Angeline Bauer

So finde ich mein Glück -

Märchen zum Gelingen des Lebens


Impressum

Copyright © Januar 2015 by arp

Ausgabe September 2015

Originalausgabe Gütersloher Verlagshau 2002

Herausgeber by arp / Ledererstraße 12 / 83224,Grassau / Deutschland

Alle Rechte vorbehalten

Das Werk ist urherberrechtlich geschützt und darf auch auszugsweise nur mit Genehmigung des Herausgebers wiedergegeben werden.

Covergestaltung by arp

Coverfoto Angeline Bauer

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Einst wurden Märchen zum Beispiel in Spinnstuben oder an Lagerfeuern von Erwachsenen für Erwachsene erzählt. Mehr oder weniger symbolisch verschlüsselt, handeln sie fast immer von allgemeingültigen Problemen, die das Leben in irgendeiner Weise beeinflussen. Sie schenken Trost und sind weise. Wer sich auf Märchen einlässt und tiefer blickt, findet in ihnen Antworten auf Lebensfragen, Konfliktlösungen und Kraft zum Gelingen des Lebens. Durch die intensive Beschäftigung mit Märchen, deren Deutung und Entschlüsselung der enthaltenen Botschaften, ist es möglich, sich schrittweise den eigenen Problemen und ihrer Bewältigung zu nähern.

In ‚So finde ich mein GlückMärchen zum Gelingen des Lebenssetzt sich Angeline Bauer am Beispiel traditioneller Märchen mit Wünschen, Ängsten und Hoffnungen rund um das Thema Glück auseinander. Die Helden der Märchen, die hier tiefenpsychologisch gedeutet werden, nehmen den Leser an der Hand, erleben und erleiden für ihn und mit ihm allerhand Geschicke.

Ein interessantes und lehrreiches Buch, das Erwachsenen und Kindern Hilfestellung gibt, ein glücklicheres und zufriedeneres Leben zu führen


Inhalt

Einführung

Glück - was ist das?

Über die Unzufriedenheit

Kinder und Jugendliche und das Thema Glück

Über die Angst zu versagen

Die heilende Kraft im Märchen

Glück hat seine Zeit

Vom Hans im Glück und der Leichtigkeit des Seins

Hans im Glück

Märchen und ihre besondere Bedeutung für ein gelingendes Leben

Der Jäger im Glück

Das Glückskind und das Unglückskind

Wir suchen, was wir kennen

Prinzessin Unglücklich

Zwei Prinzessinnen im Unglück

Prinzessin Unglücklich und die drei Schwestern

Im Haus der Krämerin und bei der Amme

Nähren und Pflegen

Der neue Name und die Heirat mit dem Fürsten

Der Traum vom vermeintlichen Glück

Die drei Gaben

Die glückliche Familie

Hans und Herr Kluck

Zum Glück gehört die Demut

Vom Glück durch den Glauben

Vier Rabbiner im Siebten Himmel

Goldener

Vom langen Weg, ein König zu werden

Vom Mythos der romantischen Liebe und der Hoffnung, durch sie das Glück zu finden

Märchenhafte Liebe

Glück durch die Liebe

Die Geschichte vom tölpelhaften Mann

Der unglückliche Hirte

Eine kleine Übung, uns selbst glücklich zu machen

Was dreimal gesagt wird ist wahr

Vom Felsenadler, der versuchte, eine Blaufußente zu werden

Nachwort

Anhang

Quellen

Weitere Märchen zum Thema

Literatur


Einführung

Willst du immer weiter schweifen?

Sieh, das Gute liegt so nah.

Lerne nur das Glück ergreifen,

Denn das Glück ist immer da.

Johann Wolfgang von Goethe

Glück – was ist das?

Fragt man einen erfolgsorientierten Mitteleuropäer was er unter Glück versteht, wird die Antwort ganz anders ausfallen, als die eines australischen Buschmannes oder eines hinduistischen Mahanten (heiliger Lehrer). Die Definition von Glück orientiert sich immer auch an der Gesellschaft. Es hätte wohl wenig Sinn, einem deutschen Manager oder einem englischen Börsenmakler einzureden, dass glücklich nur der sein kann, der sich allen weltlichen Zwängen entzieht. Sofern er nicht ohnehin schon beschlossen hat, sich von seinem bisherigen Leben abzuwenden und in ein Kloster zu gehen, würde er über solche Ratschläge wohl höchstens den Kopf schütteln.

Um einen passenden Modus für sein Glück zu finden, ist es darum zweckvoller, nach Wegen zu suchen, das Äußere (Gesellschaft, soziale Anforderungen) und sein persönliches Inneres (Persönlichkeit, Wünsche, Begabung) aufeinander abstimmen zu können.

Was ist also Glück, hier bei uns, in unserer Gesellschaft?

Der Umfrage einer populären deutschen Zeitschrift zufolge wird Glück von den meisten Menschen mit Erfolg gleichgesetzt. Auch Glück und Geld, Glück und Liebe, Glück und Gesundheit werden oft in einem Atemzug genannt. Nicht mehr ganz so oft wird Glück mit Kindern in Verbindung gebracht, danach folgen ganz persönliche Wünsche und Hoffnungen, z. B. eine bestimmte Reise, jemanden wiedersehen oder Ähnliches.

Um der Sache etwas tiefer auf den Grund zu kommen, habe ich eine eigene kleine Umfrage gestartet, und zwar im Bekannten- und Familienkreis. Hier die Antworten:

»Glück ist für mich, einen Mann zu haben, mit dem ich mich verstehe, und eine gute Freundin dazu. Schon einen von beiden zu finden ist ja ein Glück, erst recht beide! Kinder sind natürlich auch etwas Wunderbares. Aber Kindern gibt man, und man hat nicht das Recht, von ihnen etwas zurückzuerwarten. Und sie verlassen einen. Der Partner und die Freundin bleiben. Das heißt, vielleicht bleiben sie ... wenn man Glück hat.«

»Glück ist Zufriedenheit. Denn wer zufrieden ist, ist immer auch glücklich.«

»Glück ist, etwas zu finden ohne gesucht zu haben oder etwas zu suchen und es auch wirklich zu finden. Und Glück ist, wenn jemand etwas Besonderes von einem liebt, das man selbst noch gar nicht kannte.«

»Ich bin sehr neugierig auf Gott und die Welt. Darum bin ich glücklich, wenn ich etwas erleben kann. Zum Beispiel eine schöne Reise. Aber am glücklichsten bin ich, wenn ich danach wieder gesund nach Hause komme. Also muss Glück doch etwas mit Heimat zu tun haben.«

»Pfingsten war ich in Oberau, das ist ein Dorf im Allgäu. Dort ist es noch Brauch, das Pfingstfest gemeinsam zu begehen. Das ganze Dorf trifft sich um vier Uhr nachts, um Kerzen anzuzünden und gemeinsam um die Gaben des Heiligen Geistes zu bitten. Diese Verbundenheit mit der Natur, mit Gott, mit allen Menschen zu spüren, diese Einheit, das gemeinsame Erleben von Ehrfurcht, Demut und Hingabe, das gibt mir ein ganz tiefes Glücksgefühl.«

»Ein ganz tiefes Glücksgefühl habe ich einmal empfunden, als ich am Atlantik auf einem Felsen saß und die untergehende Sonne beobachtete. Weit und breit war kein Mensch da außer mir. Was ich da empfand, war wie eine Erleuchtung. In diesem Moment habe ich begriffen, wie nichtig ich bin und wie wichtig zugleich, was Liebe ist, was Gott ist ... einfach alles. Dieses Glücksgefühl hat noch lange angehalten. Ich werde das nie vergessen.«

»Das größte Glücksgefühl empfand ich einmal bei einer Selbsterfahrungsübung im warmen Wasser. Ich lag auf dem Rücken, hatte die Augen geschlossen, wurde an Kopf, Füßen und Händen gehalten und sanft hin und her bewegt. Nach und nach konnte ich mich ganz loslassen. Irgendwann gab es nichts mehr, nur noch mich. Die Welt war vollkommen entrückt. Keine Anforderungen, keine Sorgen, eben einfach nichts. Das war das pure Glück. Ich glaube, so ähnlich fühlt sich ein Fötus im Mutterleib.«

Die Antworten von Kindern:

»Ganz glücklich bin ich beim Fußballspielen, weil dann alle zusammenhalten, und dann merke ich, dass wir Freunde sind.«

»Glücklich bin ich, wenn ich mit meiner besten Freundin spiele. Dann vergessen wir alles andere, und alles ist so, wie wir es wollen.«

»Glücklich bin ich, wenn ich mit der Ballettschule auftreten darf, weil mir dann alle beim Tanzen zuschauen.«

»Ich mag Pferde ganz arg gern. Darum ist es am schönsten beim Reiten-dann bin ich ganz glücklich.«

»Ich bin glücklich, wenn ich einen guten Tag in der Schule hatte, Menschen nett zu mir sind und ich gute Freunde wiedertreffe, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe.«

Das letzte Kind bringt Glück ganz klar mit Freude in Zusammenhang. So auch eine achtzigjährige Frau aus der Nachbarschaft, die in ihrem Leben viel Schlimmes durchmachen musste. Sie sagte schlicht: »Glücklich bin ich, wenn ich mich über etwas freuen kann.«

Auch die Wissenschaft hat Antworten auf die Frage nach dem Glück parat. Bittet man einen Physiologen zu erklären, wie Glücksgefühle im Körper entstehen, wird er sich vermutlich so oder so ähnlich äußern: »Unser Gehirn stößt bestimmte Stoffe aus - wir könnten sie auch körpereigene Drogen nennen - die an Nervenzellen andocken und sich dann über einen langen Weg ins Bewusstsein vorarbeiten.«

Hier einige der wichtigsten Stoffe die glücklich machen und was sie bewirken:

Adrenalin und Notadrenalin - das sind sogenannte Stresshormone, die körperlich und psychisch aktivieren.

Dopamin - diesen Stoff benötigen wir vor allem für die Bewegungssteuerung, er beflügelt aber auch die Fantasie und weckt so die Kreativität.

Endorphine - sie stillen Schmerzen und treiben das Stimmungsbarometer nach oben. Im molekularen Aufbau ähneln sie dem Morphium.

Oxytocin - löst die Geburtswehen und den Milchfluss aus und steigert die sexuelle Lust.

Östrogen, Gestagen (weibliche Sexualhormone), und Testosteron (männliche Sexualhormone) - sie bewirken u. a. die Bildung der Brust oder des Bartwuchses.

Serotonin - dieser Stoff wirkt an vielen verschiedenen Stellen im Gehirn, steuert den Schlaf-Wach-Rhythmus und sorgt für Ausgeglichenheit und innere Ruhe. Im Volksmund wird das Serotonin auch »Glückshormon« genannt.

Tryptophan - diesen Eiweißbaustein, aus dem der Körper Serotonin bildet, nehmen wir über die Nahrung auf.

Vasopressin (auch ADH genannt) - erhöht den Blutdruck und reguliert die Flüssigkeitsausscheidung des Körpers.

Über die Unzufriedenheit

Jeder will glücklich sein. Aber fragt man Leute: »Bist du glücklich?« bekommt man allzu oft Klagen zu hören. Dabei geht es meist um Stress am Arbeitsplatz, um Geldsorgen, um Krankheit in der Familie oder darum, dass keine Zeit mehr für sich selbst bleibt. Und auch dann, wenn alles »irgendwie« stimmt, könnte es doch immer noch ein bisschen besser sein!

Unzufriedenheit hat sich zu einer Art »elementaren Grundgefühls« unserer Gesellschaft entwickelt, das uns antreibt, immer mehr zu wollen, zu leisten und zu verbrauchen. Natürlich weiß man, dass auch dieses wie alles im Leben, zwei Seiten hat. Einerseits ist Unzufriedenheit der Motor, der das Wirtschaftswachstum ankurbelt und sowohl in Technik und Forschung als auch im privaten Bereich Neues entstehen lässt. Andererseits verursacht Unzufriedenheit aber auch eine ganze Menge Verbitterung, denn nichts lässt Glück so sehr scheitern wie ein unzufriedenes, freudloses Herz.

Dass so viele Menschen in unserer Gesellschaft »das Glück verloren haben«, hat vor allem einen Grund - die äußeren Dinge, also materieller Wohlstand und Karriere, sind uns wichtiger geworden als die inneren, wie Persönlichkeit, Liebe, Freundschaft und Vertrauen.

Um diese äußeren Dinge zu erreichen, hat man uns oft schon von klein an darauf getrimmt, mit Ellenbogen zu kämpfen, Macht anzustreben und notfalls sogar »über Leichen zu gehen«, oder man hat es versäumt und uns damit dem Frust ausgesetzt, in unserer leistungsorientierten Gesellschaft immer nur die mittleren und hinteren Plätze einzunehmen.

Ein anderer Grund zum Unglücklichsein kann das Fehlen eines Zieles sein. Wer keinen Plan hat, kann ihn auch nicht verwirklichen. Er wird auf der Suche nach »seiner Insel« vielleicht ewig »auf dem großen Meer umherfahren«, ohne sie je zu finden, obwohl er schon etliche Male an ihr vorbeigekommen ist. Zwar lässt sich das Leben nicht fest verplanen und das Schicksal nicht in die Knie zwingen, aber ohne Ziel wird der Weg allzu leicht zum Irrweg.

Doch auch die Zielsetzung birgt wiederum Gefahren in sich. So manch einer lässt sich, mehr als ihm bewusst ist, von den Medien beeinflussen. Filme, Zeitschriften, Werbung und das aufgebauschte Leben von Prominenten bestimmen unsere Wünsche und Wertvorstellungen, und so setzen wir uns oftmals völlig unrealistische Ziele, die nie erreicht werden können und leben in einer Traumwelt, die kaum noch etwas mit der Realität gemein hat.

So hat sich eine junge Frau aus dem Bekanntenkreis einer Klientin zu Tode gehungert, weil sie als klassische Tänzerin scheiterte und den Grund dafür nicht in den Grenzen ihrer Begabung suchte, was das wirkliche Problem war, sondern in eingebildeten Figurproblemen. Hätte sie die Grenzen ihrer Begabung vor sich zugegeben, hätte sie von ihrem Traum, eine berühmte Solistin zu werden, Abschied nehmen müssen. Solange sie aber »überflüssigen, Pfunden« dafür die Schuld gab, konnte sie an ihrem Ziel festhalten; sie musste ja nur so lange hungern, bis sie endlich schlank genug sein würde, um ein Soloengagement an einem großen Opernhaus zu bekommen.

Gerade dieses absurde Beispiel - absurd, denn schließlich kann eine junge Frau von 1,67 Metern Größe mit anfangs 58 Kilo, später 50, 45 und schließlich nur noch 39 Kilo nicht zu dick sein - zeigt, wie weit Illusion und Wirklichkeit auseinander klaffen können, und wie wenig solch eine Traumwelt noch mit logischer Wahrnehmung zu tun hat.

Diese junge Frau war mit allem ausgestattet, was Grund und Boden für ein glückliches Leben hätte sein können. Sie war gesund und schön, ihre Eltern waren begütert, sie hatte Fantasie, war intelligent und gebildet und sehr musikalisch. Sie hatte das Zeug, Choreographin, Musiklehrerin, Stepp- oder Musicaltänzerin zu werden, aber für das klassische Fach an einem großen Opernhaus reichte es einfach nicht aus.

Wenn das eigene Vermögen und das gesetzte Ziel zu weit auseinander klaffen ist das Scheitern vorprogrammiert. Ängste, Dauerstress und Depressionen sind die Folge. Voraussetzung für das Finden des Glücks sind darum neben der Besinnung auf innere Werte auch das klare Definieren von Zielen und die Anpassung dieser Ziele an die eigenen Fähigkeiten und die eigene Persönlichkeit.

Kinder und Jugendliche und das Thema Glück

Dies alles gilt ebenso für Kinder und Jugendliche. Gerade sie sind ja sehr leicht zu beeinflussen, denn sie sind noch auf der Suche nach ihrer Persönlichkeit und einem Lebensziel.

Kinder lernen durch »abgucken«. Wie sehr zeigt ein Experiment, das vor vielen Jahren von amerikanischen Verhaltensforschern durchgeführt wurde.

Die Forscher wollten herausfinden, inwieweit Kinder durch das beispielhafte Verhalten Erwachsener zu beeinflussen sind. Man teilte die Kinder im Alter von zehn bis elf Jahren in zwei Gruppen und ließ sie an einem Wettkampfspiel teilnehmen, bei dem es Gutscheine zu gewinnen gab, die dann später in einem Spielzeugladen eingelöst werden konnten. Die eine Gruppe konnte nach dem Spiel beobachten, wie ein Erwachsener einen Packen Gutscheine in einen Kasten steckte, auf dem ein Foto von Waisenhauskindern in ärmlicher Kleidung angebracht war, über dem geschrieben stand: »Für die Kinder von Trenton«. In dieser Gruppe spendeten knapp die Hälfte der Kinder einen Teil ihrer Gewinnbons ebenfalls.

Von den anderen Kindern, denen man kein solches »Vorbild« gab, spendete kein einziges.

Von diesem Beispiel ist leicht abzuleiten, wie schnell und nachhaltig Kinder auch durch Medien zu beeinflussen sind. Durch Filme, Werbung, Jugendzeitschriften werden ihnen ständig neue Lebensmodelle vorgeführt, denen sie nachzueifern versuchen, die aber so gut wie nie zu erreichen sind.

Das erfolglose Nacheifern vorgegebener Modelle hat natürlich Konsequenzen für die Psyche. Schon sehr früh lernen und verinnerlichen derart handelnde Kinder und Jugendliche, dass sie im Grunde »Versager« sind, weil sie ihre Ziele nicht erreichen können und kompensieren das häufig, indem sie immer härtere Mutproben durchstehen (z. B. S-Bahn-Surfen oder das Spiel »Luft anhalten bis zum Umfallen«). Oder sie betäuben ihren Frust und greifen zu Drogen. Schon ein Großteil der Kinder unter 14 Jahren raucht, viele trinken, und nicht wenige nehmen sogar harte Drogen wie Ecstasy oder gar Heroin.

Sehen wir hingegen glückliche und zufriedene Kinder, sind es immer Kinder, die sich von Eltern, Großeltern oder Freunden angenommen fühlen, denen weder eine heile noch eine chaotische sondern eine ausgeglichene Welt vorgelebt wird, die einer gesunden Realität entspricht und in der erreichbare Ziele gesetzt werden.

Über die Angst zu versagen

Versagensangst produziert Misserfolge und Misserfolge produzieren Versagensangst - wer in dieser Spirale gefangen ist, kann ihr oft nur noch mit therapeutischer Hilfe entkommen.

Ein siebzehnjähriger junger Mann - nennen wir ihn Harald - hatte mit viel Mühe und Fleiß, trotz schlimmer familiärer Probleme in den ersten zehn Jahren seines Lebens, den qualifizierten Hauptschulabschluss geschafft. Dann fing er mit einer Lehre an, die ihm vom ersten Moment an keinen Spaß machte. Diese Unlust und massive Probleme mit seiner Meisterin, die ihren eigenen Frust auf die Lehrlinge übertrug, führte zu immer schlechteren Noten. Ein halbes Jahr vor Beendigung kündigte er seine Lehrstelle, aus Angst in der Gesellenprüfung zu versagen.

Diese Angst zog sich von da an durch sein Leben. Er tat alles, um keine andere Lehrstelle zu finden, vermied Kontakte zu Menschen, die etwas von ihm fordern könnten, blieb immer länger im Bett, verschlief schließlich dreiviertel des Tages und kümmerte sich nicht mehr um sein Fortkommen oder irgendwelche sozialen Kontakte. Seine Strategie: Bevor ich zum Versager werde, entziehe ich mich den Anforderungen des Lebens.

Dieser Rückzug (man nennt das nach einer Romanfigur auch die Oblomowsche Krankheit) dauerte fast ein ganzes Jahr und kostete die Familie viele Nerven. Erst als die Eltern ihn regelrecht zwangen eine Lehrstelle anzutreten, die sie für ihn gesucht hatten, konnte er die innere Barriere überwinden und wieder am Leben teilnehmen.

Wer wie Harald unter Versagensängsten leidet, hat Schwierigkeiten mit den ganz normalen, alltäglichen Anforderungen des Lebens. Er kann keine Verantwortung übernehmen, es fällt ihm schwer, Risiken abzuschätzen und Entscheidungen zu treffen. Und weil er seine Fähigkeiten grundsätzlich als negativ einstuft und unbewusst die Erwartung hegt, nicht zu genügen oder hilflos zu reagieren, wird er genau dies tun, um sich selbst zu bestätigen.

Angst vor Herausforderungen und Rückschlägen und die Unfähigkeit, eigene Erfolge oder zumindest Teilerfolge zu erkennen, hält diese Menschen in einem seelischen Dauertief gefangen und macht sie in hohem Maße unglücklich. Selbstbewusste, erfolgreiche Leute hingegen sehen Fehlschläge nicht als Versagen an, sondern versuchen, aus ihnen zu lernen. Sie rechtfertigen sich auch nicht, sondern bemühen sich, ihren Fehler zu korrigieren, wie das im Allgemeinen auch Märchenhelden tun. Immer wieder geraten sie ja durch Fehlentscheidungen in eine missliche Lage oder sie hatten bereits alles gewonnen, verspielen es dann aber aus Unachtsamkeit wieder. Doch statt aufzugeben, ziehen sie los, um das Verlorene zurückzuerobern, bestehen Abenteuer und Herausforderungen und reifen an ihnen. Und immer erlangen sie am Ende um vieles mehr, als sie zu Anfang hatten. So zeigen uns die Märchen, wie wichtig es sein kann, »Fehler« zu begehen, denn durch sie sind wir gezwungen, uns aus der Sicherheit und der Geborgenheit herauszubegeben und uns auf neue Erfahrungen einzulassen.