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Anna Martach

Alpendoktor Daniel Ingold #13: Nur ein Wunder kann noch helfen

Cassiopeiapress Bergroman





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Nur ein Wunder kann noch helfen

Alpendoktor Daniel Ingold – Band 13

von Anna Martach

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 103 Taschenbuchseiten.

 

Was tun, wenn das Schicksal erbarmungslos zuschlägt? Die kleine Toni ist schwer krank. Und nicht nur das, noch eine weitere schwierige Patientin beschäftigt den sympathischen Alpendoktor Daniel Ingold. Ausgerechnet jetzt schlägt ein angeblicher Wunderheiler seine Zelte in Hindelfingen auf …

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1

„Du lieber Himmel, Madl, hock dich her. Schaust ja aus, als wolltest gleich in den nächsten Gully fallen. Ist schon recht, dass du hierher gekommen bist, da wird der Herr Doktor was tun, auch wenn’s ein bisserl länger dauern wird, bis sich das bei dir zeigt.“ Hermine Walther, die überaus kompetente und stets freundliche erste Sprechstundenhilfe bei Doktor Daniel Ingold, schaute das Madl mitleidig an, was gerade die Praxis betreten hatte. Durchscheinend blass und außerordentlich dünn – nein, wirklich nicht mehr schlank, sondern dünn, war die Marietheres Rüscher. Eigentlich könnte man sie als richtig fesches Madl bezeichnen, wenn sie denn auch eine anständige Figur gehabt hätte. Die konnte doch nur schwer krank sein, so dachte Minchen mitleidig.

Auch die junge Maria Schwetzinger blickte voller Mitgefühl auf die Marietheres.

„Wir schaun mal, dass wir dich rasch noch dazwischen schieben. Geht’s dir denn arg schlecht?“

Etwas verständnislos schaute die Marietheres auf die beiden besorgten Frauen. „Mir geht’s eigentlich recht gut, was habt’s ihr denn nur? Ich will doch nur zum Herrn Doktor, weil ich was brauch’, wegen meinem Gewicht, mein` ich.“

Minchen, die gute Seele, nickte verständnisvoll. „Ja, da tät’s wirklich was brauchen. Am besten fünf dicke Mahlzeiten am Tag. Schaust ja aus, als könnt` man dir das Vaterunser durch die Rippen pusten. Hat denn deine Mutter das Kochen verlernt? Oder hast Liebeskummer? Aber net einmal damit wird man so dünn.“ Die ältere Frau schüttelte den Kopf. „Hättest längst schon mal her kommen sollen, wieviel Kilo hast denn schon verloren? Da steckt doch bestimmt was hinter, was der Herr Doktor herausfinden kann.“

„Ich hab erst vierzehn Kilo verloren“, erklärte das Madl.

Maria schnappte nach Luft und betrachtete die spindeldürre Gestalt. Minchen blieb der Mund offen stehen.

„Ich will net hoffen, dass das grad dein Ernst war“, bemerkte sie tadelnd und warf erneut skeptische Blicke auf die eher nicht vorhandene Figur.

Empört nickte Marietheres. „Ja, freilich doch. Schließlich muss man heutzutag eine gute Figur vorweisen können, wenn man irgendwo ankommen will.“

„Eine gute Figur hättst dann, wennst außer Haut und Knochen auch noch ein bisserl Fleisch zu bieten hättest. Aber wahrscheinlich hast dir mit deinem Gewicht auch gleich das Gehirn weggehungert“, meinte Hermine resolut, die nun erkannte, was mit dem Madl los war. Ja, tat denn das wirklich not, dass ein Dirndl aus Hindelfingen wie eine Hungerharke ausschaute und womöglich noch immer dachte, sie wäre zu dick? Na, der Doktor würde ihr schon das passende sagen, dessen war die Hermine sicher. So was sah er nämlich gar net gern. Das Madl war ja auf dem besten Weg sich selbst zu zerstören. Und weswegen? Weil irgendein Schlawiner, vermutlich in einer von diesen neuzeitlichen Zeitungen, so einen gequirlten Schmarrn behauptet hatte.

Nein, für soviel Dummheit hatte die Hermine net viel Verständnis. Aber sie hielt sich zurück, der Doktor Ingold würde schon die rechten Worte finden, um der Marietheres den Kopf wieder zurechtzurücken.

Eines der beiden Sprechzimmer wurde gerade frei, als der Arzt mit einem Patienten herauskam. Abscheu zeichnete sich im Gesicht von der Marietheres ab, als sie feststellen musste, dass der Patient offensichtlich einiges an Übergewicht mit sich herumschleppte und sich augenscheinlich recht wohl damit fühlte.

„Da, Herr Doktor, nehmen S’ die junge Dame gleich mit, ich denk’, die braucht dringend Hilfe“, meinte Minchen und drückte Daniel die Karteikarte in die Hand. Gleich darauf schloss sich die Tür hinter den beiden. Marietheres setzte sich vor den Schreibtisch, und der Alpendoktor reichte ihr freundlich die Hand, während er sein eigenes Erschrecken über das schlechte Aussehen des Madls geschickt verbarg.

„Was kann ich für dich tun?“, fragte er und musterte die fahle Gesichtsfarbe und die tiefliegenden Augen.

„Ja, schauen S’, Herr Doktor, das ist so. Ich hab da ein paar Probleme – ich mein, ich bräuchte da ein Abführmittel. Sowas richtig Gutes, damit ...“

Daniel runzelte die Stirn. Er hatte schon fast auf den ersten Blick erkannt, dass es sich hier wohl um die klassischen Symptome von Magersucht handelte, und dieser Wunsch des Madls verstärkte seinen Verdacht. Anorexia nervosa, Magersucht, in den letzten Jahren weit verbreitet unter den jungen Madln, die glaubten, auf eine so radikale Art und Weise einem verrückten Schönheitsideal zu entsprechen. Aber hier in Hindelfingen war ihm das noch nicht untergekommen.

Er wusste recht gut, dass es nicht viel Sinn machen würde, jetzt einfach nur nein zu ihrer Bitte zu sagen, oder das Madl könnte sich mehr an Obst und Gemüse halten, dann käme mit der Verdauung schon alles wieder in Ordnung. Aber natürlich lag der Fall viel komplizierter. In der Regel stopften die Betroffenen wahllos alles in sich hinein, nur um wenig später den Magen wieder mit Gewalt zu entleeren. Da reichte es nicht aus, mit einem Nein und einem guten Ratschlag das Madl wieder heim zu schicken. Ihr ging es ja darum, nur ja kein Gramm an Gewicht zuzunehmen, deswegen verlangte sie auch ein Abführmittel, damit das wenige, was überhaupt noch in den Körper gelangte, auch wirklich nicht den Eindruck zerstörte, sie hätte eine perfekte Figur.

Ein Psychologe wäre vielleicht vonnöten gewesen, zu dem würde die Marietheres aber bestimmt nicht gehen, denn schließlich war ihr nicht einmal bewusst, dass es sich hier um eine Krankheit handelte. Es war wohl besser, wenn Daniel erst einmal versuchte, den Grund für diese Krankheit zu finden. Die Marietheres war doch nicht dumm, sie musste schwerwiegende Gründe haben, dass sie sich selbst so etwas antat.

Daniel Ingold stellte also erst einmal eine Menge Fragen, bis das Madl ihn erstaunt anschaute.

„Hat das alles wirklich was damit zu tun, dass ich ein Abführmittel haben will?“, erkundigte sie sich.

Jetzt musste der Arzt vorsichtig sein. „Ich halt`s für möglich, dass da noch was anderes dahintersteckt. Hast schon mal daran gedacht, dass das so net ganz richtig ist, was du da tust? Schau dich mal an, Madl, bist im Augenblick so dürr, dass man meinen könnt, eine Hungersnot wär’ in Hindelfingen ausgebrochen. Meinst net auch, dass du deinem Körper da ein bisserl viel zumutest? Schau, du bist noch gar net ausgewachsen mit deinen siebzehn Jahren, und du könntest bleibende Schäden haben, wennst net dafür sorgst, dass sich da alles richtig entwickeln kann. Ich denk’ doch wohl, dass du mal ein fesches Madl werden möchtest, was allen Mannsbildern den Kopf verdreht. Bist jedenfalls auf dem besten Weg dazu, wennst jetzt keine Dummheiten machst.“

Sie schaute ihn abweisend an. „Und wozu soll das gut sein?“, fragte sie bitter. „Damit ich mein Leben genauso dumm und sinnlos verbringen muss wie meine Eltern?“

„Und was willst statt dessen tun?“, fragte Daniel sanft, der schon ahnte, was jetzt kam.

„Ich will was werden, raus in die Welt – vielleicht Modell stehen, oder so was. Aber ganz bestimmt net hier in diesem kleinen Ort für den Rest meines Lebens hocken, einen Mann heiraten und Kinder aufziehen, und mich irgendwann fragen, war das jetzt alles? Ich weiß net, ob S’ das verstehen können, Herr Doktor, aber mir ist Hindelfingen zu eng und zu klein. Ich muss weg. Aber das geht nur, wenn man eine perfekte Figur hat und was darstellen kann.“

„Hast net schon mal drüber nachgedacht, dass man das auch tun könnt mit einer ordentlichen Ausbildung und vor allem mit einem gesunden Körper? Schau, Marietheres, du bist doch net dumm. Du könntest nach München gehen und studieren, was auch immer dir Spaß macht. Und dann stehen dir alle Türen offen. Die Schönheit auf dem Laufsteg vergeht rasch und bringt net mal viel ein, denn nur ganz wenige sind so berühmt, dass sie wirklich fürs Leben ausgesorgt haben. Aber mit einer guten Ausbildung ...“

„Schmarrn“, unterbrach sie ihn kalt und stand auf. „Ich hätt’s eigentlich wissen müssen, dass auch Sie mich net verstehen. Niemand hier versteht mich. Aber ich werd’s euch allen noch zeigen.“

Sie rannte einfach hinaus und ließ den verdutzten und über sich selbst enttäuschten Arzt zurück. Na, da hatte er ja wohl voll daneben gegriffen. Dabei wollte er das Madl doch nur behutsam auf den rechten Weg zurückbringen.

Die Marietheres galt wirklich überall als besonders klug, woher kam also dieser Anfall von Ruhmsucht? Man musste sich wahrhaftig net auf einen Laufsteg stellen, um berühmt zu werden. Dem Madl standen doch alle Wege offen. Nur im Moment wohl kaum. Sie hatte sich da in eine Idee verrannt, und das war auch der Grund, warum sie mit voller Absicht ihren Körper zerstörte. Welch eine Verschwendung! Aber da war hoffentlich das letzte Wort noch nicht gesprochen. Auf jeden Fall wollte Daniel mal die Eltern der Marietheres aufsuchen, vielleicht konnte er da ansetzen – obwohl er in diesem Punkt nicht viel Hoffnung hatte.

Die Rüschers waren einfache, hart arbeitende Leute mit sechs Kindern. Die scherten sich nicht um die große weite Welt oder irgendwelchen Ruhm, die waren zufrieden, wenn sie ordentlich was auf dem Tisch und alle Kinder anständig angezogen hatten.

Daniel seufzte. Das würde noch ein harter Brocken werden. Dabei stand ihm grad heut’ noch ein besonders schwieriger Hausbesuch bevor, bei Regina und Antonia Bauer. Erst heut’ früh waren die Untersuchungsergebnisse gekommen. Das kleine Dirndl war schwer krank. Und wie sollte der Alpendoktor das der Mutter beibringen?



2

Eigentlich war die kleine Toni ein fröhliches, lebhaftes Kind, der Sonnenschein ihrer Mutter, und das Ein und Alles ihres Vaters. Der war allerdings nicht so oft daheim, wie das Dirndl und auch seine Mutter es gern gehabt hätten. Lukas Bauer war ein hochqualifizierter Techniker und arbeitete auf einer Ölbohrinsel irgendwo im Atlantik, er kam nur alle drei Monate für zwei oder drei Wochen nach Hause. Dieses unstete Leben wollte er so lange noch weiterführen, bis er ausreichend Geld angespart hatte, um ein schmuckes Haus zu kaufen und seiner Familie ein relativ sorgenfreies Leben zu gewährleisten. Auf keinen Fall wollte er sich für ein Haus verschulden und dann womöglich in Gefahr geraten, dieses nicht bezahlen zu können, falls er, aus welchen Gründen auch immer, seine Arbeit verlor.

Regina hatte sich schweren Herzens damit einverstanden erklärt, aber besonders die kleine Toni litt immer sehr unter der Trennung von ihrem geliebten Vater. Sie sehnte den Tag herbei, da der Lukas endlich für immer in Hindelfingen blieb. Dem Kind war es auch relativ egal, wie der Vater sein Geld verdiente. Das Gehalt war jedoch gerade auf einer Bohrinsel so hoch, dass es vielleicht nur noch ein oder zwei Jahre dauern konnte, bis der Traum wahr wurde. Dann konnte Toni ihren Vater jeden Tag daheim begrüßen und musste nicht mit Tränen in den Augen an der Tür stehen, wenn er wieder für drei Monate verschwand.

Jetzt aber lag das Dirndl schwach und bleich im Bett. Schon seit mehr als zwei Wochen hatte heftiges Fieber den schlanken, grazilen Körper geschüttelt, die Blutwerte hatten dramatische Formen angenommen und fielen rasch weiter. Ein Verdacht hatte sich in Doktor Ingold gebildet, den er zunächst jedoch gar nicht aussprechen wollte. Aber gewissenhaft hatte er im Labor alles untersuchen lassen, so dass er zwar bestürzt war über das Ergebnis, aber nicht mehr sonderlich überrascht.

Leukämie – Blutkrebs, lautete die niederschmetternde Diagnose, die der Arzt nun der Mutter vorsichtig beibringen musste.

Regina Bauer wirkte zunächst gefasst, noch hatte sie das ganze Ausmaß dieses einen Wortes nicht voll erfasst.

„Es besteht gute Hoffnung auf Heilung“, begann Daniel zu erklären. „Wir haben noch recht früh erkannt, was da in der kleinen Toni vorgeht. Und mit einer Chemotherapie und entsprechenden Medikamenten, wie verschiedenen Zytostatika, hat sie gute Chancen am Leben zu bleiben und schon bald wieder ...“

Da war es, das Wort, welches der Regina erst richtig den Schock versetzte.

„Am Leben zu bleiben?“, unterbrach sie den Doktor tonlos. „Ja, aber Leukämie ist doch nur ...“

Daniel schüttelte den Kopf. „Bitte, verwechsele das nicht mit Anämie. Das ist eine Blutarmut, die man heutzutag recht einfach und wirkungsvoll behandeln kann. Leukämie ist Blutkrebs, und wenn wir net schnell mit der Behandlung beginnen ...“

„Mama, muss ich sterben?“, klang in diesem Augenblick die zarte Stimme des Kindes von der offenen Tür her. Toni hatte das Gespräch mit angehört und nur wenig verstanden. Doch der wichtigste Satz war ihr natürlich nicht entgangen.

Erschreckt schaute die Regina auf und sprang dann von ihrem Stuhl, riss das Kind ganz fest in die Arme und barg das Gesicht an ihrer Brust.

„Natürlich musst du net sterben, mein Schatzerl. Das ist alles net wahr, was der Doktor da grad sagt. Aber warum liegst denn net im Bett? Ich bring dir doch alles, was du brauchst. Komm, mein Herz, ab zurück unter die warme Decke.“

„Mir ist aber langweilig. Ich will nach draußen zum Spielen“, erklärte das Kind. Dabei wirkte es so blass und durchscheinend, dass es den Arzt dauerte. Er nahm Regina die Worte nicht übel, im ersten Schock nach einer solchen Diagnose sagte man rasch etwas, was man nicht so meinte. Die Frau durfte allerdings nicht den Fehler machen, diese Nachricht auf die leichte Schulter zu nehmen oder sie gar zu ignorieren. Je eher die Behandlung begann, umso besser für die Toni.

Daniel wartete in aller Ruhe ab, bis das Kind wieder im Bett lag.

„Regina, mach’ dir da jetzt bitte nix vor. Wenn’s mir net glaubst, ist das natürlich dein gutes Recht. Kannst gern den Doktor Huber oder die Kollegen in der Stadt konsultieren und eine zweite Meinung einholen. Wär’ mir sogar recht. Aber spiel net mit dem Leben deines Kindes. Warte net so lang, bis es zu spät ist.“

„Du irrst dich, Daniel, du musst dich täuschen. Das kann net meine kleine Antonia treffen. Du hast recht, ich werd’ noch eine weitere Diagnose einholen. Und dann wirst schon sehen, welch einen Schmarrn du da redst.“

„Ich werd’s gleich morgen tun“, versprach sie. „Gleich morgen früh fahre ich mit der Toni in die Stadt.“

„Nein, auf gar keinen Fall“, fuhr die Frau hart dazwischen. „Ich will net, dass er bei seiner Arbeit womöglich Fehler macht, weil er in Gedanken net bei der Sache ist. Er kann auf die Entfernung hin ohnehin nix tun. Ich werd’s ihm erst dann sagen, wenn’s unbedingt notwendig ist. Und bis dahin kann ich mich recht gut allein um mein Kind kümmern.“

Sie verabschiedete den Arzt jedoch ziemlich spröde und ging dann ins Kinderzimmer, wo die kleine Toni schon wieder eingeschlafen war. Sie drückte zarte schmale Hand des Kindes an ihre Lippen und murmelte voller Verzweiflung viele sinnlose Worte vor sich hin.