image

EIN

LIED

MEHR

ZUR LAGE DER NATION

Sebastian Peters Politische Inhalte in deutschsprachigen Popsongs

Sebastian Peters,
Dr. phil., Germanist, geb. 1978 in Wesel,
Studium der Germanistik, Anglistik und Neueren
und Neuesten Geschichte an der Universität Duisburg-Essen,
seit 2008 Redakteur bei der Rheinischen Post.

Dieses Buch entstand als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades des Dr. phil. im Fachbereich Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen.

Sebastian Peters

EIN LIED MEHR ZUR LAGE DER NATION

Politische Inhalte in deutschsprachigen Popsongs

„Über Musik schreiben ist wie zu Architektur tanzen/ Das ist immer noch besser als nichts/ Auch wenn es halt nichts ist.“1

Für Johanna & Anton

Wissenschaftliche Reihe, Band 6

Originalausgabe

Herausgeber:

Vertrieb für den Buchhandel: Bugrim (www.bugrim.de)

Lektorat: Klaus Farin, Andreas Kuttner

Das Berliner Archiv der Jugendkulturen e. V. existiert seit 1998 und sammelt – als einzige Einrichtung dieser Art in Europa – authentische Zeugnisse aus den Jugendkulturen selbst (Fanzines, Flyer, Musik etc.), aber auch wissenschaftliche Arbeiten, Medienberichte etc., und stellt diese der Öffentlichkeit in seiner Präsenzbibliothek kostenfrei zur Verfügung. Darüber hinaus betreibt das Archiv der Jugendkulturen auch eine umfangreiche Jugendforschung, berät Kommunen, Institutionen, Vereine etc., bietet jährlich bundesweit rund 120 Schulprojekttage und Fortbildungen für Erwachsene an und publiziert eine eigene Zeitschrift – das Journal der Jugendkulturen – sowie eine Buchreihe mit ca. sechs Titeln jährlich.

Das Archiv der Jugendkulturen e. V. legt großen Wert auf eine Kooperation mit Angehörigen der verschiedensten Jugendkulturen und ist daher immer an entsprechenden Reaktionen und Material jeglicher Art interessiert. Die Mehrzahl der Archiv-MitarbeiterInnen arbeitet ehrenamtlich. Schon mit einem Jahresbeitrag von 48 Euro können Sie die gemeinnützige Arbeit des Archiv der Jugendkulturen unterstützen, Teil eines kreativen Netzwerkes werden und sich zugleich eine umfassende Bibliothek zum Thema Jugendkulturen aufbauen. Denn als Vereinsmitglied erhalten Sie für Ihren Beitrag zwei Bücher Ihrer Wahl aus unserer Jahresproduktion kostenlos zugesandt.

Weitere Infos unter www.jugendkulturen.de

archiv

der jugenkulturen e.v.

INHALTSVERZEICHNIS

1.         Einleitung

1.1        Zielsetzung

1.2        Aufbau der Arbeit

1.3        Theoretischer Rahmen

1.4        Methodischer Rahmen

1.5        Korpus

1.6        Hypothesen

THEORETISCHER TEIL

2.         Was ist Pop?

2.1        Popdefinitionen

2.1.1     Pop oder Rock?

2.1.2     Pop – zwischen E und U

2.2        Popgeschichte

2.3        Glokalisierte Popkultur

2.4        Pop-Protagonisten

2.4.1     Musikindustrie – Macher oder Manipulator?

2.4.2     Künstler – Akteur oder Produkt?

2.4.3     Rezipient – Konsument oder Konstrukteur?

2.4.4     Medien – Filter oder Förderer?

3.         Pop und Politik

3.1        Die Verbindungslinien

3.1.1     Pop für Arme

3.1.2     Pop im Hier und Jetzt

3.1.3     Pop ist dagegen

3.1.4     Pop als Freiheit der Wahl

3.1.5     Pop als Definitionsmacht

3.1.6     Pop als Neuerfindung

3.1.7     Pop demonstriert Offenheit

3.1.8     Pop als Stilangriff

3.1.9     Pop-Klang als Protest

3.1.10   Pop und Körperlichkeit

3.1.11   Pop ist trivial

3.1.12   Pop als Geschichte-Erzähler

3.1.13   Pop ist jung

3.1.14   Pop sagt ja und nein

3.2        Pop-Standpunkte

3.2.1     Wie „links“ ist Pop?

3.2.2     Wie „rechts“ ist Pop?

MUSIKHISTORISCHER TEIL

4.         Die Vierziger

4.1        Warten aufs Wunder: 1940 – 1945

4.2        Trizonesien und die Welt: 1945 – 1949

4.2.1     Wie alles begann

4.3        War was?

5.         Die Fünfziger

5.1        Hin, weg und zurück: 1950

5.1.1     Warum plötzlich alle von der Heimat singen

5.2        Winke, Winke Deutschland: 1951

5.3        Heile Heile Welt – 1952

5.4        Sehnsucht nach gestern: 1953

5.5        Höhenluft: 1954

5.5.1     Warum es keinen ersten Popsong gibt

5.6        Komm’ mit mir nach Maratonga: 1955

5.6.1     Warum Deutschland rund um die Uhr rockte

5.7        Halbstark vs. Heimweh: 1956

5.8        In Adenauers „Zuhause“: 1957

5.9        Teenagerträume: 1958

5.9.1     Wie die Jugend das Einkaufen lernte

5.10      Elvis’ deutsche Erben: 1959

5.11      War was?

6.         Die Sechziger

6.1        Kein schöner Land?: 1960

6.2        Das Schweigen des Schlagers: 1961

6.2.1     Warum Pop von Prosperität profitierte

6.3        Und ewig lockt die Ferne: 1962

6.4        Ade(nauer): 1963

6.5        Liebe und Babys: 1964

6.5.1     Warum Liedermacher mehr als nur Lieder machten

6.6        Du gehst vorbei: 1965

6.6.1     Wie der Beat der DDR seinen Takt aufbrummte

6.7        … aber unser Widerstand nicht: 1966

6.8        Die neue Ungemütlichkeit: 1967

6.9        Mama und Mythos: 1968

6.9.1     Wie Pop die Gesellschaft anders gestaltete

6.10      Happy Days: 1969

6.11      War was?

7.          Die Siebziger

7.1        Wir streiken: 1970

7.1.1     Warum Deutsche keine richtigen Hippies werden konnten

7.2        Im neuen Klima: 1971

7.3        Schlager in Scherben: 1972

7.3.1     Wie Ton Steine Scherben die deutsche Popmusik politisierten

7.4        Lucky Streik: 1973

7.4.1     Warum Krautrock Deutschlands erste eigene Pop-Subkultur war

7.5        Reformhaus Deutschland: 1974

7.6        Es war einmal eine Gitarre: 1975

7.6.1     Wie der Ostrock auf die SED-Repressalien reagierte

7.7        Anarchy in UK, Reformen in BRD: 1976

7.8        Die Scheidung der Jugendkultur: 1977

7.8.1     Warum Punk mit „No Future“ neue Hoffnung brachte

7.9        No Future/Our Future: 1978

7.10      Punk macht Mittagspause: 1979

7.11      War was?

8.         Die Achtziger

8.1        Eiszeit im Computerstaat: 1980

8.1.1     Warum Punk für eine besondere „Anarchy in the GDR“ sorgte

8.2        Der permanente Kollaps: 1981

8.2.1     Was Punk und NDW gemeinsam hatten

8.3        Kein bisschen Frieden, aber Spaß dabei: 1982

8.3.1     Wie der Pop sich potenzierte

8.4        Vereint für das Bruttosozialprodukt: 1983

8.5        Mief im Osten, Tief im Westen: 1984

8.6        En-de-W: 1985

8.6.1     Wie Industrie als Musik klang

8.7        Deutschland tanzt: 1986

8.8        Komm doch rüber: 1987

8.9        Ruhe vor der Einheit: 1988

8.10      Die Sinatra-Doktrin: 1989

8.10.1   Warum auch der Pop die Mauer zum Wackeln brachte

8.11       War was?

9.         Die Neunziger

9.1        Tanzen, aber wohin? – 1990

9.1.1     Wie der DDR-Rock ausblutete

9.2        Im Wind des Wandels: 1991

9.2.1     Wie der Pop pluralistisch wurde

9.3        Systemfragen: 1992

9.3.1     Wie Blumfeld vom Ich auf die Gesellschaft kamen

9.4        Unherzlich willkommen: 1993

9.4.1     Warum die Hamburger Schule „Ich“ sagte

9.5        L’état und wir: 1994

9.5.1     Warum Techno der Mainstream der Neunziger war

9.6        Hamburg vs. Neue Deutsche Härte: 1995

9.7        Man singt deutsch: 1996

9.8        Politisch verdrossen: 1997

9.8.1     Wie Deutschland wieder hart wurde

9.9        Es bleibt alles anders: 1998

9.10      Old Nobody Pop: 1999

9.11      War was?

10.       Fazit

10.1      Überprüfung der Thesen

10.2      Ist Pop jetzt am Ende?

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

1. EINLEITUNG

„Ein Lied mehr zur Lage der Nation/ Und zur Degeneration meiner Generation.“2

Popmusik müsste eigentlich längst beerdigt sein, so oft wurde in den vergangenen Jahren im Feuilleton ihr Ableben festgestellt. Die Schallplatte vom Ende der Popkultur ist ein Dauerbrenner. Dass diese Platte immer weiter läuft, hat der Pop seinem Gegenwartsbezug zu verdanken. Pop bezieht sich auf das Jetzt – also auf gegenwärtige Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen.

Die Geschichte der Diskussion um Pop und Politik reicht bis in die fünfziger Jahre, bis zum Beginn der Rock- und Popmusik.3 Schon kurz nach Bill Haleys „Rock around the clock“ glauben Skeptiker, dass der Kult nur eine kurze Halbwertszeit hätte. „Pop ist tot“4 – so lautet noch immer das stetige Argument der Kritiker einer Kultur, deren Charakteristikum seit sechs Jahrzehnten ihre stetige Wiederkehr ist. Je häufiger die Kritiker die These vom Ende der Popkultur äußern, desto drängender stellt sich die Frage: Ist nicht jeder Versuch einer Beerdigung der Popkultur konsequent eine Revitalisierung derselben? Es erscheint als ein Widerspruch, wenn sich der Pop – schon als Begriff impliziert er das Populäre – auf dem Weg in die Unpopularität befindet. Pop ist da relevant, wo er sich auf aktuelle Entwicklungen bezieht: Wiederaufbau, Spiegel-Affäre, 68er, Kalter Krieg, Wiedervereinigung oder 11. September – zuletzt die Wirtschaftskrise. Die Künstler des Pop reflektieren in ihren Songs den permanenten Ausnahmezustand der Bundesrepublik: „Ein Lied mehr zur Lage der Nation.“

Meine Arbeit will die Beziehung von Pop und Gesellschaft untersuchen, indem sie Songlyrics im Kontext ihrer Zeit analysiert. Denn zu allen Zeiten hat es Kunstwerke gegeben, die dringlicher als andere Schauplatz der Geschichte waren. Jedes Kunstwerk – ob Bild, Literatur, Musik – ist Ergebnis eines Kontextes. Nur hat es zu jeder Zeit Künstler gegeben, die diesen Einfluss verschleierten, das Kunstwerk solitär betrachteten, und solche Künstler, die den Einfluss der Umwelt auf die Kunst offen legten, sich offensiv mit der Umwelt auseinandersetzten. Es ist der in der Literatur anzutreffende Konflikt zwischen der l’art pour l’art auf der einen und gesellschaftlich engagierter Kunst auf der anderen Seite, den auch die Popkultur ausficht. Etliche eifrige Vertreter der Populärkultur haben protestiert und revoltiert, dies desto mehr, je enger andere Vertreter der Populärkultur mit den Mächtigen kooperierten. Pop lebt also weiter, weil sich seine Künstler immer neu zu gesellschaftlichen Fragen positionieren. Diese Bandbreite an Positionen soll meine Arbeit darstellen und damit die Antwort auf die Frage liefern, warum der Pop immer noch so vital ist.

Doch zunächst gilt es zu danken. Ohne den großen Rückhalt von Johanna in dieser Zeit hätte ich manchmal kapituliert. Dafür, und fürs Korrekturlesen, möchte ich ihr von ganzem Herzen Danke sagen – „of all the stars, I’ve ever seen, you’re the sun.“ Ein herzliches Dankeschön für all die Abende, an denen er sich Zeit nahm, die wertvollen Hinweise und guten Gespräche gebührt meinem Doktorvater Professor Dr. Werner Jung. Bedanken möchte ich mich bei Klaus Farin und Andreas Kuttner vom Archiv der Jugendkulturen für kritische Lektüre und Professor Dr. Frank Erik Pointner für seine wertvollen Hinweise. Und an all die Künstler, Bands, Plattenindustriellen, Konzertveranstalter, die mir in vielen Gesprächen bei vielen Getränken viele Lektionen erteilten: Sincere thanks!

1.1 ZIELSETZUNG

Die Arbeit soll darstellen, wie populäre Musik seit den Vierzigern gesellschaftliche Veränderungen begleitet hat. Sie untersucht die komplexe Verbindung von kultureller Entwicklung und politischen Realitäten, sekundär auch ökonomischen und soziokulturellen Erscheinungen ab der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Grundlage der Untersuchung ist der stets populäre Mythos von der Subversion, welcher die Popmusik seit den Vierzigern begleitet, selten jedoch an den tatsächlichen Inhalten festgemacht wurde. Die textlichen Inhalte sollen hier in ihrer Wirkung analysiert werden, indem sie in der Zeit ihrer Popularität, nicht aber der ihrer Produktion untersucht werden. Die Arbeit verfährt also rezeptionsorientiert.

Nach dem Ende des Kommunismus im Ostblock Ende der Achtziger wuchs bei konservativen Intellektuellen der Glaube an die Hegel’schen Gedanken vom Ende der Geschichte. Es herrschte die Hoffnung vor, die Revolutionen und Aufstände wären beendet, die Überlegenheit der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung sei mit dem Untergang des Kommunismus bewiesen. Die Gegenwart aber zeigt, dass sich im politischen System ständig neuer Widerstand gegen eine homogene Weltordnung regt. Kultur hat in diesem gesellschaftspolitischen Kontext eine immer wichtigere Rolle eingenommen. Popmusik wiederum bietet die Möglichkeit, den hegemonialen Diskurs zu verneinen, „hedonistische Vorstellungen zu artikulieren und so Wünsche und Bedürfnisse auszusprechen, die sprachlich nicht formuliert werden können.“5 Diese Arbeit soll Beispiele hierfür liefern. Sie soll nach Liedern suchen, die gesellschaftliche Veränderung zum Thema machen, und sie im Kontext ihrer Zeit verweben, die Diskursfäden aus dem Text heraus in politische und gesellschaftliche Kontexte ziehen. Und sie soll eine These im Blick haben, die Olaf Karnik formuliert: „2001 war das Jahr, in dem die Politik und Gesellschaftskritik in starkem Maße wieder in die (nicht nur) deutsche Popmusik zurückgekehrt sind.“6

Viel ist seit Beginn der Popmusik über politische Inhalte geschrieben worden – in Büchern, Zeitungen, Fanzines. In den meisten Beiträgen wird der subversive Charakter des Pop als gegeben vorausgesetzt, die Songlyrics werden oft ausschließlich im Kontext der Musik betrachtet und als politisch interpretiert. Solche herrschenden Meinungen will diese Arbeit nicht reproduzieren, sondern, indem sie die Texte der Popsongs untersucht, eine Sicht auf den Pop wagen, die Kritiker bisher stets ablehnten. Die Popmusik soll hier nicht in ihrer Wirkung präjudiziert, sondern im Kontext der Dynamik gesellschaftlicher Prozesse analysiert werden. Die Arbeit geht also nicht den Weg, den Einfluss von Popmusik auf gesellschaftliche Entwicklung anhand einer empirischen Analyse zu untermauern, sie befragt nicht etwa die Rezipienten, sondern betrachtet ein Kulturprodukt auf dem Höhepunkt seiner Popularität in rezeptionsorientierter Perspektive und in seinem historisch-politischen Kontext.

Die Arbeit trägt den Untertitel „Politische Inhalte in deutschsprachigen Popsongs“. Der hier verwendete Begriff von Kultur versteht diese im Sinne der Cultural Studies als „ganze Lebensweise“, verstrickt in politische, gesellschaftliche und ökonomische Strukturen. Jede Äußerung auf dem Feld der Popkultur – im Popsong und anderswo – hat also gleichzeitig eine gesellschaftsrelevante Dimension. Im Begriff „Politik“ ist schon eines der Hauptprobleme impliziert, welches den Streit um den politischen Charakter von Popmusik immer neu entfacht. Denn vor einer Untersuchung des politischen Charakters musikalischer Popkultur bedarf es der Definition dessen, was der Begriff des „Politischen“ bezeichnen soll. Denn „politisch“ bedeutet nicht per se ein Engagement in gesellschaftlich institutionalisierten Parteien oder Organisationen. Wenn in dieser Arbeit von „Pop und Politik“ die Rede ist, dann meint dies vielmehr einen allgemeinen Begriff von Politik, der nach dem Verständnis von Schubert und Klein jegliche Art der Einflussnahme und Gestaltung sowie die Durchsetzung von Forderungen und Zielen, sei es in privaten oder öffentlichen Bereichen, zum Inhalt hat.7

Und woran macht man Politik im Pop fest? Es fällt oftmals schwer, die kritischen bis subversiven Momente in der Praxis festzulegen. Erwähnt werden muss deshalb zunächst die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten, die in der Popmusik offeriert werden. Denn eine Protesthaltung ließe sich entweder in einer ästhetisch-stilistischen Abgrenzung ausdrücken, in der performativen Außendarstellung als dem „Image“ der Künstler oder in den Texten. Die letztere, womöglich einfachste Form der Analyse soll in dieser Arbeit primär untersucht werden. In Verbindung mit Texten können einzelne ergänzende Momente im musikalischen Ausdruck oder in der performativen Mediendarstellung eines Künstlers dieses Protestmoment noch verstärken.

1.2 AUFBAU DER ARBEIT

Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile, von denen der erste sich mit stetiger Bezugnahme auf den zweiten musikhistorischen Teil dem theoretischen und methodischen Inventar nähern will, das für das Verstehen der eigentlichen Pop-Chronologie nötig ist. Die Untersuchung der Popkultur beginnt mit den vierziger Jahren und endet im Jahr 2000, dazwischen folgt die Arbeit einer Chronologie, sie untersucht die einzelnen Jahre von 1940 bis 2000 Jahr und wagt abschließend einen Ausblick. Dieses Vorgehen ist deshalb nötig, weil gesellschaftspolitische und popkulturelle Entwicklungen auf diese Weise synchron dargestellt werden können und nur so die Verbindung von Popkultur und gesellschaftlichen Entwicklungen deutlich wird. Eine Einteilung in thematische Schwerpunkte oder eine gebündelte Zusammenfassung in Jahrzehnten wäre legitim gewesen, hätte aber das Problem bereitet, dass zu viele zeitliche Entwicklungen in der diachronen Darstellung durcheinander geraten wären.

Es mag als ein vorschnelles Urteil betrachtet werden, wenn der Ursprung der Popkultur in dieser Arbeit am Ende des Zweiten Weltkrieges festgemacht wird. Zum einen offeriert diese Variante der popkulturellen Geschichtsschreibung die Vorstellung eines euphorischen Nachkriegsbooms, in dessen Fahrwasser die Popkultur als eine Kultur des Vergnügens und Genusses entsteht – ein Trugschluss. Diese Festsetzung führt ein zweites Mal in die Irre, wenn angenommen wird, die Popkultur starte nach dem Zweiten Weltkrieg an einem Nullpunkt. Dies wäre eine weitere Fehlbewertung.

In der Folge versucht die Arbeit, die kanonische Geschichtsschreibung des Pop zu hinterfragen. Sind die Fünfziger die Zeit des braven Pop, der versucht, aufrührerisch zu sein?8 Bedeutet in den Sechzigern und Siebzigern Popmusik wirklich ausschließlich Rebellion?9 Und sind die popkulturellen Achtziger nur noch nihilistische Subversion und Ausverkauf, der in den Neunzigern in einem Pluralismus endet?10 Die Musikgeschichte des Populären, so schreiben es Tom Holert und Mark Terkessidis in ihrem Buch „Mainstream der Minderheiten“11, erfahre spätestens in den Neunzigern einen Bruch, indem alle zuvor bekannten Phänomene wie Wave, Pop, Punk oder Metal in einem Mainstream aufgehen. Eine stringente Chronologie der Popmusik, wie sie noch für die sechziger und siebziger Jahre geschrieben werden konnte, sei spätestens in den Neunzigern nicht mehr möglich.

1.3 THEORETISCHER RAHMEN

Es gibt Kritiker, die die Teilhabe der Popkultur an gesellschaftlichen Fragen und die subversiven Kräfte des Pop in Frage stellen, also die Verbindung von Pop und Politik negieren. Natürlich müssen an dieser Stelle Horkheimer und Adorno erwähnt werden, deren Kapitel zur Kulturindustrie in der „Dialektik der Aufklärung“ die spätere Popkultur bereits in ihren Grundzügen skizziert. Ihr Werk fungiert noch heute als wesentliche Referenz, wenn Populärkultur untersucht werden soll. In der Folge beziehen sich Kritiker immer wieder auf dieses Werk und versuchen sich – dialektisch – an einem Widerspruch zu Adornos und Horkheimers Thesen. Roger Behrens, Diedrich Diederichsen oder John Fiske – auf der Basis verschiedener theoretischer Fundamente widersprechen sie der „Dialektik der Aufklärung“. Ihre Argumente sollen in der Folge nicht unberücksichtigt bleiben.

Adorno und Horkheimer untersuchen im Kulturindustrie-Kapitel die Kulturlandschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts und stellen fest, dass es keine „autonome“ Kultur mehr gebe und stattdessen die Industrie den kulturellen Sektor zu dominieren beginne. Adornos Urteil lautet: „Alle Massenkultur unterm Monopol ist identisch, und ihr Skelett, das von jedem fabrizierte begriffliche Gerippe, beginnt sich abzuzeichnen.“12 Horkheimer und Adorno differenzieren zwischen der bürgerlichen Kunst, welche die Unterklasse ausschloss, immer jedoch am Gemeinwohl interessiert war, und der Kunst des spätkapitalistischen Zeitalters, welche ihren autonomen Charakter verloren habe und stets nur als Mittel zum Zweck der Generierung von Kapital diene. Schon vor dem eigentlichen Entstehen der Popkultur sieht Adorno die bürgerliche Kunst in ihren Grundwerten bedroht und wirft der Massenkultur die kulturelle „Gleichschaltung“ vor: „Kultur schlägt alles mit Ähnlichkeit. Film, Radio, Magazine machen ein System aus.“13 Massenkultur verhindere obendrein das Neue: „Immergleichheit regelt auch das Verhältnis zum Vergangenen. Das Neue der massenkulturellen Phase gegenüber der spätliberalen ist der Ausschluss des Neuen. Die Maschine rotiert auf der gleichen Stelle.“14 Kritik übt Adorno auch am reinen Gebrauchswert der Kultur. Denn für viele Menschen sei Kultur nur noch Amüsement, das Abwechslung biete. Kultur diene nur noch einem bestimmten Zweck: dem der Unterhaltung und des Zeitvertreibs. „Amüsement, alle Elemente der Kulturindustrie, hat es längst vor dieser gegeben. Jetzt werden sie von oben ergriffen und auf die Höhe der Zeit gebracht.“15 Gleichzeitig habe nach Adorno dieses Amüsement schon lange den Charakter von Arbeit angenommen. Die Kulturindustrie verwische die Grenze von Arbeit und Freizeit. Sie stille das Bedürfnis der Menschen nach Amüsement, welches wiederum aus dem mechanisierten Arbeitsprozess resultiert. Adorno schließt eine wahrhaftige Kritikfähigkeit der Massenkultur aus: „In der Kulturindustrie verschwindet wie die Kritik so der Respekt: Jene wird von der mechanischen Expertise, dieser vom vergesslichen Kultus der Prominenz beerbt.“16 Und an eben dieser Stelle bietet sich der unmittelbare Berührungspunkt für meine Arbeit, die eine mögliche Protesthaltung der Popkultur gegenüber der Gesellschaft auf die Probe stellen will und dafür Popsongs aus sechs Jahrzehnten untersucht.

Es gibt Kritiker und Gegenmodelle zu Adornos Konzept der Kulturindustrie: Walter Benjamin entdeckt in der Möglichkeit einer technischen Reproduzierbarkeit von Kunst Reize. Er betont bereits in den dreißiger Jahren den politischen Charakter der Massenkultur und erhebt die Forderung, dass gegen die Ästhetisierung der Politik durch die Nationalsozialisten eine Politisierung der Kunst durch die Kommunisten betrieben werden müsse. Diese Position wiederum ist von Herbert Marcuse als Strategie in den sechziger Jahren wieder entdeckt worden.17 Benjamin gelingt es so, die Massenkultur aus einem ästhetischen Blickwinkel zu betrachten. Er analysiert hier, dass die Reproduzierbarkeit mit Hilfe von Technik den Status des Kunstwerks verändere. Dieses verliere zwar seinen Charakter der Einzigartigkeit, also seine Aura, die es ehemals aus seinen Ursprüngen im Dienst von Kult und Ritual gewann. Durch die technische Reproduzierbarkeit erhalte das Kunstwerk aber nun eine neue Basis, indem es emanzipiert wird vom „parasitären Dasein am Ritual.“18 Die Kunst beziehe sich nun auf die Politik, und Kunst wird für alle erschwinglich und erhältlich. Benjamins Arbeiten beschäftigen sich allesamt nicht explizit mit Musik, allerdings können viele der Thesen nahezu direkt auch auf die Musik bezogen werden.

Ein stetiger Grund für die Kritik am Protest-Potenzial der Popmusik liegt auch heute noch in ihrer Warenform begründet. Popmusik nähert sich der industriellen Produktion an, indem an dem Produkt höchst unterschiedliche Akteure beteiligt sind. Dies unterscheidet die Popmusik grundlegend von anderen populären Gattungen wie Volkslied, Volkstanz, Kirchenlied oder Militärmusik. Indem die Popmusik sich dem Diktat des wirtschaftlichen Profits ausliefert, kann sie dieser Argumentation nach keine gänzlich eigenständige Gedankenwelt mehr vermitteln. Auch für den theoretischen Fall, dass die Popmusik dennoch eine unzensierte Version von Protest veröffentlichen könnte, die beteiligten Akteure also die genuine Botschaft nicht veränderten, bliebe dennoch die theoretische Möglichkeit einer Manipulation durch die wirtschaftlichen Distributions- und Vermarktungssegmente. Holert und Terkessidis schreiben:

„Es gibt allerdings diverse Gründe, sich den diversen Selbsttäuschungen über Subversion und Rebellion von Pop zu verweigern. Denn in dieser Allgemeinheit diente sie ausschließlich industriellen Profitinteressen und der Durchsetzung neuer gesellschaftlicher Verhältnisse.“19

Gerade in der neueren Zeit kritisieren viele Pop-Theoretiker Adorno in seinem Pessimismus: John Fiske beispielsweise sieht in seinen Untersuchungen im Rahmen der Cultural Studies den Konsumenten nicht als ein ausschließlich diktiertes Objekt. Die Populärkultur steht zwar auch bei Fiske im Spannungsfeld von Kulturindustrie und Konsumenten.20 Er sieht aber eine Möglichkeit des Protestes im Konsum, der gleichzeitig ein Ausschlussverfahren bedeute. Der Kunde habe die Möglichkeit, mit dem Konsum der einen Ware gleichzeitig ein anderes Produkt abzulehnen. Insofern biete die Warengesellschaft – und auch die mittlerweile ihr angepasste Kulturlandschaft – die Möglichkeit, einen individuellen Geschmack zu konstruieren, der nicht vom Diktat durch einzelne Wenige bestimmt sei. Auch Heinz Steinert widerspricht der These Adornos, wonach ein „richtiges Leben im falschen“21 nicht möglich sei. Steinert räumt der Kunst in der Kulturindustrie zumindest die theoretische Möglichkeit ein, die „herrschenden Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.“22 Borris wendet sich ebenfalls gegen ein zu pessimistisches Bild der Massenkultur. Die Phänomene der Popkultur bewiesen, dass es gerade das protestierende Potenzial der Massenkultur Pop sei, welches Kritik an den bestehenden Zuständen äußert. Pop artikuliere seine Kritik an einem Zustand, an dem er selbst teilhat und teilnimmt. Die Paradoxie dieses Unternehmens dürfe nicht ablenken von der Tatsache des Bestehens: „Innerhalb der Affirmationskultur bleibt der Unabhängigkeit also nur eine Chance: ihre Verweigerung. Nur wenn Musiker und Plattenfirmen aufhören, ihre Arbeitsweise an den Strukturen des bestehenden Marktes auszurichten, besteht für sie die Chance, der totalitären Macht des bestehenden Musikgeschäfts zu entgehen“23 Was Adorno zudem ignoriert: Auch zu frühen Zeiten war Kunst wenig autonom. Sie wurde sogar häufig für ein höfisch-elitäres Publikum produziert. Adorno und Horkheimer müssen sich deshalb den Vorwurf gefallen lassen, dass ihr Kulturindustrie-Kapitel am Ideal einer bürgerlich autonomen Kunst festhält.

Es waren Ende der Achtziger die Cultural Studies, die diesen Vorwurf gegen Adorno am deutlichsten aussprachen. Sie waren es, die das Verhältnis von Pop und Politik abermals offen legten. Nur wenige Arbeiten befassen sich dabei aber direkt mit den Inhalten der Popsongs. Als der Pionier des kulturkritischen Blicks auf den Pop gilt in Deutschland Diedrich Diederichsen. Seine Überlegungen zur Entwicklung von Popkultur sind die Basis, ohne die kaum eine Arbeit, die sich mit Popkultur befassen will, auskommen kann. Er operiert mit den Begriffen „Pop I“ und „Pop II“, wenn er das Phänomen der Popmusik beschreibt.24 „Pop I“ ist für ihn die erste Phase des Pop, in welcher sich dieser noch kritisch gegen etablierte Künste und Herrschaftsformen wendet. Dieser „Pop I“ sei authentisch, glaubwürdig, provokativ, grenzüberschreitend, umstürzlerisch, subkulturell etabliert und sozialkritisch. Pop wäre in diesem Sinne gleichbedeutend mit Subversion. Der „Pop I“ weist für Diederichsen die Möglichkeit von Rebellion, Widerstand und Protest auf. Zeitlich verortet Diederichsen diese Form des Pop von 1960 bis 1980. „Pop II“ hingegen bezeichnet bei Diederichsen jene Phase, in der Pop selbst die etablierte Ausdrucksform ist. Pop ist hier gleichbedeutend mit Konsum, Feier, Wirtschaft, Lifestyle und Mainstream. Der Pop wird hier affirmativ. Allerdings, so wendet Diederichsen ein, wohne diesem Pop noch immer ein kritisches Moment inne.25 Diederichsen zeigt an anderer Stelle, dass im „Pop II“ der Begriff „Pop“ eine Erweiterung erfährt und nunmehr auch andere musikalische Stile vereinnahmt. Heute lässt sich – so meine These – weit mehr zeittypische Musik unter dem Begriff „Pop“ zusammenfassen. Diederichsens Kategorien „Pop I“ und „Pop II“ sollen im Verlaufe dieser Arbeit berücksichtigt werden, beschreiben sie doch eine für diese Arbeit wichtige Tatsache. Wenn er behauptet, dass dem Pop auch in seiner zweiten Phase ein kritisches Potenzial innewohnt, dann widerspricht dies den gängigen Thesen, die der aktuellen Popmusik kein Protest-Potenzial mehr einräumen.26

Auf der Ebene der Untersuchung von Jugendkulturen befasst sich Martin Büsser in vielen Beiträgen mit dem Verhältnis von Pop und Politik, besonders in den Subkulturen. Seine Überlegungen waren sehr hilfreich für die Entstehung dieser Arbeit – Büsser aber behandelt die Frage des Verhältnisses von Pop und Politik nicht konkret an den Songlyrics, sondern beobachtet das Phänomen der Popkultur aus musiksoziologischer Perspektive. Ähnlich verfährt Roger Behrens, dessen auf der Kritischen Theorie basierende Blicke auf die Popkultur seit Mitte der Neunziger zu einem kulturkritischen Ergebnis kommen, das Auswirkung auf die Untersuchung der Songs meiner Arbeit hat.

Eine Vielzahl von Autoren wird in dieser Arbeit mit Beiträgen zur Geschichte der Popkultur zitiert. Stellvertretend sollen hier Peter Wicke und Klaus Farin genannt werden, die sich in zahlreichen Publikationen mit der Entwicklung von Popmusik von den Fünfzigern bis heute befassten. Zuletzt veröffentlichten Frank Erik Pointner und Martin Butler 2007 in gemeinsamer Herausgeberschaft den Band „Da habt ihr es, das Argument der Straße“, in dem sie deutlich machen, dass die gesungene Artikulation von Protest und Widerstand ein die Kulturen übergreifendes Phänomen ist.27 Nicht unerwähnt bleiben sollen ähnlich gelagerte Arbeitsprojekte, zu denen sich im Verlaufe des Schreibens der Arbeit Schnittpunkte ergaben. Andreas Meier hat in seiner Arbeit „Politischer Wertewandel und populäre Musik“28 in einer empirischen Untersuchung darzustellen versucht, welche Werte im Pop ver- und behandelt werden. Er geht weniger hermeneutisch als vielmehr empirisch vor und kommt zu dem Ergebnis, dass Popmusik neben dem Themenfeld Liebe besonders gesellschaftliche Themen wie Politik, Umwelt oder Wirtschaft aufgreift.

In der Addition all dieser Argumente kann geschlussfolgert werden, dass den Thesen Adornos und Horkheimers in der „Dialektik der Aufklärung“ nur bedingt zuzustimmen ist. Es wäre denkbar, dass sich die Protagonisten der Popindustrie wirksam gegen ihr eigenes System auflehnen, auch wenn diese sich dann in die bestehende Form integrierten. Auch in der Popkultur werden herrschende Zustände kritisiert. Die Kritik des Pop an der Gesellschaft ist jedoch eine in die bestehenden Verhältnisse eingegliederte Kritik, eine Vertröstung, eine weiche Droge oder, um mit Adorno zu sprechen, der ständige sehnsüchtige Blick auf die Menükarte ohne tatsächliche Nachspeise. Diese Arbeit soll konsequent jene Momente der Popkultur darstellen, in denen diese tatsächlich kritisch agiert oder Themen ihrer Zeit aufgreift. Denn gerade wo ihr Angebot an Orientierungen, Lebensstilen und kulturellen Verhaltensmustern immer umfangreicher und perfekter zu werden schien, zeigten sich Nischen, in denen sich Subkulturen einrichteten, ohne sofort kontrolliert oder direkt vermarktet werden zu können.29 Diesem komplexen Zusammenspiel muss diese Arbeit für den Teilbereich der Popkultur nachgehen, indem sie vermeintliche Rebellion gegebenenfalls als Anpassung offenlegt und auch in jenen Stilen, denen per se die Anpassung nachgesagt wird (Schlager, volkstümliche Musik), gesellschaftskritische Tendenzen erkennt. Deshalb wird die Arbeit keine Verteidigungsschrift für eine Generation oder eine Jugendkultur, auch kein Plädoyer für einen bestimmten Musikstil. Sie ist der Versuch der gerechteren Geschichtsschreibung des Pop. Das Ziel und das Neue dieser Arbeit sollen sein, dass sich der Autor von einer Schreibart über Pop loszulösen versucht, die immer die generationsspezifisch typische Variante des Pop als die subversive glorifiziert. Vielmehr soll anhand von Beispielen gezeigt werden, dass Pop auf seine Art immer politisch sein kann. Und es muss im Verlaufe der Arbeit auch das Zusammenspiel betrachtet werden, mit dem sich Pop und Politik stets gegenseitig befruchten.

1.4 METHODISCHER RAHMEN

Eine die Populärmusik untersuchende wissenschaftliche Arbeit auf dem Feld der Germanistik war bis vor wenigen Jahren noch ein exotisches Unterfangen. Lange Zeit beschränkte sich die wissenschaftliche Analyse von Kultur auf vermeintlich „ernste“ Anteile. Der populären Musikkultur, so wurde oft eingewendet, fehle die theoretische Fundierung. „Wo sie versucht wird, klingt sie oft angeklebt, oberflächlich und einheimsend.“30 Doch Popmusik ist in all ihren Variationen und Spielarten die permanente Hintergrundkulisse unseres Alltags. Aus diesem Grund regen viele Kritiker längst an, die Populärkultur intensiver zu erforschen. Peter Wicke stellt zum Beispiel für die Neunziger fest, dass sich die Musikwissenschaft paradox von einem Massenphänomen wie der Love Parade abwende, ungeachtet der Tatsache, dass diese die Jugend mehr mobilisiere als viele andere kulturelle Erscheinungen der Zeit. Er fragt sich, was eine Musikwissenschaft überhaupt noch aussagen wolle, wenn sie ein von solch einer Masse getragenes Phänomen gänzlich zu ignorieren versucht.31

Was Wicke 1997 noch kritisch attestiert, gilt heute für die Germanistik und ihre Nebendisziplinen nicht mehr. Im vergangenen Jahrzehnt haben diese den Blick erweitert. Heute scheinen die ästhetischen Kategorien „E“ und „U“ – ernste und unterhaltende Kultur – nicht mehr qualitativer Gradmesser der Forschung zu sein. Die Zweiteilung von Kultur neigt sich ihrem Ende entgegen, sicherlich stichhaltig dokumentiert in der häufiger werdenden Rezeption der „Cultural Studies“ im deutschsprachigen Raum. Die postmoderne Kultur erlaubt keine Exklusivität mehr. Die einst klar konturierten Felder von bürgerlicher Hochkultur, Populärkultur, Volkskultur sowie Trivial- oder Massenkultur lösen sich auf. Die Forschung widmet sich heute im Zuge einer zunehmend an Bedeutung gewinnenden Populärkultur auch jenen kulturellen Produkten, die einstmals an den Rand der ästhetischen Wertewelt gerückt worden waren.

Erfassbar wird Popmusik danach am besten mit einer Integration mehrerer Theorieverfahren. Dabei müssen sowohl die Ansätze der Cultural Studies als auch Ideen von New Historicism, Intertextualität, Diskursanalyse und Hermeneutik berücksichtigt werden. Diese Bricolage, das „Heimwerken“ mit Methoden also, zeigt die Verwebung des einzelnen Popsongs in seinen Kontext auf. Eine solche Arbeit sollte Texte interpretieren dürfen, sie in Beziehung zum sozialgeschichtlichen Kontext setzen und so ihr Entstehen und ihre Auswirkungen auf den Diskurs zu erklären versuchen. In ihrem Ziel nämlich ist sie den von Greenblatt in den „Verhandlungen mit Shakespeare“ formulierten Ideen nicht unähnlich, indem sie ähnlich wie der New Historicism die „Grenzen zwischen den als Kunstformen ausgezeichneten kulturellen Praktiken einerseits und anderen, nahe stehenden Ausdrucksformen andererseits“32 untersucht. Das Verfahren dieser Arbeit ist also im Sinne von Greenblatt eine historische Kontextualisierung musikalischer Texte. Meine Arbeit wird aber insofern nicht den Vorstellungen Greenblatts gerecht, als dass sie sich eben an der homologischen Epochenkonstruktion versucht und genealogisch in verschiedene musikalische Epochen einteilt. Sie übernimmt in dieser Hinsicht tradierte Kategorien. Eine Loslösung von diesen hätte bedeutet, die Entwicklungsstränge einzelner Genres isoliert voneinander zu betrachten.

Greenblatt versteht im Sinne des kulturanthropologischen Ansatzes von Clifford Geertz33 jede kulturelle Praxis als eine interpretative Konstruktion und sieht die Bestimmung der Literaturwissenschaft darin, Literatur als Teil des größeren Systems von Zeichen zu analysieren, das eine Kultur konstruiert und konstituiert. Geschichte ist in der Deutung des New Historicism Teil eines „texte général“34. Dass insbesondere die Populärkultur reizvolle Inhalte bietet, die in einen texte général ihrer Zeit gesetzt werden können, machen Butler und Pointner deutlich:

„Um das Wirkungspotential oder die soziale Energie eines Protestliedes in einer spezifischen historischen oder kulturellen Situation angemessen beurteilen zu können, ist es erforderlich, das Lied mit seinen zeitgenössischen Kontexten in Verbindung zu bringen und […] seinen ‚Platz‘ im ‚Gewebe der Kultur‘ ausfindig zu machen.“35

Einer der wichtigsten Einflüsse auf den New Historicism ist diesbezüglich die Diskursanalyse Foucaults.36 Foucault erstellt mit seiner Diskursanalyse-Technik ein Archiv seiner Zeit – der Begriff des Diskurses bezieht sich auf die immer sich erneuernde Kapazität des Flusses von Wissen durch die Zeit. Der Diskurs regelt dabei nicht nur die Frage, was unter welchen gesellschaftlichen und kulturellen Zuständen sagbar ist, sondern bestimmt auch, wer wo und wann sprechen darf. Letztlich steht dahinter die Frage nach der Macht, der meine Arbeit auf den Grund gehen will, da auch sie davon ausgeht, dass das Schreiben eines Popsongs immer einen Versuch darstellen kann, herrschende Macht zu untergraben. Gerade der politische Popsong, der Gesellschaftskritik äußert und zu politischer Aktivität auffordert, stellt nicht nur einen Reflex auf einen Missstand dar, sondern formuliert auch ungehörte und marginalisierte Interessen. Grossberg formuliert:

„Aber – und dies ist der optimistische Aspekt – die Macht kann sich niemals totalisieren. Es gibt immer Risse und Bruchlinien, die zu aktiven Orten des Kampfes und der Verwandlung werden können. Die Macht erreicht niemals ganz, was sie vielleicht überall erreichen möchte, und es gibt immer die Möglichkeit, die Strukturen und die Organisation von Macht zu verändern.“37

Die Machtfrage wird besonders im Cultural Materialism häufig gestellt. Er betont die enge Beziehung zwischen kultureller Handlung und wirtschaftlichen, sozialen sowie politischen Entwicklungen; er unterscheidet dabei zwischen hegemonialen und nicht-dominanten Kulturen. Raymond Williams fasst Kultur als die Gesamtheit einer Lebensweise auf und fordert ein gesellschaftlich bestimmtes Konzept einer gewöhnlichen Kultur für alle.38 Kultur ist nach seiner Auffassung weder Überbau der gesellschaftlichen Basis, noch ist sie ein individueller Freiraum, in dem sich kulturelle Produkte autonom ausleben können:

„Im Kern dieses Ansatzes steht die Überlegung, dass Kultur weder als von der Ökonomie bzw. vom gesellschaftlichen Leben separierbare noch als direkt durch diese determinierende Sphäre begriffen werden kann.“39

In der Praxis bedeutet der Cultural Materialism nach Williams, dass Kulturanalyse mit der Entdeckung charakteristischer Muster beginnt und im Folgenden die Beziehungen zwischen diesen Mustern aufdeckt. Williams geht es darum, nicht einzelne Phänomene zu beobachten, sondern anhand besonderer Beispiele eine grundsätzliche Organisation festzustellen. Der Fokus liegt für ihn auf den Beziehungen der Einzelelemente in der Kultur.40 Im Kern stimmt meine Arbeit mit diesem Konzept überein; sie betrachtet keinen Kulturzweig als dominierend, versucht die Beziehungen zwischen Schlager, Pop, Rock, Techno etc. zu untersuchen, ohne sich dabei für oder gegen bestimmte Genres zu positionieren.

Kulturwissenschaften müssen aber auch die Wirkung von Medien im Blick haben, wenn sie die Populärkultur untersuchen; meine Arbeit muss also den Blick auf die mediale Vermittlung von Popkultur richten. Eine Untersuchung der politischen Inhalte in Popmusik ist gleichzeitig immer Medienanalyse. Denn die Medien – Zeitungen und Internet, Radio und Fernsehen – sind es, die Popmusik mit Bedeutung aufladen. Dies zeigt sich in der bundesrepublikanischen Medienlandschaft im Besonderen in den Printmedien. Dort werden gesellschaftspolitische Fragen zunehmend nicht mehr im Ressort Politik thematisiert, sondern im Feuilleton: „Sobald das aktuelle politische Geschehen die Möglichkeit eröffnet, Hintergründiges oder Grundsätzliches zu erörtern – und wann tut es dies nicht? – findet sich ein wortmächtiger Beitrag im Feuilleton. Und dies nicht nur zum Thema Politik.“41 Haller erkennt hier eine Politisierung des Kulturellen in der Gegenwart, während das Kulturressort der Fünfziger und Sechziger aus Scheu vor Politikmissbrauch vollständig traditions- und gedächtnislos gewesen sei.42 Er schreibt:

„Das in den neunziger Jahren neu etablierte, auf die gesellschaftspolitische Themenpalette zugreifende Kulturressort gründet demnach in einer Tradition, deren Merkmal der doppelte Kulturbegriff ist: sowohl für die politische Kultur als auch für die Kultur des Politischen zuständig zu sein – und den beide verbindenden Hintergrund als Bühnenbild des Zeitgeistes zu beschreiben.“43

Auf dem Feld der aktuellen Popmusik gibt es mehrere Magazine, denen eine Schlüsselstellung eingeräumt werden kann: Vorreiter ist die ehemals Kölner, heute Berliner Musikzeitung Spex; in deren Windschatten versuchten sich viele Fanzines sowie das Magazin Intro, ebenfalls aus Köln, in einer popkulturkritischen Schreibweise. Einzelne Reihen und Verlage widmen sich im Besonderen dieser Frage – natürlich das Berliner Archiv der Jugendkulturen, die Testcard-Reihe im Ventil-Verlag, auch der Aisthesis-Verlag. Hinzu gesellen sich jene Formate, die in verschiedener Ausrichtung Phänomene des Mainstreams bedienen (Musikexpress, Rolling Stone, de:bug). Sie alle schöpfen ihre analytische Kraft aus den Cultural Studies.

Die Wichtigkeit dieser und anderer Medien für die Popkultur beschreibt Andreas Hepp: Mehr als einfach nur ein neues Verfahren der Erforschung von Kultur und Medien seien die Cultural Studies ein Diskurs, der darauf abziele, die komplexen Bedeutungen des Lebens in einer Gesellschaft zu artikulieren, die durchsättigt sei mit den Bildern und Produkten der „Massenmedien“44. Hepp stellt heraus, dass es sich bei den Analysen der Cultural Studies um Analysen der Wechselwirkung zwischen Kultur und Medien handelt. Im Gegensatz zu den Kommunikationswissenschaften also, die Medien oftmals als eine separate, vom Strom der Zeit nicht bedingte Instanz sehen, erklären die Cultural Studies die Medien als unmittelbar mit der populären Kultur verzahnt.45

Wichtig erscheint die Rolle der Medien auch insofern, als sie es sind, die Globalisierung in der jetzigen Form erst möglich machen, die Informationen und auch Kulturgüter schnell von einem Ort zum anderen transportieren. Die Popkultur ist es, die durch viele Bilder und Töne erst in ihrem Charakter innerhalb eines Medienzeitalters manifestiert wird: „Die weltweite Erfolgsgeschichte der Popmusik […] ist nicht erklärbar ohne die Bildproduktion des Pop.“46 Mit dem Internet existiert nunmehr ein in vielen Teilen der Welt leicht zugängliches Medium, welches Informationsverbreitung auf neue Art möglich macht. Medien wie das Internet sind es, die in vielerlei Art den regionalen und lokalen Charakter von Kultur unterstreichen können.

Indem die Arbeit die klangliche Hülle von Melodie und Rhythmus weitgehend außen vor lässt, stattdessen den Text allein untersucht, versucht sie sich in einer neuen Sicht auf den Pop.47 Natürlich bestehen neben den textlichen weitere Dimensionen eines Popsongs – seine musikalischen und performativen. Schon But Alive machen in ihrem die Arbeit einleitenden Zitat deutlich, dass das Schreiben über Musik immer der Beschränkung unterliegt, Klang nur mit Worten ausdrücken zu können. Beim Versuch, Popmusik zu beschreiben, stößt der Autor deshalb schnell an Grenzen. Denn für das, was diese Popmusik ausmacht – den Sound, das Geräusch – fehlt dem Literaturwissenschaftler die Methode. Textliche Inhalte können so zwar stets wiedergegeben und mit dem Handwerk der germanistischen Literaturwissenschaft auf ihre Wirkung untersucht werden. Auch kann dieser textliche Inhalt in Bezug gesetzt werden zu Phänomenen der Popkultur im Allgemeinen. Dann jedoch scheitert der Analysierende beim Versuch einer Beschreibung des Sounds: „Nicht die verbale Information, sondern die Betroffenheit durch den Sound zeigt die Signalwirkung der Popmusik.“48 Die Analyse des Phänomens der Verbindung von Pop und Politik kann mit textinterpretatorischen Methoden nicht ausreichend abgedeckt werden. Technologie befreit die Musik zwar von der Performanz – die Kunst kann also tatsächlich für sich betrachtet werden. Allerdings erfasst der über Popkultur Schreibende so immer nur eine Teilwahrheit, die des Songs, der losgelöst ist vom Künstler. Die Kulturwissenschaften liefern hier ebenfalls ein Handwerkszeug. So stehen in dieser Arbeit auch Fragen der Performanz zur Disposition. Auch die Germanistik entdeckt zunehmend das Feld der Performanz für sich, zunächst in der Mediävistik49, schließlich auch in der Untersuchung der Populärkultur. Auch Popmusik wird heute, im Gegensatz zur Klassik, nicht mehr alleine über musikalische und textliche Ausdrucksweisen wahrgenommen, sondern äußert sich außerdem in der Inszenierung eines jeden ihrer Protagonisten. Neben der Erfassung des Textes muss die Analyse von Popmusik also die performative Inszenierung der Musik berücksichtigen.50 Da eine umfassende Untersuchung des performativen Charakters von Popmusik den Rahmen dieser Arbeit gänzlich sprengte, kann das Phänomen nur am Rande untersucht werden. Als legitim wird dieses Vorgehen auch deshalb betrachtet, weil im politischen Popsong, der in dieser Arbeit untersucht werden soll, der Text mehr als in anderen Liedern deutlich im Mittelpunkt steht.

1.5 KORPUS

Eine der jüngeren populären Techniken der Popliteratur ist das Erstellen von Listen und Archiven, welche die Vorlieben des Verfassers dokumentieren. Moritz Baßler bezeichnet im Untertitel seiner Untersuchung von 2002 die Autoren der literarischen Popkultur, die Ende der Neunziger Romane veröffentlichen, als „die neuen Archivisten“51. Recht hat er: Rob Gordon, Protagonist in Nick Hornbys Roman „High Fidelity“52, vertreibt sich einen Großteil seiner Zeit damit, in seinem mehr schlecht als recht laufenden Plattenladen „Championship Vinyl“ Top-Five-Listen aller möglichen Dinge aufzustellen und Tapes mit Lieblingsliedern zu kompilieren. Das Erstellen von Archiven zur Dokumentation der eigenen Präferenzen ist eine Verlockung, der auch diese Arbeit anheim fallen könnte. Das aber soll vermieden werden.

Stilistisch soll in dieser Arbeit die gesamte Bandbreite von Popmusik seit den Vierzigern dargestellt werden – Techno, Rock oder Schlager, Beat, Hippiesound oder Rechtsrock. Diese Arbeit soll sich nicht per se dem trivialen musikalischen Genuss, der unterhaltenden, komödiantischen oder vermeintlich minderwertigen Variante des Pop verschließen. Es sollen nicht alleine jene Songs untersucht werden, die per se eindeutige politische Inhalte zum Thema haben. Auch die Schlager, die Politik bewusst aussparen, also das Gegenteil von einem politischen Pop darstellen, sind für die Genese des Pop wichtig. Sie sind der Gegenpol, ohne dessen Existenz der politische Pop niemals hätte populär werden können. Wichtig ist in dieser Hinsicht der an Adorno angelehnte Gedanke von Holerts und Terkessidis eines „Mainstreams der Minderheiten“. Ihre These lautet, dass charakteristisch für den Verlauf eines jeden popmusikalischen Stiles die Entwicklung von einer Underground-Gegenkultur als Vertretung von sozialen Minderheiten hin zu einem Mainstream sei. Der Mainstream selbst verkörpere die Zusammenfassung aller popkulturellen Güter. Es lasse sich demzufolge kein Mainstream im herkömmlichen Sinne mehr festmachen. Vielmehr vereine dieser heute die Ansammlung von verschiedenen subkulturellen Erscheinungen.53„Mittlerweile bemüht sich der Mainstream so vehement um das symbolische Kapital von ‚Minderheiten‘, dass man sich fast nach den Zeiten zurücksehnt, als ein Major noch ein richtiger Major war.“