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Johannes Wally


Absprunghöhen



Erzählungen








Leykam

Widmung

Für Sandra

Zitat

Have you ever felt that you had a vocation?

(James Joyce, A Portrait of the Artist as a Young Man)

Kultaseni

Kirsti brauchte eine Wohnung, und so gab ich eine Annonce in der Kronenzeitung auf: „Junge Unternehmensberaterin sucht Wohnung, 50-70 m2, gute Verkehrs­anbindung, gerne auch Balkon.“ Eigentlich war Kirsti keine Unternehmensberaterin. Sie arbeitete beim Bundesamt für Statistik in Wiesbaden und erstellte dort die Todesursachenstatistik. Aber das konnte man nicht in eine Annonce schreiben. Wer vermietete schon gerne eine Wohnung an jemanden, der über Todesursachen Buch führt? So fragte zumindest Kirsti, und mein Argument, sie müsse ja nicht sagen, wo oder worüber sie Statistiken führe, wischte sie mit einer Handbewegung weg. Entweder eine ganze Lüge oder keine. Also machten wir aus ihr eine Unternehmensberaterin. Der Rest stimmte allerdings. Besonders der Teil mit dem Balkon.

Die Annonce erschien an einem klirrend kalten Samstag im Jänner, an dem wir bereits um sieben Uhr früh auf den Beinen waren, denn wir hatten ein dichtes Programm vor uns: Termine für fünf Wohnungsbesichtigungen waren vereinbart und vielleicht meldete sich noch jemand auf die Annonce hin. Und tatsächlich, als wir unseren zweiten Besichtigungstermin absolviert hatten, läutete mein Handy. Eine Frauenstimme fragte: „Sie suchen eine Wohnung?“

„Ja. Also, eigentlich meine Freundin.“

„Das trifft sich gut!“ Die Frau am anderen Ende der Leitung schien sich zu freuen. „Ich suche nämlich einen Nachmieter oder eine Nachmieterin!“

„Sie haben die Annonce gelesen?“

„Ja. Es wird Ihnen gefallen. Die Wohnung ist 70 m2 groß, es gibt einen Balkon, und die U2 ist auch gleich in der Nähe.“

„Wie hoch ist die Monatsmiete?“

„600 €.“

„Wirklich!“ Ich zwinkerte Kirsti, die mich fragend ansah, zu. Ich hatte so meine Zweifel gehabt, ob die Annonce mehr als nur hinausgeworfenes Geld war, aber offensichtlich hatte ich mich getäuscht. „Wann können wir die Wohnung ansehen?“

„Ich habe den ganzen Tag Zeit. Wenn Sie wollen, gleich.“

Es war zehn Uhr Vormittag und der nächste Besichtigungstermin war erst für zwei Uhr nachmittags angesetzt. Wir hatten also Zeit. Die Frau gab mir die Adresse, und wir fuhren los.

Wir waren uns vor einem halben Jahr im Hotel Braunsbergerhof begegnet. Unser gemeinsames Hobby, das Aquarell-Malen, brachte uns zusammen. Der ehemalige Architekt und nun freischaffende Maler Ulli Breiten­furter hielt einen Workshop mit dem Titel „Malen und Wandern in Südtirol“. Ich war alleine, schon seit zwei Jahren, und ein Seminar schien mir eine gute Gelegenheit, jemanden kennenzulernen oder zumindest einen schönen Urlaub zu verbringen. Am ersten Abend fand auf der Hotelterrasse ein Sektempfang für die Seminarteilnehmer statt, und Kirsti fragte mich, wie spät es sei. Als ich nicht sofort antwortete, ergriff sie mein linkes Handgelenk, hob und drehte es gleichzeitig, sodass sie das Ziffernblatt meiner Uhr sehen konnte. Ihr Vater sei Finne, ihre Mutter Berlinerin. Deswegen ihre direkte Art, erklärte Kirsti, als sie meinen überraschten Blick bemerkte. Außerdem sei sie eine starke Frau, die gerne Grenzen überschreite. Deswegen brauche sie auch einen starken Mann, der ihr gelegentlich Grenzen ziehe. Sie sah mich herausfordernd an, lächelte dann bezaubernd und ließ mein Handgelenk wieder los. Sie liebte das Malen, weil es die dritte ihrer vier Sprachen war: Da gab es die Sprachen-Sprache wie Finnisch oder Deutsch. Es gab die Statistik-Sprache mit all den Formeln und Vorzeichen. Es gab die Farb-und-Pinsel-Sprache. Die Sprache der Freude, der Welterkundung. Und es gab die Numerologie. Die Sprache der Wahrheit. Kundig, wie Kirsti darin war, errechnete sie, kaum dass sie mein Geburtsdatum kannte, meine Persönlichkeit. Ich sei eine Ziffer sieben. Der klassische Beobachter und Analytiker, ein Einzelgänger. Aber trifft so jemand seinen wahren Widerpart, ist es für immer. Dabei zog sie die Augenbrauen hoch. Später, als sie mir von ihrem Beruf erzählte, fragte ich sie, ob sich aus den Statistiken, die sie erstellte, auch Botschaften abseits gesundheitspolitischer Aussagen herauslesen ließen. Ob sich aus dem Todesdatum ein Weg in ein Leben danach errechnen ließe, in einen Himmel oder in einen neuen Körper; oder ob generell Koeffizienten und Regressionsanalysen mehr als nur eine statistische Annäherung an eine materielle Wirklichkeit seien. „Sei nicht dumm“, erwiderte Kirsti, „das sind zwei Paar Schuhe.“ Dabei tippte sie mir scherzend auf die Nase.

Für ein halbes Jahr besuchten wir uns im wöchentlichen Abstand. Einmal fuhr ich nach Wiesbaden, einmal kam Kirsti nach Wien. Mir machten die Zugfahrten nichts aus. Am Freitag-, oder manchmal, wenn es sich einrichten ließ, schon am Donnerstagabend, stieg ich in den Zug und kam frühmorgens in Frankfurt an. Dann nahm ich die Schnellbahn und stieg 40 Minuten später in Wiesbaden aus. Dort erwartete mich Kirsti und richtete mir jedes Mal den Kragen meiner Jacke, denn dieser war vom Schlafen im Zug verdreht. Ich hätte auch nach Frankfurt fliegen können, manchmal wäre das sogar billiger gewesen, aber ich fuhr immer mit der Bahn. Im Liegewagen durch die Nacht zu fahren: unerkannt vorbei an Häusern, Bäumen und Menschen, die nicht wissen, dass du an ihnen vorbeigefahren bist, und die morgen noch immer in ihrem Leben, in ihren Häusern, neben ihren Bäumen und Menschen sein werden, während du bereits ganz woanders bist. Das war für mich Abenteuer. Das war für mich Freiheit. Als ich das Kirsti erzählte, malte sie mir ein Aquarell mit einem ungewöhnlichen Motiv: eine Detailansicht des Triebwerks einer Dampflokomotive. Hebel, Kurbeln, Exzenter. Messingfarbene Gelenke vor roten Rädern. Dampf steigt auf, die Räder sind im Begriff sich in Bewegung zu setzen. Das Bild ist gegensätzlich. Das Motiv wird durch die Maltechnik kontrastiert. Aber das passte zu Kirsti, und ich war sehr verliebt.

Und nun wollte Kirsti nach Wien ziehen. Ihr Job, so sicher er auch war, gefiel ihr nicht, und Wiesbaden war nicht die Stadt, in der sie alt werden wollte. Außerdem war eine Fernbeziehung auf Dauer nur schwer zu machen. Wir wollten beisammen sein, und Kirsti hatte mehr Gründe ihren Wohnort zu verlassen als zu bleiben. Zusammenziehen wollten wir aber doch nicht gleich. Schritt für Schritt. Das war ihre Devise, immerhin war sie ihres Vaters Tochter und der war ein strenggläubiger Lutheraner.

Die Wohnung lag in einem Jugendstilhaus, das trotz bzw. gerade wegen des vernachlässigten Stiegenhauses einen gewissen Charme hatte. Bei der Türnummer 11 klingelten wir. Eine attraktive, etwas überschminkte Frau in einem seidenen Morgenmantel öffnete uns die Tür. „Elisabeth Kainz“, stellte sie sich vor und streckte erst Kirsti, dann mir die Hand hin: „Kommen Sie weiter!“

Die Wohnung bestand aus Küche, Toilette und Badezimmer, zwei großen Wohnräumen und einem kleinen Schlafzimmer. Für einen Altbau im 2. Bezirk war die Wohnung überaus platzsparend konzipiert. Es gab keine großen Vorzimmer und keine Dienstbotengänge; auch waren die Zimmer nicht allesamt durch Türen verbunden. Frau Kainz führte uns in das Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Dort lag eine zusammengeknüllte Decke, und auf dem Tisch stand ein eben geleerter Aschenbecher so, dass er bequem von der Couch aus erreicht werden konnte. „Sie müssen entschuldigen“, sagte Frau Kainz, „aber ich schlafe seit einigen Wochen im Wohnzimmer. In das Schlafzimmer gehe ich nicht mehr. Wegen meines Freundes, wissen Sie. Aber sehen Sie sich ruhig um!“

Kirsti hatte auf ihre Einladung gar nicht erst gewartet und inspizierte bereits die Räume. Die Wohnung war geschmackvoll eingerichtet, modern, wobei alle Möbel demselben Design folgten und ausschließlich gerade Linien und harte Winkel aufwiesen. Die Kücheneinrichtung war ebenfalls neu, neben dem Kühlschrank standen zwei leere Weinflaschen, in der Spüle lagen zwei Weingläser, eines davon zerbrochen. Im Schlafzimmer hing ein kubistisches Bild einer Städtelandschaft und im Arbeitszimmer die gut einen Quadratmeter messende Frontalansicht einer mit Ölfarben gemalten Wespe. Es war ein eindrucksvolles Bild, mir machte es Angst, aber Kirsti war begeistert. Als wir schließlich am Balkon standen und in den Augarten sahen, stand ihre Entscheidung fest: Diese Wohnung musste es sein.

Wir setzten uns zu Frau Kainz. „Die Wohnung ist toll“, sagte Kirsti, „auch wie sie angelegt ist!“ Frau Kainz lächelte. Eigentlich sei diese Wohnung nur ein Teil einer viel größeren Altbauwohnung gewesen, aber in den Siebzigerjahren sei die Wohnung aufgeteilt worden. Sie selber lebe schon seit fünf Jahren hier, und immer habe sie sich wohl gefühlt. Aber jetzt würde sie nichts mehr hier halten. Sie schlafe ja auch nicht mehr im Schlafzimmer, sondern im Wohnzimmer. Sie zuckte mit den Schultern, lächelte traurig, dann sagte sie: „Seitdem das mit meinem Freund passiert ist, will ich weg. Mein Leben ändern. Und da habe ich heute die Zeitung aufgeschlagen und gedacht, vielleicht passiert heute etwas. Und tatsächlich: Da war Ihre Annonce. Ich habe sofort angerufen.“

Ich wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. Kirsti schon: „Was ist denn mit Ihrem Freund?“

„Verunglückt ist er. Bungeejumping. Vor zwei Monaten.“

Jetzt schwiegen wir alle.

Schließlich sagte Frau Kainz: „Also die Wohnung gefällt Ihnen?“ Wir nickten und Kirsti erwiderte: „Die beiden Bilder! Die sind großartig! Würden Sie mir die dalassen?“ Ich zuckte zusammen, so dreist kam mir die Frage vor. Frau Kainz schüttelte den Kopf. Dann aber neigte sie den Kopf abwägend von einer Schulter zur andern und hob schließlich zustimmend die Hände: „Mein Freund hat sie gemalt. Aber was soll ich noch damit … Nur: Schenken kann ich sie Ihnen nicht!“ Kirsti hob abwehrend die Hände. Frau Kainz nahm eine Zigarette und hielt uns das Päckchen hin. Wir lehnten dankend ab. Das Feuerzeug funktionierte nicht, und so stand Frau Kainz auf, um sich aus dem Arbeitszimmer ein neues Feuerzeug zu holen. Vor der Zimmertür blieb sie mit der Hand auf der Türklinke stehen. Ohne die Tür zu öffnen, verharrte sie für vielleicht zehn oder fünfzehn Sekunden, vielleicht auch länger, den Blick abwesend auf den Boden gerichtet. Dann erst trat sie ein. Als sie wiederkam und die Zigarette endlich angesteckt war, war jedoch von irgendeiner Irritation nichts zu merken. Kurz entschlossen sprach ich sie auf die Miete an: Ob sich diese im Falle einer Neuvermietung nicht erhöhen würde. Da machte Frau Kainz ein schlaues Gesicht: „Den Wohnungsbesitzer kenne ich gut. Überlassen Sie das nur mir.“ Wir vereinbarten, am Donnerstagabend wiederzukommen, um die Übergabemodalitäten zu klären. Dann, so Frau Kainz, könne sie uns auch schon mehr zur Miete sagen. Auch könnten wir dann besprechen, ob wir Möbel übernehmen wollten und wie hoch die Ablöse sei. Auch zum Kaufpreis der Bilder könne sie dann schon Näheres sagen.

Wir sahen uns noch die anderen Wohnungen an, aber für Kirsti stand es bereits fest: Die Wohnung von Frau Kainz musste es sein. „Schreckt dich die Geschichte vom Unglück ihres Freundes nicht ab?“ Kirsti zuckte mit den Achseln: „Statistisch gesehen ist der Tod ein einmaliges Ereignis in der Lebensspanne eines jeden Menschen!“ Nein, sie würde einfach eine Wohnung von einer Frau übernehmen, die diese Wohnung geliebt hatte und die nun einen Neuanfang suche. Das war doch etwas Schönes. Und überhaupt, sie glaube zwar an alles Mögliche, aber nicht an Gespenster. Dabei sah sie mich mit einer Mischung aus Triumph und Selbstironie an, und ich umarmte sie und wir tanzten ein paar Takte Walzer auf dem Gehsteig. Sie freute sich so und ich freute mich, sie so glücklich zu sehen. Mir gefiel die Wohnung auch gut, aber ich bin da nicht so heikel, und ich stellte mir vor, wie wir abends auf dem Balkon sitzen würden, ein Glas Wein in der Hand, während der Himmel dämmrig wird und das Dämmerlicht selbst die Flaktürme weich erscheinen lässt.

Als wir am Abend in meiner Garçonnière im Bett lagen und uns müde, aber zufrieden aneinanderschmiegten, hob Kirsti plötzlich ihr Gesicht und wurde nachdenklich. Hoffentlich würde nicht alles zu teuer werden. Ob sie genug Geld für die Ablöse, die Bilder und womöglich die Kaution hätte? Und was, wenn die Miete teurer als 600 € sein würde? Jetzt einen Kredit aufnehmen, wo sie doch kündigen wollte, würde schwierig werden. Sie müsse ja noch ihre Sachen von Wiesbaden nach Wien bringen. Auch das koste Geld. Sie schmiegte sich wieder an, und obwohl sie nichts mehr sagte, wusste ich, dass sie Angst hatte. Angst davor, dass etwas zu schön ist, um wahr zu sein. Angst davor, dass sich eine Möglichkeit als Verheißung tarnt und als Enttäuschung entpuppt. Ich legte meinen Arm fester um sie. Vor ein paar Jahren hatte ich in einen Immobilienfonds investiert, der nach wie vor ganz passable Renditen machte. Der Vertrag lief zwar noch über zwei Jahre, doch ich hatte schon einige Zeit mit dem Gedanken gespielt, meine Anteile zu verkaufen. Ich schlug Kirsti vor, ihr, wenn notwendig, Geld zu borgen. Sie könne es mir ja zurückzahlen, sobald sie einen Job hatte. Und beim Übersiedeln würde ich ihr sowieso helfen. Kirsti küsste mich auf die Wange. Dann murmelte sie jenen Kosenamen, mit dem sie ihr Vater gerufen hatte, als sie klein war, und den sie, hin und wieder, gemäß einem für mich nicht durchschaubaren Muster, auch für mich bereithielt. Kultaseni. Vier Mal hatte sie mich, seitdem wir uns kannten, so genannt. Mein kleines Gold.

Die nächsten Tage war ich nur Kultaseni. Kultaseni, komm her, Kultaseni, schau dir das an. Manchmal, z. B. als sie mich auf der Aussichtsterrasse am Leopoldsberg fotografierte, war ich auch einfach nur Gold. „Kulta“, rief Kirsti, „jetzt lächle doch einmal!“ Ich hatte mir eine Woche freigenommen, und wir unternahmen ausgedehnte Spaziergänge durch den verschneiten Wienerwald und wurden nicht müde uns zu erzählen, wie schön alles werden würde. Das Wetter war kalt, aber sonnig, und nach unseren Spaziergängen wärmten wir uns bei einer Leberknödelsuppe auf, und abends massierte ich Kirstis Fußsohlen und schlief an ihre Schulter geschmiegt und in den Schlaf gestreichelt ein. Es waren fünf Tage wie in einer anderen Welt. Als ob Kirstis Kosename die Welt verändert hätte. Ich habe unlängst, angesteckt von Kirstis Interesse, versucht, aus der Quersumme der Datumsangaben dieser fünf Tage einen Grund für die Besonderheit dieser Zeit herauszulesen. Warum alles so einfach, so intensiv und dennoch so unbeschwert war. Diese Frage müsste man eigentlich Kirsti stellen, damals aber dachte ich nicht daran, denn ich war glücklich und brauchte keine Erklärung.

Und dann kam der Donnerstag. Das Treffen mit Frau Kainz war für 18:30 Uhr ausgemacht. Kirsti war voller Vorfreude, aber auch Anspannung, und auch ich fühlte so etwas wie Reisefieber, ein bisschen so, wie ich mich immer kurz vor der Abfahrt des Zuges nach Frankfurt gefühlt hatte. In Erwartung, dass sich die Räder jeden Moment in Bewegung setzen würden.

Wir läuteten an der Wohnungstür, und ich war über die Schritte, die man hörte, als sich Frau Kainz der Tür näherte, überrascht. Ihr Gang war anders als in meiner Erinnerung. Die Schritte waren schwerer und die Schrittfrequenz geringer. Es war auch nicht Frau Kainz, die uns die Tür öffnete. Ein Mann, etwa Anfang fünfzig, stand vor uns. Er war barfuß, trug eine Jeans und ein offenes Hemd. Sein dünnes Haar hatte er mit Gel nach hinten gekämmt, er war kräftig gebaut und sah uns abweisend an: „Was wollt ihr?“

„Wir haben einen Termin mit Frau Kainz, wegen der Wohnung?“

„Wie bitte?“

„Wegen der Wohnungsübernahme.“

„Gibt’s nicht.“

„Doch. Wir haben am Samstagvormittag mit ihr gesprochen. Es war eigentlich alles abgemacht, wir wollten nur mehr die Details klären.“

„Gibt’s nicht.“

„Was heißt, gibt’s nicht?“, wiederholte ich ärgerlich, da packte mich der Mann am Schal und presste mich gegen den Türstock. Kirsti schrie laut auf und wollte den Mann hindern, doch er versetzte ihr mit der freien Hand einen Stoß, dass sie zurücktaumelte. Der Mann schien etwas sagen zu wollen, doch er wurde von Frau Kainz unterbrochen. Sie war inzwischen ins Vorzimmer gekommen, nicht dass ich das sehen konnte, denn ich war viel zu sehr damit beschäftigt, Luft zu kriegen, auch konnte ich nicht anders als den Mann anzustarren, doch ich hörte Frau Kainz schreien. Raus oder ich hole die Polizei. Raus oder ich hole die Polizei. Raus oder ich hole die Polizei. Sie war offensichtlich betrunken. Mit einem geübten Griff stieß mich der Mann in den Gang hinaus: „Kommt nie wieder.“ Er schloss die Tür und ein Klatschen war zu hören. Dann war Ruhe. Kirsti nahm mich bei der Hand: „Komm, gehen wir!“

Kirsti blieb noch eine Woche bei mir, aber es war nicht mehr dasselbe. Ich schlug ihr vor, noch weitere Wohnungen anzusehen, aber Kirsti hatte keine Lust. Schließlich meinte sie: „Eigentlich ist es noch zu früh, dass ich nach Wien komme. Wir müssen ja nichts überstürzen.“ „Warum?“, fragte ich sie. „Ist es wegen der Wohnung?“ Kirsti schüttelte den Kopf und sah an mir vorbei: „Na ja, schön war sie schon … Aber wir haben uns ja rauswerfen lassen!“

„Aber es ist doch nur eine Wohnung, Kultaseni !“

„Sag nicht Kultaseni zu mir!“

„Wieso?“

„Nur mein Vater darf mich so nennen!“

Ich verstand nicht, was sie meinte, und wie um ihrer Aussage die Schärfe zu nehmen, strich sie mir über die Hand. Eine Erklärung blieb sie mir jedoch schuldig, und ich fragte nicht weiter nach. Manchmal weiß man einfach, wann etwas keinen Sinn mehr hat. Beim Abschied am Westbahnhof waren wir beide bemüht, alles so zu machen wie immer. Als der Zug losfuhr, lief ich ein Stück neben ihrem Fenster her, und sie warf mir eine Kusshand zu. Doch irgendetwas war geschehen, und als Kirsti auch drei Tage nach ihrer Abfahrt nicht anrief, wusste ich: Das war es gewesen. Zwei Wochen später erhielt ich einen Brief, der mein Gefühl bestätigte.

Mehrere Wochen konnte ich nicht schlafen. In meinem Versuch, Gründe für das Platzen unseres Traumes zu finden, gelangte ich immer wieder zu Frau Kainz und diesem Mann, und Ende März, es war ein Montagmorgen, stieg ich in die U-Bahn und fuhr zu Frau Kainz’ Wohnung. Einen von den beiden, sie oder diesen Mann, würde ich zur Rede stellen. Mir war klar, dass ich gegen den Mann nichts ausrichten konnte, er hatte Übung in Gewalt, und so zog ich meine schweren Winterschuhe mit den Metallkappen an und packte den Briefbeschwerer ein. Für alle Fälle. Während der U-Bahn-Fahrt stellte ich mir vor, wie ich dem Mann mit dem Briefbeschwerer den Schädel einschlagen würde, und ich wurde dabei so wütend, dass ich einige Male unkontrolliert mit den Händen zuckte.

Bei der Türnummer 11 läutete ich mehrmals. Nichts war zu hören. Ich nahm den Briefbeschwerer und drosch gegen die Tür. Die Tür zitterte, gab jedoch nicht nach. Dafür öffnete sich die Nachbarstür für die Länge der Türkette. Es war eine alte Frau.

„Wo ist denn Frau Kainz?“, fragte ich. Durch den Spalt erwiderte sie: „Die habe ich schon einige Zeit nicht mehr gesehen.“

„Und ihr Freund?“

„Welcher Freund?“ Die Nachbarin schien hinter der Tür schien zu schmunzeln. „Frau Kainz hatte viele Freunde, wenn Sie das so nennen wollen. Manchmal an einem Tag. Tut mir Leid. Da kann ich Ihnen nicht helfen.“

Die Tür schloss sich wieder und ich war alleine im Stiegenhaus. Schließlich steckte ich den Briefbeschwerer in die Tasche und ging. Als ich wieder in der U-Bahn saß, läutete mein Handy. Es war mein Finanzberater. Er teilte mir mit, dass mein Immobilienfonds aufgrund der derzeitigen Situation für eine gewisse Zeit eingefroren würde, mindestens für drei Monate, maximal für ein Jahr. Während dieser Zeit könne weder eingekauft, noch verkauft werden. Nur so könnten eine objektive Neubewertung des Fonds bewerkstelligt und Panikverkäufe verhindert werden. Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, schließlich hatte er den Fonds seinerzeit so gelobt, außerdem war die Verbindung schlecht.

Das Gespräch war bald beendet.

Eine Märchenlandschaft

Eines Morgens hatte Leitner den längst vergessen geglaubten Schweißgeruch an sich entdeckt, und ein wenig ratlos war er aufgestanden und hatte sich mit derselben Sorgfalt rasiert, die ihn bereits als Kind an seinem Vater verwundert hatte. Auch heute war er besonders gründlich rasiert und die irritierte Haut seiner Wangen schmerzte an der kalten Luft. Dennoch hatte er einen Umweg gemacht.

Auf dem Rückweg vom A&O war er den Kirchberg hinunter, vorbei beim Gasthof Gruber aus dem Dorf hinaus in den Wald gegangen, in jeder Hand eine Einkaufstasche, die mit Brot, Käse, Mandarinen, ganzen Erdnüssen und Mineralwasserflaschen gefüllt waren. Die abgegriffenen Taschen waren schwer, und die Henkel schienen trotz der Wollhandschuhe die Haut seiner Handflächen zu furchen. Der Frost war auch in diesem Jahr pünktlich zu Allerseelen gekommen und hatte die Landschaft verglast.

Zügig ging Leitner am Rand der Bundesstraße und unter seinen Schritten klirrte der Boden und seine Atemzüge standen ihm wie Rauchwolken vor dem Gesicht. Ein Auto kam ihm entgegen, der Fahrer ließ grüßend das Fernlicht aufblitzen, und Leitner erwiderte den Gruß mit einem Nicken. Vor vierzehn Jahren hatte er die Dorfbücherei ins Leben gerufen, vor allem, damit ihm die Pension nicht allzu langweilig wurde. So kannten ihn die Leute der Umgebung. Donnerstags am Abend, von fünf bis sieben Uhr, und sonntags am Vormittag, von neun bis halb zwölf: Da war die Bücherei geöffnet. Und die Leute kamen, ließen sich Bücher empfehlen und tratschten: über ihren Sohn, der nicht das Gymnasium fertig machen, sondern wie die Freunde verdienen gehen wollte, über die Tochter, die Samstag abends nicht mehr nach Hause kam, über Probleme beim Einschlafen, die der Hausarzt nicht behandeln konnte, über den bevorstehenden EU-Beitritt, von dem man nicht wusste, was man von ihm halten sollte. Leitner hörte mit viel Geduld und Ruhe zu, und die Leute mochten ihn, ohne sich für ihn zu interessieren. Das war ihm nicht unrecht. Er hatte kein Bedürfnis von sich zu sprechen.

Nachdem er etwa eine Viertelstunde gegangen war, kam er an den Feldweg, der die Verbindung zwischen der Siedlung am östlichen Rand des Dorfes und der Bundesstraße darstellte. Obwohl die Statistiken eine Abwanderung der Bevölkerung aus dem Bezirk um Gmünd verzeichneten, wuchs die Siedlung ständig und wurde im Verlauf eines Jahres oft um zwei bis drei Rohbauten erweitert.

Sie bauten alle viel zu groß. Sie bauten, als hätten sie einen Lottogewinn oder eine Erbschaft gemacht. Sie bauten für ein ewiges Dasein, für ihre Pension, ihre Kinder, ihre Kindeskinder und die Generationen danach. Doch die Kinder suchten ihr Glück in den umliegenden Städten und alleine blieben die Eltern in riesigen Häusern zurück, bewohnten vielleicht drei oder vier der vielen Zimmer und benutzten die restlichen Räume als Gerümpelkammern, in denen sie Ersatzteile, Schaufeln, Gießkannen und Kinderspielzeug lagerten. An manchen Sonntagen öffneten die Männer morgens die unbewohnten Zimmer und starrten auf das Durcheinander, ohne die Schwelle zu übertreten. Unrasiert und beide Hände tief in die Hosentaschen vergraben standen sie einfach da und sagten kein einziges Wort. Die wenigsten zahlten ihren Kredit vor der Pension zurück.

Die Häuslbauer kamen nicht gut miteinander aus. Sie begegneten einander mit Vorsicht und in Angst vor einer bösen Nachrede. Selten wechselten sie mehr als die üblichen Grußworte, und zwang sie ein Umstand dennoch zu einer Unterhaltung, dann sprachen sie stockend und brachen das Gespräch mitten im Satz ab. Freundschaften gab es nur unter den Kindern und verloren sich, sobald diese mit dem Schulaustritt jeder Gemeinsamkeit verlustig gingen. So verließen die Leute ihre Häuser nur, um zur Arbeit, zum Friedhof oder zum Wirten zu gehen. Außer der einen Städterfamilie, die jetzt nur mehr selten ihre Wochenenden am Land verbrachte, kannte Leitner niemand von hier.

Er erreichte die Mariensäule, die den Schnittpunkt von Ortskern und Siedlung markierte. Dort hielt Leitner an und stellte die Einkaufstasche ab. Er streckte sich und blickte auf die mater dolorosa. Leitner war klein mit flinken braunen Augen, die hinter eckigen Brillen in Deckung lagen. Er nahm den Hut ab und fuhr sich über das Haar. Es war der Hut seines Vaters. Dieser hatte sich die mit einer Hahnenfeder geschmückte Kopfbedeckung zum sechzigsten Geburtstag gewünscht und war dann, ohne sie jemals getragen zu haben, verstorben. Heute war sein Todestag.

„In den Mantel helfen dürft ihr mir erst nach dem ersten Schlaganfall“, hatte der Vater nach jeder Familienfeier gescherzt, und selbst wenn die vielen Krügerln und Vierteln aus dem Anlegen des Mantels ein schier unausführbares Kunststück gemacht hatten und der Vater mit seinen nach hinten gestreckten und in den Einschlupflöchern der Ärmel verfangenen Hände wie ein riesiger Schmetterling um den Mittelpunkt eines konzentrisch anwachsenden Kreises tanzte, duldete er nicht die geringste Hilfestellung. „Schleich dich“, fauchte er dann jeden an, und einmal ließ er mit einem Fluch den Mantel einfach auf den Boden fallen und ging im Sakko nach Hause. Drei Wochen nach seinem sechzigsten Geburtstags starb er. Eines Morgens lag er im Bett und stand einfach nicht mehr auf, und wie Leitner später Jochen erzählte, sei er einfach dagelegen, als wäre das Sterben das Natürlichste im Leben.

Meine Mama sagt, wenn man stirbt und im Leben auf den lieben Gott gehört hat, dann kommt man in den Himmel“, hatte Jochen geantwortet. Und dann hatte er zu Leitner gesagt: „Darf ich zu dir Opa sagen?“ Und als Leitner erstaunt fragte, was denn Jochens Opa dazu sagen würde, hatte Jochen geantwortet: „Den stört das nicht, der ist schon im Himmel.“ Da hatte Leitner gelächelt und eingewilligt.

Leitner zog die Handschuhe aus, bückte sich und holte aus einer Einkaufstasche das Säckchen mit den Erdnüssen heraus. Er öffnete es, nahm eine Handvoll und steckte sie in seine Manteltasche, die übrigen Nüsse verstaute er wieder in der Einkaufstasche. Er nahm eine Erdnuss und brach die Schale auf. Feiner Staub tanzte zu Boden. Er schob die Erdnuß in den Mund. Die Braunau würde nun bald ganz mit Eis überwachsen sein. Als sie Jochen aus dem Fluss zogen, war er so steif gefroren gewesen, dass sie ihm beim Versuch das Stück Holz herauszulösen, das er in den Händen hielt, die Finger brachen. Leitner fixierte die mater dolorosa. Die Witterung hatte ihr Gesicht bis zur Unkenntlichkeit erodiert. An einem Donnerstagabend im Oktober war Jochen in die Bücherei gekommen – klein, feingliedrig, mit porzellanblauen Kinderaugen – und fragte, ob er sich etwas zum Lesen ausborgen könne. Zufällig war Leitner alleine in der Bücherei, und neugierig musterte er den Buben. „Grüß dich. Wer bist denn du?“, fragte er Jochen, und Jochen nannte seinen Namen im reinsten Hochdeutsch. Mit unverhohlener Neugierde stand er eineinhalb Meter von Leitners Schreibtisch entfernt und betrachtete die vielen nach Themenbereichen geordneten Bücher.

„Was interessiert dich denn?“, fragte Leitner.

„Naja ... ich muss jetzt gehen“, erwiderte Jochen mit einiger Verzögerung, dafür umso hastiger, „kann ich morgen wiederkommen?“

„Morgen bin ich nicht da, aber wenn du am Sonntag kommst, bin ich wieder hier. Wenn du dann ein Buch findest, dann schreibe ich dir einfach eine Karteikarte mit einer Karteinummer, und dann kannst du dir das Buch mitnehmen, und pro Woche, die du es ausgeborgt hast, zahlst du zwei Schilling.“ Jochen nickte eifrig, dann war er verschwunden gewesen.

Leitner nahm noch eine Erdnuss. Eine kurznackige Frau kam mit einem zusammengefalteten Tischtuch aus dem Haus. Sie blickte misstrauisch zu Leitner hinüber, beutelte das Tischtuch aus und ging wieder ins Haus. Am Rand der Siedlung ließ jemand einen Dieselmotor an, und das plötzliche Geräusch überlagerte das Klingen in Leitners Ohren. Dann war es wieder so ruhig, als gäbe es in einer gläsernen Welt kein Geräusch.

Brünhild, hatte Leitner erzählt, lebe im ewigen Eis, doch ihre Burg war von einem Ring aus Feuerzungen umgeben, den nur ein wahrer Held durchdringen konnte. Sie war so schön, wie sie dunkel war, eine große Dunkelheit mit den kühlen Augen einer Herrenfrau. Jochen unterbrach Leitner mit der Frage, ob Brünhild größer als ein Meter achtzig gewesen sei, und irritiert erwiderte Leitner, dass er das nicht wisse, als er aber Jochens Enttäuschung sah, beeilte er sich, die Walküre noch einmal um fünf Zentimeter wachsen zu lassen. Jochen wollte alles genau wissen, wahrscheinlich war er der aufmerksamste Zuhörer, den Leitner jemals gehabt hatte.

Er zog seine Handschuhe wieder an, hob die Taschen vom Boden auf und machte sich weiter auf den Weg. Seine rechte Schulter schmerzte, es waren die Gelenksschmerzen; auch die kamen jedes Jahr um diese Zeit wieder. Als Jochen am Sonntag nach jenem Donnerstag die Bibliothek betrat, hatte Leitner ein Buch bereitgelegt. Eine illustrierte Nacherzählung des Nibelungenlieds, deren Einband Siegfrieds Kampf mit dem Drachen zeigte. Jochen trat zielstrebig ein, blieb aber abwartend in einiger Entfernung stehen. Leitner winkte ihn zu sich und hielt dem Buben das Buch hin. Ob er das schon kenne. Jochen schüttelte den Kopf. Das müsse er unbedingt lesen. Es werde ihm gut gefallen. Jochen erwiderte, dass er aber erst in zwei Wochen wiederkommen könne, da er nach Wien fahre. „Nimm das Buch mit, aber bring es mir wieder. Ich habe es extra für dich vorbereitet.“

Die Straße war alt und der Asphalt stellenweise von knapp unter der Erdoberfläche liegenden Baumwurzeln gesprengt. In Gedanken verloren stolperte Leitner über eine Unebenheit und konnte sich nur mühsam auffangen. Vom Schreck pochte sein Herz so stark, dass sein Brustkorb schmerzte. Vor seinen Augen tanzten schwarze Flecken. Als sich sein Blick wieder scharfgestellt hatte, bemerkte er, dass er nur wenige Meter von der Stelle entfernt stand, an der sie Jochen aus der Braunau gezogen hatten. Jochen musste an einer nur von dünnem Eis überwachsenen Stelle weiter flussaufwärts eingebrochen und dann starr von Schreck und Kälte ins Wasser gerutscht sein. Dann hatte ihn wohl die Strömung erfasst und hierher gespült. Auf den farbigen Fleck unter der dünnen Eisschicht unweit von der Brücke aufmerksam geworden, verständigte ein Spaziergänger die Polizei. Diese hatte bereits vor einigen Stunden eine Verlustnachricht der Eltern erhalten und als großstädtische Nervosität abgetan. Nun aber befürchtete man das Schlimmste und rückte gemeinsam mit der Freiwilligen Feuerwehr aus. Zur Seelenmesse hatte sich Leitner unter die zehnte Kreuzwegstation gesetzt. „Ich bin immer gottgläubig gewesen“, begann er zu beten. Über diesen Anfang war er nicht hinausgekommen.

Das Stechen in der Brust ließ nach, ohne ganz zu verschwinden. Leitner war alt geworden und würde an seinem Alter sterben, dabei hatte er viel Schlimmeres überlebt als Gelenksschmerzen, Stechen in der Brust oder Sehschwächen. Vor beinahe fünfundvierzig Jahren, nachdem er aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, hatte er seinen Beruf als Volksschullehrer wieder aufgenommen. Einmal im Jahr, meistens im Mai, hatte er die umliegenden Schulen der Umgebung besucht und den Kindern die Geschichte vom Drachentöter und seiner Liebe, von König Etzel, vom schwachen König Gunther, von Albrecht und dem Schatz der Nibelungen erzählt. Vor allem aber von Hagens Treue. Bedingungslose Treue. Oft war er dabei ins Schwärmen gekommen.