Wir bedanken uns ganz herzlich bei Dipl. Psych. Sylvia Siegel und Prof. Dr. Gerd Koch, ohne deren hervorragende Unterstützung diese Arbeit in dieser Form nicht vorliegen würde.

10 Jahre ist es jetzt her.

Das sind 120 Monate.

Das sind 3.650 Tage. Und Nächte.

Das sind 87.600 Stunden.

Das sind 5.256.000 Minuten.

315.360.000 Sekunden Überleben.

Wo Sekunden zu Stunden werden können.

Zu Jahren. Zu Deinem Leben.

Sie hatten ein paar Minuten Vergnügen.

(anonym, 13. Juni 1998)

1 Einleitung

In der sozialen Arbeit trifft man auf Klienten und Klientinnen, die von sexuellem Missbrauch unmittelbar oder mittelbar betroffen sind.

Laut Statistik hat jedes dritte Mädchen und jeder sechste Junge sexuellen Missbrauch erfahren. (vgl. www.bka.de, 14.10.2005) Demzufolge ist die Wahrscheinlichkeit hoch, während des beruflichen Werdegangs als Sozialarbeiter/Sozialpädagoge, mehr als einmal, mit den aus sexuellem Missbrauch resultierenden Problemen und Konflikten konfrontiert zu werden. Eine professionelle Arbeit ist unseres Erachtens nur dann möglich, wenn der Sozialarbeiter/Sozialpädagoge für die Komplexität des sexuellen Missbrauchs in hohem Maße sensibilisiert, darüber informiert und aufgeklärt ist. Schutz und Hilfe können Klienten und Klientinnen nur dann erfahren, wenn der professionelle Helfer angemessen reagieren kann, das heißt über ausreichend Fachwissen und Handlungskompetenzen verfügt. Keinesfalls darf der Sozialarbeiter/Sozialpädagoge mangels ausreichender Kenntnisse eine ihm nicht zustehende Rolle, z. B. die eines polizeilichen Ermittlers oder möglicherweise Therapeuten, einnehmen. Einzelfälle in der Vergangenheit haben gezeigt, wie fehlerhaftes Verhalten zu fatalen Folgen für die Betroffenen führen kann. Voreilige Verdächtigungen sind ebenso zu vermeiden wie die Leugnung des Problems. Dabei ist unerheblich, in welchem sozialen Bereich oder in welcher Institution die Sozialarbeit stattfindet, in dem die Auseinandersetzung mit den besonderen Auswirkungen von sexuellem Missbrauch erforderlich sein kann. So müssen unter anderem Lehrer und Lehrerinnen, Erzieher und Erzieherinnen, Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, Fachkräfte im Freizeitbereich, ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Verbänden und kirchlichen Institutionen sensibilisiert sein für die Wahrnehmung der Thematik, aber auch die eigenen Grenzen ihres professionellen Handelns berücksichtigen können. Auch wenn einzelne Symptome, die Klienten und Klientinnen zeigen, auf andere Ursachen zurückzuführen sein können, bedarf es der Bereitschaft der Umgebung, sexuellen Missbrauch als Vorkommnis und damit als Entstehungsgrund für Störungen anzuerkennen.

Der professionelle Helfer muss in der Lage sein, den Betroffenen zu signalisieren:

„Hier bist Du sicher, ich höre Dir zu.

Ich fühle mit Dir.

Ich glaube Dir.

Ich achte und ich mag Dich, egal, was Du mir erzählst.

Du bist nicht allein.

Ich weiß um Deine Angst und die Bedrohlichkeit Deiner Situation.

Ich weiß, wovon Du redest, es gibt sexuellen Mißbrauch an Kindern in ihrem eigenen Nahraum.

Ich weiß, daß es ’gute’, aufregende und ’schlechte’, ängstigende Geheimnisse gibt.

Über Geheimnisse, die Dir Angst machen, kannst Du mit mir reden.

Ich versuche, Dir zu helfen und Dich zu schützen.

Ich werde nichts tun, womit Du nicht einverstanden bist.

Wir haben Zeit, auch für weitere Gespräche.“

(Informationsbroschüre „Sexueller Mißbrauch“, Berliner Senatsverwaltung für Jugend und Familie, Berlin 1992, S. 34)

Da wir beide angehende Sozialarbeiterinnen bzw. Sozialpädagoginnen sind, haben wir das oben genannte Thema gewählt. Wir zeigen auf, welche Auswirkungen und Folgen sexueller Missbrauch für die erwachsenen Überlebenden hat und mit welchen Problemen die Partner bzw. Verbündeten von sexuell missbrauchten Frauen konfrontiert werden.

Als „Überlebende“ bezeichnen sich viele, die von sexuellem Missbrauch betroffen sind, als „Verbündete“ die, die als Partner sexuell missbrauchten Frauen zur Seite stehen. Deshalb verwenden wir diese Begriffe unter anderem in der vorliegenden Arbeit. Die Ausdrücke „Opfer“ oder „Betroffene“ werden in dieser Arbeit synonym zur Bezeichnung „Überlebende“ verwand.

Die Täterproblematik und damit verbundene Aspekte werden an dieser Stelle nicht betrachtet und außer Acht gelassen, da uns ausschließlich die Darstellung der besonderen Schwierigkeiten der Opfer und Verbündeten wichtig ist. Zudem konzentrieren wir uns in den nachfolgenden Ausführungen vorwiegend auf weibliche Opfer bzw. auf den männlichen Verbündeten.

Im ersten Teil, „Auswirkungen und Folgen im Erwachsenenalter“ (Kapitel 2 bis 4), werden die psychischen und physischen Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs in der Kindheit behandelt. Neben wissenschaftlicher Fachliteratur wird auch auf die Erfahrung von Frauen einer Selbsthilfegruppe bei Wildwasser e.V., der Arbeitsgemeinschaft gegen sexuellen Missbrauch von Mädchen, zurückgegriffen. Wildwasser berät unter anderem Frauen, die als Mädchen sexuelle Gewalt erlebt haben oder es vermuten. In einer solchen Selbsthilfegruppe hat die Verfasserin eineinhalb Jahre hospitiert.

Viele Frauen, die als Kind von Familienangehörigen, wie Vater, Bruder, Großvater, oder auch Freunden der Familie etc. sexuell missbraucht wurden, verdrängen das Geschehene mitunter bis zu ihrem 30. Lebensjahr. Es kann oft Jahre dauern, bis das Opfer seiner Wahrnehmung traut.

Oft bricht das Trauma des sexuellen Missbrauchs ganz plötzlich, durch einen Flashback (Erinnerungsblitz), die Geste eines anderen Menschen, einen Geruch, der an das Vergangene erinnert, oder die erneute Konfrontation mit dem Täter, auf. Die Welt der Überlebenden steht auf dem Kopf! Die bisherige Fassade, der aufgebaute Schutzwall der Überlebenden fällt in sich zusammen. All das, woran die Überlebende bisher geglaubt hat, droht, wegzubrechen. Eine Flut von Ungewissheit und unbeantworteten Fragen strömt auf sie zu. Die psychischen, wie auch die physischen Folgen einer solchen Erinnerung können unvorhersehbar sein. Aus diesem Grund werden in dieser Veröffentlichung einige dieser Folgen untersucht und erläutert.

Im zweiten Teil (Kapitel 5 bis 8) richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Rolle des Partners im Heilungsprozess.

Thema sind die Partnerschaften, in denen das Opfer von dem eigenen Missbrauch weiß, das heißt seiner eigenen Wahrnehmung traut, sich mit dem Trauma auseinander setzt und seinen Partner eingeweiht hat.

Es gibt bisher kaum Untersuchungen hinsichtlich der Partner von sexuell missbrauchten Opfern. Demzufolge kann auf keine umfangreiche Fachliteratur zurückgegriffen werden. Es ist gelungen, einen Partner einer in der Kindheit sexuell missbrauchten Frau für ein narratives Interview zu gewinnen. Anhand dieses Fallbeispiels werden ausgewählte Probleme, Konflikte und Besonderheiten dieser Partnerschaft beschrieben. Diese Untersuchung ist nicht repräsentativ und damit nicht ohne Weiteres auf andere Partnerschaften übertragbar.

Allerdings können mit Hilfe des vorliegenden Fallbeispiels besondere, von anderen Partnerschaften abweichende Problematiken benannt und beschrieben werden, denen eine Beziehung unterliegt, in der ein Partner als Kind sexuelle Gewalt erfahren hat. Als langfristige Folgen des sexuellen Missbrauchs werden in der Fachliteratur unter anderem spätere Partnerschaftsprobleme beschrieben.

Zudem soll untersucht werden, welche Rolle der Partner im Heilungsprozess haben kann, das heißt welche Chancen der Unterstützung, aber auch welche Grenzen es dabei gibt.

2 Sexueller Missbrauch

In diesem Kapitel geht es darum, herauszufinden, was sexueller Missbrauch ist, um diesen annähernd zu verstehen und zu definieren. Es wird aufgezeigt, wie und wo das „alltägliche Verbrechen“ stattfindet. Darüber hinaus sind hier nähere Angaben über die Verbreitung dieses Vergehens in Deutschland zu finden.

2.1 Was ist sexueller Missbrauch?

Es gibt keine allgemein gültige Definition für sexuellen Missbrauch, da dieser von einer Reihe von Faktoren abhängt, die nicht nur das Ereignis selbst und die beteiligten Personen betreffen. Die Umstände der Tat und ihre Folgen sind sehr vielgestaltig.

So besitzt sexueller Missbrauch immer sexuellen Charakter, kann jedoch auch ohne körperliche Berührungen stattfinden. In jedem Fall ist sexueller Missbauch ein Machtmissbrauch (vgl. Davis 1995, S. 25) und die Betroffenen zeigen in der Regel eine außergewöhnliche körperliche oder seelische Reaktion, die man auch als traumatische Reaktion bezeichnet. Der Schweregrad des Traumas ist allerdings unterschiedlich und nicht alle Personen, die eine außergewöhnliche Belastung wie sexuellen Missbrauch erleben, entwickeln diese Störung. (vgl. Olbricht 2004, S. 26 bis 28)

Saller (1987, S. 29 ff.) unterscheidet drei Bereiche sexueller Ausbeutung:

Eindeutige Formen:

•  Genital- und Oralverkehr (Cunnilingus, Fellatio)

• Eindringen in den After des Kindes mit Finger(n), Penis oder Fremdkörpern

• Eindringen in die Scheide des Kindes mit Finger(n), Penis oder Fremdkörpern

Andere ausbeutende Formen, die ebenfalls eine Benutzung des kindlichen Körpers zur Befriedigung des Erwachsenen darstellen:

• Berührung oder Manipulierung der Genitale des Kindes

• Veranlassung des Kindes, die Genitale des Erwachsenen zu berühren oder zu manipulieren

• Masturbation in Anwesenheit des Kindes

• Veranlassung des Kindes, im Beisein des Erwachsenen zu masturbieren

• Reiben des Penis am Körper des Kindes

• Zeigen von pornographischen Abbildungen

Verhaltensweisen, die im Nachhinein häufig als Beginn einer sexuellen Ausbeutung erkannt werden:

• Der Erwachsene zeigt sich nackt vor dem Kind.

• Der Erwachsene zeigt dem Kind seine Genitale.

• Der Erwachsene möchte den Körper des Kindes "begutachten".

• Beobachten des Kindes beim Ausziehen, Baden, Waschen, auf der Toilette, eventuelle Hilfsangebote dazu

• Küssen des Kindes auf intime Weise („Zungenkuss")

• Altersunangemessene Aufklärung des Kindes über Sexualität, die nicht den kindlichen Interessen entspricht, sondern den exhibitionistischen und/oder voyeuristischen Bedürfnissen des Erwachsenen dient

Nach näherer Betrachtung der vorgenannten Punkte ist zu erkennen, dass es bei diesen Formen der sexuellen Ausbeutung immer um die Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse der/des Erwachsenen geht. Weiterhin ist anzuführen, dass Kinder aller Altersklassen betroffen sind. Dazu ein Zitat von Davis (1995): „Sexueller Mißbrauch kann im Säuglingsalter beginnen, im Schulalter oder in der Adoleszenz. Er kann einmalig stattfinden oder sich regelmäßig wiederholen.“ (S. 25) Kinder werden also entsprechend den Erwachsenen zur Sexualität gebracht. Es ist dabei wichtig, zu erwähnen, dass nicht die psychisch Kranken diejenigen sind, die Kinder sexuell missbrauchen (auch das kommt sicher manchmal vor), sondern in den meisten Fällen ist der oder die Täterin eine nahe stehende Vertrauensperson und im engeren sozialen Umfeld des Kindes zu finden. „Fast immer besteht bereits vor dem sexuellen Missbrauch eine Beziehung zwischen dem Opfer und dem Täter (der Täterin), die für das Mädchen oder den Jungen durch Vertrauen, Angewiesensein und Zuneigung gekennzeichnet ist.“ (Enders 2001, S. 135) Väter und Mütter, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, Geschwister und Großeltern, Stiefeltern und Pflegeeltern, Freunde und Freundinnen der Familie sowie NachbarInnen, LehrerInnen, TrainerInnen, ÄrztInnen und TherapeutInnen sind TäterInnen. Aber auch Nachbarskinder und Fremde missbrauchen Kinder sexuell. (vgl. Davis 1995, S. 25)

Zwischen Kindern und Erwachsenen besteht immer ein strukturelles Machtgefälle. Kinder sind gegenüber Erwachsenen körperlich, psychisch, kognitiv und sprachlich unterlegen. Sie sind auf die emotionale und soziale Fürsorge Erwachsener angewiesen, von deren Zuneigung und Liebe emotional abhängig und diesen ebenso rechtlich unterstellt. (vgl. Enders 2001, S. 135) Aus diesem Grund kann man davon ausgehen, dass Kinder gegenüber Erwachsenen keine gleichberechtigten Partner sein können. Demnach ist jeder sexuelle Kontakt zu Erwachsenen weder bewusst gewollt noch ungewollt bzw. ein wissentliches Einverständnis seitens des Kindes ist nicht gegeben. Jeder dieser Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern ist sexueller Missbrauch.

Ein wichtiges Merkmal für sexuellen Missbrauch ist auch das Sexualklima, in dem ein Kind aufwächst, denn nicht jedes Verhalten eines Erwachsenen, das von der Gesellschaft missdeutet werden kann, ist eine Grenzüberschreitung bzw. missbrauchendes Verhalten. Dazu nachfolgend ein Beispiel „Wenn beispielsweise ein Vater immer schon mit seiner Tochter gebadet hat und sie Spaß daran hat, ist es sicher kein sexueller Mißbrauch, wenn er auch im Alter von neun, zehn Jahren noch mit ihr planscht. Sollte seine Tochter ihm aber zeigen, daß sie es nun nicht mehr möchte, und er tut es trotzdem, ist die Grenze überschritten. Haben Vater und Tochter nie zusammen gebadet und sich nie nackt gesehen, erlebt es das Kind sicher als sexuellen Übergriff, wenn der Vater plötzlich nach zehn Jahren mit ihm badet.“ (BZGA FORUM ½ 1997, S. 15 – zitiert nach Saller 1987, S. 30)

Nachfolgend soll geklärt werden, ob es sexuellen Missbrauch zwischen gleichaltrigen Kindern bzw. Jugendlichen gibt.

In der Literatur finden sich Hinweise darauf (vgl. Enders 2001, S. 42 ff.), da dieser jedoch in der Regel von den Betroffenen oder deren Angehörigen nicht angezeigt wird, können diese daher statistisch nicht erfasst werden. Aber auch bei sexuellen Handlungen zwischen Jugendlichen (diese müssen nicht immer gleichaltrig sein) werden diese durchaus von den Betroffenen als sexueller Übergriff empfunden. Dies soll die nachfolgende Erzählung einer Frau aus der Selbsthilfegruppe bei Wildwasser e.V. verdeutlichen:

„Oft habe ich solche Erinnerungsblitze. Die Szene spielt bei uns unten im Keller. Der eine ist vielleicht zwei Jahre älter als ich und ich soll mich auf seinen Schoß setzen. Dann plötzlich fängt er an, meinen Po an sich zu reiben und ich spüre seinen harten Penis, trotzdem, dass wir beide Hosen anhaben.“

Sie beschreibt ihre Gefühle zu dieser Situation mit Ekel und sagt, dass sie das nie wieder erleben wolle. Weiterhin erklärte sie, dass sie diese Situation als Grenzüberschreitung empfand.

Somit lässt sich feststellen, dass sexuelle Handlungen von Kindern oder Jugendlichen an anderen, vielleicht sogar Gleichaltrigen, nicht unterschätzt werden dürfen, denn diese können, je nach Empfinden der Beteiligten, sexueller Missbrauch sein.

Aber natürlich haben Kinder sexuelle Bedürfnisse. Diese entsprechen jedoch eher einer kindlichen Neugier an sexuellen Dingen und drücken sich in den so genannten „Doktorspielen“ oder in der Erforschung des eigenen Körpers aus.

Für „Doktorspiele“ gelten jedoch ganz klare Regeln:

• Jedes Mädchen/jeder Junge bestimmt selbst, wann und mit wem sie/er Doktor spielen will.

• Die Kinder streicheln und untersuchen sich nur so viel, wie es für sie selber und die anderen schön ist.

• Kein Kind darf einem anderen weh tun.

• Größere Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben bei Doktorspielen nichts zu suchen. (Enders 2001, S. 173)

Im folgenden Absatz werden kurz die allgemeinen Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs auf die seelische Entwicklung des Kindes erläutert. Zu den Folgen und Auswirkungen auf die erwachsenen Überlebenden wird ausführlich in Kapitel 4 ff. Stellung genommen.

Vor dem sexuellen Missbrauch befindet sich das Wertgefüge des Kindes noch im Aufbau. Findet dieser statt, erfolgt ein totaler Angriff auf eben diese Werte. Die natürliche Entwicklung im Bereich der Gefühle, des Denkens und Verhaltens wird empfindlich gestört. Weitere Reifungsschritte sind nur schwer möglich (vgl. Davis 1995, S. 28 ff.), wobei anzumerken ist, dass nicht jeder sexuelle Missbrauch traumatisch ist und auch Verhaltensauffälligkeiten nicht bei jedem Kind als direkte Folge von sexuellem Missbrauch erkennbar sind. Es gibt sicher auch Kinder, die sexuellen Missbrauch, der nur einmalig stattfindet, psychisch so verarbeiten können, dass eine bedeutende Beeinträchtigung der seelischen Entwicklung nicht stattfindet.

Nach Betrachtung der oben ausgeführten Erläuterungen sind in der Regel mehrere Ansätze und Kombinationen notwendig, um sexuellen Missbrauch zu definieren. Eine Situation kann einmal sexueller Missbrauch sein und ein anderes Mal nicht. Entscheidend hierbei ist meiner Meinung nach das subjektive Erleben und Empfinden der oder des Betroffenen und ob sich die Person geschädigt und beeinträchtigt fühlt oder nicht.

2.2 Epidemiologie

Sexueller Missbrauch beschränkt sich nicht auf bestimmte soziale Schichten. Von außen identifizierbare Familienstrukturen oder –situationen sind unterschiedlich. (vgl. Jesche 2003, S. 50) Täter und Täterinnen bewegen sich in allen Lebensbereichen, wie auch die Opfer des sexuellen Missbrauchs in allen diesen zu finden sind.

10 % bis 20 % aller Mädchen und 5 % bis 10 % aller Jungen sind von sexuellem Missbrauch betroffen. (vgl. www.bka.de, 14.10.2005) Das heißt, jede/r dritte bis vierte Erwachsene wurde als Kind mindestens einmal sexuell belästigt.

Untersuchungen zeigen, dass diese Erfahrungen im Durchschnitt zwei bis drei Jahre angehalten haben.

Die meisten Opfer sind zwischen sechs und dreizehn Jahren alt. Der Beginn des sexuellen Missbrauchs liegt in der Regel im Alter zwischen sechs und zehn Jahren. Oft sind aber auch schon jüngere Mädchen bzw. Jungen betroffen. Säuglinge und Kleinkinder sind ebenfalls nicht selten Opfer sexueller Gewalt. (vgl. Jesche 2003, S. 50)

Jedes dritte bis vierte Mädchen wird durch Vater, Stiefvater, Onkel oder einen zumindest nahe stehenden Bekannten sexuell missbraucht. In diesen Fällen sind 98 % der Täter Männer, die zu 75 % aus der Familie kommen. (vgl. www.bka.de, 14.10.2005)

Die Dunkelziffer ist jedoch sehr hoch. Das Schweigen der Opfer, die Rücksichtnahme auf die Täter im nahen sozialen Umfeld und auch Emotionen wie Scham, Furcht, Hilflosigkeit, Wut oder Entsetzen könnten Gründe dafür sein, dass die Opfer den sexuellen Missbrauch (man könnte es das „alltägliche Verbrechen“ nennen) nicht zur Anzeige bringen.

Daraus könnte man schlussfolgern, dass es in jeder Kindergartengruppe oder Schulklasse, in der Nachbarschaft Kinder gibt, die sexuellem Missbrauch ausgesetzt waren oder es immer noch sind.

2.3 Eine Definition

Es gibt in der Literatur zahlreiche Versuche, sexuellen Missbrauch zu definieren. Aber wie bereits in Kapitel 2.1 - Was ist sexueller Missbrauch erwähnt, sind mehrere Kriterien notwendig, um sexuellen Missbrauch einzugrenzen bzw. zu bestimmen und es hängt von einer Vielzahl von Umständen ab, die eine endgültige Definition sehr schwer machen. Dennoch entscheidet sich die Verfasserin nach eingehender Recherche für die nachstehende, da diese den Machtmissbrauch, die Manipulation und die Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen mit einbezieht.

Sexueller Missbrauch von Kindern durch Erwachsene ist eine sexuelle Handlung eines Erwachsenen, die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund seines physischen, psychischen, emotionalen, intellektuellen oder sozialen Entwicklungsstandes nicht informiert und frei zustimmen kann. Dabei nutzt der Erwachsene die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Erwachsenen und Kindern aus, um seine eigenen Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen. (vgl. Wirtz 2001, S. 17)

3 Rechtliche Bestimmungen

Die strafrechtliche Klassifikation der Sexualdelikte findet sich im 13. Abschnitt des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches (StGB). Unter der Bezeichnung „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung" wird dort in den Paragraphen 174-184 StGB eine Vielzahl divergierender Handlungsweisen aufgeführt, denen auf der Täter- wie auf der Opferseite sehr unterschiedliche Fallgruppen und Konstellationen entsprechen. Ihnen allen ist zwar gemeinsam, dass sie irgendwie mit Sexualität in Verbindung stehen. Keineswegs handelt es sich aber um eine Aufzählung von Tatbeständen, die etwa deckungsgleich wäre mit einer klinischpsychologischen bzw. psychiatrischen Symptomatik der sexuellen Devianz.

So sind darin einerseits auch Tatbestände enthalten, die auf Seiten der Täter in aller Regel nicht sexuell motiviert sein dürften (Förderung der Prostitution - § 180a StGB; Zuhälterei - § 181a StGB; Menschenhandel - §§ 180b, 181 StGB; Verbreitung pornographischer Schriften - § 184 StGB), auf der anderen Seite fehlen all jene Tatbestände, bei denen zwar eine (unbewusste) sexuelle Motivation eine maßgebliche Rolle spielen kann, die sich jedoch im Delikt selbst nicht unmittelbar äußert (z. B. bestimmte Raubdelikte oder körperliche Angriffe gegen Frauen). Schließlich ist das besonders schwere Delikt eines Sexualmordes - ein Mord zur Befriedigung des Geschlechtstriebes - nicht im 13. Abschnitt des StGB, sondern bei den Tötungsdelikten (§ 211 StGB) enthalten.

Aus kriminologischer Sicht wird der Kernbereich der sexuell motivierten kriminellen Handlungen üblicherweise in drei Hauptgruppen unterteilt:

1. Sexuelle Gewaltdelikte: Vergewaltigung und sexuelle Nötigung (§§ 177 und 178 StGB)

2. Sexuelle Missbrauchsdelikte: Dabei geht es vor allem um den sexuellen Missbrauch von Kindern (§§ 176, 176a und 176b StGB); ferner zählen hierzu die Straftatbestände von § 174 StGB (sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen), § 174a StGB (sexueller Missbrauch von Gefangenen, Verwahrten oder Kranken in Anstalten), §§ 174b, 174c StGB (sexueller Missbrauch unter Ausnutzung einer Amtsstellung bzw. eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses) und § 179 StGB (sexueller Missbrauch Widerstandsunfähiger)

3. Sexuelle Belästigungsdelikte: Exhibitionistische Handlungen und Erregung öffentlichen Ärgernisses (§§ 183, 183a StGB). Die sexuelle Belästigung von Kindern wird strafrechtlich als sexueller Kindesmissbrauch gemäß § 176 Abs. 3 StGB verfolgt. (www.lpb.bwue.de, 04.07.2005)

3.1 Welche Rechte hat das sexuell missbrauchte Kind?

Das Strafgesetzbuch regelt das Maß der Bestrafung der Täter und wird in jedem Fall bei der Aufdeckung eines Falles von sexuellem Missbrauch herangezogen.

Die Verjährungsfrist beginnt mit dem 18. Lebensjahr. Aufgrund der Tatsache, dass viele Opfer aus Scham- und Angstgefühlen heraus die Tat nicht zur Anzeige bringen, ruht die Verjährung und beginnt erst mit Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers. Dies ist eine Neuregelung und gilt bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c und §§ 176 bis 179. (vgl. § 78b StGB). Das eingefügte Ruhen der Verjährung bis zum 18. Lebensjahr des Opfers ist ein großer Fortschritt, nur fallen leider nicht alle Opfer unter diese Neuregelung, sondern nur die, die nach 1998 Opfer wurden oder bei denen die Taten 1998 noch nicht verjährt waren.

Eine Verjährungsfrist zwischen drei und dreißig Jahren ist grundsätzlich möglich. Die Verjährungsfristen sind im Strafrecht nicht pauschal geregelt, sondern knüpfen an das Strafmaß der jeweiligen Straftaten an. Die Verjährung richtet sich grundsätzlich zunächst nach dem Höchstmaß der Freiheitsstrafe, mit der eine Tat bestraft werden kann. Sie beginnt, sobald die Tat beendet ist oder sobald der „Erfolg" der Tat eintritt.

Genauere Angaben zu Verjährungsfristen sind in § 78 StGB zu finden, der besagt, dass die Verjährung:

• 30 Jahre beträgt, bei Taten, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind.

• 20 Jahre beträgt, bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als zehn Jahren bedroht sind.

• zehn Jahre beträgt, bei Taten, die mit Freiheitsstrafen von mehr als fünf Jahren bis höchstens zehn Jahren bedroht sind.

• fünf Jahre beträgt, bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr bis zu fünf Jahren bedroht sind. (§ 78b StGB)

Auszüge aus dem StGB §§ 174 bis 183 befinden sich im Anhang (Anhang 1).

Sicher ist, dass die meisten Opfer sexueller Gewalt und deren Angehörige möchten, dass der Täter bestraft wird. Die Entscheidung, ob eine Strafanzeige erstattet wird oder nicht, ist für betroffene Mädchen und Jungen, aber auch für erwachsene Überlebende nicht einfach, denn häufig können diese durch polizeiliche Vernehmungen oder Gerichtsverfahren sekundäre Traumatisierungen entwickeln (vgl. Jesche 2003, S. 59) oder die Kinder und Jugendlichen werden bei der Aufdeckung innerfamiliären Missbrauchs unvorbereitet aus der Familie genommen. Dies wird von den Opfern in der Regel nicht als Hilfe, sondern als Strafe erlebt.

3.2 Welche Rechte hat die erwachsene Überlebende?

Die Angaben in diesem Kapitel basieren auf Erfahrungen, die die Verfasserin, während ihrer Hospitation bei Wildwasser in einer Frauenselbsthilfegruppe in Berlin, in Gesprächen mit erwachsenen Überlebenden gemacht hat.

Junge Erwachsene (meist junge Frauen zwischen 25 und 30), die sich erst im Rahmen einer Therapie oder auf anderem Wege ihres Missbrauchs bewusst werden, wollen diesen bearbeiten. Nicht selten führen der Beginn eines neuen Lebensabschnitts oder bedeutsame Ereignisse (zum Beispiel Krisen in der Partnerschaft, Trennung), im Leben der Opfer zur Auseinandersetzung mit dem Missbrauch. Hier drehen sich die Gespräche um Themen wie Verjährung, Sinn und Erfolgsaussicht einer Anzeige, Schwierigkeiten bei der Beweiserbringung und die Aufarbeitung des Umgangs mit dem Missbrauch in der Familie. Viele der Opfer berichten, dass die schlimmste Erfahrung war, zu erleben, dass man ihnen nicht glaubte – genau so wie der Täter es ihnen ankündigte.

Häufig wünschen sich diese Menschen, dass ihr Peiniger ihnen Rede und Antwort steht. Sie wollen ihn fragen, warum er ihnen das antat und ob er eine Vorstellung hat, was er in ihrem Leben angerichtet hat. Die gerichtliche Verfolgung rückt dabei oftmals in den Hintergrund. Aber trotzdem stellen sich Überlebende die Frage, ob sie Strafanzeige erstatten sollen oder nicht. Grundsätzlich ist zu empfehlen, zu dieser Entscheidung einen erfahrenen Anwalt hinzuzuziehen, denn dieser kann auf Grund seines Fachwissens und seiner Erfahrungen die Erfolgschancen einer Anzeige abschätzen bzw. klären, ob das Delikt bereits verjährt ist oder nicht. Sollten sich die Opfer zu einer Anzeige durchringen, müssen sie wissen, dass sie diese nicht zurückziehen können. Sexueller Missbrauch ist ein Offizialdelikt, bei dem Polizei und Staatsanwaltschaft zur Ermittlung verpflichtet sind, sobald sie davon Kenntnis erlangen.

Nach so langer Zeit ist es schwierig, den Missbrauch zu beweisen und die Opfer müssen sich fragen lassen, warum sie denn so lange geschwiegen haben. Auf Grund des Erlebten haben sie oft eine Biographie mit Brüchen und dunklen Stellen vorzuweisen, nicht wenige haben Verhaltensauffälligkeiten und psychische oder psychosomatische Störungen entwickelt. Demgegenüber steht oftmals ein beliebter, psychisch stabiler und gut in sein Umfeld integrierter Täter, der in seinem Tun kein Unrecht entdecken kann oder die Tat bestreitet. In solchen Fällen steht den Opfern nach der Anzeigeerstattung ein harter und schmerzhafter Kampf bevor.

Wie bereits ausgeführt, kann die Frage, ob eine Anzeige Erfolg hat oder nicht bzw. ob die Tat bereits verjährt ist oder nicht, in der Regel nur ein Rechtsanwalt beantworten. Daher werden im Folgenden einige Ausführungen zum Opferentschädigungsgesetz (OEG) gemacht. Dieses gibt Auskunft über viele weitere Themen, mit denen sich Betroffene unter anderem auch immer wieder beschäftigen, wie die Kostenübernahme einer Therapie oder die ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt etc.

 

Wer hat Anspruch auf Versorgung nach dem OEG?

Leistungen nach dem OEG kann erhalten, wer in Deutschland oder außerhalb des Bundesgebietes auf einem deutschen Schiff oder deutschen Luftfahrzeug Opfer einer Gewalttat geworden ist und dadurch einen körperlichen, geistigen oder seelischen Schaden erlitten hat. Außerdem können Hinterbliebene (Witwen, Witwer, Waisen, Eltern) Versorgung erhalten, wenn eine Gewalttat unmittelbar oder später zum Tod des Opfers führt.

Ist der Tod eines Geschädigten nicht auf die gesundheitlichen Folgen der Gewalttat zurückzuführen, steht Witwen, Witwern und Waisen des Geschädigten unter bestimmten Voraussetzungen eine Beihilfe zu.

In die Entschädigungsregelungen sind auch in Deutschland wohnende Ausländer sowie ausländische Touristen und Besucher einbezogen. Für diesen Personenkreis gelten spezielle Anspruchsvoraussetzungen und Sonderregelungen über Art und Umfang der im Einzelfall möglichen Leistungen.

 

Wann liegt eine Gewalttat im Sinne des OEG vor?

Wenn die gesundheitliche Schädigung auf

• einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff (z. B. Körperverletzung, sexueller Missbrauch) gegen die eigene oder eine andere Person oder dessen rechtmäßige Abwehr oder

• die vorsätzliche Beibringung von Gift oder

• die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen (z. B. Brandstiftung, Sprengstoffanschlag) zurückzuführen ist.

 

Welche Leistungen stehen im Rahmen des OEG zu?

Der Umfang der Versorgung bestimmt sich nach den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).

Die Versorgung umfasst insbesondere:

• Heil- und Krankenbehandlung

• Beschädigtenrente, wenn die gesundheitliche Schädigung zu einer nicht nur vorübergehenden Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 25 v. H. führt

• Sterbegeld, Bestattungsgeld

• Hinterbliebenenversorgung für Witwen, Witwer, Waisen, Eltern

• Fürsorgeleistungen

Schmerzensgeld wird nicht gezahlt. Auch Sach- und Vermögensschäden können nicht ersetzt werden. Für am Körper getragene Hilfsmittel, Brillen oder Kontaktlinsen und für Schäden am Zahnersatz gelten Sonderregelungen.

Versorgung wird nur auf Antrag gewährt. Es empfiehlt sich, den Antrag frühzeitig, jedenfalls aber innerhalb eines Jahres nach Eintritt der gesundheitlichen Schädigung zu stellen, weil in der Regel nur dann Leistungen bereits ab dem Zeitpunkt der Schädigung möglich sind. Der Antrag kann beim Amt für Versorgung und Familienförderung, aber auch bei allen anderen Sozialleistungsträgern, zum Beispiel einer gesetzlichen Krankenkasse oder einem Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, und bei den Gemeinden gestellt werden.

 

Welche Umstände stehen Leistungen nach dem OEG entgegen ?

Leistungen sind zu versagen, wenn

• der Geschädigte die Schädigung selbst verursacht hat,

• es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren,

• der Geschädigte oder Antragsteller an politischen oder kriegerischen Auseinandersetzungen in seinem Heimatstaat aktiv beteiligt ist oder war und die Schädigung hiermit in Zusammenhang steht,

• der Geschädigte oder Antragsteller in die organisierte Kriminalität verwickelt ist oder war oder einer Organisation, die Gewalttaten begeht, angehört oder angehört hat und die Schädigung damit in Zusammenhang steht.

Leistungen können versagt werden, wenn der Geschädigte es unterlassen hat, das ihm Zumutbare zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Verfolgung des Täters beizutragen, insbesondere unverzüglich Anzeige bei einer für die Strafverfolgung zuständigen Behörde (Staatsanwaltschaft, Polizei) zu erstatten.

Damit der Geschädigte seine Ansprüche nicht gefährdet, sollte deshalb stets unverzüglich Strafanzeige erstattet und/oder Strafantrag gestellt werden.

 

Im Einzelfall können folgende Hilfen in Betracht kommen:

• Hilfe zur Teilhabe am Arbeitsleben und ergänzende Leistungen

• Erziehungsbeihilfe (für in Ausbildung stehende Kinder von Entschädigungsberechtigten)

• Ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt

• Erholungshilfe

• Wohnungshilfe

• Hilfe in besonderen Lebenslagen (hier sind je nach Schwere der gesundheitlichen Schädigung eine Vielzahl von Leistungen möglich)

• Krankenhilfe

• Hilfe zur Pflege

• Hilfe zur Weiterführung des Haushalts

• Altenhilfe

Art und Umfang der möglichen Fürsorgeleistungen für Gewaltopfer hängen von den Besonderheiten eines jeden Einzelfalles ab. Deshalb ist eine Beratung durch die Hauptfürsorgestelle vor jeder Antragstellung empfehlenswert. (Gewalt-Opfer?, Das Opferentschädigungsgesetz – OEG, Wir beraten! Wir helfen!)

Das OEG befindet sich im Anhang. (Anhang 2)

4 Auswirkungen und Folgen auf die erwachsene Überlebende

Wird der sexuelle Missbrauch nicht bereits im Kindesalter aufgedeckt, lassen sich viele Konsequenzen sehr spät, manchmal erst im Erwachsenenalter erkennen. Die im Anschluss näher erläuterten Punkte zeigen nur einen Bruchteil der tatsächlichen entstehenden Langzeitfolgen auf. Langzeitfolgen können psychischer, körperlicher bzw. psychosomatischer und emotionaler Natur sein. Ebenso wirkt sich sexueller Missbrauch in der Regel auf das Sozialverhalten und auf die Sexualität aus. Weiterhin ist zu beobachten, dass sich dieser auch in autoaggressivem Verhalten ausdrücken kann. (vgl. Wirtz 2001, S. 75 ff. – vgl. Bange/Körner 2002, S. 118) Alle angesprochenen Folgen werden sehr differenziert erläutert, um dem Leser ein möglichst umfassendes Bild zu geben und um ein Bewusstsein für die Problematik zu schaffen.

Nicht jede/r Überlebende ist von den nachstehend aufgeführten Symptomen betroffen und es ist ebenfalls wichtig anzumerken, dass nicht alle Reaktionen, physische wie auch psychische, immer sexuellen Missbrauch als Ursache haben. Oft sind es die alltäglichen und unscheinbaren Schwierigkeiten, zum Beispiel in der Partnerschaft (siehe näheres ab Punkt 5 ff.), mit denen die Überlebenden zu kämpfen haben.

4.1 Was sind Langzeitfolgen?

Langzeitfolgen sind die Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs, die Jahre danach und mitunter ein Leben lang auftreten können. (vgl. Olbricht 2004, S. 107) Einige Überlebende blenden unter Umständen diesen bis zu ihrem Tod aus. Sie erinnern sich nicht mehr an das Erlebte. Andere wiederum entdecken nach vielen Jahren, dass „da was war“, und merken, dass „etwas mit ihnen nicht stimmt“. Ist die Erinnerung zurückgekehrt, haben sie in der Regel mit einer Vielzahl von Folgen zu kämpfen. Franz Moggi beschreibt Langzeitfolgen als anhaltend und in der Regel erst später als zwei Jahre nach dem Beginn des sexuellen Missbrauchs – meist während der Adoleszenz bzw. im Erwachsenenalter – auftretend. (vgl. Bange/Körner 2002, S. 117) Es ist ein deutlicher Zusammenhang zwischen Kindesmissbrauch einerseits und der Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit im Erwachsenenalter zu finden. (vgl. Rachut/Rachut 2004, S. 23) Andererseits wirkt sich dieser aber häufig auch psychosomatisch aus. Der Körper merkt sich, was das Bewusstsein vergessen will, und reagiert zum Beispiel mit Magen- oder Unterleibsbeschwerden.

Nicht alle im Folgenden genannten Langzeitfolgen treten bei allen Überlebenden auf. Einige dieser treffen zu, andere wiederum nicht. Auch der Schweregrad der Langzeitfolgen ist bei jeder Überlebenden unterschiedlich. In jedem Fall haben aber alle Langzeitfolgen die Funktionen, die Betroffenen durch eben diese Störung daran zu erinnern, dass der sexuelle Missbrauch stattgefunden hat und dass „etwas“ nicht in Ordnung ist.

4.2 Psychische Folgen

Durch die Missbrauchserfahrung können eine ganze Reihe von Persönlichkeitsveränderungen mit unterschiedlichen Ausmaßen entstehen. Diese werden unter anderem auch „Überlebensstrategien“ (Striebel 2004, S. 15) bzw. „Abwehrmechanismen“ (Olbricht 2004, S. 39 ff.) genannt, denn Kinder suchen unbewusst nach Möglichkeiten, mit der Missbrauchssituation fertig zu werden. Sie passen sich an und funktionieren, so dass somit der Grundstein für spätere Krankheitssymptome gelegt wird. Diese entwickeln ein so genanntes Eigenleben und können sich zu schweren psychischen Erkrankungen ausweiten.

Nach eingehender Recherche in der Literatur ist sicher, dass die nachfolgend erläuterten psychischen Folgen nicht die ganze Tragweite des sexuellen Missbrauchs umfassen, sondern die Summe derer wesentlich größer ist. Vertrauensverlust sowie massive Schuldgefühle oder ein geringes bis hin zu gar keinem Selbstwertgefühl, um nur einige Symptome aufzuführen, sind Komponenten, die die Opfer von sexuellem Missbrauch unter Umständen ein Leben lang bedrücken und häufig sind diese Anzeichen bei vielen Überlebenden sogar gleichzeitig zu finden. Dies kann eine Erklärung dafür sein, dass die Mehrzahl der Betroffenen tiefgreifende Probleme in sozialen Beziehungen haben. Es ist jedoch wichtig festzuhalten, dass die im Anschluss ausgeführten psychischen Folgeerscheinungen nicht immer eindeutig Missbrauch als Ursprung haben. Dennoch hat die Mehrheit der Überlebenden mit den nachfolgend aufgeführten Nachwirkungen zu kämpfen.

4.2.1 Posttraumatische Belastungsstörung

Sexueller Missbrauch kann eine Entwicklung der posttraumatischen Belastungsstörung hervorrufen. Sie ist im ICD-10 (Internationale Klassifikation psychischer Störungen) unter F43.1 zu finden und den Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen zugeordnet. Sie ist eine psychische Auffälligkeit, die nach dem Auftreten eines Traumas zu beobachten ist. Ein Trauma ist eine starke seelische Erschütterung bzw. ein Schock. Dieser Begriff wird hier aufgeführt, da sexueller Missbrauch als ein Trauma verstanden werden kann.

Die Konfrontation mit einer lebensbedrohlichen Situation der eigenen oder anderer Personen geht der posttraumatischen Belastungsstörung voraus. In dieser Situation erfährt die betroffene Person intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen. Das traumatische Ereignis wird wieder und wieder erlebt. Werden Situationen erlebt, die mit dem traumatischen Ereignis assoziiert werden, tritt eine erhöhte Erregung auf und abweichendes Verhalten ist die Folge. Das Störungsbild zeigt deutliche psychosoziale Beeinträchtigungen, die es vor dem Trauma nicht gab. „Die emotionale Labilität, die depressiven Verstimmungen und Schuldgefühle beeinträchtigen nicht nur alle zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern sie können auch zu selbstschädigendem Verhalten und Suizidhandlungen führen.“ (Wirtz 2001, S. 85)

Nach Wirtz gibt es fünf diagnostische Kriterien der posttraumatischen Belastungsstörung nach DSM-III-R-1989:

1. Die Person wurde mit einem lebensbedrohlichen Ereignis konfrontiert. Dieses Ereignis ist von höchster Bedeutung und erschüttert die Konzepte der eigenen Sicherheit. Es muss nicht immer nur die Bedrohung des eigenen Lebens, sondern kann auch die Schädigung anderer Personen wie zum Beispiel der eigenen Kinder oder des Lebenspartners sein.

2. Das Ereignis wird durch wiederholte oder sich aufdrängende Erinnerungen, durch wiederkehrende oder stark belastende Träume wiedererlebt. Reize, die dem Trauma ähneln, können Auslöser für ein plötzliches Handeln oder Empfinden sein. Die betroffene Person fühlt sich so, als wäre das traumatische Ereignis wiedergekehrt.

3. Die Person vermeidet anhaltend Reize, die mit dem traumatischen Ereignis in Verbindung stehen bzw. mit diesem assoziiert werden. Sie entzieht sich Gedanken oder Gefühlen, Aktivitäten oder Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen. Diese Verhaltensweisen waren eindeutig vor der seelischen Erschütterung nicht vorhanden.

4. Ein- oder Durchschlafstörungen, Reizbarkeit und Wutausbrüche, Konzentrationsschwierigkeiten sowie unverhältnismäßige Schreckreaktionen sind anhaltende Störungen, die die betroffene Person über lange Zeiträume hinweg begleiten. Diese Symptome waren ebenfalls vor dem Trauma nicht vorhanden.

5. Bestehen die genannten Symptomatiken (siehe Punkt 2, 3 und 4) über einen vierwöchigen Zeitraum, so liegt eine akute posttraumatische Belastungsstörung vor.

Wirtz versteht die oben genannte Symptome als Überlebensstrategien und Bewältigungsversuche für den sexuellen Missbrauch. (vgl. Wirtz 2001, S. 88)

4.2.2 Vertrauensverlust

(Wirtz 2001, S. 138)