbherziger Versuch, es so klingen zu lassen, als mache ihm das etwas aus, geriet allzu durchsichtig. »Außerdem ist überhaupt nicht gesagt, dass die Albaner sofort zum Zug kommen. Vielleicht ist er schon unterwegs nach Westen, wenn die Maschine landet. Wenn das der Fall sein sollte, wenn wir also seine Spur woanders als in Prag aufnehmen, werden wir Sie, meine geschätzten albanischen Kollegen, ins Flugzeug setzen und an anderer Stelle positionieren. Näher am finalen Ziel seiner Reise. Es ist also nicht automatisch ein Vorteil, die östlichste Ausgangsposition einzunehmen.«

Er setzte sich noch einmal aufrechter hin. Seine Silhouette wirkte schmal, aber muskulös. »Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal klarstellen, dass Sie bereit sein müssen, alles Notwendige in die Wege zu leiten, um diesen Job zu erledigen. Kollateralschäden interessieren mich überhaupt nicht. Wenn Sie ein Problem damit haben, dass irgendwo ein paar Kinder, Rentner oder Hundewelpen draufgehen, steigen Sie besser gar nicht erst in das verdammte Flugzeug, das Sie nach Europa bringt. Ihre Aufgabe ist es, Court Gentry umzubringen. Tun Sie das und Sie werden Ihre Arbeitgeber um Millionen bereichern. Den Dank der CIA gibt es als Sahnehäubchen obendrauf. Tun Sie es nicht, dann sterben Sie wahrscheinlich durch seine Hand. Am besten machen Sie sich ab jetzt um nichts anderes mehr Gedanken, bis die Sache über die Bühne ist. Noch Fragen?«

Es gab keine.

»Dann, meine Herren ... möge das Spiel beginnen.«

Am Morgen um Viertel nach vier betrat ein Sicherheitsoffizier, der für die große Logistikfirma der Laurent Group in Brünn arbeitete, ein schmales vierstöckiges Hotel im Bezirk Staré Město, der Altstadt von Prag. Er zeigte dem verschlafenen Mann an der Rezeption das Foto von Gentry. Der Alte sah sich das Foto ganz lange an und befand schließlich, dass er sich nicht ganz sicher sein konnte. Nachdem der Fremde mit dem stechenden Blick ihm 500 Kronen zugesteckt hatte, wurde er sofort gesprächiger. Er schwor Stein und Bein, dass der glatt rasierte Mann auf dem Bild und der bärtige Tourist in der Dachkammer ein und dieselbe Person waren.

Der Erfüllungsgehilfe rief Lloyd sofort an. Er zählte zu den Angestellten der Laurent Group und Lloyd hatte strikte Anweisung, die Leute im Unternehmen aus der Schusslinie herauszuhalten, also schickte er den Mann nach Hause.

»Ein Team ist auf dem Weg zum Hotel«, erklärte er.

»Wenn Sie ihn tot sehen wollen, kann ich das für 100.000 Kronen erledigen.«

Lloyd lachte leise in die Leitung. »Nein, das können Sie nicht.«

»Wollen Sie damit sagen, dass ich nicht in der Lage bin ...«

»Ja. Genau das will ich damit sagen.«

»Verfluchtes Americký-Arschloch.«

»Exakt. Ich bin das Americký-Arschloch, das gerade dein wertloses tschechisches Leben gerettet hat, also geh nach Hause und freu dich. Du bekommst schließlich einen Bonus für deine Entdeckung.«

»Ich hasse Amerikaner.«

Lloyd lachte laut, als er auflegte.

10

Gentry wachte um fünf Uhr morgens auf. Die Schusswunde am Oberschenkel brannte und pochte, die Nacht war generell alles andere als erholsam gewesen. Langsam und unter Schmerzen setzte er sich auf, beugte sich vor, um erst die untere Rückenpartie und dann die Waden zu strecken, bevor er aufstand und sich ein paarmal weit zur Seite beugte. Er wollte den Tag auf den Beinen verbringen. Noch hatte er sich zwar nicht überlegt, wohin es gehen sollte, aber je früher er das Hotel verließ, desto besser.

Er verschwand kurz auf der Toilette und kontrollierte seinen Wundverband, bevor er in die Kleidung vom Vortag schlüpfte. Dann spähte er aufmerksam aus dem Fenster und suchte die Straße nach Anzeichen einer Überwachung ab. Nachdem er nichts finden konnte, lief er die Treppe hinunter und verließ das Gebäude um fünf vor halb sechs.

In seinem Kopf hatte er bereits eine Checkliste für den Tag angelegt. Zuerst musste er sein Versteck hier in Prag aufsuchen und eine kleine Pistole herausholen. Fliegen wollte er fürs Erste nicht mehr. Die Flüge der vergangenen 24 Stunden waren ganz untypisch für ihn, denn Court hasste es, ohne Waffe unterwegs zu sein. Die Maschinen regulärer Fluggesellschaften bestieg er nur im äußersten Notfall und in den letzten vier Jahren war er nur ganz selten geflogen. Er fühlte sich nackt, als er unbewaffnet das Kopfsteinpflaster der dunklen und verlassenen Gassen von Prag unter den Füßen spürte. Den einzigen Trost lieferte das kleine Spyderco-Klappmesser im Hosenbund, das er einem kurdischen Polizisten abgekauft hatte. Besser als nichts, aber jeder Schusswaffe weit unterlegen.

Nachdem er die Waffe aus dem Versteck geholt hatte, wollte er die Stadt verlassen. Er plante, ein paar Scheine für ein billiges Motorrad hinzublättern und damit aus Prag abzuhauen. Er konnte eine Woche lang durch Tschechien oder die Slowakei brettern, von Dorf zu Dorf. Er hoffte, auf diese Weise in Sicherheit zu bleiben, bis der nigerianische Präsident aus dem Amt schied. Danach musste der ihn nur noch in Ruhe lassen.

Niemand verstand es, schneller oder spurloser abzutauchen als der 36 Jahre alte Amerikaner.

Als Court zur nächsten U-Bahn-Station ging, beschloss er spontan, seine Prioritäten neu zu sortieren. Er roch den frisch gebrühten Kaffee aus einem kleinen Café, das gerade öffnete. In diesem Augenblick erschien es ihm, als ob er den Kaffee mindestens so nötig hatte wie eine Waffe.

Aber da irrte er sich.

Dichter Nebel hing über der düsteren Straße vor dem Café. Gerade als Court die beiden Stufen erklomm und den winzigen Laden betrat, fing es an zu regnen. Er hatte den Eindruck, der erste Gast überhaupt zu sein. Courts Tschechisch reichte aus, um dem jungen Mädchen hinter dem Tresen einen guten Morgen zu wünschen. Dann zeigte er auf den großen Kaffeepott hinter ihr und auf ein großes Gebäckstück. Er sah zu, wie das blasse Mädchen ihm einen Pappbecher mit dem rabenschwarzen Gebräu füllte und sein Frühstück in eine Tüte packte.

Die Klingel über der Eingangstür bimmelte. Er schielte über die Schulter und sah drei Männer eintreten, die ihre Schirme zuklappten und den Regen von den Mänteln schüttelten. Sie wirkten wie Einheimische, aber das konnte er nicht mit Sicherheit sagen. Der vorderste Mann schaute Gentry an, als dieser seine Einkäufe mit zu dem kleinen Tisch nahm, auf dem Zucker und Milch standen.

Sein Blick blieb kurz an einem gerahmten Plakat an der Wand hängen, das eine Dichterlesung ankündigte, dann wanderte er zum Fenster und spähte nach draußen auf die nasse Straße.

Wenige Sekunden später stand er bereits wieder dort draußen, den Launen der Natur ausgesetzt, und ging schnellen Schrittes zur Metrostation Mustek. Weit und breit waren keine anderen Fußgänger zu sehen. Um diese Uhrzeit und bei dieser Kälte und dem Regen kein Wunder. Court machte die eiskalte Luft nichts aus, er war vielmehr froh darüber, dass sie seine Lebensgeister weckte, ebenso wie seine erschöpften Muskeln. Ein paar Lieferwagen kamen ihm auf der Straße entgegen und Gentry starrte angestrengt durch die Windschutzscheiben, als sie vorbeifuhren. Dann erreichte er den Eingang zur U-Bahn-Station und ging rasch die steilen Stufen hinab. Seine noch müden Augen gewöhnten sich nur langsam an das grelle elektrische Licht. Die weißen Kacheln reflektierten die Beleuchtung von oben, sodass es fast schmerzte.

Er folgte der Beschilderung einen gewundenen Tunnel entlang in Richtung Bahnsteig. Eine Rolltreppe brachte ihn noch tiefer unter die schlafende Stadt, eine andere Biegung führte ihn weiter in die hell erleuchteten Eingeweide der Metro hinein.