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© Querverlag GmbH, Berlin 2015

Lektorat: Rainer Falk

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Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie aus der Sammlung Lutz van Dijk, Kapstadt.

ISBN 978-8-89656-577-8

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Akazienstraße 25, 10823 Berlin

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„Mein Wunsch ist,

dass Menschen in allen Ländern dieser Welt

endlich begreifen,

dass es immer ein Verbrechen ist,

Liebe zu bestrafen und Gewalt zu tolerieren.

Allein umgekehrt macht es doch einen Sinn.“

Stefan T. Kosinksi,

Warschau im Dezember 1990,

im Nachwort zu Verdammt starke Liebe

Der Kommandant des KZ Auschwitz,

Rudolf Höß (1900–1947),

schrieb im Gefängnis von Krakau,

wenige Wochen vor seiner Hinrichtung im April 1947,

über die homosexuellen Häftlinge mit dem rosa Winkel:1

„Bei diesen half keine noch so schwere Arbeit,

keine noch so strenge Aufsicht …

Da sie von ihrem Laster nicht lassen konnten oder nicht wollten,

wußten sie,

daß sie nicht mehr frei würden.

Dieser stärkst wirksame psychische Druck

bei diesen meist zartbesaiteten Naturen

beschleunigte den physischen Verfall.

Kam dazu noch etwa der Verlust des ‚Freundes‘

durch Krankheit oder gar durch Tod,

so konnte man den Exitus voraussehen.

Viele begingen Selbstmord.

Der ‚Freund‘ bedeutete diesen Naturen in dieser Lage alles.

Es kam auch mehrere Male vor,

daß zwei Freunde zusammen in den Tod gingen.“

1 Zitiert nach: Broszat, Martin (Hrsg.): Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höß, München 1963, S. 81.

Vorwort: Eine Kerze für Stefan

Am 1. Januar 2015 wäre Stefan T. Kosinski 90 Jahre alt geworden.

Am 8. Mai 2015 erinnern wir uns an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren, der ausging von Deutschland und mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 begann. Stefan war damals 14 Jahre alt. Bei Kriegsende befand er sich auf der Flucht und war gerade 20.

Als wir einander 1990 in Warschau kennenlernten, war Stefan mit Mitte 60 etwas älter als ich heute. Ich war damals Mitte 30. Eine mutige Lektorin hatte mir vorgeschlagen, einen Roman für Jugendliche über die Verfolgung Homosexueller in der Nazi-Zeit zu schreiben. „So was gibt es bisher nicht“, sagte sie. „Und du kannst das. Nicht nur, weil du selbst schwul bist und dich bereits öffentlich für die Rechte sexueller Minderheiten engagiert hast, sondern weil du über diese Zeit als Historiker promoviert hast.“

Ich zögerte lange. Kein Roman sollte es werden, sondern eine wahre Geschichte. Eine, in der nicht nur Diskriminierung und Verfolgung zur Sprache kämen, sondern junge Leserinnen und Leser auch eine Idee von Liebe zwischen zwei jungen Menschen erhielten, die zufällig das gleiche Geschlecht haben. Also tauchte ich erneut ein in bereits vertraute Archive in Deutschland, aber auch in England, den USA und Israel, und nahm Kontakt auf zu den damals in Westdeutschland gerade erst entstehenden sogenannten „Initiativen für die vergessenen Opfer des NS-Regimes“ wie Roma und Sinti, Behinderte, Obdachlose, Zwangsarbeiter, Kriegsdienstverweigerer – und eben auch Homosexuelle.

Die „Fälle“, auf die ich dort vor gut 25 Jahren stieß, waren zumeist nur identifizierbar aufgrund einer Verhaftung nach § 175, der (wie es ursprünglich hieß) „Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts und von Männern mit Tieren begangen wird“ (1871) unter Strafe stellte. Es war klar, dass ich auf fast keinerlei bereits geleistete Forschungsarbeiten zurückgreifen konnte. Wir paar Historikerinnen und Historiker, die sich für „dieses Thema“ interessierten, kannten einander beinah alle persönlich. In den Akten ging es um Männer aller Altersgruppen und sozialer Schichten, die oft aufgrund von Denunziation verhaftet worden waren und die in der Regel ein schreckliches Ende fanden – Aussagen, die nicht selten erpresst waren, wenige Freilassungen aufgrund von „Zustimmung“ zur Kastration, Verurteilungen zu mehrjährigen Haftstrafen in Gefängnis oder Zuchthaus und Aberkennung aller bürgerlichen Rechte und schließlich „unbefristete Schutzhaft in Konzentrationslagern“ ohne weitere Rechtsgrundlage. Betroffene Zeitzeugen, die zum Reden bereit waren, gab es kaum, obwohl vom Lebensalter her einige noch leben mussten. Von Liebe keine Spur.

Die von den Nazis als Juden oder politisch Oppositionelle Verfolgten konnten den 8. Mai 1945 als persönliche Befreiung erleben – wie schlimm sie auch traumatisiert sein mochten und wie schrecklich auch die häufig erst jetzt vollständige Kenntnis von der Ermordung anderer Familienmitglieder und naher Freunde war. Aber es war doch „endlich vorbei“. „Nie wieder!“ wurde das Credo all jener.

Wie anders war es für die homosexuellen Männer, die überlebt hatten – entweder durch Selbstverleugnung oder durch Scheinehen – oder die doch verhaftet worden waren und schlimmste Torturen nur aufgrund von Glück oder Zufällen überstanden hatten: Nichts war vorbei für sie.

Der § 175 galt weiter, und noch Jahrzehnte später bestätigten deutsche Richter, dass damalige Urteile „rechtmäßig“ zustande gekommen seien. De facto gab es nach 1945 bis zur Abmilderung des § 175 im Jahr 1969 weitere ungefähr 40.000 Verurteilungen gegenüber etwa 50.000 in der NS-Zeit zwischen 1933 und 1945.2 Abgeschafft wurde der § 175 offiziell 1994, und erst im Jahr 2000 verabschiedete der Deutsche Bundestag eine Erklärung, wonach Verurteilungen zwischen 1933 und 1945 nach § 175 „als nationalsozialistisches Unrecht“ anzusehen sind, nicht jedoch die nach 1945.

Im Juli 1989 nahm ich teil an der ersten Reise von 20 offen homosexuellen Männern aus Norddeutschland zur Gedenkstätte des ehemaligen KZ Auschwitz im heutigen Polen. Der jüngste von uns war 20, der älteste 77 Jahre alt: Karl Gorath (1912–2003) war 1939 mit 26 Jahren aufgrund einer Denunziation verhaftet und zuerst in das KZ Neuengamme bei Hamburg gebracht worden. Bei der Verlegung von Neuengamme ins KZ Auschwitz gelingt es ihm, den rosa Winkel der homosexuellen Häftlinge gegen den roten Winkel der politischen Gefangenen zu vertauschen. „Die standen nicht so weit unten in der Lagerhierarchie wie wir Schwulen!“, erinnert er sich. Nach dem Krieg heiratet Karl eine zehn Jahre ältere Frau – eine „Abmachung auf Gegenseitigkeit“. Doch die Scheinehe schützt nicht vor neuerlicher Denunziation: Mitte der fünfziger Jahre erhält er eine Vorladung zur Polizei, wobei ihm der vernehmende Beamte seine Strafakte aus der NS-Zeit vorlegt mit den Worten: „Sie sind ja nicht das erste Mal wegen so etwas bei uns.“ Auch wenn es bei ihm nicht zu erneuter Verurteilung führt – Karls Nerven sind zerrüttet, über Jahre leidet er an Schlafstörungen.

Nirgendwo in der Gedenkstätte Auschwitz fanden wir damals einen Hinweis auf die Opfergruppe der Homosexuellen, lediglich in einer offiziellen Publikation einen kurzen Hinweis auf ehemalige homosexuelle Häftlinge – in einem Kapitel über „Berufsverbrecher“. Am letzten Morgen legen wir an einem öffentlichen Gedenkplatz Blumen nieder, die wir mit einem gebastelten rosa Winkel versehen und der Inschrift: „Für unsere homosexuellen Brüder, Väter und Freunde.“ Als wir mittags abfahren, hat jemand sie schon in einem nahen Mülleimer „entsorgt“.3 Von Liebe, wenigstens minimaler Achtung, keine Spur.

Anfang 1990 werde ich durch einen privaten Hinweis des Gründers des Schwullesbischen Archivs Hannover (SARCH), Rainer Hoffschildt, auf die ausführliche Korrespondenz eines Herrn Kosinski aus Warschau aufmerksam, die dieser seit Monaten mit mehreren offiziellen Stellen bis hin zu Bundeskanzler Helmut Kohl führt und in der er als Homosexueller um Anerkennung als „Opfer des NS-Unrechts“ kämpft. Das Entscheidende jedoch, was mich beim Lesen tief berührt, ist, dass er nicht aufgrund von Denunziation verhaftet worden war, sondern wegen eines Liebesbriefes, den er an einen deutschen Soldaten geschrieben hatte und zu dem er selbst nach seiner Verhaftung stand. Noch viele Jahre später erklärte er: „Willi4 verdanke ich bis heute, dass ich meine ersten Liebesgefühle von Anfang an als etwas Schönes erleben kann. Es hat mich getragen und gestärkt in all den Jahren, in denen ich über den Grund meiner NS-Haft mit niemandem reden konnte.“

Nach genau so einer Aussage hatte ich für mein Jugendbuch gesucht – eine wahre Geschichte, in der Homosexualität auch etwas mit Liebe zu tun hat. Am 23. Mai 1990 schreibe ich das erste Mal an Herrn Kosinksi nach Warschau. Die folgenden Wochen und Monate arbeiten wir intensiv an dem Manuskript. Währenddessen starte ich mit Freundinnen und Freunden im Hamburger Magnus-Hirschfeld-Centrum eine Spendenaktion für ihn, die vor allem dringend benötigte Medikamente sowie ärztliche Behandlungen finanzieren soll und die bald darauf bundesweit von mehreren Schwulen-Zeitschriften übernommen wird.

Am 15. November 1990 kann ich ihn das erste Mal in Warschau besuchen, kurz darauf muss er mehrere Operationen über sich ergehen lassen. Im Mai 1991 erscheint im Rowohlt Verlag sein Jugendbuch Verdammt starke Liebe mit einer Startauflage von 10.000 Exemplaren. Er hat dafür das Pseudonym „Stefan K.“ gewählt und mich gebeten, seinen Namen Teofil Kosinski erst nach seinem Tod bekannt zu machen. Bis heute ist das Buch in mehreren Auflagen und bei drei deutschen Verlagen immer wieder neu erschienen und zudem in zahlreiche Sprachen übersetzt worden, darunter ins Englische und Japanische, zuletzt 2013 ins Bulgarische.

Als Verdammt starke Liebe 1991 zuerst erscheint, gibt es (außer wenigen Künstlerinnen und Künstlern) noch keine Persönlichkeiten in Deutschland, die sich öffentlich zu ihrer Homosexualität bekennen, weder Männer noch Frauen, von einem schwulen Berliner Bürgermeister oder einem schwulen Außenminister ganz zu schweigen. Im Juni desselben Jahres hinterlässt jemand einen anonymen Drohanruf auf meinem Anrufbeantworter, und im August gibt es einen Einbruch in meine Hamburger Wohnung, bei dem nichts gestohlen wird, aber einiges zerstört und zerschlagen. Ein großer Zettel auf meinem Schreibtisch teilt in krakeliger Schrift mit: „Sie sind ein Schwein, dass Sie sich nicht schämen, solche Bücher für junge Menschen zu schreiben.“ Aber es gibt auch lobende Rezensionen, selbst den angesehenen Hans-im-Glück-Preis für Jugendliteratur 1992. Trotzdem kann sich ein Mitglied der AG Jugendliteratur der fortschrittlichen Lehrergewerkschaft GEW (Landesverband Hessen) damals nicht verkneifen, nach mehreren positiven Attributen wie „gut gestaltet“ oder „glaubhaft dokumentiert“ zu schreiben: „Wenn jedoch durch die Veröffentlichung der Eindruck entsteht, dass vielleicht krankhafte Gefühle zwischen Männern gesellschaftsfähig gemacht werden sollen …, stoße ich an die Grenzen meiner Toleranz.“

Am wichtigsten aber: Das Buch verkauft sich gut, was nur möglich ist, weil mehr und mehr Lehrerinnen und Lehrer es wagen, es zur Klassenlektüre zu wählen. Da alle Einnahmen an Stefan gehen, bessert sich langsam seine bis dahin doch eher ärmliche Lebenssituation. „Ich kann mir jetzt frisches Obst kaufen, wann immer ich will“, berichtet er begeistert am Telefon. Und es kommen so viele Briefe junger Leserinnen und Leser, dass er sich sogar eine „neue gebrauchte“ Schreibmaschine besorgt, um auch wirklich jede Anfrage „ordentlich“ beantworten zu können. Im Laufe der Jahre sind es mehr als 450 persönliche Briefe, von denen er mir immer wieder Durchschläge zur Kenntnis gibt.

Die fraglos aufregendste Nachricht kommt 1995, nachdem die US-amerikanische Ausgabe seines Buches beim angesehenen Verlag Henry Holt in New York erschienen ist und umgehend Preise erhält. Wenig später wird Stefan gefragt, ob er bereit sei zu einer Lesereise in die USA – und ob er etwas Englisch könne. Als ich ihn daraufhin anrufe, antwortet er spontan: „Of course – na klar! Englisch habe ich in den Lagern von anderen Gefangenen aus Europa gelernt. Ich habe auch deshalb überlebt, weil ich Briefe übersetzte und schrieb für jene, die nur eine Sprache konnten.“ Seine erste USA-Reise mit 70 Jahren vom 2. November bis 7. Dezember 1995 erlebt er wie einen Rausch – ein echtes Coming-out, bei dem er irgendwann sogar vergisst, sein selbst gewähltes Pseudonym zu benutzen, als er unter anderem von der Steven-Spielberg-Foundation in Los Angeles und der Washington Post interviewt wird.

Selbst seine beiden erfolgreichen Lesetouren 1995 und 1997 durch die USA sowie Besuche in Amsterdam, wo ich ab Sommer 1992 eine Stelle im Anne-Frank-Haus angetreten habe, schützen ihn jedoch nicht davor, in hohem Alter von schlimmsten Albträumen heimgesucht zu werden, in denen noch einmal alle schrecklichen Erinnerungen an damalige Folter und andere Erniedrigungen hochkommen. Eine Erfahrung, die er mit anderen Überlebenden von Folter und Haft, nicht nur der NS-Zeit und des Holocaust, teilt. Es führt bei ihm dazu, dass er nicht nur alle Exemplare des Buches in den verschiedenen Sprachen, sondern auch die meisten der ordentlich aufbewahrten Briefe in einer einsamen Nacht der Verzweiflung im Januar 2000 daheim verbrennt. Die 144 Briefe, die er vom 28. Mai 1990 bis zum 14. April 2003 an mich schrieb, sind jedoch alle erhalten. Danach gab es nur noch wenige Telefonate. Sie begannen im Mai 1990 mit der Anrede „Sehr verehrter, lieber Herr Doktor“ und gehen ab Oktober 1991, als wir zu Freunden geworden waren, über zu „Mein lieber Junge“.

In dem vorliegenden Buch wird eine Auswahl vorgestellt, die vor allem darin einmalig ist, dass sie über einen Zeitraum von gut zehn Jahren den Prozess eines Menschen beschreibt, der sich zu wehren beginnt, mehr und mehr Vertrauen und Selbstvertrauen entwickelt, sich auf einem anderen Kontinent sogar vor hunderten Menschen und in einer fremden Sprache als homosexueller Mann darstellt und am Ende doch noch einmal von allen Schrecken seines früheren Lebens eingeholt wird.

Die Auswahl orientiert sich vor allem an wichtigen Entwicklungen in Stefans Leben in diesem Zeitraum. Wiederholungen wurden gekürzt, während sprachliche Wendungen aus dem Polnischen im Deutschen belassen und nur korrigiert wurden, wo sie missverständlich gewesen wären. Außer meinem ersten Brief an ihn sind alle anderen Korrespondenzen von mir sowie anderen stark gekürzt und im Wesentlichen nur dort wiedergegeben, wo sie zum Verständnis seiner Antworten wichtig sind. Stefans Briefe sind auch ein Zeitdokument über das Aufkommen der damals noch tödlichen Krankheit Aids sowie der ersten kleinen Freiheiten im Alltag Polens nach dem Ende der Sowjetunion.

Ich habe Stefan viel zu verdanken. Unsere Korrespondenzen wie die persönlichen Begegnungen haben mich stärker und bewusster gemacht als Angehöriger einer Generation, die zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren wurde. Vielleicht berührt sein Ringen um einfache menschliche Anerkennung sowie seelische wie körperliche Gesundung auch junge Menschen heute, für die diese Zeit zuweilen so weit zurückliegen mag wie das Mittelalter. In den meisten Teilen der Welt dagegen ist die Anerkennung sexueller Minderheiten noch immer nicht Realität und bedarf mutiger Menschen, die dafür eintreten.

Stefan stirbt nach mehreren Monaten schwerer Krankheit in einem Warschauer Krankenhaus am 4. November 2003 mit 78 Jahren. So lange ich ihn kannte, zündete er jedes Jahr an diesem Tag eine Kerze an – in dankbarer Erinnerung an jenen Willi, dem er am Abend des 4. November 1941 zum ersten Mal auf der Straße begegnet war.

Lutz van DijkKapstadt, im Januar 2015

2 In den zwölf Jahren von 1933 bis 1945 wurden ungefähr 50.000 Männer aufgrund von § 175 verurteilt (50.000 : 12 Jahre = im Durchschnitt 4166 pro Jahr). In den 20 Jahren von 1949 bis 1969 waren es etwa 40.000 (: 20 Jahre = im Durchschnitt 2000 pro Jahr). Nach: Grau, Günter: Schmerzhafte Erinnerungen, in: van Dijk, Lutz: „Einsam war ich nie". Schwule unter dem Hakenkreuz 1933–1945, 3. aktualisierte Auflage, Berlin 2012, S. 150 und S. 158.

3 Über Karl Gorath (damals noch unter dem Pseudonym „Karl B.“) und andere homosexuelle Überlebende erschienen 1992 erstmals Interviews in meinem Buch „Ein erfülltes Leben – trotzdem …". Erinnerungen Homosexueller 1933–1945, im Reinbeker Rowohlt Verlag. Zeitnah druckte die Wochenzeitung Die Zeit am 27. Oktober 1989 meinen Bericht „Vergessene Opfer. Eine Gruppe Homosexueller unternahm eine Gedenkreise nach Auschwitz“.

4 Stefan benutzte abwechselnd die Schreibweisen Willi und Willy, hier vereinheitlicht zu Willi.

„Dass jetzt die richtige Zeit ist …“ Briefe an Bundeskanzler Helmut Kohl und andere (September 1988 bis September 1990)

Nachdem er Anfang 1988 im Fernsehen in den polnischen Abendnachrichten davon gehört hatte, dass die westdeutsche Bundesregierung einen Fonds für die „vergessenen Opfer des NS-Regimes“ eingerichtet habe, und sich gleichzeitig seine gesundheitliche Situation zunehmend verschlechterte, begann Stefan an verschiedene öffentliche Stellen in der damaligen BRD zu schreiben in der Hoffnung, seine aus den Folgen der NS-Haft resultierenden Gesundheitsschäden in Polen angemessen behandeln lassen zu können. Er schrieb nicht nur an Bundeskanzler Helmut Kohl, sondern auch direkt an das Finanzministerium sowie verschiedene politische Parteien und schwule Organisationen wie den Bundesverband Homosexualität.

Diejenigen, die zumindest antworteten, erklärten im Kern dasselbe: Als Pole habe er keine Chance, aus dem „Fonds“ etwas zu erhalten, da dieser nur für Opfer gedacht sei, die ihren Wohnsitz in der BRD haben – dies vor allem, um die Forderungen von tausenden ehemaligen „Zwangsarbeitern“ aus Osteuropa und von deren Familien zu verhindern. Es wurde zuweilen darauf verwiesen, dass er sich an die polnische Regierung wenden möge, da diese ein Abkommen mit der westdeutschen Regierung über Reparationen nach dem Krieg habe. Dies jedoch war für ihn als homosexuellen Mann im damaligen Polen unmöglich.

Als Beispiel im Folgenden sein Brief an Bundeskanzler Kohl vom September 1989 sowie die zweite, inzwischen deutlich genervte Antwort eines Sachbearbeiters aus dem Bundesministerium der Finanzen vom Juni 1990, in der er gebeten wird, „von weiteren Eingaben abzusehen“.

Warschau, am 12. September 1989

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Doktor Kohl!

Als NS-Verfolgter bin ich gezwungen, mich an Sie – zwecks Erhalt einer NS-Entschädigung – zu wenden, da alle anderen Bemühungen seit einem Jahr ohne positive Ergebnisse geblieben sind.

Es wird immer geantwortet, dass „aufgrund der deutschen Rechtslage“ in meinem Fall einfach wenig Hoffnung auf eine NS-Entschädigung besteht. Die Zeit läuft, und ich kann nicht mehr warten. … Ich kann meine überlebte Folter und Haft – und schwere Gesundheitsschäden – einfach nicht vergessen!

Mein Fall ist bestimmt nicht typisch, aber erst jetzt habe ich die Kraft gefunden, über meine Verfolgung im Nationalsozialismus zu sprechen: Als 17-Jähriger bin ich am 19. September 1942 im annektierten Reichsgau Westpreußen (in Toruń, damals Thorn) von der Gestapo5 verhaftet und anschließend nach § 175 zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Und nur deswegen, weil ich als polnischer „Untermensch“ mit einem deutschen Wehrmachtsangehörigen eine Liebesbeziehung hatte. Meine Odyssee durch verschiedene großdeutsche Straflager und Zuchthäuser endete erst im Mai 1945, als mir die Flucht aus einer Haftanstalt bei Hamburg gelang.

Was ich alles durchgemacht habe während meiner Jugendjahre, möchte ich hier nicht genau schildern, da verschiedene Behörden und Einrichtungen in Westdeutschland meinen Fall genau kennen. Ich möchte aber endlich eine Entschädigung für meine Verfolgung erhalten. … Ich hoffe, dass jetzt die richtige Zeit ist – vor Ihrer Reise nach Polen in Erinnerung an den Kriegsbeginn vor 50 Jahren am 1. September 1939.

Viel Zeit habe ich nicht mehr. Ich werde bald 65 Jahre alt und habe viele gesundheitliche Probleme als Folge damaliger Folter und Haft, wie in früheren Briefen ausführlich geschildert und mit Attesten belegt. Ich habe aber endlich den Mut gefunden, für meine Rechte als Homosexueller zu kämpfen.

Ich hoffe, dass Sie mich verstehen und eine moralische Lösung finden (falls auf dem Rechtswege nicht möglich), um meiner Bitte zu entsprechen. Ich bedanke mich im Voraus für Ihre Unterstützung in meiner Angelegenheit und verbleibe hochachtungsvoll

T. Kosinski

Bundesministerium der Finanzen Bonn, am 20. Juni 1990

Sehr geehrter Herr Kosinski!

Ihre Eingaben vom 15. Dezember 1989 an den Herrn Bundeskanzler und an mich, mit denen Sie sich erneut um eine Entschädigung bemühen, habe ich erhalten. Leider kann ich Ihnen dazu nur mitteilen, dass die in meiner Stellungnahme vom 27. November 1989 erläuterte Sach- und Rechtslage unverändert fortbesteht. Danach kann Ihnen die Bundesrepublik Deutschland die gewünschte Entschädigung nicht gewähren, weil es an den gesetzlichen und völkerrechtlichen Voraussetzungen dafür fehlt.

Ich bedaure, Ihnen daher auch jetzt keine günstige Nachricht geben zu können, und bitte Sie, von weiteren Eingaben abzusehen.

Mit freundlichen Grüßen

Im Auftrag [beglaubigt, Name und Stempel des Sachbearbeiters]

5 Gestapo lautete die Abkürzung für die Geheime Staatspolizei, die während der NS-Zeit die Aufgabe hatte, Adolf Hitler und seinen NS-Staat gegen „alle Feinde zu schützen“ und aufgrund ihrer Terrormethoden, die sich keinen Gesetzen verpflichtet fühlten, bald bei allen gefürchtet war, die sich in irgendeiner Weise nicht an die NS-Diktatur anpassen wollten oder konnten.