Georg Klein

Sünde Güte Blitz

Roman

 

«Lesen Sie viel; auch wissenschaftliche Bücher, obschon die Wissenschaft als Ganzes Unfug ist, ist sie lehrreich.»

Gottfried Benn, Briefe, 1949

«Die Natur – d. h. der Leviathan – weist uns nichts Vollkommenes; sie bedarf immer der Korrektur durch gute Geister.»

Arno Schmidt, Leviathan, 1949

SONNABEND

Die Menschen sind tollkühne Tiere. Und deshalb müßte einer von uns, sobald es ihn Hals über Kopf unter sie verschlägt, eigentlich auf ihren Ansturm, auf dreiste Handstreiche, auf ein Hauen und Stechen mit ihnen gefaßt sein. Aber wer aus unseren Gefilden zwischen sie hinstürzt, darf davon so gut wie nichts wissen. Allenfalls eine Ahnung beklemmt den Ankömmling. Erst nach und nach, erst wenn menschliche Gewalt ihm Haut, Fleisch und Knochen beutelt, beginnt er die Eigenart dieser Spezies erneut zu begreifen.

Unser Bote kam bei Nacht in einem Hinterhof zu sich. Zunächst bewegte sich nur die linke Hand des Liegenden. Er tastete durch einen Spalt des Asphalts. Seine Fingerspitzen spürten Trockenheit, sein Rücken eine Wärme, die ihm guttat. Wie alle Vorausgegangenen hatte auch ihn die schiere Ankunft bis ins Mark erschöpft, und so dauerte es, bis er den Kopf hob, zum Licht drehte und ein erstes Verstehen versuchte. Vor einem Jahr, als die lange Leuchtstoffröhre senkrecht neben dem Kellereingang montiert worden war, hatte sie den Hof bis in den letzten Winkel erhellt. Jetzt, im zweiten Sommer, milderte bereits ein Firnis aus Insektenresten ihr Licht. Der Bote mißdeutete das bernsteinfarbene Scheinen. Schon in die Hocke gegangen und Kräfte zum Aufrichten sammelnd, dachte er immer noch, dort hinten stünde einer in einer grauen Rüstung, geduckt, bewegungslos abwartend, einen Leuchtstock als Waffe in der Rechten.

Gleich seinen Vorgängern wäre er einem frühen Schlagabtausch nicht ausgewichen. Mut fällt uns leicht. Aber als er es in den Stand geschafft hatte, als das Schwindelgefühl, das ihn beim Aufrichten überfallen hatte, nachließ, schnappte ihm das Bild um. Der vermeintliche Feind verwandelte sich in einen flachen Quader flirrender Nachtluft. Was sich scheinbar hervorgewölbt hatte, senkte sich nun in Wirklichkeit nach innen. Und unser Bote begriff die niedrige, dunkel gestrichene Kellertür als Eingang in ein Haus und die Neonröhre als eine Art Lampe – obschon ihm die Wörter für dergleichen Gegebenheiten noch nicht zur Verfügung standen.

Breitbeinig, kaum mehr schwankend, drehte er sich um und entdeckte den Baum, eine gewaltige Linde, älter und sogar ein wenig höher als die Häuser, die sie umgaben. Ihr Anblick verschmolz ihm mit dem Aroma der Luft. Was er schon mit dem ersten Einatmen gerochen hatte, mußte ihr Blühen sein. Und weil sich der duftende Baum genau in der gebotenen Richtung befand, machte er sich auf den Weg hin zu ihm.

So gelangen ihm seine ersten zwölf Schritte.

Als er den Stamm erreichte, waren seine nackten Sohlen auf den Ring eines brüchigen Gummibands, auf das vom Tod gekrümmte Körperchen einer Ameise und auf ein kleines Stück Kupferblech getreten, dessen scharfe Zacken zum Glück nach unten wiesen. Fuß vor Fuß setzend, hatte er sich zurechtgelegt, daß es Fenster sein mußten, die hinter der Krone der Linde leuchteten. Auch die große, orange glimmende Scheibe am Nachthimmel ließ sich bestimmen. Das da oben konnte nur der Trabant dieses Planeten sein. Für das Auge stand er still. Aber alles, was je in einem Körper zum Leben erwacht ist, spürt, bis die Gewohnheit siegt, das sachte Saugen seiner sausenden Masse.

Im Stamm der Linde klaffte ein armlanges, ovales Loch. Zwei Jahrzehnte zuvor hatten besonders ausgebildete Gärtner, sogenannte Baumchirurgen, einen tief eingedrungenen Pilz bekämpft, denn die Linde war von einem Organ des damaligen, inzwischen untergegangenen Staates zum Natur- und Kulturdenkmal erklärt worden. Der Beton, der ihr tief ausgeweidetes Holz versiegeln sollte, war nach und nach wieder herausgebröckelt. Auf dem Schild, in das die besondere Geschichte der Linde graviert gewesen war, hatte der Rost den größten Teil des Textes gelöscht. Nur drei Querstreben aus Stahl, deren vernickelte Muttern makellos wie Schmuck auf der Haut des Stammes saßen, hatten dem Zahn der Zeit standgehalten. Und weil unser Bote spürte, daß er ein gutes Stück hinaufmußte, um auf das Niveau seines Zielpunkts zu gelangen, deutete er das Übereinander der Stäbe als eine Leiter.

Also machte er sich auf in den Baum.

Die Art, wie er hochstieg, glich dem gelegentlichen Klettern der größten, meist am Boden lebenden Affen. Gemächlich schoben sich seine Hände, seine Knie und seine Füße voran. Die Nase schnupperte an den Lindenblüten, und die Lippen nahmen Fühlung auf mit Rinde und Blättern. Auf einem starken Ast kroch er Richtung Haus, erst nahe der Mauer senkte ihn sein Gewicht, Zweige schabten an der Fassade entlang und schlugen auf das Blech eines offenstehenden Fensters.

Angela Z., langzeitarbeitslose Physikerin und seit einem halben Jahr als Hausmeisterin für die an zwei Höfe grenzenden Gebäude zuständig, hatte sich ins dunkle Wohnzimmer gesetzt, um mit Sekt und Käsegebäck, mit der lauen Nachtluft und mit dem Vollmond ihren fünfundvierzigsten Geburtstag zu feiern. Da Alkohol sie schnell müde werden ließ und die Linde in diesem Juli allzu heftig duftete, war sie eingenickt, aber der Instinkt der Verantwortlichen machte sie sofort hellwach, als es über ihr Fensterblech schabte. Sie erhob sich aus dem Sessel, spähte vorsichtig hinaus und erfaßte die Lage. Falls Der-da-draußen über die Kaltblütigkeit verfügte, sich auf dem wippenden Ast aufzurichten, würde er es mit einem einzigen Schritt an das Fenster und damit in ihre Wohnung schaffen.

Sein Nacktsein würde ihn kaum daran hindern.

Angela Z., von der ihre in Kalifornien studierende Tochter behauptete, sie sei tapfer wie eine Löwin, wolle jedoch am liebsten keinem Mückchen etwas zuleide tun, besaß einen Elektroschocker. Sie hatte sich das Verteidigungsgerät besorgt, nachdem im zurückliegenden Winter kurz hintereinander zwei Frauen aus der Nachbarschaft überfallen worden waren. Frau Blumenthal, eine alte Dame, deren Wohlergehen ihr am Herzen lag, hatte man am hellichten Tag vor den Briefkästen des Vorderhauses ihrer Handtasche beraubt. Beim Erwerb der Waffe hatte sich Angela als Naturwissenschaftlerin kein X für ein U vormachen lassen und sich, trotz des beachtlichen Preisunterschiedes zu Produkten aus dem fernen Osten, für ein hochwertiges Gerät aus deutscher Fertigung entschieden. Und weil sie ihre Sachen in Ordnung hielt, brauchte sie nun nur leise eine Schublade aufzuziehen und blind hineinzugreifen.

Halb hinter dem Vorhang, den Schocker in der Hand, wurde sie Zeugin eines geschickten, eines nahezu perfekten Sprungs. Der linke Fuß tippte auf der Fensterkante auf, mitten im Zimmer federte unser Bote in die Knie und bremste den letzten Schwung mit Armen und Händen. Die Finger in den Flor des Wollteppichs gegraben, erfüllte ihn die Gewißheit, nun genau die richtige Höhe, die rechte Entfernung vom Erdboden, erreicht zu haben. Und exakt ostwärts gesprungen, war er seinem Ziel auch in der horizontalen Distanz ein Stückchen näher gekommen. Die Tür, deren Weiß er vor sich sah und deren schemenhafte Klinke er zutreffend als Teil einer Verriegelungsvorrichtung deutete, sollte ihn ohne Verzug weiterbringen – aber da traf ihn Angelas Stoß, und 100 000 Volt entluden sich in seinen schmalen Nacken.

 

Die Menschen sind eine liebreizende Spezies. Wer ein Auge für die Anmut der Säugetiere hat, wird immer wieder Freude an den Bewegungen des Menschenleibs finden. Angela Z. trug nichts als einen seidenen Morgenmantel. Erst am Nachmittag hatte sie das smaragdgrüne Kleidungsstück, um die Hälfte ermäßigt, im Räumungsverkauf eines für dieses Viertel, für die Südstadt von G., zu teuer gewesenen Wäschegeschäfts entdeckt, anprobiert und sich den Kauf zunächst versagt. Aber dann war sie doch auf halbem Heimweg umgekehrt und hatte sich den Morgenmantel zum Geburtstag geschenkt. Danach hatte nur ihr Schlafzimmerspiegel sehen dürfen, wie vorteilhaft sich der dünne, glänzende Stoff an ihren auch in ihrer Jugend niemals mager gewesenen Körper schmiegte.

Als der Nackte sein Bewußtsein zurückgewann, war sie noch nicht dazu gekommen, sich etwas Richtiges anzuziehen. Sie kniete auf dem Boden und band seine Fußknöchel mit zwei aneinandergeknüpften Stoffgürteln zusammen. Drei der fünf Ledergürtel, die sie besaß, hatte sie schon für die übergründliche Fesselung seiner Handgelenke verbraucht, und der vierte und der fünfte waren gerade lang genug gewesen, um mit ihnen ein Bein ihres soliden alten Wohnzimmerschranks zu erreichen.

Unser Bote sah die Frau, sah ihre heftig atmende Brust, sah, wie sie zwischen seinen Füßen einen letzten Knoten anzog, begriff die Unbeweglichkeit, zu der er verdammt war, und seufzte laut auf. Angela schrak zurück, und zugleich fiel ihr ein, daß sie den Schocker beim Gürtelholen auf dem Bett im Schlafzimmer liegengelassen hatte. Aber den Gefesselten packte weder Wut noch Panik. Ein einziges Mal spannte er die schön geformten, nicht übermäßig muskulösen Arme. Leder quarrte auf Holz. Der Schrankfuß hielt stand.

«Keine Bewegung, sonst werden Sie noch einmal geschockt.» Angelas rechte Hand fuhr in die leere Tasche ihres Morgenmantels, und als sie aufsprang, schob sie die Seide mit Daumen- und Zeigefinger, die fehlende Waffe vortäuschend, weit nach vorn. Dabei klaffte ihr Morgenmantel auf, und unser Bote begriff, daß eine Frau vor ihm stand. Über den eigenen Körper hinwegblickend, ergänzte er sich, daß er als Mann und völlig unbekleidet in ihren Wänden aufgetaucht war. Zweifellos hing beides, ihr Frausein und seine bloßliegende Männlichkeit, mit der mißlichen Lage zusammen, in die er so unvermutet geraten war.

«Heraus mit der Sprache!» befahl Angela und stieß mit dem linken Fuß gegen seine Ferse, verlor ihren Hauspantoffel, gewann aber durch den rüden Charakter der Geste ihr ins Schwanken geratenes Selbstbewußtsein zurück. Und weil der Unbekannte nur ein weiteres Mal seufzte und bestürzend freundlich zu ihr aufschaute, fauchte sie so böse, wie sie nur konnte, jetzt sei der Spaß vorbei, was er sich dabei denke, mitten in der Nacht splitternackt zu ihr in die Wohnung zu hopsen, und dies noch dazu an ihrem Geburtstag.

Er war ganz Ohr. Und die Art, wie er mit geöffnetem Mund, mit auseinandergerissenen Lidern, mit lange hinausgezögertem, dann aber heftigem Blinzeln zuhörte, verführte sie dazu, weiter auf ihn einzuschimpfen. Sie begann mit dem Überfall auf Frau Blumenthal, holte dann weit aus in Zeit und Raum, zog Beispiele aus der Bibel, den jüngsten Weltkriegen, aus Amerika und sogar aus Afrika heran, wurde grundsätzlich und ersparte dem hingerissen Lauschenden keinen der Vorwürfe, die sich jenem Geschlecht machen lassen, dessen physische Eigenart er eben erst im Groben an sich begriffen hatte.

«Sie elender Mistkerl!» fuhr sie den Stummbleibenden zuletzt noch an. Sie könne sich in etwa vorstellen, was er geplant habe. Falls sie ihn nachher halbwegs unbeschädigt der Polizei übergeben sollte, dürfe er von Glück reden. Um irgendeinem meschuggen Sittlichkeitsverbrecher zum Opfer zu fallen, habe sie ihre fünfundsechzig Kilo Lebendgewicht nicht heil durch die Strudel der deutschen Zeitgeschichte manövriert.

«Siebzig Kilo. Es sind siebzig Kilo …», hauchte unser Bote unwillkürlich, ohne den Sinn seiner Richtigstellung ganz zu erfassen.

Angela hörte es nicht. Gerade als er die Lippen zu seinen ersten, sehr leisen Worten geöffnet hatte, war sie schräg über ihn hinweggestiegen und zum Bücherregal getreten. Sie hatte den handgeschmiedeten Kerzenleuchter entdeckt, den sie zurückliegenden Frühling in einem Anfall von Nippes-Gier erworben hatte und der seitdem dazu diente, den Stand von ein paar Bildbänden zu stabilisieren. Immer wieder, jedesmal wenn sie im Regal Staub wischte, hatte sie sich über diesen unsinnigen Kauf geärgert. Ja sogar das, was ihr ursprünglich besonders gefallen hatte, der stark stilisierte Schlangenkörper, der sich in flachen Schleifen nach oben wand, war ihr im häuslichen Licht nur noch albern und abgeschmackt erschienen. Jetzt aber kam ihr der Leuchter gerade recht. Sie nahm ihn in die Hand und schwang ihn dem Nackten so bedrohlich dicht, wie sie es fertigbrachte, über die Leibesmitte, fuchtelte dann, das schwere Ding sicherheitshalber mit beiden Händen haltend, auch noch vor seiner Nase herum. Sie sah, wie sein Blick den Bewegungen des plumpen Gegenstands folgte. Er zeigte keinerlei Furcht, was sie erbost hätte, wäre nicht zugleich der Ausdruck einer seltsamen Neugier in seinen glatten, noch jugendlich unausgeprägten Zügen gelegen.

«Die Kerze fehlt», sagte der Gefesselte plötzlich und sah ihr dabei fest in die Augen.

«Heraus mit der Wahrheit, sonst gnade Ihnen Gott! Wer sind Sie?» Sie hatte sich gebückt, um ihm ihre Frage scharf und überdeutlich direkt ins Gesicht zu zischen. Aber sie war vom ungewohnten Lautreden heiser, und so krächzten ihr die Worte recht schwächlich aus dem Hals.

«Ein Geburtstagsgeschenk. Ich bin ein Geburtstagsgeschenk.» Während er dies antwortete, spürte er, daß ihm eine Lüge aus dem Mund flog. Genau gefühlt, war es das, was man eine Notlüge nannte. Das Wort Lüge hätte er, ausgestreckt auf der Wolle von Angelas Wohnzimmerteppich und gefesselt von insgesamt sieben Damengürteln, problemlos verwenden können, denn Angela hatte es bereits gegen ihn gebraucht. Notlüge allerdings stand ihm noch nicht zu Gebote, obwohl ihm die treffliche Zusammenfügung und das Wissen um ihre Nützlichkeit schon im Kopf heraufdämmerten.

Angela ließ den Kerzenleuchter fallen. Die Hände in die Seide ihres Morgenmantels gekrampft, stapfte sie zum Fenster, um es zu schließen. Die Nachbarn hatten vielleicht schon zuviel gehört. Es ging wirklich niemanden etwas an, daß sie Geburtstag hatte und was sie von wem dazu geschenkt bekam. Auf Jahrestage jeglicher Art hatte sie nie viel gegeben, ausgenommen die zwölf Kindergeburtstage, die sie für ihr einziges Kind, ihre Tochter Melanie, veranstaltet hatte. Von der war sie am Morgen aus den USA angerufen worden. Melanie hatte ihr im Duett mit ihrer Kommilitonin und Mitbewohnerin, einer jungen Polin, «Happy Birthday to You» vorgesungen; «dear Angie» hörte sie zum ersten Mal. «Liebe Mama» wie die Jahre zuvor oder zumindest «liebe Angela» wäre ihr lieber gewesen.

Sie zog die Vorhänge vor, zupfte deren Kanten sorgsam gegeneinander. Wer immer der nackte Bursche auch sein mochte, sie war nun entschlossen, ihm zu erzählen, was im letzten halben Jahr vorgefallen war. Mit Gewalt und einem Vergnügen, das ihr nicht ganz geheuer war, würde sie ihn hierzu mißbrauchen. Alles sollten seine kleinen, kindlich wohlgeformten Ohren erfahren, sogleich und säuberlich eins nach dem anderen. Auf keine Ausmalung, auf keine ihr nötig erscheinende Abschweifung wollte sie verzichten – selbst wenn daraus der längste zwischengeschlechtliche Monolog ihres Lebens werden sollte und über diesem der Rest der Nacht zum Teufel ging.

IM JANUAR

Die Menschheit umschließt manch emsiges Völkchen. Wir müßten bei den Insekten suchen, müßten Ameisen oder Bienen oder die Termiten beobachten, um eine vergleichbare Geschäftigkeit, um ähnlichen Fleiß und Eifer zu finden. Womöglich wären – nach uns! – die dickköpfigen, gänzlich phantasielosen, aber dennoch für ihre Baukunst berühmten Termiten diejenigen, die die sture Schaffensfreude mancher Menschenverbände am besten würdigen könnten.

Das, was Angela Z. später die ganze Geschichte nennen sollte, muß vom kalendarischen Jahresbeginn her begriffen werden. Denn mit dem 1. Januar war sie Hausmeisterin geworden, und nach und nach stellte sich nun heraus, wieviel für die achtzig Prozent Mietnachlaß, die ihr die Eigentümer, eine Berliner Immobiliengesellschaft, gewährt hatten, eigentlich zu leisten war. Am 3. Januar rief eine Mitarbeiterin der Firma sie von der Autobahn aus an. Und schon eine gute Stunde später durfte Angela diese Frau, ein blutjunges, betont souverän auftretendes Dämchen, und die beiden Miet-Interessenten, Ärzte aus dem Westen, durch die letzten leerstehenden Räumlichkeiten des Vorderhauses führen. Zwei Wohnungen der einstigen Beletage waren zu einer großzügigen Gewerbefläche zusammengelegt. Bei der Instandsetzung hatten die neuen hauptstädtischen Besitzer nicht gespart. Dickes polnisches Eichenparkett war verlegt worden, den beschädigten Jugendstil-Stuck hatte eine Dresdener Spezialfirma historisch penibel restauriert, und verlorengegangene Kleinigkeiten wie Türklinken, Fensterhebel oder die geschliffenen Glasfenster einiger Innentüren waren durch originalgetreue Duplikate ersetzt.

Dennoch bemerkte Angela während der Besichtigung die eine oder andere handwerkliche Nachlässigkeit. Der jüngere der beiden Ärzte, ein Herr Doktor Weiss, machte sich sogar einen Spaß daraus, eventuellen Renovierungsmängeln nachzuspüren. Auf dem Rücken rutschend, warf er einen Blick hinter einige der ultraflachen Heizkörper. Mit dem roten Stein seines wuchtigen Männerrings prüfte er die Härte der Parkettversiegelung und beanstandete prompt die angeblich zu weiche Lackierung der Schwellen. Ja er genierte sich nicht, in jedem Raum aufs neue mit speichelnassem Daumen die Wischfestigkeit der Tapetenfarbe zu testen. So freute sich Angela von Herzen, als ihm schließlich, während er im Klimmzug an einem Türstock baumelte, um dessen Oberkante zu beäugen, ein Mißgeschick zustieß: Die Rückennaht seines enggeschnittenen Sakkos platzte mit einem scharfen Ritsch und entblößte das lachsfarbene Futter.

Die potentiellen Mieter waren ihr als Herr Doktor Weiss und Herr Doktor Schwartz vorgestellt worden. Angela hatte beim Erklingen dieser Namenspaarung keine Miene verzogen. Über dergleichen zu lächeln oder gar zu grinsen verbot sie sich aus Prinzip. Die Kuriosität des eigenen Familiennamens hatte ihr die gesamte Schulzeit hindurch mit schöner Regelmäßigkeit häßlichen Spott eingetragen. Und so war es ihr vor einem Jahr, nach ihrer Scheidung, alles andere als leichtgefallen, den angenehm unauffälligen Namen ihres Exmannes wieder abzugeben und in die alten Namensbande zurückzukehren. Aber was sein mußte, mußte einfach sein.

Ausgerechnet an ihren einstigen Gatten erinnerten sie das übermarkant geschnittene Gesicht, die schmalen, stets spöttisch geschürzten Lippen und die metallisch grauen Augen von Doktor Weiss. Schon dies hätte genügt, den jungen Arzt auf den ersten Blick abzulehnen. Und als er dann mit seinem impertinenten Gehabe anfing, wurde er ihrem Verflossenen endgültig auf fatale Weise ähnlich. In den Jahren ihrer Ehe war Angela zu der Überzeugung gelangt, daß kleine, zierlich gebaute Männer niemals großspurig auftreten dürften – egal, wie gescheit, wie sportlich oder wie ausnahmshübsch um Nase und Kinn sie auch sein mochten. «Bleib bitte auf dem Teppich», hatte sie ihrem Mann oft und fast immer vergeblich zugeflüstert, wenn er sich wieder einmal, auf einer privaten Feier oder bei einer der geselligen Zusammenkünfte der Belegschaft des Naturwissenschaftlichen Instituts, mit seinen Witzchen und Provokationen in den Vordergrund spielte, die Netten und Vernünftigen damit nach und nach vergrätzte, aber meist auch eine törichte Gans fand, die ihn just dieses Getues wegen anhimmelte.

Doktor Weiss erwies sich dann bald, während er die Einrichtung der Praxis organisierte, als ein gleich tief durchschlagendes Kaliber. Bereits am Tag der Besichtigung hatte er sich in der einzigen Pension der Südstadt ein Zimmer genommen, und schon am selben Abend hörte Angela ihn in den angemieteten Räumen herumhämmern. Auch in den folgenden Wochen war er morgens der erste, brachte in seinem ungewöhnlich großen und auffällig roten Lederrucksack offenbar eigenes Werkzeug mit, und die Handwerker, die zum Einsatz kamen, ächzten unter der Originalität seiner Scherze wie unter der leider unbestreitbaren Treffsicherheit seiner Verbesserungsvorschläge. Perfekt sollte die Praxis von Schwartz&Weiss werden, und gleichzeitig mußte alles so zügig wie möglich über die Bühne gehen.

Eines Abends, als die Sanitärinstallateure nach einer allerletzten Überstunde, sichtlich erleichtert, ihre Schlüssel bei ihr abgegeben hatten, ging Angela noch einmal ins Vorderhaus hinüber, um nachzusehen, ob das Licht ausgeschaltet und die Fenster zu waren. Weiss, der so pedantisch sein konnte, war in dieser Hinsicht merkwürdig lax. Die Eingangstür der Praxis stand offen, und sämtliche Räume waren hell. Weiss saß im Schneidersitz auf dem Boden des Flurs, ein Notebook neben sich. Das Gehäuse der Telefonanlage war abmontiert, und außer dem mobilen Rechner hatte er noch ein Meßgerät und einen Kopfhörer angeschlossen. An der Wand lehnte sein voluminöser Rucksack, und Angela dachte nicht zum ersten Mal, daß dessen sattes Rot etwas anstößig Unmännliches hatte und schon gar nicht zu einem Mediziner, zu einem Naturwissenschaftler paßte.

«Sie schickt der Himmel!» rief Weiss ihr zu, sah aber nicht von seiner Arbeit auf, hob nur beide Hände neben den Kopf, fuhr sich durch sein mattblondes, gekonnt wirr in die Höhe gegeltes Haar und spreizte die Finger zu einer affektierten Geste. «Seien Sie meine Retterin in der Not. Sie haben doch Ihr Handy dabei?»

Angela ließ sich darauf ein, ihm zu helfen, und gleich kommandierte er sie herum. Von verschiedenen Apparaten mußte sie abwechselnd interne und externe Nummern anwählen, während er die Telefonanlage manipulierte, an einem der Praxisgeräte abhob oder den Anruf auf seinem Handy entgegennahm. Dann rief er von seinem oder von ihrem Mobiltelefon an, schickte sie zu einem bestimmten Apparat, verbot ihr aber manchmal im letzten Augenblick das Abheben, weil der Anrufbeantworter reagieren sollte. Angela begriff, daß es ihm darum ging, unterschiedlich aktivierte Verbindungen parallel in Betrieb zu halten. Oft hatte sie zwei Hörer am Kopf. Und als der Reisewetterbericht eines automatischen Ansagedienstes erklang, wurde sie von Weiss aufgefordert, zunächst ohne Pause und dann mit von ihm vorgegebenen Unterbrechungen dagegen anzureden, anfangs so laut, später so leise wie möglich, während er in die Schaumstoffmuscheln seines Kopfhörers lauschte.

Es gab da wirklich ein Problem.

Rätselhaft willkürlich trat eine Interferenz auf. Hie und da schlugen Bruchstücke des auf der einen Leitung Gesprochenen auf die andere durch. Es waren nur Satzfetzen, wenige Sekunden lang, als würde ein Zufallsgenerator diese Querverbindungen herstellen und sofort wieder kappen. Was so irregeleitet wurde, war ebenso klar und fast genauso laut wie das, was sie den korrekt verkoppelten Apparaten anvertrauten. Und einmal bemerkte Angela, weil sie neben dem Anrufbeantworter stand, daß ein Stück aus dessen Ansage minimal zeitverschoben, wie ein übereifriges Echo, in der Verbindung aufklang, die sie, ihr Handy am Ohr, mit dem Mobiltelefon von Weiss unterhielt.

Dies ließ sich einfach nicht beheben, ja nicht einmal merklich beeinflussen. Schließlich streifte sich Weiss den Kopfhörer von den Ohren und stand mit knackenden Knien auf. Nebeneinander setzten sie sich an die Empfangstheke der Praxis. Angela, die zuvor abgelehnt hatte, so spät noch Kaffee zu trinken, griff nun doch nach der Kanne, und der Arzt erhob sich eilfertig, um ihr Milch und Schokokekse aus dem Kühlschrank zu holen.

«Seien Sie ein Engel und klären Sie mich auf», stöhnte Weiss in gespielter Verzweiflung, während er noch einmal durch die Betriebsanleitung der Telefonanlage blätterte.

Angela schwieg. Sie war entschlossen, ihn noch ein Weilchen im Saft seines Versagens schmoren zu lassen. Ihr war inzwischen eine Idee gekommen, woran das Ganze liegen könnte. Erst vor kurzem in der Bahnhofstraße, im neueröffneten Frauen-Sportcenter Minerva Total Fitness, hatte sie sich über ein in seiner logischen Struktur vergleichbares Problem den Kopf zerbrechen dürfen. Sie war von einer ehemaligen Kollegin aus dem Naturwissenschaftlichen Institut um Hilfe gebeten worden. Gudrun, eigentlich Chemikerin, aber wie sie schon lange arbeitslos, hatte die für das Studio nötigen Trainingsgeräte günstig aus einer Konkursmasse erworben. Der Kredit, der die Anschaffung möglich gemacht hatte, war allerdings knapp bemessen, und so mußte die werdende Unternehmerin sich im weiteren mit Eigenarbeit und Freundeshilfe behelfen. Einen ganzen Samstagnachmittag hatten die beiden Frauen über einer gebraucht gekauften, etwas überdimensionierten Telefonanlage gebrütet und mit Tüfteln und Herumprobieren eine Störung nach der anderen aus der Welt geschafft – zuletzt eine, deren gedankliche Durchdringung nun nützlich sein konnte.

Noch ließ sie Weiss hängen, wartete, bis er die Betriebsanleitung über die Schulter in den Flur hinausschleuderte, theatralisch zwei weitere Zuckerwürfel in seine Kaffeetasse zermanschte und eine kindlich trotzige Schnute zog. Sie dachte daran, wie ihr Exmann, sobald es häuslichen Ärger gegeben hatte, am Kühlschrank gelandet war, um sich ein Stück Schokolade zu holen oder wenigstens den Zeigefinger ins Marmeladenglas zu stecken. Als Weiss einen Keks zerbrach und beide Hälften gleichzeitig in seinen Kaffee tunkte, schien ihr der rechte Augenblick gekommen. So trocken wie möglich erläuterte sie den Lösungsweg, der ihr vorschwebte.

«Gott im Himmel, warum sagen Sie das erst jetzt!» Aufspringend bekleckerte er sich das Hemd, das er den ganzen langen Arbeitstag peinlich sauberzuhalten verstanden hatte. «So wird es gehen. Sie sind ein Genie. Sie haben sich einen Kuß verdient!»

Angela wich der weitausholenden Umarmung, unter seinem Arm hindurchschlüpfend, aus. Dieser Geck dachte wohl, sie, die gut zehn Jahre ältere Frau, könne es kaum erwarten, spätabends an seine durchtrainierten Brustmuskeln gedrückt zu werden. Allein schon weil er ihrem geschiedenen Mann ähnlich war, gönnte sie ihm die Bestätigung dieser Binsenweisheit nicht. Mit vertauschten Rollen machten sie sich noch einmal an die Arbeit. Jetzt saß sie vor der Telefonanlage und ließ ihn von Apparat zu Apparat springen. Die zwei minimalen Einstellungsveränderungen, aus denen ihr Vorschlag im wesentlichen bestand, führten dazu, daß sich externe Gespräche problemlos abwickeln ließen. Im Binnenverkehr der Praxis jedoch tauchte die rätselhafte Interferenz weiterhin auf. Angela gelang es nach einer Weile, die Lautstärke zu dämpfen. Und irgendwann waren alle Überschläge stark verkürzt, meist nur noch ein, zwei Wörter oder einen Wortfetzen lang, ohne daß sie sich sicher erklären konnte, wie sie diese letzte, für die praktische Nutzung entscheidende Verbesserung eigentlich erzielt hatte.

Mit viel Kaffee hielten der Arzt und die Hausmeisterin bis gegen Mitternacht durch. Schließlich erlahmten ihre Zungen vor den Sprechmuscheln. Durch ihre immer länger werdenden Redepausen, durch ihr Atmen, das sich rhythmisch verschränkte, huschte, immer stärker verzögert, das Fehlgeleitete. Nuschelig leise und ultraknapp, wirkte es nun vollends fremdgesagt, ja nachgeäfft – so, als wäre ein spöttischer Kobold nur für sie beide, für Frau und Mann, am Flüstern.

 

Unermüdlich übt sich der Mensch im Vergleichen. Die Spatzen, die sich vor seinen Schuhspitzen um einen Brocken Backwerk balgen, unterscheidet er nach Hüpfen und Tschilpen. Selbst den Sperling adelt die Differenz. Am liebsten würde der Brotgeber mit den Krumen Vor- und Nachnamen unter die Vögel verteilen, um Piepmatz für Piepmatz als Individuum zu fixieren. Er ahnt wohl, wie verbissen er sich an den eigenen Namen klammern wird, sobald er, das allerletzte erkämpfte Bröcklein im Schlund, aus dem Gewusel der Zeitgenossenschaft vor die Füße eines chronisch stillen Zuschauers stürzt.

 

Doktor Schwartz reiste erst an, als die Praxis komplett eingerichtet war. Auch die Auswahl des Teams hatte er seinem Partner überlassen. Angela Z., die den bescheidenen Stellenmarkt der örtlichen Zeitung seit Jahr und Tag grimmig genau studierte, waren die Anzeigen natürlich aufgefallen. Und als die frisch berufenen Mitarbeiterinnen der Gemeinschaftspraxis Schwartz&Weiss nacheinander, eine hübscher als die andere, bei ihr anklingelten, um sich die Schlüssel abzuholen, fühlte sie sich in ihrem Urteil über Herrn Doktor Weiss bestätigt. Dieser Schnösel liebte sein Schnäuzchen so sehr, daß ihn seine Mitmenschen wohl vor allem als eine Sequenz möglichst attraktiv gerahmter Spiegel interessierten.

Die Sympathie, die sie für Schwartz empfand, entsprang zu einem nicht geringen Teil dem Wunsch, ein fühlbares Gefälle zwischen den beiden Ärzten herzustellen. Denn auf den ersten Blick besaß er wenig von dem, was Angela an Männern gefiel. Er war ihr zu hager, er war ihr zu blaß. Und da er die Fünfzig erreicht haben mußte, durfte man annehmen, daß er seinem Haar auf chemischem Wege zu frischem schwarzen Glanz verhalf.

Am vorletzten Januar erschien er mit einem Blumenstrauß bei ihr im Hinterhaus, um sich für ihre, wie er es formulierte, umfassende und kompetente Unterstützung zu bedanken. Der Kollege Weiss schwärme in den höchsten Tönen davon. Angela mochte keine Schnittblumen, aber was ihr Herr Schwartz da unter die Nase hielt, sah für die hiesigen Verhältnisse ungewöhnlich exquisit, irgendwie japanisch aus. Bestimmt hatte er das prächtige Grünzeug aus Düsseldorf mitgebracht. Als sie in einer letzten Aufwallung von Abwehr einwandte, dafür habe sie aber keinen passenden Behälter, zog er die linke Hand hinter dem Rücken hervor und präsentierte ein entsprechend exklusives Gefäß aus mattgrauem Porzellan. So blieb ihr nichts übrig, als ihn auf eine Tasse Tee in die Wohnung zu bitten. Schwartz nahm ein Glas Mineralwasser, und während Angela noch über den perfekten Zusammenklang des Gestecks mit der gewiß sündteuren Vase staunte, kam er ohne jeden weiteren Umschweif auf etwas zu sprechen, was er eine kleine, aber ihm am Herzen liegende Sache nannte.

«Sehr bedauerlich, daß meine Mutter sich nicht mehr über die wissenschaftliche Bestätigung ihrer naturwüchsigen Theorie freuen kann.» Schwartz ließ sich noch einmal Wasser einschenken, trank das Glas, ohne es abzusetzen, aus. Angela ahne gewiß längst, worauf er hinauswolle. Er bitte sie, die biographische Abschweifung zu entschuldigen. Er sei eigentlich nicht für Geschwätzigkeit bekannt. Es gehe ihm lediglich um Folgendes: Da er sowohl als Einheimischer wie als Zugezogener gelten könne, liege ihm ein gutes Ankommen und Angenommenwerden hier im Haus, hier in der Goethestraße, hier im Viertel südlich des Bahnhofs sehr am Herzen. Er möchte sie deshalb geradewegs bitten, sie beide, Herrn Weiss und ihn, so offensiv wie bisher und weiterhin kein deutliches Wort scheuend, bei ihrem Fußfassen zu unterstützen.

Schwartz stand abrupt auf und tat so, als habe er das Stirnrunzeln, mit dem Angela auf seinen letzten Satz reagiert hatte, nicht bemerkt. In den Flur tretend, lenkte er das Gespräch auf das garstig nasse Wetter dieses Januars. Dieser feuchten Milde sei nicht zu trauen. Gewiß hole der Winter noch zu einem gehörigen Schlag aus. Angela folgte ihm an die Tür, und auf deren Schwelle wandte er sich noch einmal um und schob sein fahles, bestimmt nicht immer so mager gewesenes Gesicht zurück in die Wohnung. Angela sah den bläulich-rosafarbenen, den fast perlmuttartigen Schimmer seiner Augenringe. Erschöpft und sorgenvoll kam er ihr vor, aber entschlossen griff seine Hand an ihrer Hüfte vorbei nach der Klinke, als wäre es seine und nicht ihre Aufgabe, die Wohnungstür zu schließen.