Beat Glogger

Xenesis

Thriller

Die Geschehnisse, die in diesem Buch beschrieben werden, sind der Phantasie des Autors entsprungen. Ähnlichkeiten und Parallelen zu tatsächlichen Begebenheiten sind aber beabsichtigt, denn sämtliche medizinischen Fakten und biologischen Ausführungen entsprechen dem aktuellen Stand der Wissenschaft. Eine Epidemie wie die geschilderte hat noch nie stattgefunden, doch sie ist absolut möglich.

Die medizinische Wissenschaft hatte endlich einen Weg gefunden, um den akuten Mangel an Organspenden zu beheben. Tiere wurden genetisch so verändert, dass der Mensch ihre Organe nicht mehr als Fremdkörper abstieß. Die so genannte Xenotransplantation hatte vielen tausend Menschen das Leben gerettet. Die Methode galt als sicher. Viele Jahre lang 

Prolog

Singapur, Hotel Sheraton

19.30 Uhr

Endlich! Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich rücklings aufs Bett fallen. Er schloss die Augen und wünschte, das sanfte Wippen der Matratze würde nie mehr aufhören.

Natürlich hörte es auf.

Trotzdem blieb er noch einige Atemzüge lang liegen, Arme und Beine weit von sich gestreckt. Als er schließlich die Augen wieder öffnete, füllte die Zimmerdecke sein Blickfeld. Sie war weder weiß noch grau, noch gelb, sondern ein Gemisch aus diesen Farben. Hotelzimmerdecken waren überall gleich. Man gewöhnte sich schnell daran. Er überlegte, ob das vielleicht Absicht war, um Menschen wie ihm den Blick ins Leere zu erleichtern.

Mit einem tiefen Seufzer drehte er sich auf den Bauch. Der Boden war mit einem beigefarbenen Veloursteppich belegt. Hochflorig, um jedes Geräusch sogleich zu schlucken. Beige waren auch die Wände, wie in unzähligen anderen Hotels auf der Welt. In solchen Zimmern fühlte er sich wohl. Dass ihm dadurch manchmal nicht mehr präsent war, in welcher Stadt er sich gerade aufs Bett hatte fallen lassen, war ihm ganz recht. Er schaffte es ohnehin nicht, sich auf all die Orte einzulassen. Zu oft wechselte er die Städte.

Er hob den Kopf und erblickte auf der Ablage an der gegenüberliegenden Wand seinen abgewetzten Aktenkoffer. Der Anblick holte ihn wieder in die Realität zurück. Träge erhob er sich vom Bett und ging zum Fenster.

Er öffnete es.

Und stieß jäh einen kehligen Schrei aus, zog instinktiv den Kopf ein und erwartete den Schlag. Doch der Schatten, der ihn erschreckt hatte, flatterte in den Abendhimmel hinaus. Nur langsam ebbte das Adrenalin in seinem Körper wieder ab. Sein Blick fiel auf den Sims vor dem Fenster – er war von weißem Vogelkot überzogen, genauso wie die Mauervorsprünge zwischen den Stockwerken. Tausende von Tauben hatten sich darauf eingenistet.

Während sein Herzschlag sich langsam beruhigte, lauschte er dem Brummen, das aus der Straßenschlucht zu ihm heraufdrang. Akzente im monotonen Lebensgeräusch der Metropole setzten nur ab und zu eine etwas lautere Hupe oder die Sirene einer Ambulanz oder der Polizei. Lauschend glitt er in jene meditative Ruhe, die er brauchte, um seine Gedanken zu ordnen. Oft fielen ihm abends Lösungen für Probleme ein, bei denen er tagsüber nicht weitergekommen war.

Unten auf der Straße war ein Wagen stehen geblieben. Innerhalb von Sekunden füllte sich die Kreuzung mit Autos; nichts ging mehr, Hupkonzert. Er betrachtete die Szene unbeteiligt.

Dann zog er eine Grimasse und hielt sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu, um einen lästigen Juckreiz loszuwerden. Direkt vor seinem Gesicht schwebten flaumige Taubenfedern durch die Luft. Sie tanzten sanft im Wind, der an der noch warmen Fassade aufstieg. Plötzlich löste sich der Juckreiz in einem heftigen Niesen.

Und einem zweiten Niesen.

Daraufhin schloss er das Fenster und suchte nach einem Papiertaschentuch. Geräuschvoll schnäuzte er sich, doch der Juckreiz war wieder stärker, prustete laut aus ihm heraus. Die Nase begann zu tropfen. Er riss zwei kleine Stücke von dem Papiertaschentuch ab und stopfte sie sich in die Nasenlöcher. So hatte er es schon als Junge gemacht, wenn ihn im Frühjahr die Birke im Garten mit ihrem gelben Blütenstaub gepeinigt hatte. Auch gegen Nasenbluten half diese Methode.

Er ging ins Bad. Das grelle Licht der Halogenspots an der Decke blendete ihn. Er stützte sich auf die Marmoreinfassung des Waschbeckens und sah im Spiegel die lächerlichen Papierstopfen aus den Nasenlöchern herausstehen. Das Gesicht, das ihm entgegenblickte, wirkte müde. Er hasste diese Deckenleuchten; ihr gebündeltes Licht machte jede Falte zum tiefschwarzen Krater. Die Tränensäcke quollen ihm förmlich aus dem Gesicht. Wie er aussah, so fühlte er sich auch: erledigt. Erst als in der Dusche das warme Wasser auf seine Kopfhaut prasselte und an seinem Körper hinunterrann, entspannte er sich etwas.

 

08.00 Uhr 

Er hatte geschlafen wie ein Stein, und noch immer fühlte er sich erschöpft. Die Sonne schien bereits zum Fenster herein.

Im Bad schauten ihm aus dem Spiegel zwei wässrige Augen entgegen. Das Gesicht war gerötet, die Stirn feucht. Ellbogen und Kniegelenke schmerzten, als hätte ihn jemand mit dem Baseballschläger traktiert.

Er beschloss, nicht zur Arbeit zu gehen, und ließ sich vom Room Service eine Kanne heißen Tee bringen. Kurz darauf sprang er zum ersten Mal in höchster Not vom Bett auf und rannte zur Toilette.

 

14.45 Uhr 

Seit dem Vormittag hatten sich seine Gedärme in immer kürzeren Abständen schmerzhaft zuckend zusammengezogen. Die Eingeweide hatten längst hergegeben, was sie herzugeben hatten. Doch der Darm pumpte weiter. Die nächste Krampfwelle durchfuhr seinen Körper. Er biss sich auf die Unterlippe und hielt sich an einem Griff an der Wand fest, um nicht vom Schmerz von der Schüssel geworfen zu werden. Gerade als er meinte das Bewusstsein zu verlieren, war mit einem Schlag Ruhe. Er stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und ließ erschöpft den Kopf hängen. Dann erhob er sich schwerfällig, klatschte kaltes Wasser in sein rot geschwollenes Gesicht und warf zwei Tabletten ein.

Stöhnend wankte er aus dem Badezimmer zum Fenster. Draußen herrschte strahlendes Wetter. Hunger hatte er keinen, trotzdem ließ er sich vom Room Service ein Schinken-Sandwich bringen. Während er das Brot kaute, schaltete er den Fernseher ein. Später würde er sich an kein einziges der Bilder mehr erinnern, die an ihm vorbeizogen.

 

20.10 Uhr 

Wie ein Dolchstoß fuhr der nächste Krampf in seinen Bauch. Er schrie laut auf und war schlagartig wach. Auf CNN flimmerte die Zusammenfassung irgendeines Football-Spiels über den Bildschirm; die Stimme des Reporters überschlug sich vor Begeisterung. Vor Schmerz gekrümmt lag er im Bett. Erst jetzt bemerkte er, dass das Kissen nicht vom Schweiß nass war. Direkt vor seinem Gesicht schwamm der halb verdaute Schinken in einer grün-gelblichen Lache. Angewidert hob er den Kopf. Die stinkende Schmiere lief ihm über die Wangen. Er setzte sich an den Bettrand und senkte den Oberkörper vornüber auf die Oberschenkel. Das Erbrochene tropfte auf den Teppich, der es sofort aufsog.

Der Radiowecker zeigte 20.13. Das hieß, er hatte in seiner Erschöpfung doch ein paar Stunden geschlafen. Er schrie laut auf, als eine weitere Krampfwelle seinen Unterleib umklammerte, um sogleich einer rasselnden Hustenattacke Platz zu machen. Mit letzter Kraft ertastete er das Telefon und drückte Reception.

«Einen Arzt, schnell», stöhnte er in den Hörer. Dann verschwammen vor seinen Augen die Leuchtziffern des Weckers. Der Mann, der wenig später auf einer Bahre aus dem Hotel getragen und notfallmäßig ins nächstgelegene Krankenhaus eingeliefert wurde, hörte nicht, dass der Notarzt einen Kollaps des Immunsystems als Folge einer allergischen Reaktion diagnostizierte. Auch ahnte er nichts davon, dass dabei in seinem Körper ein biologischer Prozess in Gang gesetzt worden war, der ihn zu einer Art Beweisstück machte. Zum Beweis für einen tödlichen Irrtum der modernen Medizin. Aber der Mann würde dahinter kommen – sehr viel später.

1. Tag

London, St. James Hospital

Mit Tränen in den Augen betrachtete Ellen Livingston ihre Tochter.

Sie fuhr mit dem Zeigefinger zögernd über die blanke Plexiglasscheibe. Darin spiegelte sich ihr bleiches, vom bläulichen Nachtlicht beschienenes Gesicht. Ihr Blick hing an Laura. Ein Pflaster über der Oberlippe des Babys hielt einen durchsichtigen Silikonschlauch fest, damit es sich die Magensonde, durch die es ernährt wurde, nicht aus dem Nasenloch riss. Das Neugeborene trug einen blütenweißen Strampelanzug, aus dem Kabel in verschiedenen Farben hervorstaken und über das Laken zum Kontrolltableau am Kopfende des Bettchens führten. Auf einem der Bildschirme der Überwachungskonsole zog sich monoton die Leuchtspur des Elektrokardiogramms, das den Herzschlag aufzeichnete. Weitere Monitore zeigten den Blutdruck und den Sauerstoffgehalt des Blutes an. Der Herzmonitor piepste regelmäßig, wenigstens das.

Längst hatte Ellen nicht mehr damit gerechnet, noch einmal Mutter zu werden. Gewünscht hatte sie es sich jahrelang. Doch die Ärzte hatten ihnen mitgeteilt, dass Brian zu wenig aktive Spermien produziere. Ein überraschender Befund für das Ehepaar, das immerhin schon ein Kind gezeugt hatte. Die abnehmende Qualität der Spermien, so hatte man ihnen erklärt, sei bei immer mehr Männern ein Problem, wahrscheinlich aufgrund von Umwelteinflüssen. Schließlich hatten sie sich damit abgefunden, weil sie mit Allanah ja glücklich waren.

Wider Erwarten war Ellen dann doch noch einmal schwanger geworden. Im Gegensatz zu Brian hatte sie sich von Anfang an darüber gefreut. Er hatte einige Zeit gebraucht, um sich mit der Tatsache anzufreunden, mit über vierzig Jahren noch einmal Vater zu werden.

Jetzt war sie da: Laura.

Und Ellen war verzweifelt.

Eigentlich hätte die Kleine erst in zwei Monaten zur Welt kommen sollen, doch die Wehen hatten viel zu früh eingesetzt. Ellen hatte das Gefühl, ein kleines Nichts zur Welt gebracht zu haben. Lauras Ärmchen waren so dünn wie einer von Ellens Fingern, und sie lag im Brutkasten. Am Anfang durfte Ellen das Kleine ab und zu aus diesem Kasten herausnehmen. Doch dann wurde Laura krank. Sie bekam Fieber. Eine Infektion, sagte der Doktor, aber sicher nichts Schlimmes. Danach war Laura von Tag zu Tag kränker geworden. Ellen hatte Angst um ihr Baby. Laura sah so klein, so zerbrechlich aus in diesem sterilen Kasten. Und sie konnte das Mädchen nicht einmal zum Trösten in die Arme nehmen.

Das Baby wimmerte leise und bewegte sich unruhig. Ellens sorgenvoller Blick wich nicht von ihm.

«Mrs. Livingston.»

Sie reagierte nicht.

«Mrs. Livingston.»

Ellen schreckte auf. Vor ihr stand ein Arzt, der einer Fernsehserie entstiegen schien: groß gewachsen, braun gebrannt, markant geschnittene Gesichtszüge. Michael McAvoy war Chefarzt der Kinderklinik und einer der Besten seines Faches.

«Das Kind hatte bei der letzten Messung eine Temperatur von 39,7 Grad», sagte McAvoy.

Ellen schaute ihn stumm an.

«Wir haben uns deshalb entschlossen, ihm zu dem Paracetamol zusätzlich noch Amantadin zu verabreichen.»

«Ja», flüsterte Ellen und nickte teilnahmslos, während der Arzt weitere medizinische Details zu Lauras Zustand herunterspulte, die sie nicht verstand. Sämtliche Regungen, zu denen sie einmal fähig gewesen war, hatten die Tränen der letzten Tage aus ihr herausgewaschen. Jedes Mal, wenn der Arzt mit ihr gesprochen hatte, war es Laura danach noch schlechter gegangen. Darum war in Ellen eine böse Ahnung gewachsen: Doktor McAvoy sagte ihr nicht alles, was er wusste.

Eine Frauenstimme drang durch Ellens Schmerzpanzer. «Mrs. Livingston. Das bedeutet, dass bei Laura das fiebersenkende Medikament leider noch nicht gewirkt hat.» Erst jetzt bemerkte Ellen eine hübsche Frau neben Doktor McAvoy. Sie trug ebenfalls einen Arztkittel. Ihr schmales Gesicht lächelte. Ein Paar tiefschwarzer Augen sahen sie begütigend an. «Mein Name ist Narcy Perez Corrales, ich bin Infektiologin», stellte sie sich vor. «Ich möchte mir Laura gerne auch noch anschauen.»

Ellen reichte der Ärztin kraftlos die Hand und fragte: «Warum haben die Medikamente ihr nicht geholfen? Doktor McAvoy hat doch gesagt, sie würden in ein paar Stunden helfen. Laura liegt jetzt schon sechs Tage da drin.»

«Ich beziehe mich selbstverständlich nur auf statistische Durchschnittswerte», bemerkte McAvoy trocken, ohne der jungen Kollegin Gelegenheit zum Antworten zu geben.

Narcy Perez Corrales betrachtete mit konzentriertem Gesicht das Kind im Brutkasten. Es hielt die Augen geschlossen und bewegte sich immer wieder unruhig. Narcy fragte sich, was sie daran zweifeln ließ, dass das Baby an einer normalen Grippe litt. Dann hob sie den Blick und sagte zur Mutter: «Laura scheint ein bisschen länger zu brauchen. Sie ist sehr klein und schwach.»

Ellen schüttelte verständnislos den Kopf. «Können Sie denn nichts weiter tun?»

«Genau das wollen wir jetzt herausfinden. Ich arbeite hier, wie gesagt, als Infektiologin», erklärte Doktor Perez Corrales. «Das heißt, ich berate meine Kollegen bei Fällen mit etwas komplizierteren Infektionen.»

McAvoy presste ein kurzes Lachen zwischen seinen perfekt renovierten Zähnen hervor. «Doktor Perez Corrales ist die krankenhauseigene Gesundheitspolizei, gewissermaßen.»

Narcy ignorierte ihn. Sie spürte, dass McAvoy sie nur äußerst widerwillig auf diese Visite mitgenommen hatte. Doch es war nun mal ihre Pflicht als Krankenhaushygienikerin, sich in Fällen von rätselhaften Infektionen einzuschalten. Und Lauras Infektion war rätselhaft. Das wusste auch McAvoy. Trotzdem passte es ihm aus irgendeinem Grund nicht, dass sie sich einmischte. Narcy schüttelte den Kopf, es war jetzt nicht an der Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Vor ihr stand eine verzweifelte Mutter. «Ich stimme Doktor McAvoy zu; im Moment sind sicher das fiebersenkende Mittel und ein Medikament, das Viren bekämpft, das Richtige für Laura.» Ellen Livingston schaute zu Boden. Narcy hoffte, dass die Mutter nicht merkte, wie wenig überzeugt sie selbst von dem war, was sie sagte. «Machen Sie sich keine Sorgen. Wir kriegen Laura schon wieder fit. Aber …», sie hielt inne und blickte Ellen so lange ins Gesicht, bis diese ihren Blick erwiderte, «… wie geht es Ihnen?»

Diese Frage öffnete eine Schleuse, und Ellen brach in Tränen aus. Bis jetzt hatte sie sich zusammengenommen, aber die Müdigkeit einer durchwachten Woche hatte ihre Haut dünn werden lassen, und sie spürte deutlich die gespannte Atmosphäre zwischen den beiden Ärzten. Was hatte das zu bedeuten? Sie begann am ganzen Körper zu zittern. «Es wird mir einfach zu viel.» Sie verbarg das Gesicht in ihren Händen.

«Ich bin seit Tagen hier und kann ihr doch nicht helfen …» Ihre Stimme ging im Schluchzen unter.

Narcy legte der weinenden Mutter den Arm um die Schultern und wartete. Dann spürte sie, wie Ellens Kopf an ihre Schulter sackte. Sie strich ihr sanft über den Rücken. «Könnte denn nicht Ihr Mann Sie hier ablösen?»

«Er kommt immer abends her. Er muss ja arbeiten. Morgens bringt er Allanah zur Schule. Mittags kocht er. Mehr kann ich nicht verlangen.»

McAvoy beobachtete, wie die dunkelhäutige Ärztin leise mit der weinenden Frau sprach. Er blieb unbeteiligt stehen, als Doktor Perez Corrales die Mutter zur Tür begleitete und sie verabschiedete.

«Was haben Sie ihr gesagt?», fragte McAvoy, als die Kollegin zurückkam.

«Dass sie sich keine Sorgen machen und sich zu Hause ausruhen soll. Wir können Laura nun noch einmal genau untersuchen und der Mutter morgen mitteilen, was wir herausgefunden haben.»

«Was wollen Sie denn da noch herausfinden?» Er blickte sie unwillig an.

«Ich will herausfinden, woran das Kind erkrankt ist.»

«Die Symptome weisen eindeutig auf Grippe hin», antwortete er unwirsch. «Wenn wir die jetzt noch mit dem Virenkiller angehen, kriegen wir das schnell wieder hin.»

«Es ist ja schön, dass Sie so sicher sind. Trotzdem möchte ich mir das Kind ganz genau anschauen.»

Irritiert beobachtete McAvoy, wie Narcy aus einem Wandschrank ein weiches Paket holte, dieses auf einen fahrbaren Labortisch aus rostfreiem Chromstahl legte und das farbige Klebeband aufriss. Ihre Bestimmtheit ärgerte ihn und forderte ihn gleichzeitig heraus. Von Kollegen hatte er gehört, die junge Kollegin sei mindestens so ehrgeizig wie attraktiv. Sie muss verdammt ehrgeizig sein, dachte er und bemerkte spöttisch: «Doktor Perez Corrales, das halte ich nun doch für etwas übertrieben.»

«Ich will auf Nummer sicher gehen», antwortete sie.

«Vorschrift sind der Mundschutz und ein paar gewöhnliche Einweg-Handschuhe.»

«Ich weiß. Mich macht es aber stutzig, dass das Fieber trotz der Medikamente nicht fallen will. Ich vermute, da steckt eine andere Infektion dahinter.»

«Aber Narcy», entgegnete McAvoy in plötzlich ganz jovialem Ton. «So eine Grippe werden wir doch wohl noch ohne Kostümierung in den Griff bekommen. Sehen Sie doch nicht gleich überall böse Käferchen.»

«Doktor McAvoy, ich weiß, dass es Ihre Patientin ist. Wenn es aber um hygienische Maßnahmen geht, bin ich die zuständige Ärztin. Und ich möchte, dass auch Sie sich für diese Untersuchung einkleiden.» Mit pochendem Herzen wandte sie sich ab und wickelte das Paket auf.

McAvoy mochte es gar nicht, wenn sich junge Karrieristen auf seine Kosten profilieren wollten. Doch er wusste, dass in Hygienefragen sie das Sagen hatte und er sich für den Moment beugen musste. Entnervt holte er ebenfalls ein Set sterilisierter Untersuchungsbekleidung und beschloss insgeheim, mit dem Klinikdirektor über diese Angelegenheit zu reden.

Narcy zog sich Kopfhaube und Mundschutz über, dann stellte sie sich ans Lavabo und reinigte ihre Hände mit desinfizierender Waschlösung. «Und ich möchte, dass sich in Zukunft alle, die mit Laura in Kontakt kommen, so einkleiden. Nicht zu unserem Schutz, sondern zu dem der Patientin.» Sie schlüpfte in den Mantel.

Während McAvoy seine Hände umständlich in ein Paar steriler Latexhandschuhe zwängte, stand Narcy schon bei Laura. Was für ein Häufchen Elend, wie sie da wimmernd in ihrem Bettchen lag. Das Baby hatte dunkles Kraushaar.

Ines hatte solche Locken.

Narcy verdrängte den Gedanken und konzentrierte sich auf ihre Arbeit. Sie öffnete den Brutkasten und begann mit der Untersuchung. Der Säugling atmete schnell und flach. Narcy betrachtete die feine Schleimspur, die ihm aus dem rechten Nasenloch lief. «Haben Sie das gesehen?», fragte sie.

McAvoy trat an den Brutkasten heran. «Ist bei Influenza ganz normal», brummte er hinter dem Mundschutz.

«Haben Sie das schon mal in den ersten Tagen einer Grippeinfektion gesehen?», hakte Narcy nach. McAvoy sagte nichts darauf, und Narcy ließ die Frage unbeantwortet. Sie drückte dem Baby mit einem sterilen Spatel die Zunge nach unten. Im Rachen waren die typischen Rötungen einer Infektion zu sehen. Die Lymphknoten waren vergrößert. Sie legte das Stethoskop an und hörte sofort das Geräusch auf den Bronchien, das von der erhöhten Schleimproduktion in den Atemwegen herrührte. Nichts Außergewöhnliches. Eine Infektion eben. Warum wollte sie trotzdem nicht glauben, dass das Baby an einer Grippe litt? Das Mädchen musste Schmerzen haben. Es wand sich fortwährend und wimmerte. Narcy schaltete das Otoskop an, um Laura in die Ohren zu schauen. Auch hier fand sie die üblichen Anzeichen einer Entzündung. Als sie das Gerät aus dem Ohr des Kindes nahm und mit dem Lichtstrahl dessen Augen streifte, zuckte das Baby heftig zusammen. Die Ärztin registrierte es, konnte sich aber keinen Reim darauf machen.

«Wissen Sie etwas über eine Infektion der Mutter während der Schwangerschaft?»

«Lief alles rund, bis die Wehen zu früh einsetzten.»

«Ich meine nur. Eine Grippe der Mutter kann schwere Folgen haben. Jedes Jahr kommen so Tausende von Kindern mit Schädigungen zur Welt.»

«Jaja, und bei der Pandemie von 1918 starben sogar 20 Millionen Menschen daran!», höhnte McAvoy. Klugscheißerin.

Als sie nach der ergebnislosen äußerlichen Untersuchung dazu übergingen, dem Kind Blut zu entnehmen, übernahm sofort McAvoy die Führung. Narcy ließ ihn gewähren, schließlich war Laura seine Patientin. Der Arzt suchte den Arm des Babys nach einer geeigneten Vene ab. In der Blutprobe ließe sich vielleicht der Erreger nachweisen. Standardmäßig wurden zwei Proben genommen, eine für das Labor des Krankenhauses und eine für das CCD, das Center for Commutable Diseases. Er war überzeugt, dass auch diese Topspezialisten in Sachen Infektionskrankheiten entgegen Narcys Erwartung im Blut des Babys nur Influenza-Viren finden würden. Trotzdem war die Untersuchung durch das CCD wichtig. Denn in der Regel begann eine Grippeepidemie mit Infektionen bei den Kleinsten, bevor sie einige Wochen später die Alten und schließlich die ganze Bevölkerung erfasste. Wenn man also den Erreger früh identifizieren konnte, hatte man schon einen kleinen Startvorteil im Kampf gegen die nächste Grippewelle.

Schließlich stach McAvoy mit der Nadel in das winzige Ärmchen. Das Mädchen zuckte heftig zusammen und schrie. Aber es lief kein Blut in die Spritze, und McAvoy zog die Nadel wieder heraus. Dabei brummte er etwas, das Narcy nicht verstehen konnte.

«Wie bitte?»

«Ich sagte, hier sieht man rein gar nichts.»

«Haben Sie zu wenig Licht?»

«Das liegt ja wohl nicht am Licht.»

Narcy schaute ihn fragend an.

«Auch mit mehr Licht würde ich auf diesem Schoko-Arm nichts sehen.»

Narcy schwieg betroffen. Erst jetzt wurde ihr Lauras Hautfarbe bewusst. Der Vater des Mädchens musste ein Schwarzer sein, denn die Mutter war eine weiße Engländerin.

«Verdammt», fluchte McAvoy und machte eine hastige Bewegung. Im Bett fuchtelte das Kind mit den Ärmchen, als wollte es die Spritze abwehren. Blitzschnell griff Narcy nach McAvoys Hand, um zu sehen, ob der Latexhandschuh verletzt war. Im Gummi klaffte ein kleiner Riss, durch den sie seine Haut sah. Er blutete.

«Lassen Sie das», raunzte McAvoy und zog die Hand zurück. Er wandte sich ab und ging zum Lavabo. Dort streifte er sich den Handschuh ab, suchte im Notfallkasten das Desinfektionsmittel und spritzte sich einen feinen Strahl über die Hand. Während er sich die Hände trockenrieb, sagte er über die Schulter: «Nicht der Rede wert.»

«Mit solchen Verletzungen ist nicht zu spaßen.»

«Jaja. Bis morgen ist das verheilt. Es hat ja schließlich die Grippe und kein HIV.» McAvoy hatte sich ein Pflaster auf den Kratzer geklebt, zog sich nun frische Sterilhandschuhe an und machte sich daran, die Blutentnahme fortzusetzen. Narcy musste ihm beipflichten. An Aids litt Laura definitiv nicht. Trotzdem.

Mexico City, Universitätsrechenzentrum

Triumphierend schlug David Evans mit der Faust auf den Tisch.

«Hab ich dich!»

Mit dem Gesichtsausdruck eines Jungen, dem es nach tagelangem Tüfteln im Keller zum ersten Mal gelungen war, aus Backsoda Schießpulver herzustellen, wandte er den Kopf zu Enrique Salinas, der am Arbeitsplatz neben ihm saß und wie wild auf seine Tastatur einhämmerte. «Ich habe es», frohlockte Evans noch einmal.

Salinas ignorierte ihn.

Der Informatiker war vom Institut für Neurobiologie für eine ganze Woche abkommandiert worden, um den Troubleshooter aus England bei der Fehlersuche zu unterstützen. Für das Institut war es äußerst wichtig, dass der Rechner möglichst schnell wieder zum Laufen gebracht wurde, denn jeder Job, der im Netzwerk hängen blieb, machte mehrere Tage Vorbereitungsarbeit zunichte. Die Forscher der Neurobiologie wollten Experimente im Computer simulieren, bevor sie diese an Zellkulturen oder lebendigen Ratten durchführten. Woran sie forschten, wusste David nicht genau. Irgendwie ging es um neue Therapien für Parkinson und Alzheimer. So viel hatte er von der kurzen Einführung, die ihm der Institutsdirektor Anfang der Woche gegeben hatte, verstanden. Details waren für ihn aber auch nicht wichtig, Hauptsache, die Computer liefen möglichst schnell wieder.

David Evans kümmerte sich ausschließlich um die komplexen Computernetzwerke von Universitäten, Forschungsinstituten oder Pharma-Unternehmen. In ihren Netzen fand er sich auf Anhieb zurecht. Wandelte in blinder Sicherheit durch die Elektronengehirne.

Auch hier am Neurobiologischen Institut der «Universidad de Mexico» hatte er sich tagelang durch das System navigiert. Es war zum Verzweifeln gewesen, aber jetzt hatte er diesen verdammten Bug gefunden. Er musste nur noch den Informatikern vor Ort die nötigen Anweisungen geben. Sie würden die Maschinen wieder hochfahren, und das Institut konnte seine wissenschaftlichen Berechnungen fortführen. David Evans hatte einmal mehr bewiesen, dass er sein Handwerk beherrschte.

«Enrique, Bingo!», intensivierte David seine Erfolgsmitteilung an den Informatikerkollegen.

Endlich löste Salinas den Blick vom Bildschirm, fuhr sich mit der Hand durch die schwarzen Locken, die ihm schweißnass in die Stirn hingen, und entblößte eine Reihe blendend weißer Zähne.

«He, amigo», lachte er. Der Mexikaner stieß sich mit seinem Stuhl vom Tisch ab und rollte einen mannshohen Schrank entlang, durch dessen Glasfront man unzählige Leuchtdioden blinken sah, zu David hin. Er musterte den Engländer. Seine Brille mit runden Gläsern und Metallgestell saß schief auf der breiten Nase. Die dunkelblonden Stirnfransen verliehen dem Gesicht etwas Schuljungenhaftes, obschon gut vierzig Lebensjahre auch ihre Spuren in dem bleichen Gesicht hinterlassen hatten. «Hast du gefunden der Bug!», radebrechte Salinas und klopfte David mit der flachen Hand auf die Schulter. Aufgeregt zeigte ihm David einige Systemmeldungen und erklärte, wie er sie interpretierte.

Noch einmal hieb ihm Salinas auf die Schulter. «Tenemos suerte!» Der Mexikaner erhob sich vom Stuhl und streckte sich. «Ja, Glück gehabt.» David beugte sich wieder vor und drückte einige Tasten. «Ich will nur noch ein paar Parity-Checks aufsetzen, dann wissen wir bald, ob wir das wirklich so fixen können, wie ich denke.»

«Hombre, jetzt genug gearbeitet. Wir jetzt wissen, wo sitzt der Bug. Fixen wir morgen. Gehen wir trinken jetzt ein Bud. Trommeln alle amigos zusammen, vom Institut, und machen fiesta

«Ich bin hundemüde.» David schaute auf die Armbanduhr.

«He, amigo.» Salinas markierte Tatendrang, indem er auffordernd mit der Faust der einen Hand in die offene Handfläche der andern schlug. «Warum so ernst?»

«Nein danke, keine fiesta, wirklich nicht.» Natürlich war David erleichtert, das Problem gelöst zu haben, aber wer wollte deswegen gleich die Nacht durchfeiern?

«Hombre! Du bist der Beste! Machst uns Durcheinander in Ordnung und willst ins Bett. Geht nicht.» Er zupfte sich das mit farbigen Blumen bedruckte Hemd zurecht und deutete ein paar Tanzschritte an. «Nur ein Bier! Kenne netten Club im Park. Vamos!»

David sagte nichts.

«Okay, dann lass uns feiern zu zweit. Wer es eilig hat ins Bett, kommt zu früh in Himmel. Ist schlecht übersetzt, aber ist wahr.»

David lächelte matt. Das leichtfertige Wesen des Mexikaners faszinierte und befremdete ihn gleichermaßen. Solches Verhalten war ihm selbst absolut fremd. Er riss sich zusammen.

«Vamos a la cerveza.»

Diesen Spanischversuch quittierte Salinas mit lautem Lachen. Abermals klopfte er ihm auf die Schulter. Dann verließen sie zusammen das Rechenzentrum.

Die Korridore waren um diese Zeit menschenleer. Nur in der Eingangshalle ging eine beleibte alte Frau in einer hellblauen Arbeitsschürze gemächlich mit einem Wischer hin und her, eine feuchte Spur auf dem Marmorboden hinterlassend.

«Hallo, Schöne!», grinste ihr Salinas entgegen und machte ein paar anzügliche Hüftbewegungen. «Kommst mit uns tanzen?» Die Frau hob nicht einmal den Blick vom Wischer und murmelte etwas Unverständliches.

Auf der Straße empfingen die Männer Verkehrslärm und schwüle Luft. Es war zwanzig Uhr, die Stadt begann sich mit Leben aufzuheizen. Sie bogen von der Avenida de la Universidad ab und gingen durch eine Seitengasse in Richtung Park. Aus den weit geöffneten Türen und Fenstern der Lokale klangen Samba-Rhythmen, was Salinas sichtlich beschwingte. «Buenas noches», rief er nach links, «qué tal, amigo» nach rechts. Er bahnte Evans einen Weg durch die dicht bevölkerte Gasse. «Diese Kneipe gehört Raúl», rief er über die Schulter zurück. «Hier kriegst du die beste Margherita!» David verstand im Gewühl von Stimmen und Musik nicht die Hälfte von Salinas’ Wortschwall. Der Lärm, die schwüle Luft und das Flackern der bunten Lichter betäubten ihn. Es fühlte sich an wie Watte im Gehirn. Salinas ging schnell, und David musste sich Mühe geben, den Anschluss nicht zu verlieren. Schließlich überquerten sie den Boulevard de la Revolución und betraten den Park.

Zielstrebig steuerte Salinas auf eine Bar zu. Blue Parrot prangte in verschnörkelter Leuchtschrift auf dem riesigen Strohdach. Kaum hatten sie das Lokal betreten, brüllte Salinas quer durch den Raum: «Dos Caipirinhas.» Gleichzeitig schob er David in Richtung Tresen. Der käsebleiche Brite fühlte sich inmitten all dieser dunkelhäutigen, leicht und farbig gekleideten Menschen fehl am Platz: mit seiner zerknitterten Bundfaltenhose, mit seinem karierten Hemd und in Socken!

Bis sie sich zum Tresen durchgekämpft hatten, standen die Drinks schon bereit. «Mein englischer Freund, David Evans», stellte Salinas seinen Gast dem Barmann vor. Zu David sagte er mit einer Kopfbewegung in Richtung Barmann: «Jorge hat die beste Caipirinha in der Stadt. Und noch mehr!» Er nahm die beiden Gläser vom Tresen und schwenkte eines vor Davids Gesicht hin und her. Gleichzeitig entblößte er seinen blitzenden Goldzahn in Richtung einer künstlichen Blondine mit dunkler Hautfarbe. «Pass auf, die hat es in sich.»

David griff nach der Caipirinha.

Schon hatte sich Salinas wieder abgewandt und grüßte einen Koloss, dem die Sonnenbrille am Kopf angewachsen schien. Dann zog er David dicht zu sich heran, während er etwas zu einer aufgetakelten Frau neben sich am Tresen sagte. Ihre knallroten Lippen verformten sich zu einem aufreizenden Kussmund. Ihr Blick war seltsam abwesend.

David reagierte nicht und konzentrierte sich stattdessen auf das Nippen an der Caipirinha. Er trank sonst kaum Alkohol. Damals, als die Jungs im Quartier die Rangordnung durch Saufen ausgemacht hatten, war für ihn Alkohol tabu gewesen. Erst nach der Operation hatte es ihm der Arzt erlaubt. Doch weder Wein noch Cocktails hatte er jemals besonders gemocht. Selten mal trank er ein Bier. David nippte wieder am Glas. Die Caipirinha schmeckte zu seiner Überraschung vorzüglich. Vor allem süß. Vom hohen Alkoholgehalt merkte er kaum etwas.

Unvermittelt packte ihn Enrique am Arm und zog ihn von der Bar weg auf die Terrasse: Muskelprotze mit gegelten Haaren und Kraftshirts, die den Blick auf Tattoos freigaben, und fast nackte Mädchen saßen in Korbsesseln an niedrigen Tischen. Hinter der Terrasse konnte man in der Dunkelheit einen See erahnen. Wasser spritzte, Männer brüllten, Frauen stießen spitze Schreie aus. David blickte abwesend ins Halbdunkel. Er nieste und wünschte die Klimaanlage im Rechenzentrum zum Teufel. Die pusten einem mit der kalten Luft die Krankheitserreger gleich kiloweise um die Ohren. Da muss sich einer ja erkälten!

«He, amigo, du hast Durst», schreckte ihn Salinas auf. Er nahm Davids Glas und streckte es in die Höhe, während er eines der leicht geschürzten Mädchen fixierte, die auf der Terrasse bedienten. Kurz darauf stand eine neue kalte Caipirinha vor David. Sie schmeckte noch besser.

Er lehnte sich müde zurück und überließ das Reden Enrique. Dieser wechselte von Fußball über Frauen zu Autos wieder zurück zu Frauen. David brauchte nur dann und wann zuzustimmen.

Auf einmal war Enrique weg.

Und sie saß neben ihm.

David hatte die Frau nicht kommen sehen. Sie saß einfach plötzlich da und schaute ihn an.

«Mercedes», sagte sie und hielt ihm neckisch die Hand hin.

Die Caipirinha fuhr in seinem Innenohr Achterbahn. Ein Paar dunkler Augen war auf ihn gerichtet, schaute aber durch ihn durch. Aus einem knallrot geschminkten Mund leuchteten Zähne weiß wie Eisberge.

Sie fühle sich einsam, sagte Mercedes.

Das konnte David verstehen. Weshalb sie sich gerade zu ihm an den Tisch gesetzt hatte, schon weniger. Und ganz unklar war ihm, warum ihr Bein über dem seinen hing. Ihre großen Brustwarzen drückten aufdringlich durch das eng anliegende Top.

David studierte die Tätowierung auf ihrem linken Unterarm: der gewundene Körper einer Schlange, gespannt wie eine Schnappfeder, jederzeit bereit, das Opfer zu attackieren. Auf dem Handrücken lag der Kopf der Schlange. Gebannt starrte David auf die gespaltene Zunge und fühlte eine kribbelnde Hitze in seinem Bauch. Nicht von der Caipirinha oder einer aufkeimenden Erkältung: Mercedes’ Hand lag auf seinem Hosenladen.

Sein Rücken verkrampfte sich, er biss auf den Rand des leeren Glases. Die Hitze stieg aus seinem Unterleib hoch und nahm ihm den Atem. Suchend blickte er sich um, doch Enrique war nirgendwo zu sehen. Das Mädchen fixierte ihn mit stechenden Augen. David war gelähmt wie das Karnickel im Angesicht des Todes.

«Hilf mir bitte, ich fühle mich so alleine», kratzte ihre Stimme. Es klang wie ein Befehl. Ihr Atem roch nach Alkohol. Eben noch schien sie jung, jetzt wirkte sie alt und verbraucht. Ihre Hand machte weiter auf seinem Hosenladen rum.

Solchen Druck hatte David schon ewig nicht mehr gespürt. Seit seiner Scheidung hatte er vor allem gearbeitet. Nur einmal bei einem Geschäftsessen in Japan hatte der Gastgeber zu einer besonderen Nachspeise eingeladen. Gleich drei Frauen hatten in einem Nebenzimmer auf ihn gewartet.

Mercedes knetete weiter. David versuchte zu entkommen. Sie drückte ihn in den Korbsessel zurück. Ihre Augen, ihr Atem nagelten ihn fest. Ein letztes Mal blickte das Karnickel in die ausdruckslosen Todesaugen – und gab auf.