Dina Michels

Weiße Kittel - dunkle Geschäfte

Im Kampf gegen die Gesundheitsmafia

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Der große Reibach mit unserer Gesundheit

Erstes Kapitel - Apotheker auf Abwegen

Zweites Kapitell - Betrüger in Weiß

Drittes Kapitel - Therapeuten im Zwielicht

Viertes Kapitel - Gut geschmiert ist halb gewonnen

Fünftes Kapitel - Tatort Krankenhaus

Sechstes Kapitel - Patienten als Selbstbediener

Siebtes Kapitel - Sieben Vorschläge, wie wir die Täter stoppen können

Anmerkungen

Nützliche Adressen für Patienten

Danksagung

 

Für Laura

Der große Reibach mit unserer Gesundheit

Als Frau Lehmann ins Zimmer kam, traute sie ihren Augen nicht. Unter einer zerwühlten Decke ragten herausgerissene Katheter hervor. Aus einem Schlauch tropfte Flüssigkeit auf den Boden. Inmitten des Chaos lag ihr Mann. Er schlief wie schon so lange, denn Herr Lehmann lag im Koma. Eine Szene aus einem Horrorfilm? Nein, die Folgen einer Therapie. Ein Kölner Physiotherapeut sollte einen Wachkomapatienten in dessen Wohnung behandeln. Offenbar war der Mann jedoch schlecht ausgebildet – und faul obendrein. Eine versprochene Atemtherapie hat er nie durchgeführt. Mit der Krankenkasse rechnete er sie trotzdem ab, ebenso wie seine anderen zweifelhaften Leistungen. Über Monate ging das offenbar so, bis die Ehefrau des Kranken Alarm schlug. Häufig war sie gar nicht zu Hause gewesen – deshalb kann sie das Ausmaß der falschen Behandlung heute nur erahnen.

Ein Einzelfall? Das würden wir gern glauben. Niemandem trauen wir so sehr wie Menschen in weißen Kitteln. Regelmäßig ermittelt das Allensbach-Institut die Berufe mit dem höchsten Ansehen – seit Jahren mit Abstand ganz vorn: die Ärzte. Im Jahr 2008 genossen sie bei 78 Prozent der Deutschen einen ausgezeichneten Ruf.1 Tendenz steigend. Dieser ernorme Vertrauensvorschuss wird noch deutlicher, wenn man Platz zwei betrachtet: Dort folgen, mit 39 Prozent, die Geistlichen. Die Apotheker liegen mit 24 Prozent Vertrauensbonus ebenfalls weit vorn. Auf sie verlassen sich Deutsche jedenfalls lieber als auf Studienräte, Offiziere oder Buchhändler – von Politikern oder Gewerkschaftsführern ganz zu schweigen. Am liebsten würden wir uns wohl von Medizinern regieren lassen, denn ihnen vertrauen wir fast blind.

Es muss am Ruf des selbstlosen Heilers liegen. Auf jeder Medikamentenpackung wird die Zuversicht wie ein Mantra bekräftigt: Bei Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Wer hat nicht schon von Hippokrates und seinem legendären Eid gehört, der die Ärzte verpflichtet, stets nur das Wohl des Kranken zu beachten. Und in der christlichen Welt werden noch heute Kosmas und Damian verehrt, die Schutzheiligen der Ärzte. Sie wurden «die Silberlosen» genannt, denn die Brüder nahmen von ihren Patienten kein Geld und bekehrten damit viele zum Christentum. Als Damian einst von einer Frau zum Dank einen Apfel bekam, führte das zum erbitterten Streit mit Bruder Kosmas, der dies als unethisch empfand. Den beiden soll, von Engeln assistiert, die erste Transplantation gelungen sein. Sie amputierten einem schlafenden Kranken sein zerfressenes Bein und setzten ihm ein gesundes an. Dies hatte Damian einem verstorbenen Afrikaner abgenommen, die man damals noch Mohren nannte.

Heutzutage vollbringen manche Ärzte einträglichere Wunder. So machte ein Dresdener Allgemeinmediziner aus einem einzigen Fußballspieler kurzerhand eine ganze Mannschaft. Eigentlich sollte der Mann nur einen der Kicker untersuchen. Aber das lohnte sich wohl nicht. Er rechnete lieber gleich für alle Spieler ab. Streng genommen betrog er nicht um große Summen: Die Ordinationsgebühr kostete gerade einmal 12 Euro, eine Ganzkörperuntersuchung schlappe 14 Euro. Zusätzlich berechnete der Arzt noch 13 Euro für dreißig Minuten «Beratung bei einer schweren Erkrankung mit lebensverändernder Wirkung» – ein besonders gern hinzugedichteter Posten.

Insgesamt kam aber ein hübsches Sümmchen zusammen. Bei angeblich achtzehn untersuchten Fußballern hatte der Arzt in wenigen Minuten mal eben 700 Euro verdient. Das Fußballwunder von Dresden vollbrachte der Mediziner im Übrigen nicht allein. Der Trainer hatte ihm die Versichertenkarten zugesteckt.

Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen: Ärzte, Zahnmediziner, Apotheker und die Menschen in anderen Heilberufen haben ihre ganz eigenen Interessen. Sie möchten gern so viel verdienen wie der erfolgreiche Kollege, den Kindern zum Abitur ein Auto kaufen oder im Sommer nach Brasilien fliegen. Der Großteil verhält sich zwar einwandfrei, doch allzu viele können der Versuchung nicht widerstehen, sich selbst zu bedienen. Die finanziellen Folgen sind dramatisch: Sechs bis zwanzig Milliarden Euro Schaden verursacht die Ausbeutung des deutschen Gesundheitswesens jährlich, schätzen die Korruptionsbekämpfer von Transparency International.2

Zusätzlich befeuert der demographische Wandel den Betrug. Die Bevölkerung wird immer älter, und die Zahl der Beitragszahler nimmt ab. Entsprechend schrumpfen die Einnahmen der Krankenkassen, während ihre Ausgaben steigen. Allerdings wollen weder Orthopäden noch Physiotherapeuten oder Apotheker finanzielle Abstriche machen. Zugleich sind die Versicherten nicht bereit, sich mit weniger als der bestehenden Versorgung zufriedenzugeben. Im Gegenteil, die Krankenkassen sollen immer die neuesten Therapien bezahlen und die teuersten Medikamente, die von der Pharmaindustrie auf den Markt geworfen werden – egal, ob es sich um echte Neuerungen oder um Mogelpackungen handelt.

Diese Mischung von Begehrlichkeiten bildet zusammen mit unzureichender Kontrolle und bestehenden Gesetzeslücken den idealen Nährboden für Straftaten. Nur ein Beispiel: Eine Patientin möchte ein faltenfreies Gesicht, doch für diesen Zweck bezahlt die Krankenkasse das teure Mittel nicht. Ihr Arzt kann ihr das Medikament durchaus verschreiben, dazu muss er jedoch eine Krankheit diagnostizieren. Um sicherzugehen, tut er sich mit einem Apotheker zusammen. Fertig ist das kriminelle Kleinkartell. Für ein solches Verhalten bezahlen wir alle.

Denn wenn die Löcher im Gesundheitsetat zu groß werden, müssen die Versicherten diese mit steigenden Beiträgen stopfen. Dieser Zusammenhang fällt fast niemandem auf. Kaum etwas lässt sich schwerer durchschauen als der Fluss der Gelder im Gesundheitssystem. So werden die Kassenbeiträge direkt vom Gehalt abgezogen, ohne dass jemand diese Summen jemals bar in den Händen hielte. Gehen wir zum Arzt oder Apotheker, dann erfahren wir nicht, was beide tatsächlich für uns abrechnen. Von wem sie eigentlich für welche Leistung bezahlt werden, können die meisten Patienten nur ahnen. Sie wissen, dass irgendetwas mit ihren Beiträgen passiert. Aber wirklich vorstellen können sie es sich nicht. Genau das nutzen Kriminelle in Weiß aus: Wer vermisst schon Geld, das zuvor niemand gesehen hat. Deshalb muss das System transparenter und deutlich besser kontrolliert werden.

 

Seit nunmehr sieben Jahren versuche ich genau das zu tun. Damals bewarb ich mich bei der Prüfgruppe Abrechnungsmanipulation der KKH. Hinter diesem sperrigen Namen verbirgt sich ein heute neunköpfiges Team, welches den Betrügern im Gesundheitssystem nachspürt. Schon zuvor hatte ich bei der KKH gearbeitet, deshalb wusste ich, dass wir von manchen Ärzten und Apothekern auf dreiste Weise betrogen wurden. Auf diesem Gebiet zu ermitteln stellte ich mir abwechslungsreich und spannend vor. Außerdem fand ich es ungerecht, dass viele für die Maßlosigkeit weniger bezahlen sollten.

Das wahre Ausmaß dieser Raffgier schwante mir damals noch nicht. Doch schon nach wenigen Monaten als Ermittlerin wusste ich, dass es gar nicht so wenige sind, die sich schamlos bereichern. Und dass sie weit mehr Geld beiseiteschaffen, als ich mir bis dahin ausgemalt hatte. Seit 2005 leite ich den Bereich. Meine Mitarbeiter und ich verfolgen die Spur der Täter vom ersten Hinweis über die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft bis zum Gerichtsprozess. Einige sind wie ich gelernte Juristen, sonst ließen sich die komplexen Rechtsverhältnisse im Gesundheitswesen oft gar nicht durchschauen. Andere sind Spezialisten aus den Leistungs- und Vertragsbereichen. Und natürlich haben wir auch Helfer in unserem Backoffice, die unermüdlich die vielen Hinweise entgegennehmen, recherchieren und unsere Versicherten befragen, wie sich alles tatsächlich zugetragen hat. Ohne diese Informationen kämen wir oft nicht weiter.

Wenn nötig, besuchen wir Ärzte, Apotheker, Fitnessstudios, Sanitäts- und Krankenhäuser auch undercover, um Betrüger zu enttarnen: Internisten, die nie erbrachte Magenspiegelungen abrechnen; Ärzte, die ihren Patienten Hörgeräte verschreiben, die sie gar nicht brauchen; Apotheker, die Rezepte bei der Krankenkasse einreichen, ohne die Medikamente jemandem ausgehändigt zu haben. Sie alle verbindet eines: Sie haben keine Skrupel, sich bei denen zu bedienen, die zu den Schwächsten der Gesellschaft zählen – den Alten und den Kranken. Denn sie bereichern sich an den Töpfen, die eine medizinische Versorgung für alle sichern sollen.

Über einen Mangel an Arbeit können wir uns deshalb nicht beklagen. Immer wieder stoßen wir auf Netzwerke gewissenloser Betrüger, deren kriminelle Energie keine Grenzen hat. Die juristische Fakultät der Universität Hannover schätzt jährlich fünf- bis zehntausend Fälle von Abrechnungsmanipulation – und es werden immer mehr. Dabei ist die Dunkelziffer enorm. Das liegt zum einen daran, dass viele Krankenkassen noch immer nicht ausreichend ermitteln. Zum anderen schützen sich die Kriminellen durch Heimlichkeit und Schweigen, wie es auch in mafiösen Strukturen üblich ist. Diese Mauer des Schweigens zu durchbrechen und mehr Fälle beim Staatsanwalt anzuzeigen ist mein Ziel. Leider wird dort aber in zu vielen Verfahren nur halbherzig ermittelt, oder sie verlaufen im Sande. Die Behörden werden der Komplexität des Themas nicht mehr Herr oder haben nicht genug Leute, um die Fülle an Hinweisen zu bewältigen. Viele Staatsanwälte scheuen sich zudem, gegen den hoch angesehenen Berufsstand der Ärzte vorzugehen. Häufig heißt es dann, die Schuld des Mediziners sei als gering einzustufen – Verfahren eingestellt.

Das ist fatal, weil diese Form des Stillstands der größte Schutz für Kriminelle ist. Wenn gegen die Täter nicht konsequent ermittelt wird, fühlen sie sich in ihrem Tun noch bestärkt. Das führt wiederum dazu, dass sie ihre Machenschaften fortführen oder sogar ausweiten. Ihnen kann ja offenbar nichts passieren. Bis heute sind sich die meisten Menschen gar nicht bewusst, welch ein großes Problem Betrug und Korruption oder Vetternwirtschaft im Gesundheitswesen in Wahrheit sind. In Sizilien gingen die Behörden erst dann wirksam gegen die Mafia vor, als die Öffentlichkeit gegen Ende des letzten Jahrhunderts akzeptieren musste, dass es diese Kartelle tatsächlich gab. Vorher war ihre Existenz insbesondere von den Eliten schlichtweg verneint worden. Auch wenn im deutschen Gesundheitswesen keine sizilianischen Verhältnisse herrschen, steht eines fest: Verschweigen und Zudecken dient nur den Tätern.

Diese Erkenntnis hat mich dazu veranlasst, neue Methoden auszuprobieren, um die Betrüger in Arztpraxen, Krankenhäusern und Apotheken zu demaskieren. Nach anfänglicher Skepsis arbeiten wir deshalb auch mit Journalisten zusammen. Gemeinsam gehen wir beispielsweise Hinweisen auf betrügerische Mediziner nach. Dabei geben wir uns als Patienten aus, der Kollege trägt in der Brille oder der Krawatte eine versteckte Kamera. Obwohl ich schon einiges gesehen habe, schockiert mich die Dreistigkeit, mit der Ärzte ihre Patienten an Gesundheitshandwerker verschachern oder ihnen zweifelhafte Produkte andrehen, immer wieder aufs Neue.

In diesem Buch werde ich erstmals unsere Ermittlungsarbeit einer breiten Öffentlichkeit schildern. Von Fall zu Fall möchte ich zeigen, was sich hinter abstrakten Begriffen wie Korruption und Betrug konkret verbirgt: Wieso können Ärzte ihre Patienten noch immer verpflichten, Bandagen oder Einlagen von bestimmten Anbietern zu beziehen, obwohl dies verboten ist? Wer arbeitet mit wem zusammen? Wer zieht wo die Fäden? Je sichtbarer das Geflecht der Kriminalität im Gesundheitswesen wird, desto deutlicher lassen sich die Konsequenzen erkennen: Wie wirken sich Bestechung und Bestechlichkeit für die Krankenkassen und deren Versicherte aus? Warum ist es so verhängnisvoll, wenn die Staatsanwaltschaften nur mit halber Kraft ermitteln? Lässt sich das Gesundheitssystem so gestalten, dass es weniger leicht auszubeuten ist? Und was kann der Einzelne tun, um etwas zu ändern?

Gerade hier Antworten zu geben ist wichtig. Denn es reicht nicht aus, nur ein düsteres Bild zu entwerfen. Wer diese Seiten gelesen hat, soll als Patient selbstbewusster auftreten und Ungereimtheiten schneller registrieren. Dabei geht es nicht darum, ganze Berufsstände in Verruf zu bringen – so wurden sämtliche Namen von Tätern und Opfern, die in diesem Buch genannt sind, aus Datenschutzgründen geändert. Ich will vielmehr den Lesern dabei helfen, die schwarzen Schafe im weißen Kittel zu erkennen. Letztlich liegt dies auch im Interesse der ehrlich arbeitenden Mediziner, Apotheker und Gesundheitstechniker. Denn niemand schadet den Berufsständen im Gesundheitswesen so sehr wie die eigenen kriminellen Kollegen.

Dabei geraten diejenigen, die sich um unsere Gesundheit bemühen, selbst immer mehr unter Druck. Die Apotheken, um die es im ersten Kapitel geht, sind ein gutes Beispiel für einen Markt, der stetig enger wird. Versandapotheken sorgen für mehr Wettbewerb, Drogerien sind ins Geschäft mit Vitaminpillen und Gesundheitstees eingestiegen. Immer wieder werben Krankenkassen dafür, Apothekenketten mit Filialen überall im Land zuzulassen. Verpasst ein Pharmazeut den Anschluss, findet er schnell Argumente für seinen ersten Betrug – die schwankenden Umsätze könnten aufpoliert, das Auto abbezahlt oder endlich das neue Haus gekauft werden. Aber ist das ein Grund, sogar Menschenleben aufs Spiel zu setzen?

Genau das tun manche Apotheker. Kaltblütig nutzen sie die Drogensucht Aidskranker aus und kaufen ihnen die teuren Rezepte für ihre aufwendigen Therapien ab. Statt der dringend benötigten Medikamente bekommen die Abhängigen ein wenig Bargeld. Ein solches Geschäft beschert dem Pharmazeuten ein üppiges Nebeneinkommen. Dem Süchtigen beschert es dagegen nur ein kurzes Glück und bringt ihn dafür dem Tod ein gutes Stück näher.

Weniger gefährlich, aber dafür umso verbreiteter ist der Handel mit sogenannten Luftrezepten. Ein Arzt sucht in seiner Kartei nach dem Zufallsprinzip ein paar Patienten heraus, denen er teure Medikamente verschreibt. Allerdings werden sie diese Arzneien nie zu Gesicht bekommen. Ein befreundeter Apotheker rechnet die Scheinverordnungen bei der Krankenkasse ab, und beide teilen sich den Gewinn. Medikamente für schwere Leiden wie die Bluterkrankheit oder Krebs sind besonders teuer und daher auch besonders beliebt. Über mehrere Jahre kann ein Rezeptkartell mit einem einzigen Patienten mehrere hunderttausend Euro verdienen. Die angeblich Kranken werden davon nie erfahren. Wie sollten sie auch ahnen, dass sie benutzt werden? Schließlich vertrauen sie ihrem Arzt oder Apotheker.

Ebenso wenig hinterfragen viele Patienten ihre Diagnose oder ihre Therapie. Sie verlassen sich auf das Fachwissen ihres Arztes. Der Mediziner hat das Recht, selbst gegenüber der Polizei über die Behandlung seiner Patienten zu schweigen. Wie die Betrüger in Weiß dieses Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ausnutzen, zeigt das zweite Kapitel. Wie sollte der Kranke es merken, wenn ihm eine Behandlung zuteil wird, die nur dem Geldbeutel des Arztes nützt? Der Arzt ist in der komfortablen Situation, nicht nur das Angebot, sondern auch die Nachfrage zu bestimmen. Denn er ist nicht nur für die Diagnose zuständig, sondern auch für die Therapie. In der Wirtschaft heißt dieses Prinzip angebotsinduzierte Nachfrage.

Des Öfteren kommt es aber auch vor, dass Mediziner gar nicht behandeln und trotzdem abkassieren. So rechnete ein schon in die Jahre gekommener Internist aus der Nähe von Hannover etliche Magenspiegelungen und Ultraschalluntersuchungen ab. Leider konnten sich seine Patienten so gar nicht an diese Behandlungen erinnern. Später stellte sich heraus, dass der Mann seine Praxis verkaufen und den potentiellen Käufern den Eindruck einer florierenden Praxis vermitteln wollte. Auf diese Weise hoffte er, den Preis in die Höhe zu treiben. Denn der Wert einer Praxis bemisst sich nach der Zahl der abgerechneten Fälle pro Quartal.

Besonders teuer wird es beim Zahnarzt. Die Materialien sind kostspielig, und die Arbeit am millimetergenauen Zahnersatz treibt die Kosten ebenfalls in die Höhe. Qualität hat eben ihren Preis, denken sich die Patienten. Doch kaum jemand weiß, was er im Mund mit sich herumträgt. Viel Raum für Schwindel. Ein besonders krasses Beispiel für solche Unverschämtheit war der sogenannte Globudent-Skandal: Hunderte deutscher Zahnärzte kauften ihren Zahnersatz über die Dentalhandelsgesellschaft Globudent um 50 Prozent billiger im Ausland ein. Den Krankenkassen stellten sie dennoch den deutschen Höchstsatz in Rechnung. Das Unternehmen gewährte den Zahnmedizinern bis zu 30 Prozent Rabatt, der auf dunklen Kanälen in bar oder über Auslandskonten an diese zurückfloss. Ein höchst lukratives Geschäft, das leider auch zu Lasten der Patienten ging: Denn ihr Anteil der Rechnung bemaß sich nach deutschem Tarif.

Natürlich finden Mediziner vermeintlich gute Gründe fürs Tricksen und Täuschen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich in großen Teilen der Republik immer mehr Ärzte niedergelassen, was den Kampf um Patienten und Marktanteile verschärft hat. Dennoch plagen sie nur selten existenzielle Sorgen. Die Betrüger unter ihnen tricksen, um ihren Lebensstandard zu erhalten oder zu verbessern. Im besten Falle leiden ihre Patienten dabei ausschließlich finanziell. Wirklich schlimm wird es, wenn außerdem die physische und psychische Gesundheit der Patienten gefährdet ist. Kaum ein Arzt traut sich, diese Praktiken anzuprangern. Den Grund dafür kennen erfahrene Ermittler: Wer sich als Arzt an die Polizei wendet, wird zur Persona non grata. Seine Kollegen schneiden ihn, er bekommt keine Patienten mehr vermittelt. Hat er bisher etwa ein Krankenhaus geleitet, findet er sich schnell auf der Straße wieder.

 

Wer würde das durchhalten: acht Uhr morgens Wassergymnastik, neun Uhr Massage, zehn Uhr Elektrotherapie, eine halbe Stunde später Wärmetherapie/​Heißluft, elf Uhr Heilbad, zwölf Uhr Packungen, 13 Uhr Mittagessen, 14 Uhr Krankengymnastik im Bewegungsbad, 15 Uhr manuelle Lymphdrainage, 16 Uhr Fußreflexzonenmassage, 17 Uhr manuelle Therapie, 18 Uhr Massage des Bindegewebes und 19 Uhr Krankengymnastik in der Gruppe. Eine solche Therapie-Tortur ist offenkundig medizinischer Unfug und für die Krankenkassen dazu noch ökonomischer Irrsinn. Und dennoch hat ein Physiotherapeut in einem Kurort solche Reha-Maßnahmen durchgeführt. Dabei arbeitete er mit einem Arzt zusammen, der die entsprechenden Rezepte ausstellte. Zwei Vertreter für Massageliegen komplettierten das kriminelle Gespann und rekrutierten die nötigen Patienten. Gegen die vier ermittelt derzeit die Staatsanwaltschaft – wegen Betrugs, Untreue und anderer Delikte.

In keinem Bereich verfolgen wir so viele Fälle wie bei Physiotherapeuten und Reha-Zentren. Das obige Beispiel illustriert auch, warum. Mit dem Verschreiben immer neuer Behandlungen lässt sich gutes Geld verdienen. Selten fragen die Patienten nach, denn sie glauben, dass der Arzt ihnen etwas Gutes tun will. Doch das Motto «Viel hilft viel» schadet nirgendwo so sehr wie in der Medizin. Wenn nicht gezielt behandelt wird, kann der Kranke schnell darunter leiden. Außerdem laugen diese krassen Verstöße gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot das Gesundheitssystem aus – mit gravierenden Folgen für die Beitragszahler.

Noch unangenehmer wird es für die Versicherten, wenn ungeschultes Personal sie behandelt. Vor allem in großen Gesundheitszentren ist dies durchaus üblich. Gleichwohl rechnen die Therapeuten die Behandlung in vollem Umfang mit den Krankenkassen ab. Dafür sollte der Patient allerdings auch das Recht haben, nicht von einem Auszubildenden oder Praktikanten behandelt oder sogar misshandelt zu werden.

Betrug, Fälschung und Manipulation sind in der Halbwelt in Weiß gängige Praxis. Jedoch zeigt das vierte Kapitel, dass damit das Arsenal der illegalen Methoden noch längst nicht erschöpft ist. Wie andere kriminelle Organisationen verdient auch die Medizinmafia ihr Geld mit Erpressung und Bestechung. Insbesondere wenn Ärzte mit den sogenannten Gesundheitshandwerkern Geschäfte machen, wird es sehr schnell hässlich. Hörgeräteakustiker sind beispielsweise darauf angewiesen, dass Kunden mit einem ärztlichen Rezept zu ihnen kommen und sich versorgen lassen. Aber was passiert, wenn der Arzt droht, seine Patienten gezielt zu anderen Akustikern zu schicken? Dann würde dieser wohl bankrott gehen oder zumindest erhebliche Einbußen erleiden. Selbstverständlich bietet der Mediziner eine Lösung an: Der Akustiker könnte ihn ja am Gewinn beteiligen. Viel zu viele gehen auf ein solches Geschäft ein.

Auch Sanitätshäuser, die orthopädische Hilfsmittel wie Bandagen und Strümpfe anbieten, werden auf ähnliche Weise erpresst. Zuweilen drehen sie den Spieß um und gehen von sich aus auf die Ärzte zu. Könnte Frau oder Herr Doktor nicht ausschließlich ihre Produkte vertreiben? Man werde sich schon erkenntlich zeigen. Nicht immer ist Bargeld im Spiel. Manchmal möchte ein Mediziner auch lieber den Urlaub auf dem Segelboot des Bandagenverkäufers verbringen oder ein Auto für die Ehefrau leasen lassen. Der Phantasie sind keinerlei Grenzen gesetzt. Bezahlt wird oft auch über fingierte Berater- oder Mietverträge. Augenscheinlich profitieren alle von so einem Geschäft. Nur nicht die Patienten.

Denn wenn der Gesundheitshandwerker seine Kunden vom Arzt zugeschustert bekommt, kann er die Qualität seiner Produkte getrost vernachlässigen. Die Kunden kommen ja ohnehin, und das Geld für die ärztlichen Dienste muss an irgendeiner Stelle wieder hereingeholt werden. Und wenn der Arzt nicht nach Befund, sondern nach Börse diagnostiziert, bekommt der Patient im schlimmsten Fall Dinge verordnet, die er gar nicht braucht. Kontrollieren kann er das kaum. Selbst wenn jemand aufbegehrt, hat dies oft keine Folgen. In einem Fall schenkte ein Orthopädietechniker einem Kunden eine bessere Bandage. Die vom Arzt selbst herausgegebene Bandage seines Hauslieferanten hatte sich als absolut ungeeignet erwiesen. Danach schärfte der Handwerker dem Mann jedoch ein, dem Orthopäden nichts zu erzählen – er fürchte sonst um seine Existenz.

Existenzielle Sorgen plagen auch viele Krankenhäuser. Noch vor wenigen Jahren waren sie fast ausschließlich in öffentlicher Hand. Heute hat sich das Bild grundlegend gewandelt. Private Investorengruppen betreiben mittlerweile eine Vielzahl von Kliniken und Pflegeheimen. Dadurch arbeiten die Häuser zunehmend wie ganz normale Konzerne: betriebswirtschaftlich durchorganisiert und gewinnorientiert. Seit Einführung der Fallpauschalen und durch den allgemeinen Sparzwang im Gesundheitswesen wächst der Druck weiter. Das illustrieren die Beispiele in Kapitel fünf anschaulich.

So ließ sich die Belegschaft eines Krankenhauses etwas ganz Besonderes einfallen, um die eigenen Betten besser auszulasten. Sie fälschte die Ergebnisse der Strahlenmessungen von Patienten: Im Nachhinein erhöhte das Klinikpersonal die Werte, um den Aufenthalt der Kranken zu verlängern. Auf diese Weise blieben die Betten der betreffenden Stationen länger belegt. Denn nicht ausgelastete und damit unwirtschaftliche Abteilungen drohten schnell geschlossen zu werden. Ein anderes Krankenhaus in Hessen tauschte über längere Zeit Hüftprothesen nur teilweise aus, rechnete bei den Krankenkassen aber einen Komplettwechsel ab.

Über Lug und Betrug bei Ärzten, Apothekern, Physiotherapeuten und Hörgeräteakustikern regen sich Patienten zu Recht auf. Aber auch unter ihnen findet man jene, die ihre Mitmenschen bestehlen, wenn sich die Möglichkeit dazu bietet. Versicherte verleihen oder verkaufen ihre Krankenversichertenkarten, erschleichen sich beim Arzt teure Rezepte oder fälschen diese gleich selbst. In der Bodybuilder-Szene ist es weit verbreitet, Verordnungen über Wachstumshormone nachzumachen und in Apotheken einzulösen. Die künstlich aufgepeppten Muskeln kommen das Gesundheitssystem teuer zu stehen. Ein einziges Rezept über das Wachstumshormon Norditropin kann die Krankenkasse etwa 8000 Euro kosten. Die Täter werden selten gefasst. Sie betrügen aber nicht nur die Krankenkassen, sondern alle Beitragszahler und damit letztlich sich selbst. Sie pushen den Beitragsbedarf zu Lasten aller Einzahler. Diese Erkenntnis dringt viel zu selten durch. Hoffentlich kann die Lektüre des sechsten Kapitels dazu beitragen, dass sich dies ändert.

Gleichwohl soll dieses Buch mehr sein als ein finsteres Sittengemälde. In allen Kapiteln werde ich bereits auf besondere Rechte der Versicherten hinweisen, relevante Paragraphen erläutern und Hintergründe erklären. Doch im abschließenden siebten Teil liegt der Schwerpunkt ganz klar auf der Frage: Was lässt sich am derzeitigen Zustand tatsächlich ändern? Ob in der Politik, der Justiz oder der Zusammenarbeit der Krankenkassen – es könnte einiges zum Besseren gewendet werden.

Als Krankenversicherte sollten wir uns nicht ausschließlich darauf verlassen, was ein Staatsanwalt oder ein Abgeordneter für uns tut. Je aufgeklärter und selbstbewusster wir als Patienten sind, desto mehr können wir beeinflussen, wie wir behandelt werden. Und desto geringer ist die Gefahr, dass das Gesundheitswesen zu unser aller Lasten ausgeblutet wird. Denn die Erfahrung und wissenschaftliche Studien haben eines gezeigt: Kriminelle schreckt weniger die hohe Strafe als vielmehr die Gefahr, erwischt zu werden. Fast jeder fürchtet, vor der Gemeinschaft als Parasit dazustehen, denn die Abneigung gegen Schmarotzer ist in allen Kulturkreisen ausgeprägt. Durch den offenen Umgang mit schlechten Erfahrungen, kritische Fragen an Ärzte und Kontakt zur eigenen Krankenkasse können viele Betrugsfälle aufgedeckt oder sogar verhindert werden.

Je geschärfter unser Bewusstsein ist, desto größer ist das Risiko für die Täter. Wir brauchen eine Kultur, die den Betrug im Gesundheitssystem ächtet. Dabei steht der Einzelne schon heute nicht hilflos da. Zum Beispiel können Patienten bei den Krankenkassen Auskunft über die für sie abgerechneten Leistungen beantragen, ohne dass ihr Arzt oder Therapeut etwas davon erfährt. Bislang weiß das kaum jemand. Eine andere Möglichkeit sind die sogenannten Patientenquittungen, die vom Arzt nach der Behandlung eingefordert werden können. Sicherlich kein Allheilmittel. Aber es setzt ein weiteres Zeichen. Es signalisiert ihm, dass er nicht unbeobachtet handelt.

Nicht zuletzt erkläre ich auch einige grundlegende Rechte der Patienten. Denn oftmals wissen viele Menschen gar nicht, was ihnen zusteht. Wer weiß schon, dass bei einer Vorsorgeuntersuchung keine Praxisgebühr fällig ist? Oder dass man bei Leistungen, die die Krankenkasse nicht zahlt, eine Rechnung nach der Gebührenordnung erhalten muss? Wir haben Rechte, die wir einfordern sollten. Und schließlich gibt es Beratungsstellen und Homepages, mit deren Hilfe man eine zweite Ärztemeinung einholen oder Preise vergleichen kann. Denn nur, wenn wir unser kritisches Denken nicht zusammen mit der Chipkarte am Praxistresen abgeben, kann sich etwas ändern. Es geht nicht darum, sich künftig nicht mehr auf seinen Arzt oder Apotheker zu verlassen. Aber die Zeiten blinden Vertrauens sollten vorbei sein.