8

Kolt Raynor öffnete die Augen. Er war sicher, dass er das Bewusstsein verloren hatte, aber er wusste nicht, für wie lange. Hektisch streckte er die behandschuhten Hände in sämtliche Richtungen aus. Seine Finger gruben sich in die gefrorene Erde, rissen braunes Gras mit den Wurzeln heraus und stießen hart gegen den von der Sonne ausgebleichten Fels zu seiner Linken, als er sein HK suchte.

Das Gewehr war weg; er musste es irgendwo am Abhang verloren haben.

Seine Stiefel zeigten in Richtung des Hügels, den er gerade hinuntergekugelt war. Er hob den Kopf, zuckte zusammen und hielt nach seinen Leuten Ausschau. Dann versuchte er, ins Funkgerät zu sprechen, aber das Headset war ihm beim Sturz vom Kopf gerissen worden.

Unterhalb der Taille spürte er nichts. Bei jedem hektischen Atemzug registrierte er unnatürliche Bewegungen im Brustkorb.

Als das Klingeln in seinen Ohren etwas nachließ, stellte er fest, dass das Trommelfeuer der Mörser verstummt war. Jetzt erregte ein neues Geräusch seine Aufmerksamkeit, nur wenig lauter als das Knirschen seiner gebrochenen Rippen beim mühevollen Atmen.

Näher kommende Schritte.

Raynor zog die Glock aus dem Klettverschlussholster an der Weste. Er zielte in Richtung des Geräuschs vor seinen Füßen.

Jet kam um die Ecke des Felsens zum Vorschein und kniete sich neben seinen Major.

»Verflucht, Jet. Ich hab mir den Rücken gebrochen. Kann meine Beine nicht bewegen.« Raynor dachte, Jet sei gekommen, um ihm zu helfen. Er rechnete damit, dass der andere das Erste-Hilfe-Kit öffnete. Aber das tat er nicht.

Jet trug zwei Gewehre mit sich. Eins davon streckte er Major Raynor mit der linken Hand hin. Ein HK416 mit langem Lauf, glitschig von dickflüssigem rotem Blut.

»Rocks Gewehr?«, fragte Raynor, während er es entgegennahm. Aber er kannte die Antwort bereits. Price zeichnete gelbe Häkchen auf den Gewehrkolben, eins für jeden Monat, den er in Irak oder Afghanistan verbracht hatte. Unter den Blutflecken waren 41 gelbe Striche zu erkennen.

»Wo ist Rock?«

»Tot. Kannst du kämpfen?«

Kolt machte immer noch das Schwindelgefühl zu schaffen, das sein Sturz ausgelöst hatte. Und seine Verwirrung. »Kämpfen? Gegen wen?«

»Wir kriegen Besuch.«

»Besuch?«

»Von den Bösen. Ich und Musket halten sie im Norden auf. Behalt den Hügelkamm im Auge, für den Fall, dass sie versuchen, uns von Osten zu flankieren.«

»Roger.« Raynor führte zwar offiziell das Kommando, aber er lag auf der kalten Erde flach auf dem Rücken. Sein Blick war verschwommen. Es machte ihm nichts aus, die Autorität an zwei Operators abzugeben, die noch laufen und kämpfen konnten.

Jet verschwand hinter dem Felsen.

Für einen Augenblick blieb alles still. Raynor blinzelte in die Sonne, die langsam vor ihm über dem Hügel zum Vorschein kam und ihm ins Gesicht schien. Er hatte eine Oakley-Sonnenbrille irgendwo in der Tasche, aber er machte sich nicht die Mühe, danach zu suchen. Sie war wahrscheinlich zerbrochen oder er hatte sie ebenfalls am Hang verloren. Er lag einfach da, bemühte sich, langsamer zu atmen und das, was ihm von seinen fünf Sinnen noch geblieben war, einzusetzen, um Gefahren zu erkennen.

Links von ihm knallten Schüsse aus Handfeuerwaffen, aber das Geschehen wurde durch den großen Stein, der ihm Rücken und Becken zerschmettert hatte, seinem Blick entzogen. Mehrere AKs ratterten vollautomatisch los. HKs erwiderten das Feuer mit kurzen, kontrollierten Salven oder Einzelschüssen. Musket rief etwas, einen Befehl an Jet. Der Sanitäter rief zurück. Raynor hörte, dass die beiden Operators sich weit voneinander entfernt hatten, um feindliche Feuerkraft und Aufmerksamkeit aufeinander zu verteilen und sich gegenseitig Deckung geben zu können.

»Lade nach!«, schrie Jet nach einer Minute.

»Gebe Feuerschutz!«, gab Musket energisch zurück.

Raynor stemmte sich auf die Ellbogen und unternahm einen Versuch, sich um die Ecke des Steins zu ziehen, um zu helfen. Es gab ihm ein Gefühl von Ohnmacht, einen stillen, schneebestäubten und mit Büschen übersäten Hang zu bewachen, während seine beiden Männer nur 30 Meter entfernt schreiend um ihr Leben kämpften. Nach wenigen Zentimetern ging er zu Boden, geschwächt von den quälenden Schmerzen in Rücken und Brustkorb. Er musterte Rockys Waffe. Raynors Handschuhe waren blutrot.

Das AK-Trommelfeuer verstärkte sich beträchtlich. Die Schüsse hallten durch die Schlucht und schienen aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. Es klang, als sei um Kolt herum ein Weltkrieg ausgebrochen. Ein paar schwache Explosionen folgten – er hörte am Geräusch, dass sie von den knapp golfballgroßen Mini-Belgian-Splittergranaten stammten, die seine Männer geworfen hatten.

Der Kampf tobte noch eine Minute weiter. Dann rief Musket laut: »Jet! Jet?«

Als keine Antwort kam, rief auch Kolt nach Sergeant First Class Lee. »Jet, bist du in Ordnung?«

Dann schrie er: »Musket! Ich komm jetzt zu dir!« Major Raynor gelang es, sich auf die Ellbogen zu stemmen. Er grub sie in die Erde und den Schiefer hinter sich und schob sich noch einmal 30 Zentimeter weiter. Mit kaltem Schweiß auf der Stirn ließ er sich erneut fallen.

»Racer, nicht schießen«, warnte Musket und kam am Fuß des weißen Felsens zum Vorschein. Von Nase und Bart tropfte ihm Blut, das von einer Schnittwunde zwischen den Augenbrauen herrührte, aber er bewegte sich schnell und zielstrebig. Raynor sah seinen Master Sergeant bloß an.

»Jet?«

»Den hat’s erwischt.« Der Unteroffizier hängte sich das Gewehr über die Schulter und kniete sich zu seinem Offizier. Er griff nach Raynors Gürtel und fummelte am Hüftgurt herum. »Ich bring dich hier weg.«

»Wir können Rock und Jet nicht zurücklassen.«

»Und ich kann nicht alles tragen, was du dabeihast, Racer! Hilf mir, das Zeug abzunehmen.«

»Haben wir Funkkontakt?«

»Nicht hier unten im Talkessel. Jetzt hilf mir endlich, Raynor!« Genau in diesem Moment krachten im Norden AK-Schüsse und Kugeln des Kalibers 7,62 x 51 Millimeter schlugen in den Stein neben den beiden Operators ein.

»Warte mal«, sagte Musket. Er stand auf und feuerte über die Oberkante des Felsbrockens. Schnell wechselte er in die Hocke und lud sein Gewehr, während Kugeln über die beiden Männer hinwegpfiffen.

»Wie viele?«

»Zu viele. Gehen wir.« Master Sergeant Michael Overstreet wollte Kolt unter die Arme greifen, um ihn hochzuheben, aber Raynor schob seine Hände zur Seite.

»Zwecklos. Du brauchst mit Sicherheit 20 Minuten, um mich wegzuschaffen. Die sind in zwei Minuten hier.«

Overstreet sah auf ihn herab. Er nickte. »Gut. Okay. Du hältst sie von der Hügelkuppe fern. Ich behalt die Nordseite im Auge.«

»Nein, Mike. Hilf mir um den Felsen herum. Ich werde sie aufhalten, während du abhaust. Du kannst mir nicht mehr helfen.«

»Negativ, Racer. Wir halten durch, bis die Rangers kommen.«

»Bagram weiß noch nicht mal, dass wir Feindkontakt haben! Verschwinde von hier, zum Teufel!«

»Ich lass dich nicht zurück, Boss.«

Raynor schlug mit der Faust auf den kalten Boden. »Das ist ein Befehl, Musket!«

»Du kannst mich ja in Bragg vors Militärgericht stellen.«

Overstreet griff in Raynors Weste. Er zog ein frisches Magazin aus einer Tasche und lud Rockys blutverschmierte Waffe für Kolt. Dann legte er Raynor das Gewehr auf die Brust und hielt das halb entleerte Magazin hoch, damit er es sehen konnte. »Halbes Magazin rechts von dir.« Er legte es an die bezeichnete Stelle.

»Ich hab’s versaut, Mike.«

Overstreet erwiderte: »Das ist ’ne al-Qaida-Spezialeinheit und das Mörserfeuer war zu genau. Die haben uns erwartet. Eine Falle.«

»Und ich hab uns mitten rein geführt.«

»Ja. Ja, ich schätze, das hast du, aber die Entscheidung hatte ihre Berechtigung.« Er spuckte in den Schnee. »Scheiß drauf, Racer. Du und ich. Glanz und Gloria und der ganze Scheiß. Geben wir ihnen Saures.«

Racer blinzelte sich kalten, salzigen Schweiß aus den Augen. Er nickte. »Roger. Hilf mir um den Felsen rum.«

»Behalt einfach den Hügel im Visier.« Musket trat geduckt den Rückweg an.

»Mike! Hilf mir auf die andere Seite! Mike!«, rief Raynor ihm vergeblich hinterher.

Die Schießerei ging sofort los.

Eine ganze Minute lang hörte Raynor die langen Salven der Kalaschnikow-Gewehre, gefolgt von höheren Stakkatos aus Overstreets HK416. Zweimal rief Raynor nach dem Master Sergeant, aber Musket reagierte nicht. Zweimal versuchte Raynor, auf die andere Seite des Felsens zu gelangen, aber der Schmerz in seinem Rücken wurde zunehmend unerträglich.

Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Er senkte das Gewehr und griff nach der Schnur um seinen Hals. An ihrem Ende hing ein Autoinjektor mit Morphium. Er biss die rote Sicherheitskappe ab, stieß sich den stiftgroßen Injektor an den Oberschenkel und drückte mit dem Daumen den schwarzen Kolben hinunter. Sofort schossen 20 Milligramm Morphium in seine Blutbahn.

Innerhalb von Sekunden spürte er, wie ihn eine Welle der Erleichterung durchlief. Der Schmerz blieb, aber ihm fehlte jetzt der Stachel.

Erst da bemerkte er, dass das Feuer der AKs, das im Norden immer noch unaufhörlich dröhnte, nicht länger erwidert wurde.

»Musket? Musket?« Keine Reaktion.

Raynor zuckte vor Schmerz zusammen, als er sein Maschinengewehr von Heckler & Koch über den Kopf hob und damit auf den Rand des Felsens auf dieser Seite zielte, wobei er den Griff der Waffe mit der Linken umfasste. Mit der Rechten hob er die Pistole und richtete sie auf das andere Ende. Auf diese Weise hatte er beide Wege um den Stein im Visier, auch wenn er nicht gleichzeitig nach oben und unten schauen konnte. Der gedämpfte Schmerz in der Beckenregion pulsierte im Takt seines rasenden Herzschlags.

»Musket? Sprich mit mir!«

Geräuschlos und ohne Vorwarnung sprang ein schwarz gekleideter Araber über die Ecke des Felsens und landete direkt vor Raynors Füßen. Die Augen des Turbanträgers weiteten sich. Er hob seine kurzläufige AK in Richtung des am Boden liegenden amerikanischen Invasors, der nur zwei Meter entfernt lag.

Kolts Pistole knallte und zuckte. Wölkchen ätzenden Rauchs traten hinter drei ausgeworfenen Patronenhülsen im Kaliber 40 aus. Der Kopf des Arabers schnellte zurück und er fiel auf die Knie. Er sank tot auf den Rücken.

Raynor spürte die Anwesenheit des zweiten Mannes, obwohl er nichts gehört hatte. Ohne genau hinzusehen, feuerte der Delta-Operator eine dreischüssige Salve nach oben ab. Ein ähnlich wie der erste gekleideter Bewaffneter wirbelte einmal um die eigene Achse, bevor er mit dem Gesicht voran zu Boden stürzte. Sein Gewehr flog klappernd gegen den ausgebleichten Stein links neben dem Amerikaner.

Als die AK neben ihm zum Liegen kam, tauchte eine weitere Gestalt zu seinen Füßen auf und richtete ein Gewehr auf ihn. Das Morphium hatte Raynors Reaktionszeit in Mitleidenschaft gezogen. Er hatte seine Glock auf dem Boden abgelegt, hob sie wieder an und feuerte.

Aber der al-Qaida-Kämpfer schoss als Erster.

Der Araber hielt die Kalaschnikow in Hüfthöhe und gab aus drei Metern Entfernung eine Salve ab. Zwischen Kolts ausgestreckten Beinen flogen Erde, Steine und Schnee in die Luft. Er spürte, wie sein rechtes Bein hochzuckte und sah durch den Pulverdampf seiner eigenen Waffe für einen kurzen Augenblick Blut spritzen.

Raynor zog den Abzug der Glock einmal, zweimal, insgesamt fünfmal durch, bis der Feind mit einem schrillen Schrei umfiel und tot im Schnee lag.

Ohne sich die Zeit zu nehmen, den eigenen Körper nach Wunden abzusuchen, spähte Raynor wieder auf die Stelle über seinem Kopf und wartete auf die nächste Attacke von der Westseite des Felsbrockens. Erst als diese mehrere Sekunden lang ausblieb, blickte er nach unten, um seine Wunden in Augenschein zu nehmen.

Als er sich auf die Ellbogen stützte, entdeckte er ein rotes Loch im Spann seines Stiefels, eine Blutlache, die sich im Schnee kurz unterhalb vom Knie bildete, und eine blutbefleckte Furche an der Außenseite des rechten Oberschenkels. Die AK47 hatte seine Beine perforiert. Obwohl diese Erkenntnis ihn mit Entsetzen erfüllte, war der Profi in ihm dankbar, kein arterielles Blut spritzen zu sehen.

Raynor war schon vorher bewegungsunfähig gewesen, jetzt aber erst recht. Er wurde von Feinden umstellt, blutete ohne Unterstützung und Hilfe vor sich hin, vom Morphium geschwächt. Er ließ sich auf den Rücken fallen und schaute in den Himmel. In dieser Haltung führte er ein taktisches Nachladen durch und stattete seine Pistole mit einem neuen Magazin aus. Reines Muskelgedächtnis ließ ihn diese Handgriffe ausführen.

Er war wütend darüber, dass er sich hatte anschießen lassen. Wütend auf den Toten vor seinen Füßen, der ihn angeschossen hatte. »Du Drecksau!«

Jetzt hörte er etwas auf der anderen Seite des Felsens. Sie kamen näher. Mindestens drei von ihnen, wahrscheinlich aber noch weitaus mehr. Raynor ließ die Pistole fallen und griff in seine Weste. Er zog eine Mini-Belgian-Splittergranate heraus. Zunächst fummelte er vergeblich an dem Klebeband herum, mit dem der Splint gesichert war. Sein betäubter Zustand machte selbst diese Lappalie zu einer komplizierten Herausforderung. Er nahm all seine Geschicklichkeit zusammen und bekam den Splint schließlich frei, riss ihn mit den Zähnen heraus.

»Granate, Musket!« Er ließ den Bügel los und hielt den Sprengstoff für einen Moment in der zitternden Hand, um ihn für ein paar Sekunden abzukochen. Dann schleuderte er ihn über den Felsen.

Die Explosion auf der anderen Seite ließ Zweige und Schnee zu ihm herüberregnen.

Raynor warf noch eine zweite und dritte Granate. Jede ein kleines Stück weiter weg. Jedes Mal rief er: »Granate!« Falls einer seiner Kameraden noch lebte, konnte er auf diese Weise noch rechtzeitig in Deckung gehen.

Als er alle Granaten abgesetzt hatte, hob er die Pistole und behielt beide Zugangswege im Blick, rechnete jeden Augenblick damit, dass ein Dutzend Gegner auf ihn losgingen.

30 Sekunden lang geschah nichts.

Nach einer Minute erfolgte immer noch kein Angriff.

Das war ein gutes Zeichen, außerdem entsprach es dem üblichen Vorgehen des Feindes. Sowohl die Taliban als auch al-Qaida kannten die Taktik der amerikanischen Luftnahunterstützung gut. Ihre Attacken fielen wild und heftig aus, aber auch so gut wie immer kurz. Sie hatten gelernt, dass bei einem zu lange andauernden Feuergefecht innerhalb weniger Minuten der Tod mit aller Kraft auf sie herabregnete.

Raynor verstaute seine Pistole im Holster vor der Brust und schlang sich den Gurt von Rockys Gewehr um den Hals. Auf den Ellbogen zog er sich mit aller Kraft, die seine Schultern noch hatten, rückwärts. Der Schmerz im Rücken war größtenteils verschwunden. Vorerst konnte er den geschundenen Zustand seines Körpers dank des Morphiums nicht spüren. Kolt nutzte dieses Nachlassen der Qualen und forschte mit den Ellbogen hinter sich nach Lücken zwischen den weißen Steinen des trockenen Bachbetts, an denen er sich rückwärts weiterziehen konnte. In urbanem Gelände trug er Ellbogenschützer aus Hartplastik. Jetzt wünschte er sich, sie angelegt zu haben. Dreimal schaute er zu seinen Füßen hinunter und bemerkte, dass er sein Blut auf einem sonnengebleichten Kieselstein verschmiert hatte. Dreimal kroch er vor, packte den Stein und drehte ihn um oder warf ihn zur Seite. Er wusste, dass er seinen Fluchtweg nicht vollständig verschleiern konnte, aber es war immerhin besser als nichts, zumindest die offensichtlichsten Spuren zu beseitigen.

Während er rückwärts kroch und sich die Ellbogen an den harten Steinen aufscheuerte, behielt Raynor den Blick nach Norden gerichtet. Er sah ein Dutzend oder mehr Leichen, die im Flussbett, an der felsigen Böschung und am grasigen Hang verstreut lagen. Drei von ihnen mussten Jet, Musket und Rock sein, aber Raynor nahm sich nicht die Zeit, festzustellen, wo sie lagen. Die Feinde hatten sich für den Moment zurückgezogen, aber er wusste, dass sie sich wahrscheinlich neu gruppierten und mit neuer Kraft attackierten, falls keine Flugzeuge am klaren Himmel auftauchten.

Nachdem er 25 Meter zurückgelegt hatte, erreichte er das gegenüberliegende Ufer. Obwohl die Erschöpfung in den Schultern ihn langsamer machte, brach er seinen erbärmlichen Rückzug nicht ab. Ohne noch einmal zurückzuschauen, erreichte er ein dichtes Gebüsch, zwängte sich hinein, bis die Füße unter den Zweigen verschwanden, und kroch weiter zum Anfang des Hangs. Hier machte er Halt, blieb im dürftigen Schutz des verschneiten Dickichts liegen und unternahm einen halbherzigen Versuch, die Wunde am Schenkel zu verbinden. Die Löcher im Schienbein und im Fuß würden einfach weiterbluten müssen. Er kam nicht dran und schaffte es auch nicht, die Beine näher an die Hände zu heben.

Das Morphium ließ ihn langsam wegdämmern. Kurz bevor er das Bewusstsein verlor, hörte er Stimmen, die sich von der anderen Seite des Bachbetts näherten. Sie sprachen Arabisch und Paschtunisch. Die Männer stießen Jubelrufe aus und priesen ihren Gott für den heiligen Sieg. Der unverwechselbare Schrei erklang: »Allāhu akbar!« – Gott ist groß!

9

Am vibrierenden Klang und dem deutlichen Treibstoffgeruch erkannte Major Kolt Raynor, dass er sich in einem Helikopter befand, aber er hatte keine Ahnung, wie er dort hineingekommen war. Er drehte den Kopf langsam von einer Seite zur anderen und sah schlammverschmierte, hellbraune Kampfstiefel vor sich. Als er versuchte, den Kopf zu heben, stellte er fest, dass er auf dem Boden lag, auf ein Rückenbrett geschnallt war und eine Halskrause trug. Eine Decke umhüllte ihn und Kanülen ragten aus seinem Arm. Das rechte Bein lag nicht unter der Decke. Ein Sanitäter kniete vor ihm und bandagierte seinen Fuß. Oberschenkel und Schienbein steckten bereits in Verbänden.

Man hatte ihm Medikamente intravenös verabreicht, so viel stand fest, denn er spürte keinen Schmerz, nur die Kälte der dünnen Luft und das Vibrieren des Helikoptermotors. Ein Dutzend Rangers saßen um ihn herum am Boden und stützten den Rücken an die dünnen Wände des Luftfahrzeugs. Sie trugen die von der Regierung ausgegebene Uniform und Ausrüstung, die sich deutlich von seiner eigenen unterschied. Diese Rangers machten im rötlichen Licht der Kabine einen unglaublich jungen und geschniegelten Eindruck.

Er stellte fest, dass der Mann, der ihn behandelte, Benji war – ein milchgesichtiger Delta-Operator aus Raynors eigener Staffel. Ihm fiel noch ein anderer Operator auf. Master Sergeant David ›Monk‹ Kraus starrte mit dem Gewehr in den Armen in die Nacht hinaus. Hinter Monk, auf dem Boden des Chinook, bemerkte Raynor drei aufeinandergestapelte schwarze Leichensäcke.

Er blinzelte und wandte den Blick ab.

Benji musste mitbekommen haben, dass sein Patient aufgewacht war. Er schrie, um den Motor zu übertönen: »Wie geht’s dir, Racer?«

»Spür meine Beine nicht.« Seine Worte kamen schwerfällig und zäh in seinem Mund an; eine Begleiterscheinung der Drogen, die durch seinen Körper strömten.

»Ja, deine Lendenwirbelsäule scheint gebrochen zu sein. Aber vielleicht hat der Schlag sie auch nur angekratzt. Wenn du Glück hast, kommt das Gefühl in ein paar Tagen zurück. Außerdem hast du drei Kugeln ins Bein gekriegt. Hast ’n Liter Blut verloren, aber wir füllen dich schon wieder auf. Du kommst hier weg. Fliegst nach Ramstein, sobald wir in Bagram sind und du transportfähig bist.«

»Wo ist TJ?«, fragte Raynor. Obwohl TJs Einheit Eagle 01 nicht zur schnellen Eingreiftruppe gehörte, war sie drei Wegstunden näher an der Grenze stationiert als diese Einheit aus Rangers und Deltas. Raynor hätte erwartet, wenn jemand in der Lage wäre, ihn zu retten, dann sein Freund.

Benji blickte auf Racer herab. Sagte nichts.

Jetzt tauchte Monk über Raynors ruhig gestelltem Kopf auf. Er beugte sich auf seinen Knieschützern näher heran. Selbst im roten Dämmerlicht der Kabine entging Raynor nicht die Feindseligkeit in den Augen des Master Sergeants. Er und Musket waren beste Freunde gewesen.

Aber da gab es noch etwas anderes.

Monk berichtete ihm: »Das Joint Operations Command hat die Eingreiftruppe um neun Uhr losgeschickt, nachdem sie al-Qaida-Funkverkehr abgehört hatten, in dem davon die Rede war, dass die Taliban amerikanische Kommandotruppen angegriffen hätten. Aber TJ wollte nicht warten. Er hat den Piloten eines Mi-17-Helikopters in seinem Unterschlupf überredet, Eagle 01 über die Grenze zu eurem Versteck zu bringen. Sie haben euch nicht entdeckt, also sind sie zu eurem Treffpunkt geflogen. Auf dem Weg dahin wurde der Propeller des Helis von einer Panzerfaust getroffen. Sie wollten zurück über die Grenze, verloren aber die Kontrolle. Sind in den Tochi-Fluss gestürzt, vier Klicks nördlich von der Stelle, an der wir euch gefunden haben. Die Drohne hat niemanden wieder auftauchen sehen. Wir haben die pakistanische Armee gebeten, uns bei der Suche nach Überlebenden zu helfen, aber die sind ziemlich angepisst über den Vorstoß und es ist auch nicht gerade so, als ob sie dieses Einsatzgebiet unter Kontrolle hätten. Der Fluss besitzt eine starke Strömung, ist tief und verläuft durch 100 Meilen Banditenland. Man hat uns angewiesen, keine grenzüberschreitenden Einsätze durchzuführen, bis Grund zur Vermutung besteht, dass es Überlebende gibt. Wir haben zwei Drohnen in der Luft, aber es sieht so aus, als ob TJ und der Rest von Eagle 01 tot sind, genau wie die beiden Piloten von der Agency.«

»Oh mein Gott«, stöhnte Raynor.

»Gott hat nichts damit zu tun. Habt ihr euer Versteck verlassen, Racer?«

»Wir sind in einen Hinterhalt geraten.«

»In eurem Versteck?«

Raynor starrte an die Decke des Helikopters. Zum ersten Mal seit der Pubertät stiegen ihm Tränen in die Augen. »Negativ. Ich habe uns weitergeführt.«

»Dann hast du diese ganze Scheiße zu verantworten.«

Kolt nickte langsam. Schloss die Augen. Er wusste, dass Gründe dafür gesprochen hatten, weiter vorzurücken, aber das spielte nun keine Rolle mehr. »Ich weiß«, sagte er leise.

Monk wandte sich ab und kehrte zu seinem Platz am Einstieg zurück.

Nach einer Woche auf der Intensivstation im Krankenhaus der Ramstein Air Force Base in Deutschland und weiteren drei Monaten stationärer Behandlung im Duke Medical Center in North Carolina waren die meisten körperlichen Verletzungen, die Raynor erlitten hatte, verheilt. Chirurgen operierten zwei Rückenwirbel und allmählich kehrten Gefühl und Beweglichkeit in seine Beine zurück. Aber während er im Krankenhaus lag, fiel ihm auf, dass er fast keinen Besuch von Mitgliedern seiner Befehlskette bekam, und selbst Teamkollegen, die mit ihm im Feindesland gewesen waren, besuchten ihn nur vereinzelt. Er wusste, dass man seine Entscheidungen in Pakistan heftig kritisierte, aber er wusste auch, dass das Einsatztempo seiner Staffel die Jungs auf Trab hielt. Er nahm an, dass es daran lag, dass seine Kameraden nicht kamen. Aber die Freunde, die reinschauten, um nach ihm zu sehen, erzählten nur sehr wenig über ihre aktuellen Missionen und das fand Raynor merkwürdig. Selbst nach dreieinhalb Monaten wusste er nur wenig mehr darüber, was mit Eagle 01 passiert war, als das, was Monk ihm bereits im Hubschrauber erzählt hatte.

Aber schon bald wurde ihm klar: Er gehörte nicht länger zu den ›Jungs‹. Als Delta-Truppenkommandant hatte er sich risikobereit und kämpferisch gezeigt. Vorgesetzte und Untergebene gleichermaßen hatten die Leichtigkeit bewundert, mit der Raynor in die Scheiße fiel und es schaffte, nach Rosen duftend wieder hinauszukriechen. Aber diesmal hatte er den Bogen überspannt. Lieutenant Colonel Josh Timble und die fünf Männer, die mit ihm abgestürzt waren, wurden vermisst und man hielt sie für tot. Als er schließlich nach Fort Bragg zurückkehrte, fand Major Kolt Raynor seinen Spind im Teamraum ausgeräumt vor und wurde von einer Flut von Beschuldigungen und Anklagen empfangen.

Dass die Delta Force seine unehrenhafte Entlassung vorbereitete, stand außer Frage. Trotz mildernder Umstände hatte er einen direkten Befehl missachtet. Insgesamt neun Männer waren durch seinen Ungehorsam ums Leben gekommen. Man erwog, ihn vor ein Militärgericht zu stellen, doch dann beschlossen die beteiligten Personen, Raynor lieber schnell und unauffällig aus der Army zu entfernen.

Er konnte ohne die Army leben, aber auch die Einheit erklärte ihn zur Persona non grata, und das machte ihm mächtig zu schaffen. Auf den Tag genau vier Monate nach der verhängnisvollen Mission im südlichen Waziristan wurde aus Major Kolt Raynor zum ersten Mal seit 18 Jahren wieder schlicht Kolt Raynor – ein Mann, der wesentlich mehr verloren hatte als nur seinen Dienstgrad.

10

Drei Jahre später lag Raynor auf der Matratze in seinem Wohnwagen. Er trug lediglich seine Unterwäsche, schwitzte und stank, aber es fiel ihm gar nicht auf, da er sich längst daran gewöhnt hatte. Das Morgenlicht drang in hellen, scharfen Strahlen durch die Rollläden und er wich vor der stechenden Helligkeit zurück. Die langen Haare hingen wirr an seinem Kopf und das T-Shirt hatte die Farbe und den Geruch der chinesischen Mikrowellenmahlzeit angenommen, die er sich am Vorabend vor dem Einschlafen genehmigt hatte.

Er schielte auf die Uhr am anderen Ende des Raumes, kniff die Augen zusammen, um die grünen Ziffern besser zu erkennen, und gelangte zu dem Schluss, dass es entweder zehn nach sechs oder zehn nach acht sein musste. Falls Ersteres zutraf, konnte er sich wieder schlafen legen; traf Letzteres zu, hatte er ein Problem.

Er musste heute Morgen aufstehen und zur Arbeit gehen.

Scheiße. Kolt schloss die Augen.

Ihm war das Geld ausgegangen und damit auch der Nachschub an Whiskey. Also kehrte er in seinen alten Job zurück, verkaufte Schlafsäcke und Kletterausrüstung in einem gehobenen Sportwarengeschäft in Southern Pines.

Er musste um neun zur Arbeit erscheinen. Seinen Sechs-Uhr-Alarm hatte er entweder verschlafen oder wieder mal vergessen, ihn einzustellen, und jetzt fühlte er sich dermaßen verkatert, dass er nicht einmal die Zeit ablesen konnte.

Ein Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenzucken, brachte ihn aber nicht zum Aufstehen. Er hatte kein Auto über die schottrige Zufahrt zu seinem Trailer fahren hören, aber im derzeitigen Zustand waren seine Sinne sowieso alles andere als geschärft.

Wieder ein Klopfen. Nein, diesmal eindeutig ein Hämmern. Kolt rollte sich auf die Seite und ließ den Kopf über den Rand der dreckigen Matratze hängen. Er erwartete keinen Besuch, hatte keine Freunde, schuldete niemandem Geld.

»Moment!«, rief er und kämpfte mit der verhedderten Decke, um sich aufsetzen zu können.

Mit einem Knall flog die Aluminiumtür nach innen, gefolgt von einem breiten, schwarzen Lederstiefel. Die billigen Plastikrollläden knallten vom Fenster runter und der ganze Trailer wackelte, als hätte ein Bus ihn gerammt. Das obere Scharnier der Tür brach ab. Das untere hielt, aber die Tür sackte tiefer, als das Aluminium nachgab.

Raynor zuckte senkrecht hoch.

David ›Monk‹ Kraus stand im Türrahmen. Kolt hatte den Delta Master Sergeant seit der Nacht im Hubschrauber über Westpakistan vor drei Jahren nicht mehr gesehen, aber er sah noch ganz genauso aus wie in seiner Erinnerung, von der Kleidung mal abgesehen. Er trug keine Militäruniform, sondern ein rostrotes Flanell-Holzfällerhemd und eine ausgebleichte blaue Jeans. Hinter ihm kam Benji in den Trailer. Beide blickten auf Kolt herab, auf die Flaschen auf dem Boden, auf seine ganze beschissene Wohnsituation.

»Was zum Teufel …?«, war alles, was Raynor dazu einfiel. Er blieb gegen die Wand gelehnt auf der Matratze sitzen.

»Krieg deinen Arsch hoch«, brüllte Monk.

»Was soll das?«

»Wir holen dich ab. Du triffst dich mit jemandem.«

Kolt rührte sich nicht, erholte sich aber ein wenig vom Schock dieses Überfalls. »Und was ist, wenn ich nicht mitkommen will?«

»Keinen interessiert, was du willst.« Monk kickte eine Flasche zur Seite und kam näher. Bis zur anderen Seite des Trailers hatte er es nicht besonders weit.

Raynor schaffte es, vorher auf die Beine zu kommen und schwankte ein wenig. »Ich weiß nicht, für wen du dich hältst, aber ich …«

»Bist du besoffen?«

»Was? Nein. Ein bisschen verkatert, aber ich …«

Monk wandte sich an Benji. »Such das Bad und schmeiß die Dusche an. Eiskalt.« Der blässliche blonde Operator verschwand im winzigen Flur, der zu der kleinen Nasszelle führte. Es dauerte nur Sekunden, bis das Wasser lief.

»Lasst mich in Frieden! Ich kann alleine duschen, verdammt. Sagt mir einfach, was hier …«

Aber Monk packte Kolt am Arm und schob ihn in Richtung Badezimmer.

Kolt hätte sich wehren können, selbst in seinem jetzigen Zustand war er kein Waschlappen, aber Monk übertraf ihn deutlich an Geschwindigkeit, Größe und Nüchternheit. Tatsächlich trat der Master Sergeant so energisch auf, dass Raynor sich eingeschüchtert fühlte und tat, was man von ihm verlangte.

Drei Minuten später wühlte ein zitternder Kolt Raynor mit den Füßen in den am Boden herumliegenden Kleidungsstücken, während Benji und Monk im Eingang standen und jede seiner Bewegungen beobachteten. Er fand eine Armeehose, die nicht gar zu verknittert war, und einen Pullover, der nicht allzu viele Flecken hatte. Er zog beides an, rubbelte sich die zottigen Haare trocken und steckte Portemonnaie, Handy und Schlüssel vom winzigen Küchentresen ein. Die eiskalte Dusche hatte ihn wach gemacht, aber in der Magengegend blieb ein Gefühl von Übelkeit zurück. Er hätte sich zu gern wieder hingelegt, stattdessen folgte er den beiden Delta-Operators durch die lädierte Tür und sie gingen die Einfahrt hinunter zu Monks Pick-up.

Im Wagen sprach für einige Minuten niemand. Monk fuhr in Richtung Süden. Kolt nahm an, dass sie ihn nach Fort Bragg bringen wollten, auch wenn er sich keinen Grund dafür vorstellen konnte – es sei denn, es hätte etwas mit den Geschehnissen vor der Küste Somalias zu tun. Doch als der Truck in östlicher Richtung auf den Highway 1 fuhr und die Abfahrt hinter sich ließ, die nach Süden zur Basis geführt hätte, fing Raynor an, Fragen zu stellen.

»Wohin fahren wir?«

»Wie schon gesagt«, erwiderte Monk, »jemand will mit dir reden.«

»Aber keiner aus der Einheit?«

Benji mischte sich ein. »Wart einfach ab, Racer.«

»Ich hab nichts getan.«

Monk lachte wütend. »So viel ist mal sicher.«

Bald fuhren sie auf dem Highway 22 nach Norden. Die grünen Hügel zogen an diesem klaren, kühlen Septembermorgen auf beiden Seiten der Fahrbahn vorbei. Für einen Augenblick vermutete Kolt, sie wollten ihn zum Moore Country Airport bringen, aber der Truck rauschte mit 110 Sachen an der Ausfahrt vorbei.

»Was ist in Carthage?«, wollte Kolt wissen. Es handelte sich um die nächste Stadt im Norden, aber sie war klein und Raynor glaubte nicht ernsthaft, dass dort das Ziel ihrer Fahrt lag.

Es überraschte ihn, dass Monk antwortete: »Jemand, der einen Blick auf dich werfen will. Wenn ihm nicht gefällt, was er sieht, und davon gehe ich stark aus, bringen wir dich zurück zu diesem Drecksloch, das du Zuhause nennst. Deine Scheißtür kannst du selbst reparieren.«

Kurz nach neun Uhr erreichten sie ein billiges Motel unweit der Schnellstraße. Monk steuerte den Pick-up auf die Rückseite des Gebäudes und parkte neben den zwei einzigen anderen Fahrzeugen. Benji stieg aus und bedeutete Kolt mit einer Geste, zu der Tür direkt vor ihnen zu gehen.

Die Tür war unverschlossen.

Kolt trat ein, gefolgt von den beiden Delta-Operators, aber erst nachdem diese mehrere Sekunden lang wachsam den Parkplatz und das angrenzende Wäldchen inspiziert hatten. Sobald sie die Wohneinheit mit den beiden Schlafzimmern betreten hatten, schloss Monk die Tür und die drei Männer fanden sich in gedämpftem Licht wieder.

Kolt stellte sich vor den Fernseher und schaute sich nach irgendeiner Erklärung für das um, was hier vor sich ging. Monk und Benji blieben einfach neben ihm im Halbdunkel stehen. »Wenn ihr Jungs jetzt anfangt, euch auszuziehen, spring ich kopfüber durch das Fenster da.«

Benji brach in gackerndes Gelächter aus. Monk verdrehte die Augen und öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber ein leichtes Klopfen an der Tür zum angrenzenden Raum hielt ihn davon ab. Monk schob Raynor auf die Tür zu und öffnete.

Benji knipste eine Lampe auf dem Tisch zwischen den Betten an.

Ein Mann in Jeans und Denim-Arbeitshemd betrat das Hotelzimmer aus dem angrenzenden Raum. Augenblicklich nahm Kolt Haltung an.

Vor ihm stand Colonel Jeremy Webber, der Kommandant der Delta Force. Raynor hatte Webber nicht mehr gesehen, seit man den Militärprozess gegen ihn eingestellt hatte. Er hatte ihn noch nie ohne Uniform gesehen und auch nie außerhalb der Basis, allenfalls im Kampfeinsatz. Dass er nun in einem verlausten Motel stand und Kleidung trug, die vom Discounter zu stammen schien, verstärkte seinen Schock und die Verwirrung.

Hinter Webber betrat Pete Grauer den Raum, Kolts Ex-Commander bei den Rangers und sein früherer Arbeitgeber.

»Setzen Sie sich, Racer«, forderte Webber ihn auf. Er gab ihm nicht die Hand. Seine Stimme klang sanft für einen Mann, der offenkundig fit und äußerst Respekt einflößend war. Der strenge, ernste Blick des 50-Jährigen stand in krassem Widerspruch dazu.

Raynor saß auf der Kante des Betts direkt neben der Tür. Die anderen vier Männer blieben vor ihm stehen.

Webber musterte den früheren Major lange im schummrigen Licht. Raynor kam sich vor wie bei einer Viehauktion. »Schlimmer, als ich dachte.«

Kolt sagte nichts.

Grauer stellte fest: »Er ist definitiv nicht mehr in Form.«

Monk nickte. »Ein hoffnungsloser Fall, Sir. Zu nichts zu gebrauchen.«

Colonel Webber runzelte die Stirn und deutete ein Nicken an. »Da könnten Sie recht haben. Ich muss zugeben, diesen Grad von … Verfall hatte ich nicht erwartet.«

Kolts Blick zuckte vom einen zum anderen. »Hey, ich sitz direkt vor Ihnen. Wollen Sie mir nicht mal sagen, was überhaupt los ist?«

»Ich habe Sie herbringen lassen, um Sie zu bitten, etwas zu tun. Aber jetzt habe ich eher das Gefühl, dass Sie mich bitten sollten, Sie etwas tun zu lassen.«

Kolt zuckte die Achseln. »Ist mir egal. Ich muss zur Arbeit.«

»In den Campingladen? Erwarten Sie, dass die Leute sich heute Morgen um Heringe reißen?«

Seine Körpersprache wirkte defensiv. »Das ist eben mein Job.«

»Wie viel trinken Sie in letzter Zeit, Junge?«, fragte Grauer.

Kolt gab keine Antwort.

»Wie geht’s Ihrem Bein?«, erkundigte sich Webber.

»Gut.«

»Und dem Rücken?«

»Tut weh.«

Webber griff in die Brusttasche seines Denim-Hemds, zog ein paar gefaltete Zettel heraus und strich sie glatt. Kolt hatte den Eindruck, dass es nur Show war und Webber längst wusste, was dort stand. »Ihr Arzt schreibt: ›Röntgenaufnahmen von Mr. Raynor nach dem Eingriff deuten auf eine vollständige Heilung hin, aber Patient beklagt sich über fortdauernde S.i.u.Rb.‹« Webber warf Kolt einen Blick zu. »Schmerzen im unteren Rückenbereich, nehme ich an.« Er fuhr fort: »›Die Ursache seiner fortgesetzten Schmerzen scheint seine Weigerung zu sein, sich einer Physiotherapie zu unterziehen.‹« Er sah zu Raynor auf. »Sie machen also keine Krankengymnastik?«

Kolt zuckte wieder langsam die Achseln. »Ich glaub kaum, dass das Veteranenamt Sie geschickt hat, um sich nach meinem Rücken zu erkundigen.«

»Nein, hat es nicht.« Webber steckte die Blätter zurück in die Tasche und setzte sich auf das Bett gegenüber von Raynor, so dicht, dass ihre Knie sich fast berührten. Grauer und die zwei Delta-Operators blieben stehen. »Junge, was halten Sie davon, wieder nach Pakistan zu gehen?«

Kolt lachte auf und schüttelte den Kopf. »Nein, danke.« Nach kurzem Zögern schob er nach: »Wieso?«

Der Colonel beugte sich noch näher heran. »Racer, Sie und ich haben in der Vergangenheit unsere Differenzen gehabt. Das ist vielleicht sogar untertrieben. Ich finde, dass Sie in Waziristan Scheiße gebaut haben, und ich habe getan, was ich tun musste, um Sie aus meiner Einheit zu entfernen. Aber abgesehen von Ihren Schwächen und den Fehlern, die Sie gemacht haben, hielt ich Sie immer für einen Mann, der Prinzipien und Charakter hat.«

Raynor starrte ihn bloß an.

»Ich sage das aus folgendem Grund: Was ich Ihnen jetzt erzählen werde, wird diesen Raum nicht verlassen. Sie sind heute nicht hergekommen und ganz sicher haben Sie sich heute nicht mit mir getroffen. Ich will, dass Sie mir Ihr Wort geben, dass Sie dieses Treffen unter allen Umständen für sich behalten.«

»Ja, Sir.«

Webber nickte und seufzte. »Wir haben folgende Situation: Langley, das Pentagon und das Weiße Haus haben seit 18 Monaten Kenntnis davon, dass die meisten, wenn nicht alle Mitglieder von Eagle 01, Lieutenant Colonel Timbles Einheit, die auf der Rettungsmission für Sie verloren gegangen ist … noch am Leben sind und in Pakistan gefangen gehalten werden.«

Kolt saß auf dem Bett. Sein Blick wanderte von Webber zu Grauer, dann zu Monk und Benji.

»TJ?«

»War vor drei Monaten am Leben und ist es vermutlich nach wie vor.«

»Heilige Mutter Gottes.«