cover
Alfred Bekker, Ann Murdoch

Flüche im Mondlicht: Drei Romantic Thriller

Cassiopeiapress Spannung





BookRix GmbH & Co. KG
81371 München

Flüche im Mondlicht: Drei Romantic Thriller

von Alfred Bekker & Ann Murdoch

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 296 Taschenbuchseiten.

 

Drei dramatische Romantic Thriller in einem Band: Dunkle Geheimnisse, übernatürliche Bedrohungen, mysteriöse Begebenheiten - und eine Liebe, die sich dem Grauen widersetzt. Darum geht in diesen packenden romantischen Spannungsromanen.

 

Dieses Buch enthält folgende drei Romane:

Ann Murdoch: Steinerne Rache

Alfred Bekker: Das Phantom von Tanger

Ann Murdoch: Alptraum aus der Gruft

 

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Authors, Cover: Firuz Askin

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

 

 

 

Steinerne Rache

von Ann Murdoch


Ein uralter Schwur.

Köpfe rollen, und dahinter steckt ein Plan.

Ritualmorde in Glasgow? Polizistin Philippa Somerville arbeitet verbissen an diesen düsteren, blutigen Fällen und setzt alles daran, sie aufzuklären. Zum Glück steht ihr der befremdlich erfahrene Geschichtsprofessor Nicholas Raymond bei.

Als das ungleiche Team jedoch auf einer schottischen Insel und deren Anwesen Kincurd Manors festsitzt, rasen die Ereignisse rasch auf eine Eskalation zu und die Ermittlerin wie auch der Historiker drohen den Kopf zu verlieren …



1

Ein Lagerfeuer brannte lichterloh und erhellte die Nacht, genährt von Holzstämmen, die laut knackten, wenn das darin enthaltene Harz verbrannte. Ein Kreis von Männern in schwarzen Roben mit blutroten Schriftzeichen umgab das Feuer weiträumig, und in der ungefähren Mitte dieses Kreises standen sich zwei Männer gegenüber. Auch sie trugen die Roben. Die Hände der Männer umklammerten jeweils den Griff eines Schwertes, die Spitzen der Waffen deuteten zu Boden.

Die Flammen brachen sich flackernd auf den Klingen und malten bizarre Figuren.

„Einer muss sterben, damit seine Kraft auf die anderen übergehe. Das Los hat entschieden, wer darum kämpfen darf, seine Kraft freizugeben. Möge der Bessere verlieren.“ Die dumpfe Stimme, die die rituellen Worte sprach, schien von überall und nirgends zu kommen. Zustimmendes Murmeln ertönte aus den Reihen der vermummten Gestalten.

Hier, im Sommer des Jahres 1562, im schottischen Lowland, wurde ein unheimliches Ritual abgehalten. Während in Frankreich gnadenlos die Hugenotten verfolgt und zu Tausenden abgeschlachtet wurden, tötete man hier um eines seltsamen Glaubens willen, der Macht und Unsterblichkeit verhieß.

Die beiden Männer mit den Schwertern grüßten sich auf sehr formelle und ehrerbietige Weise, dann nahmen sie Aufstellung und begannen mit dem Kampf. Es wirkte wie ein Tanz, geschmeidige Bewegungen, das blitzschnelle Herumwirbeln der Waffen, Schlag, Abwehr, Angriff – ein tödlicher Tanz. Es waren zwei Meister des Schwertes, gestählt durch einen lebenslangen Kampf gegen die englischen Eroberer, jetzt im Dienst eines uralten unbekannten Glaubens, der seine Opfer forderte. Außer dem Klirren den Waffen und den heftigen keuchenden Atemzügen der Männer war nichts zu hören. Die Schläge der Kämpfer wurden verbissener, je länger der Kampf dauerte, es kostete viel Kraft, ein Schwert so gut zu führen. Endlich aber schien einer der beiden einen leichten Vorteil zu erringen, und plötzlich drängte er seinen Gegner mit harten gezielten Schlägen zurück. Und dann ging alles ganz schnell. Der Stärkere trieb den anderen in die Enge, und jedermann erwartete den tödlichen Streich, der den Kampf beenden musste. Doch der Schwächere richtete sich plötzlich auf. Es sah aus, als erwarte er den tödlichen Stoß. Dann drehte er sich mit einer geübten Bewegung herum, brachte die Waffe in Position, und als der Gegner näherkam, trennte der Mann ihm den Kopf ab. Mit einem einzigen sauberen Hieb tötete er. In einer wilden Fontäne schoss das Blut aus dem Körper, der zuckend zu Boden fiel. Der Kopf rollte beiseite wie ein Ball, aber der Kämpfer nahm ihn schnell auf und hielt ihn stolz und ehrfurchtsvoll hoch.

„Möge die Kraft über uns kommen“, rief er laut. Die anderen Männer streckten die Arme hoch und wiederholten seine Worte. In diesem Augenblick ertönte lautes Hufgetrappel. Wie aus dem Nichts tauchten bewaffnete Reiter auf und umzingelten die Versammlung. Die völlig überraschten Männer zogen aus ihren Roben Schwerter hervor und begannen sich gegen die Reiter zu verteidigen, doch sie waren hoffnungslos unterlegen.

„Engländer“, stieß einer der Männer hasserfüllt hervor. „Ihr könnt uns hier und heute töten, aber selbst aus dem Grab heraus noch werden wir euch verfolgen – bis in alle Ewigkeit.“

Das Gemetzel dauerte nicht lange, die Männer des Geheimbundes waren den Angreifern nicht gewachsen. Als alle schließlich in einem wahren See aus Blut am Boden lagen, verschwanden die Reiter.

Einige Zeit später richtete sich eine der Gestalten am Boden auf. Zornig und traurig betrachtete er das Schlachtfeld. Seine Verletzungen waren schwer, aber nicht tödlich, wie er hoffte. Mit einiger Mühe rappelte er sich auf, sein hasserfüllter Blick folgte den Reitern.

„Bis in alle Ewigkeit“, murmelte er zornig.



2

Die Schlagzeilen schrien es in großen Lettern in die Welt:

„Viertes Opfer des Kopf-Rippers! – Wieder eine kopflose Leiche! – Wer ist der Kopfmörder? – Sadist tötet viertes Opfer durch Kopf-ab!“

Philippa Somerville sah die Schlagzeilen mit gemischten Gefühlen. Die Polizei sah in diesem Fall gar nicht gut aus, und sie war Polizistin. Zusammen mit ihrem Partner Charles Graham hatte sie der Commissioner auf diesen außergewöhnlichen Fall angesetzt. Natürlich standen in den Zeitungen nicht alle Einzelheiten, aber Tatsache war und blieb es nun einmal, dass da draußen jemand herumlief, der Männern den Kopf abschlug.

Die Verbrechensrate hier in Glasgow war zwar nicht gerade niedrig, aber die Brutalität, mit der diese Morde verübt wurden, ließ auch hartgesottene Polizisten nicht kalt. Und so hatte es zunächst Probleme gegeben, als Graham und Philippa der Fall übertragen wurde.

„Das ist nichts für Frauen“, war die einhellige Meinung. Doch Philippa, die allgemein nur Phil genannt wurde, hatte klug eingewandt, dass eine Leiche ohne Kopf auch nicht unappetitlicher sei als die verstümmelten Frauenleichen aus dem letzten Jahr. Sie hatte mit Charles zusammen den Fall gelöst, und sie hatte an sich halten müssen, als sie den Mörder endlich erwischten, sonst wäre die Wut mit ihr durchgegangen. Commissioner Lamont hatte Phil und Charles trotzdem gewarnt.

„Wir haben kein Motiv und kein Schema. Das scheint alles so ohne Sinn zu sein, und der Mörder geht äußerst brutal vor, passt auf euch auf.“

Aber bisher tappten sie noch im Dunkeln, und diese Schlagzeilen ärgerten Philippa.

Das Opfer war John Davies, ein angesehener Immobilienmakler, und er wurde unter einer Brücke des Clyde gefunden. Was der Presse nicht bekannt war – allen Opfern war der Kopf ordentlich wieder an den Körper gelegt worden, außerdem hatte jede Leiche einen Zettel in der Tasche. „Bis in alle Ewigkeit!“ Die Laboranalysen dieser Zettel waren ausgesprochen mager, keine Fingerabdrücke, das Papier war Massenware, und nur die Schrift bot ein paar Anhaltspunkte. Es handelte sich um eine kalligraphische Schrift, sehr alt und schwierig zu schreiben. Und so blieben diese Nachrichten der einzige Anhaltspunkt, der der Öffentlichkeit natürlich vorenthalten wurde.

Charles und Phil hatten sich tage- und nächtelang den Kopf zerbrochen und schließlich sogar in alten Unterlagen nach ähnlichen Fällen gesucht. Wider Erwarten waren sie fündig geworden.

„Allein im Grenzgebiet zwischen Schottland und England hat es immer wieder Fälle gegeben, in denen jemandem der Kopf abgeschlagen wurde. Insgesamt seit Einführung der aufgezeichneten Fälle sieben, natürlich außer unseren“, stellte Graham nach dem Studium unendlich vieler Akten fest.

„Ja, aber alle im letzten Jahrhundert“, erwiderte Phil trocken. „Du glaubst an eine Art Ritual?“

Er nickte. „Eine geheime Bruderschaft, oder was auch immer“, seufzte er müde.

Philippa steckte sich eine Zigarette an, überging das Stirnrunzeln ihres Kollegen und nahm einen tiefen Zug.

„Du solltest nicht rauchen“, bemerkte er dann. Sie lächelte freudlos. „Glaubst du ernsthaft, dass das bei unserem Stress noch etwas ausmacht?“

Graham schwieg. Das war der einzige Punkt, der ihn an ihr störte, wenn sie sich richtig in einen Fall verbissen hatte, konnte sie zur Kettenraucherin werden. Graham liebte seine Kollegin, aber bisher hatte er noch nicht den Mut gefunden, sie um ihre Hand zu bitten, obwohl sie sich seit mehr als sechs Jahren gut kannten. Er machte sich manchmal Sorgen um sie, aber sie war eine gute Polizistin, und es gab keinen Grund für ihn, sie zu sehr zu schützen. Außer seiner uneingestandenen Liebe.

„Machen wir Schluss für heute“, schlug Phil vor. Es war schon gegen sechs Uhr nachmittags, der Herbst zog über das Land, und es wurde früh dunkel. Die beiden griffen nach ihren Jacken.

„Soll ich dich begleiten?“, fragte Charles. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, danke, ich will noch einkaufen.“

Die Partner gingen durch die Tür nach draußen, als ein Beamter eilig hinter ihnen herlief. „He, da kommt gerade eine Meldung herein. In der Nähe der Cook Street läuft angeblich jemand mit einer Machete oder einem Schwert herum.“

„O nein, nicht noch ein Verrückter“, entfuhr es Phil.

„Schickt einen Wagen hin und lasst ihn festnehmen, wir kümmern uns morgen darum. Oder meinetwegen der Chef der Nachtschicht“, befahl Graham. Kopfschüttelnd folgte er seiner Partnerin.

„Phil, warte mal“, rief er. Dann nahm er ihren Arm und ging ruhig mit ihr weiter. Sie schaute ihn fragend an, während er plötzlich nach Worten suchte. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er sich gerade entschieden, wusste aber nicht recht, wie er es ihr sagen sollte.

„O Phil, wir kennen uns schon eine ganze Weile“, druckste er herum. Sie ahnte plötzlich, was kommen würde, das Herz schlug ihr bis zum Halse, und die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen sich. „Es ist vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt, aber ich habe nur jetzt den Mut – ich meine – verstehst du mich? Ich will – ich möchte – Phil, willst du mich heiraten? Ich bin vielleicht nicht der beste aller Männer, aber ich liebe dich. Schon lange, meine ich. Sag, willst du meine Frau werden?“

Philippa lehnte sich gegen eine Hauswand, sie blickte Charles mit ihren leuchtenden grünen Augen an, Augen, die so gut zu ihrem kupferfarbenen Haar passten. Ihre Farben spiegelten den Herbst in Schottland wider, und ihr Gesicht mit den Sommersprossen auf der hellen Haut wurde ernst.

„Lass mich etwas darüber nachdenken, Charlie“, bat sie weich. „Ich habe dich sehr gern, aber ich weiß nicht, ob ich überhaupt heiraten will.“

Er blickte sie niedergeschlagen an. Sie beugte sich vor und gab ihm einen sanften Kuss. „Wenn ich überhaupt heiraten will, bist du die erste Wahl. Aber lass mir etwas Zeit, ja?“

Eine leise Hoffnung malte sich auf Grahams Zügen, und er zog sie eng an sich.



3

Das Telefon schrillte hartnäckig, und Charles Graham tauchte nur widerwillig aus seinem schweren Traum auf. Schlaftrunken angelte er mit der rechten Hand nach dem Hörer und meldete sich schließlich muffelig.

„Ist dort Charles Graham, der Polizist?“, fragte eine tiefe wohlmodulierte Männerstimme.

„Ja, zum Teufel. Es ist – zwei Uhr früh, und ich glaube nicht, dass Sie anrufen, damit ich mich ausweise. Was wollen Sie, wer immer Sie sein mögen?“

„Wenn Sie etwas über den Kopf-Ripper erfahren wollen, kommen Sie so schnell wie möglich zum Saltmarket. An der Ecke zum Park wird Sie jemand treffen.“

Es klickte, der Anrufer hatte aufgelegt. Graham fluchte unterdrückt. Er war jedoch überzeugt, dass dieser Anruf ernst zu nehmen war. Wie viele Polizisten hatte er eine Geheimnummer, und es bereitete nicht geringe Mühe, diese Nummer ausfindig zu machen. Wenn sich also jemand diese Arbeit machte, hatte er etwas Wichtiges zu sagen. So sprang er aus dem Bett und kleidete sich rasch an. Flüchtig überlegte er, Phil anzurufen oder Verstärkung anzufordern, entschied sich aber dann dagegen. Vielleicht war ja auch nichts dran an der Sache, dann sollte Phil wenigstens schlafen. Dennoch hatte er ein ungutes Gefühl dabei, schob es aber beiseite.

Graham fuhr durch die relativ ruhigen nächtlichen Straßen und kam rasch voran. Er stellte seinen Wagen am Saltmarket ab und ging suchend hin und her. Rechts von ihm war der Park, weiter südlich befand sich der Clyde. Niemand war zu sehen, und er wollte schon verärgert wieder zurückfahren, als plötzlich wie aus dem Nichts eine Gestalt auftauchte. Ein Mann. Er trug einen langen dunklen Mantel und kam mit ruhigen geschmeidigen Schritten auf den Polizisten zu. Graham versuchte das Gesicht zu erkennen, doch die Straßenlaternen gaben nicht genug Licht, zumal der Fremde es vermied in den vollen Lichtschein zu treten.

„Haben Sie mich angerufen?“, fragte Graham.

Der Fremde lachte leise auf. „Ja. Sie sind Charles Graham, dessen Vorfahren einst aus England kamen, um unser Volk zu unterjochen?“

„Wie bitte?“ Graham war ziemlich fassungslos, dann nickte er wie unter Zwang. „Ja, ich glaube schon, dass meine Vorfahren von jenseits der Grenze kamen. Aber was macht das aus, wir sind doch alle Briten.“

„Das sehe ich anders.“ Mit einer raschen fließenden Bewegung holte der Mann plötzlich ein Schwert unter seinem Mantel hervor. „Hier, nehmen Sie und verteidigen Sie sich. Mehr hatten unsere Leute damals auch nicht.“

Bevor Graham eine Abwehrbewegung machen konnte, hatte er instinktiv nach der Waffe gegriffen und hielt sie ungelenk von sich ab.

„Was soll das?“, fragte er verständnislos. „Was habe ich Ihnen getan? Was wollen Sie überhaupt von mir?“

„Ihre Vorfahren, Engländer, haben meine Glaubensbrüder abgeschlachtet. Ich will Rache, nicht mehr und nicht weniger. Sie haben die gleiche Chance wie meine Brüder, ein Schwert. Und nun verteidigen Sie sich.“

Er hielt plötzlich ein zweites Schwert in der Hand und vollführte damit geschmeidige Bewegungen. Es schien, als wären er und die Waffe eins. Wie eine Schlange, schoss es Graham durch den Kopf. Er bereute mittlerweile, dass er Phil nicht informiert hatte. Aber für diese Selbstvorwürfe war es jetzt zu spät. Der Schritt des Fremden wurde tänzelnd, er umkreiste sein Opfer mit wachsamen Blicken.

Graham war geschockt, und die ungewohnte Waffe lag schwer in seinen Händen. Er hielt sein Gegenüber für verrückt und wusste nicht recht, wie er ihm begegnen sollte. Er hatte natürlich seine Dienstwaffe dabei, doch sie ließ sich nicht mit einer einzigen Bewegung ziehen. Da die Nacht kalt war, hatte er seine Jacke zugeknöpft.

„Hast du Angst, Engländer?“, höhnte der andere.

Graham schüttelte unwillig den Kopf, obwohl er eigentlich gehorsam nicken wollte. Natürlich hatte er Angst, nur ein Narr würde jetzt keine haben. Wenn dies hier die Vergeltung für ein vor Jahrhunderten begangenes Unrecht war, dann hatte er den Kopf-Ripper vor sich. Und der würde ihn töten, gnadenlos und ohne Unrechtsbewusstsein, es sei denn, Graham war mit dem Schwert besser. Doch das schien unwahrscheinlich. Charles hob ungeschickt die Waffe und ging in eine instinktive Abwehrhaltung.

„So ist es gut, Engländer.“

Der Fremde griff ohne ein weiteres Wort an.



4

Am frühen Morgen klingelte ein Telefon.

„Es ist vollbracht“, sagte eine Männerstimme.

„Bis in alle Ewigkeit!“

Der Hörer wurde aufgelegt. Eine Gestalt ging über lange, dunkle Treppen in einen versteckt gelegenen Raum. Auf einer großen Steintafel waren Namen eingemeißelt, eine Kopie dieser Namenstafel lag auf einem Tisch. Die Gestalt strich einen Namen durch.

„Graham“, sagte eine Stimme befriedigt. „So ist es gut, ich erfülle dein Vermächtnis.“

Es war der fünfte Name, der durchgestrichen wurde.



5

„Wo ist Graham?“, fragte der Commissioner gegen acht am Morgen. Er war ungewöhnlich früh im Revier, auch ihn beschäftigten die ungeklärten Morde. Phil war seit einigen Minuten ebenfalls da und lächelte noch etwas müde.

„Er wird sicher gleich kommen, Sir.“

„Wir brauchen Ergebnisse, Somerville. Wenn das so weitergeht, wird uns die Presse früher oder später in der Luft zerreißen.“ Er hielt eine Zeitung hoch. „Polizei tappt noch immer im Dunkeln. Wie viele Morde muss es noch geben? Ich gebe diese Frage hiermit weiter“, knurrte er ungnädig.

Phil wurde einer Antwort enthoben, weil das Telefon klingelte. Gleich darauf wurde sie leichenblass und schwankte für einen Augenblick. Dann wurde ihr Blick stahlhart, aber ihre Stimme klang noch immer brüchig.

„Sir, jemand hat gerade gemeldet, dass Charles Graham ermordet am Saltmarket liegt.“

Wenige Sekunden später glich das Revier einem Tollhaus, und zwei Minuten später raste Phil zum Tatort. Sie ließ sich nach außen hin nichts von ihrer Erschütterung anmerken, während sie die Routinearbeiten leitete. Aber jeder, der sie kannte und jetzt so sah, erschrak. Philippa war von Verzweiflung und Zorn erfüllt, ihr Herz war leer, und sie brachte es nur mit Mühe über sich Graham ein letztes Mal anzusehen. Verständnisvoll blieben die Kollegen ein paar Schritte zurück, als Phil sich zu ihrem toten Partner hinab beugte.

„Ich verspreche dir, ich werde den Mistkerl kriegen“, flüsterte sie erstickt. „Aber ich hätte dich auf keinen Fall geheiratet. Ein Polizist ist mit seiner Arbeit verheiratet. Und wenn er liebt, muss er seinen Job aufgeben. Für dich hätte ich das nicht gekonnt. Verzeih mir, ich hatte dich sehr gern.“

Ein letztes Mal berührte sie sanft die kalte Wange des Mannes, dann stand sie energisch auf, damit die Spurensicherung weitermachen konnte.



6

„Sie sind persönlich betroffen, Somerville. Graham war Ihr Partner, und darum werden Sie nicht weitermachen. Sie sind hiermit ganz offiziell von diesem Fall abgezogen.“

Der Commissioner blickte Philippa streng an, doch es war auch Mitleid in seinem Blick. Die Beerdigung Grahams war vor zwei Stunden gewesen, und nie würde der Mann den versteinerten Blick vergessen, mit dem Philippa Somerville verfolgte, wie der Sarg ins Grab gelassen wurde. Sie hatte nicht geweint, sie war eine starke Frau, aber als sie jetzt verlangte, dass sie den Fall weiterverfolgen durfte, lehnte er energisch ab. Schlimm genug, dass ein Polizist das Opfer gewesen war, aber die Partnerin des Toten durfte nicht mehr daran arbeiten. Väterlich legte er ihr eine Hand auf die Schulter.

„Sie sollten ein paar Tage ausspannen, Phil. Ich weiß, wie schwer es Sie getroffen hat. Ich nehme doch an, dass zwischen euch ein besonderes Verhältnis bestand?“

Düster schaute Phil ihren Vorgesetzten an.

„Ein besonderes Verhältnis, ja“, murmelte sie bestätigend. Es war unnötig zu sagen, dass Charles sie hatte heiraten wollen, das ging jetzt niemanden mehr etwas an.

„Es bleibt dabei, Phil, Sie sind von diesem Fall entbunden. Nehmen Sie sich ein paar Tage frei.“

Sie biss die Zähne aufeinander. Er wollte sie kaltstellen, gut. Dann würde sie gehen und allein weitermachen.

„Danke, Sir“, sagte sie dann nur und ging nach Hause.

In ihrer kleinen Wohnung kochte sie sich einen starken Kaffee, nahm Papier und Stift und begann nüchtern die Fakten aufzuschreiben, die sie bisher hatte. Es wurde eine kurze Liste, denn es gab nicht viel an Fakten. Ganz am Rande fiel ihr auf, dass keiner der Namen direkt schottisch klang, es musste sich wohl eher um Engländer hier aus der Grenzregion handeln, aber sie maß dieser Tatsache keine Bewertung zu. Das einzige, was einigermaßen klar zu sein schien, war die offensichtliche Ausführung von Ritualmorden. Wo konnte man mehr darüber erfahren? Natürlich in der Mitchell-Bibliothek, der größten öffentlichen Bücherei Europas. Wenn es irgendwelche Unterlagen über Ritualmorde gab, dann sicher dort.

Phil trank ihren Kaffee aus und griff nach dem Mantel.



7

Ritualmorde!

Eine ganze Abteilung des riesigen Gebäudekomplexes befasste sich damit, und es war einigermaßen schwer sich durch die verschiedenen Abarten durchzuarbeiten. Aber Philippa hatte ohnehin nichts Besseres zu tun. Und so blieb sie und suchte nach Querverweisen, nach speziellen Ritualen. Sie fand japanische Arten, die mit dem Schwert ausgeführt wurden, es gab malaiische Tötungsarten, uralte türkische und arabische Rituale, und auch hier in den vereinigten Königreichen war diese Unsitte weit verbreitet.

Irgendwann warf sie einen Blick auf die Uhr, die Bücherei schloß bald, und im Grunde hatte sie zwar viel gelernt, aber keine heiße Spur gefunden.

Nun gut, für heute war es genug. Phil ging nach Hause und verbrachte eine unruhige Nacht voller Alpträume.

Am nächsten Morgen suchte sie wieder die Bücherei auf und setzte ihre Nachforschungen fort. Aber erst am dritten Tag ihrer planlosen Suche kam von unerwarteter Seite Hilfe.

„Schreiben Sie eine Examensarbeit?“, fragte plötzlich eine warme männliche Stimme. Etwas erschreckt schaute sie auf. Ein hochgewachsener Mann mit schwarzen Haaren stand neben ihr, dunkelbraune Augen schauten sie fragend und freundlich an. Phil musterte den Mann kurz. Relativ bequeme Kleidung von gutem Zuschnitt, ziemlich teuer, registrierte sie. Buschige Augenbrauen in einem schmalen dunklen Gesicht, ein voller Mund, eine gerade Nase.

„Nein, ich suche nur etwas“, erklärte sie zurückhaltend und abwehrend.

„Rituale oder Morde?“, fragte er leicht spöttisch.

Phil sah keinen Grund, einen wildfremden Mann darüber aufzuklären, was sie wollte oder vorhatte, doch der Mann streckte ihr die Hand entgegen.

„Ich bin Nicholas Raymond, sozusagen Experte auf diesem Gebiet. Seit drei Tagen beobachte ich Sie jetzt, wie Sie schon fast verbissen suchen. Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“

Wider alle Vernunft fasste Philippa spontanes vertrauen zu dem Mann, vielleicht brauchte sie ganz einfach wirklich jemanden, mit dem sie reden konnte.

Mit wenigen Worten erklärte sie, wonach sie suchte, ohne zu verraten, wer und was sie war. Raymonds Blick wurde starr, er schien zu überlegen.

„Sie sind die Partnerin von Charles Graham.“ Das war keine Frage, das war eine Feststellung. „Erzählen Sie mir mehr, ich will sehen, was ich tun kann.“

Phil lachte kurz und hilflos auf. „Wenn ich mehr wüsste, hätte ich den Kerl vielleicht schon.“

Raymond fuhr sich mit der Hand über die Stirn, dann ging er rasch die Regale entlang. „Haben Sie auch schon mal an Rache gedacht?“, fragte er dann.

„Ich weiß gar nicht mehr, was ich noch denken soll“, erwiderte Phil müde.

Die beiden wurden unterbrochen, als eine junge Angestellte dazukam. „Herr Professor“, sagte sie fast ehrfürchtig. „Der Dekan der Universität wünscht Sie zu sprechen.“

Raymond zog eine Grimasse. „Der fehlt mir heute noch. Miss – äh …“

„Philippa Somerville.“

„Miss Somerville, würden Sie auf mich warten? Ich denke, ich kann Ihnen helfen.“

„Ich habe ohnehin nichts Besseres vor“, meinte sie trocken.

Er warf ihr einen undefinierbaren Blick zu und verschwand. Phil starrte ihm nachdenklich hinterher. Professor Nicholas Raymond – sie hatte schon von ihm gehört, er genoss höchstes Ansehen in Wissenschaftlerkreisen als Historiker und Quellenforscher. Aber sie hatte nicht gewusst, dass er noch relativ jung war. Der Mann mochte gerade Anfang vierzig sein.

Er kam wirklich bald darauf zurück, und irgendwie fühlte Philippa sich beruhigt. Wenn ihr jemand auf diesem Gebiet weiterhelfen konnte, dann war er es wohl.

Gemeinsam suchten sie nach Auffälligkeiten oder auch Gemeinsamkeiten, und plötzlich fiel ihr wieder ein, was sie beinahe übersehen hätte: Alle Opfer schienen englische Vorfahren gehabt zu haben, keine Schotten.

Raymond wurde sehr nachdenklich.

„Gehen Sie heute Abend mit mir essen“, bat er, anscheinend ohne Zusammenhang. „Bis dahin werde ich bei einer privaten Chronik, die ich für eine Expertise zu Hause habe, ein wenig nachforschen.“

Zögernd sagte Philippa zu. War das jetzt vielleicht eine neue Art Rendezvous?



8

„Haben Sie etwas herausgefunden?“, fragte Phil nach einem hervorragenden Abendessen. Nicholas Raymond schien etwas von guten Restaurants und Weinen zu verstehen. Die Bedienung war perfekt und unauffällig, die Speisen exzellent, der Wein hochkarätig. Der Professor hatte es abgelehnt, während des Essens über seine Nachforschungen zu reden, es lenke vom Genießen ab, hatte er lächelnd gemeint.

Nun steckte sich Philippa eine Zigarette an, was Raymond mit einem ironischen Seitenblick vermerkte. Phil erwartete förmlich eine abwertende Bemerkung, sah dann aber, dass er eine Pfeife nebst Zubehör aus der Jackentasche nahm. Behaglich stopfte er guten Tabak hinein und entzündete ihn, aromatischer Duft breitete sich aus, und Nicholas lehnte sich zurück.

„Möglicherweise habe ich einen Anhaltspunkt“, sagte er dann ruhig. „Doch das beruht nur auf einer Vermutung, nicht mehr. Sie haben festgestellt, dass es sich möglicherweise nur um Engländer bei den Opfern handelt. Und dazu kommt dann diese ominöse Nachricht. Gut übrigens, dass Sie diese Informationen nicht weiter an die Presse geben. Aber auf Grund dieser Angaben bin ich zu meinen Schlussfolgerungen gelangt. Natürlich alles unter Vorbehalt.“

„Ich weiß nicht, ob ich Ihnen folgen kann", sagte Phil verwirrt.

„Im Jahre 1562 gab es nicht weit von Glasgow entfernt ein furchtbares Massaker, ein regelrechtes Abschlachten. Vierundzwanzig schottische Adelige, alles Mitglieder eines Geheimbundes, wurden von einer Gruppe Engländer umgebracht. Nur einer überlebte und schwor Rache bis in die Ewigkeit.“

„Und Sie glauben, auf Grund dieses Gemetzels vor mehr als vierhundert Jahren werden heute noch Leute umgebracht? Finden Sie das nicht ein bisschen weit hergeholt, Professor?“, fragte Phil ungläubig.

„Sagen, Mythen und Überlieferungen halten sich lange, Racheschwüre ebenfalls. Das ist im Augenblick jedenfalls alles, was ich Ihnen sagen kann.“

„Das ist absoluter Unsinn“, befand Phil.

„Sie glauben nicht an diese Dinge?“

„Ich glaube, dass es möglich ist, einen Racheschwur über zwei oder drei Generationen zu halten, auch wenn ich das übertrieben finde. Aber vierhundert Jahre, Professor, ich denke, das ist unmöglich. So lange hält kein Zorn.“

Er lachte leise auf, amüsiert, wie es schien. „Dann kennen Sie die Schotten einfach nur schlecht, obwohl Sie selbst eine sind.“

Das wollte Phil nicht auf sich sitzen lassen.

„Und Sie, Professor?“, fragte sie süffisant. Wieder erschien sein Lächeln. „Ich habe eine ziemlich lange, wahrscheinlich überflüssige, Ahnengalerie auf beiden Seiten der Grenze. Aber ich fühle mich als Schotte. Nun gut, das alles ändert ja nichts daran, dass Sie noch immer einen Mörder suchen. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen gerne die Chronik, aus der ich diese Informationen habe.“

Noch immer skeptisch sagte Phil trotzdem zu. Einige Zeit später begleitete sie Nicholas Raymond zu seinem Haus.



9

„Das klingt mir alles zu phantastisch, Professor, so als wäre es eine Legende oder besser noch ein Stoff für einen Hollywood-Film“, beharrte Philippa.

Raymond hatte ihr die alte Chronik gezeigt. Der Einband bestand aus Holz, der mit Leder überzogen war, schwere silberne Scharniere waren aufgehämmert, und Saphire darin eingearbeitet. Das Papier war dick und vergilbt, aber immer noch intakt, doch die handgeschriebenen Worte waren an manchen Stellen verblasst. Und da stand es, 1562 hatte das Massaker der Engländer stattgefunden, doch George Campbell hatte überlebt und blutige Rache geschworen. Fein säuberlich war auch verzeichnet, wen er wann noch im Laufe seines Lebens selbst getötet hatte, nachdem er seine Gegner zum Zweikampf forderte. Campbell besaß einen guten Ruf und weitreichende Verbindungen, und so war es ihm nicht schwergefallen, die Namen der Männer zu ermitteln, die sich an dem Überfall beteiligt hatten. Seine Rache war grausam, aber die ganze Zeit damals war grausam. Und schließlich war er seinem Rachedurst selbst erlegen. Eines Tages war einer seiner Gegner stärker und besser gewesen, und Campbell war mit Groll und Zorn im Herzen gestorben, noch im letzten Augenblick seinen Gegner verfluchend.

„Das ist zu lange her“, murmelte Philippa. „Das kann sich nicht bis in die heutige Zeit gerettet haben.“

„Sie vertreten Ihre Meinung sehr anschaulich, Miss Somerville. Aber ich stelle jetzt mal eine Hypothese auf. Angenommen, die Rache ist damals wirklich eingeschlafen, und in unserer Zeit beschäftigt sich jemand diesem Geheimbund und lässt auch den längst vergangenen Schwur wieder aufleben?“

„Das ist absurd, völlig absurd“, sprudelte Phil hervor, wurde aber doch nachdenklich. „Woher haben Sie diese Chronik?“

Nicholas lachte. „Sie gehört Lady Campbell auf Kincurd Manors, ich sollte die Echtheit bestätigen, wie auch einige Übersetzungen verschiedener Textabschnitte anfertigen. Übermorgen soll ich sie zurückbringen. Hätten Sie Lust mitzukommen?“

Die Gedanken in Phil überschlugen sich. Es klang doch wirklich wie an den Haaren herbeigezogen, und doch gab es da ein winziges Stückchen Hoffnung, eine undeutliche Ahnung. Sie schüttelte unmutig den Kopf.

„Sie sind immer noch ungläubig, Phil?“, murmelte Raymond.

Zwischen den beiden Menschen herrschte plötzlich eine greifbare Spannung. Phil blickte in das offene Gesicht des attraktiven Mannes, und er nahm ihren Anblick intensiv in sich auf. Eine Strähne ihres roten Haares hatte sich aus der Frisur gelöst, ihre Augen blitzten wie zwei Smaragde, und ihr voller roter Mund bebte. Wie unter einem inneren Zwang zog der Mann die Frau an sich und berührte sanft ihre Wange, Phil zuckte nicht zurück. Trotzdem fragte sie sich für einen Moment, warum Charles in ihr nie solch ein Kribbeln im Körper ausgelöst hatte. Sie spürte jeden Nerv unter der Haut, und die Berührung schien in ihr eine Explosion auszulösen. Nicholas zog sie enger an sich heran und küsste sie sanft und zart auf die Lippen. Phil rührte sich nicht, doch dann schob sie den Mann zurück – und fühlte sich im gleichen Moment leer und verlassen.

„Ich – ich kann nicht“, flüsterte sie. „Noch nicht. Charles“, sie brach ab und senkte den Kopf, wandte sich zur Tür, wie um zu fliehen.

„Ich werde warten“, sagte Raymond leise.



10

Kincurd Manors lag mitten auf einer Insel im Loch Lomond. Eine regelmäßige Fährverbindung gab es nicht, von der Insel aus wurde ein Boot losgeschickt, wenn es nötig war. Zum Beispiel um Gäste abzuholen, so wie an diesem Tag.

Philippa hatte sich doch dafür entschieden, den Professor zu begleiten, er hatte sie an dem Tag nach dem so unglücklich verlaufenen Abend angerufen und sachlich und nüchtern mit ihr gesprochen. Phil hielt die ganze Geschichte noch immer für absurd, aber sie entschied sich spontan dafür, Raymond zu begleiten, weil sie auch fühlte, dass sie etwas Erholung brauchte. Die Landschaft dort war wie aus einem Reiseprospekt, wildromantisch. Und der trutzige Bau des Herrschaftshauses, das durch den Dunst auf dem See nur verschwommen zu erkennen war, schien hinter den Schleiern der Vergangenheit verborgen zu sein. Ein eisiger Schauder lief Philippa über den Rücken, und eine seltsame Erregung breitete sich in ihr aus.

Das Boot schälte sich aus dem Dunst, und ein Mann wurde am Steuer sichtbar. Aus der Nähe sah Phil dann, dass sein Gesicht verwittert und voller Falten war, buschige eisgraue Augenbrauen überschatteten dunkle Augen. Die Hand war rau und derb, und der Griff, mit der er der Polizistin beim Einsteigen half, war kräftig. „Ich bin Angus. Willkommen auf Kincurd Manors.“

Mehr sprach er nicht. Wortlos setzte er das Boot wieder in Gang. Der Weg über den See war länger als Phil gedacht hatte, nur langsam wuchs die Insel im Anblick. Nicholas stand neben der jungen Frau und schwieg. Seine Augen schweiften umher, als suche er etwas, doch dieser Eindruck konnte auch täuschen. Endlich aber landeten sie in einer geschützten Bucht.

Die Insel bestand vorwiegend aus Felsen, und Phil dachte flüchtig daran, wie schwer es gewesen sein musste, dieses Haus zu bauen. Es bestand in erster Linie aus dicken behauenen Quadern, die sicherlich nicht auf der Insel vorkamen. Ein prachtvoller Garten umgab das Anwesen, große gepflegte Rasenflächen mit dicken alten Bäumen wechselten sich ab mit geometrisch gepflanzten Blumenrabatten. Ein Irrgarten aus exakt geschnittenen Hecken vervollständigte die Anlage, die von Geschmack und viel Geld zeugte.

Philippa fühlte sich auf den ersten Blick heimisch, die ganze Insel war ein Augenschmaus, auch wenn sie längst nicht alles sehen konnte. Nicholas lächelte verständnisvoll, ihm war es bei seinem ersten Besuch ebenso ergangen.

Im Haus selbst kam ihnen dann Lady Caitlin entgegen, eine sehr attraktive Frau vielleicht Ende dreißig. Sie hatte gepflegte schwarze Haare, ein schmales Gesicht und leuchtend blaue Augen.

„Mein lieber Nicholas“, sagte sie mit weicher Alt-Stimme und reichte dem Professor beide Hände. „Wie schön, Sie wiederzusehen. Sie haben Besuch mitgebracht? Herzlich willkommen.“

Raymond stellte Philippa vor, ohne ihren Beruf zu nennen.

Währenddessen brachte Angus das Gepäck herein. Lady Caitlin führte ihre Gäste persönlich in die Zimmer im ersten Stock und ließ sie dann allein, damit sie sich frisch machen und etwas ausruhen konnten.

Von ihrem Zimmer aus hatte Phil einen phantastischen Blick über den See. Der Dunst hatte sich mittlerweile verdichtet, und das Festland war nicht mehr zu sehen, dunkle Wolken hatten sich vor die bald untergehende Sonne geschoben. Es schien, als sollte es noch ein Unwetter geben.

Nach kurzem Anklopfen kam Raymond herein.

„Wie gefällt sie Ihnen?“, fragte er und meinte die Lady.

„Eine interessante Frau“, bemerkte Phil ohne Neid. „Lebt sie hier allein?“

„Abgesehen vom Personal, ja. Lord Geoffrey Campbell starb vor drei Monaten nach einem mysteriösen Unfall. Aber darüber wird hier nicht gesprochen.“

Später saßen die drei im Kaminzimmer, ein flackerndes Feuer spendete angenehme Wärme, auf einem Tisch standen Getränke, ein unauffälliger Butler brachte ein Tablett mit appetitlichen Happen. Es herrschte eine ungezwungene Atmosphäre, als Nicholas Raymond von seiner Arbeit erzählte. Lady Caitlin plauderte ihrerseits über das Leben auf der Insel, das gar nicht so langweilig und eintönig war, wie Phil geglaubt hatte, und irgendwann fragte die Hausherrin nach Philippas Beruf. Aber noch bevor sie darauf antworten konnte, tauchte der Butler wie aus dem Nichts auf.

„Sir Thomas Argyll, Mylady“, meldete er.

Nur durch ein leichtes Stirnrunzeln deutete sie an, dass sie den Besuch als unerwartet und irgendwie störend empfand. Doch sie ließ bitten.

„Sir Thomas Argyll ist ein Vetter meines verstorbenen Mannes, meistens kommt er, wenn er irgendwelche Sorgen hat. Er behauptet, hier kann er abschalten.“

Eine peinliche Pause entstand, bis die Tür mit Schwung geöffnet wurde.

„Caitlin, meine Liebe, ich hatte solche Sehnsucht nach Kincurd Manors – oh, du hast Besuch.“ Er stellte sich formvollendet vor, wobei sein Blick lange auf Philippa haften blieb. Dann schenkte er sich ungezwungen einen Whisky ein. „Sicher habt ihr euch gerade gut unterhalten, ich habe von Professor Raymond gehört, sein Ruf eilt ihm voraus. Lasst euch also bitte nicht stören.“

Lady Caitlin lächelte liebenswürdig, doch ihr Blick blieb kühl.

„Miss Somerville wollte uns von ihrer Arbeit erzählen. Was, sagten Sie doch gleich, sind Sie von Beruf?“

„Ich sagte noch gar nichts, Madam. Ich bin Kriminalbeamtin. Ich arbeite bei der Mordkommission in Glasgow.“

„Wie interessant. Und was machen Sie da als Frau?“

Phil lächelte. „Ich suche und überführe Verbrecher.“

„Auch Mörder? Aber nein, das ist sicher nichts für Frauen.“

„Doch, auch Mörder“, bemerkte Phil trocken. „Wir leben nicht mehr in den Zeiten, wo Frauen nur Opfer sind. Es gibt tatsächlich Gleichberechtigung bei der Polizei, auch wenn Sie es kaum für möglich halten.“ Ihre Stimme klang schärfer als beabsichtigt.

Der Professor räusperte sich. „Ich bin mit Miss Somerville zusammengetroffen, weil sie gerade auf der Suche nach einem Mörder ist. Es kann interessant sein, längst vergangene Ereignisse in heutigen Taten wiederzufinden.“ Sein Einwand entspannte die urplötzlich geladene Atmosphäre.

„Und Ihre Suche führt Sie ausgerechnet nach Kincurd Manors?“, fragte Argyll.

„Ehrlich gesagt, eigentlich nein. Es war ein Vorschlag von Professor Raymond“, erklärte Philippa.

Der Professor nahm einen Schluck aus seinem Glas und erzählte in Kurzfassung von Phils Suche, und wie sie beide aufeinandergetroffen waren.

„Aber das ist ja barbarisch“, erklärte Lady Caitlin. „Allen wurde der Kopf abgeschlagen? Ja, doch, ich erinnere mich, in den Zeitungen darüber gelesen zu haben. Doch ich habe das für eine typische Reporterübertreibung gehalten. Und warum ist jetzt ausgerechnet eine Frau damit beauftragt, diese scheinbar sinnlosen Morde aufzuklären? Verstehen Sie mich nicht falsch, ich zweifle nicht an Ihrer Qualifikation, ich finde nur, dass eine so blutige Angelegenheit nicht in zarte Frauenhände gehört.“

Philippa schüttelte innerlich den Kopf über diese antiquarische Weltanschauung, blieb aber äußerlich gefasst. „Mein Kollege und ich waren ein gut eingespieltes Team, genau für solche Fälle, Mylady“, sagte sie mit Betonung. „Aber jetzt ist Charles - tot. Er war das letzte Opfer, und mein Chef hat mich daraufhin in Urlaub geschickt. Aber ich will und werde den Mörder kriegen.“

Ihre grünen Augen verdunkelten sich, und ihr Mund wurde schmal vor unterdrücktem Zorn und Kummer. Unauffällig griff Nicholas nach ihrer Hand und drückte sie sanft. Sie schien aus dieser Berührung neue Kraft zu schöpfen.

„Ich habe ein paar bemerkenswerte Hinweise in Ihrer Chronik gefunden, Lady Caitlin“, sagte er dann. „Ich bin zwar nicht sicher, dass da eine Parallele besteht, aber da Miss Somerville sonst keine Anhaltspunkte hat, schlug ich vor, dieser Spur nachzugehen, statt gar nichts zu haben. Ich hoffe nur, es macht Ihnen nicht zuviel aus.“

„Aber nein, wenn ich in irgend einer Form helfen kann, stehe ich voll und ganz zur Verfügung“, beteuerte Lady Caitlin. „Ich halte es zwar ebenfalls für unwahrscheinlich, aber falls Sie in der umfangreichen Bücherei des Hauses etwas suchen wollen, steht sie Ihnen uneingeschränkt zur Verfügung.“

„Ich danke Ihnen, Mylady“, sagte Philippa. „Doch auch ich glaube nicht so recht daran.“

„Und doch war es einmal ein Campbell, der Rache an den Engländern schwor, bis in alle Ewigkeit“, warf Thomas Argyll arglos ein. Lady Caitlin holte tief Luft.

„Ich glaube nicht, dass das heute noch relevant ist, Tom“, wies sie ihn scharf zurecht.

Argyll schien davon wenig beeindruckt. „Meine Liebe, ich glaube, es hat wenig Zweck, dass du krampfhaft versuchst, den Tod deines Mannes aus diesem Gespräch herauszuhalten. Immerhin starb auch er dadurch, dass er den Kopf verlor.“

Das letzte Wort fiel zusammen mit einem dröhnenden Donnerschlag, der das Kristall auf dem Tisch zum Klirren brachte.