Sandra Lüpkes

Halbmast

Kriminalroman

Wichtiger Hinweis: Handlung, Personen und einige der örtlichen Gegebenheiten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlich existenten Unternehmen, Interessengruppen und Parteien sind zum Zwecke der rein fiktiven Romanhandlung leider unvermeidlich. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass keinerlei Anzeichen für illegale Aktivitäten einer Werft, der Parteien oder sonstiger Interessengruppen vorliegen.

Pieter

«Es muss ein Ende haben!»

«Und was ist, wenn jemand stirbt?»

«Gegen das, was die zerstören, ist ein Menschenleben vergleichsweise unbedeutend!»

Alle nickten. Die einen mehr, die anderen kaum merklich. Doch im Grunde wusste Pieter, dass er sie wieder einmal überzeugt hatte. Er wusste, dass sie ihm vertrauten. Die Gruppe hatte ihn im Laufe der Zeit zu einer Art Leitwolf auserkoren und setzte hohe Erwartungen in ihn.

Obwohl er zwischen den anderen auf dem Deich saß, kam es ihm doch so vor, als schauten sie zu ihm auf. Auf den ersten Blick war er wahrscheinlich ein eher unscheinbarer Typ. Sein Haar stand in dunkelblonden Rastalocken vom Kopf ab, er war schmal und ein wenig blass. Doch man sagte ihm oft, er habe etwas, von dem man sich nicht abwenden könne. Diese grünen Augen, die über alle Maßen strahlten, wenn er für eine Sache entflammt war. Man sah ihm wohl an, dass er sich über Kleidung und diese Dinge keine Gedanken machte. Und trotzdem war er für die anderen attraktiv. Das kam von innen. Die Menschen mochten ihn, auch wenn er gerade vom Töten sprach.

Oder von etwas, das tödlich enden könnte.

Sie saßen zwischen den ausgebreiteten Papieren, den Plänen, die größtenteils Pieters Handschrift trugen, und schauten in dieselbe Richtung.

Das riesige Schiff im Leeraner Hafen sah aus wie ein Wolkenkratzer, zumindest im Kontrast zu der flachen Landschaft ringsherum. Im Frankfurter Bankenviertel wäre es nicht weiter aufgefallen, doch hier im tiefsten Ostfriesland sah es aus wie ein wahrhaftiger Wolkenkratzer. Dreizehn schneeweiße Stockwerke hoch baute sich das Kreuzfahrtschiff vor windschiefen, knorrigen Bäumen und schlichten Backsteinhäusern auf. Selbst die sonst so monströs die Arme schwingenden Windkraftanlagen wirkten wie magere Verkehrspolizisten, die dem Ozeanriesen den Weg durch das platte Grün in Richtung Meer weisen sollten.

Die Kleinstadt Leer wirkte nebensächlich, verglichen mit der stolzen Poseidonna, die nun so gut wie fertig gestellt war und schon bald den winzigen Binnenhafen des ostfriesischen Ortes verlassen würde.

Die Gruppe traf sich heute ein letztes Mal. Wehmut war nicht im Spiel. Im Grunde hatten sie alle nur wenig miteinander zu tun. Sie waren Lehrer und Bauern und grüne Politiker, Historiker und Biologen. Oder einfach nur welche von der Sorte, die penetrant gegen alles waren.

Pieter drehte sich eine Zigarette, der krautige Geruch des Tabaks beruhigte ihn ein wenig. Er rauchte viel, besonders in den letzten Tagen. Im Grunde war er ein Mensch, der sich nicht nervös machen ließ. Mit sich selbst im Reinen, geerdet, bescheinigten ihm die anderen. Eine von der esoterischen Fraktion hatte ihn einmal ausgependelt und über seine Ausgeglichenheit gestaunt. Er glaubte nicht an solchen Hokuspokus. Doch einige waren dadurch endgültig überzeugt, dass er genau der Richtige war, der den Plan umsetzen konnte.

Dennoch war er unruhig.

Obwohl bislang alles gut gelaufen war. Zumindest das, wofür er selbst die Verantwortung übernommen hatte. Das Kabel war montiert. Er hatte drei Nächte dafür gebraucht, es musste funktionieren. Doch konnte er sich im gleichen Maße auf die anderen verlassen? Verantwortung abzugeben hatte für ihn immer schon ein Risiko dargestellt. Doch in diesem Fall war es unmöglich gewesen, alles allein zu planen. Er musste den anderen vertrauen.

«Was ist mit dem Wagen?», fragte er, nachdem er den Tabak in die Hosentasche gesteckt und den ersten Zug der Zigarette inhaliert hatte.

«Pieter, glaub uns endlich, wir haben alles im Griff. Der Bulli ist da, wo er hingehört.»

«Die Fahrgestellnummer?» Pieter wusste, dass er den anderen vielleicht unrecht tat mit seinem Misstrauen. Doch sie kannten ihn und grinsten nachsichtig. Der eine, der sich mit Autos am besten auskannte, signalisierte mit einer Handbewegung, dass alles in Ordnung war.

«Hat euch jemand gesehen?»

«Nein, niemand. Es war nachts, nach vier Uhr. Kein Mensch ist um diese Zeit bei der Brücke.»

Das war gut. Dann war tatsächlich alles erledigt. Morgen ging es los. Nun kam es nur noch auf ihn selbst an. Und auf die Fotografin.

Umständlich standen alle auf und blickten sich an. Es war ein merkwürdiges Gefühl, sie wohl das letzte Mal zu sehen. Wenn sie sich später einmal zufällig auf der Straße begegnen würden, so müsste ein leichtes Kopfnicken als Gruß genügen. Sie hatten lange Zeit gemeinsam für dasselbe Ziel gekämpft. Ein paar Mal hatten sie sogar triumphiert, doch viel zu oft waren Rückschläge gefolgt. Pieter hatte versucht, ihnen weiterhin Mut zuzusprechen und das Durchhaltevermögen zu stärken. Sein Optimismus hatte viele von ihnen angesteckt. Trotzdem: Die Gruppe war in den letzten Monaten kleiner geworden. Und nun war es fast vorbei. Dieser Plan sollte es endlich allen zeigen. Zu viele wehrten sich noch, die Wahrheit und die Bedrohung zu erkennen. Aber in wenigen Tagen würde vielen tausend Menschen die Augen geöffnet werden. Doch bis dahin mussten er und seine Mitstreiter jeglichen Kontakt untereinander abgebrochen haben, alles andere wäre zu gefährlich.

«Wir wünschen dir Glück», sagte die eine mit den langen Haaren. Er nahm sie fest in den Arm, doch als sie ihn küssen wollte, wandte er das Gesicht ab und ließ sie los.

«Es wird ein Ende haben!», sagte er knapp und hob zum Abschied kurz den Arm.