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Anna Martach

Alpendoktor Daniel Ingold #9: Hab ich dein Herz für immer verloren?

Cassiopeiapress Bergroman





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Hab ich dein Herz für immer verloren

Alpendoktor Daniel Ingold – Band 9

von Anna Martach

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 102 Taschenbuchseiten.

 

Ein unerfüllter Kinderwunsch ist meistens qualvoll – und Daniel Ingold kann dem betroffenen Paar nicht wirklich helfen. Sinnvoller Rat kommt dann von anderer Seite; gerade als sich für die Kerstin und den Florian alles zum Besseren wendet, geschieht jedoch ein Unglück …

 

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„Es tut mir wirklich leid, Kerstin“, sagte Doktor Daniel Ingold mit sanfter Stimme, die aber auch nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass er selbst über diese Diagnose unglücklich war. „Aber die Kollegen haben eindeutig festgestellt, dass es rein körperlich keinen Hinderungsgrund gibt, warum du bis jetzt kein Kind empfangen hast. Deshalb gehen’s davon aus, dass eine psychosomatische Ursache vorliegt, also eine rein seelische Blockade.“

„Was soll das heißen?“, fragte die junge hübsche Frau mit den kastanienbraunen Locken und den dunkelbraunen Augen bebend. „Tät’ ich mir vielleicht net innig genug ein Kind wünschen? Was soll ich denn noch tun? Auf Knien zur Kapelle der unbefleckten Jungfrau auf dem Grimsteig rutschen? Ein Schmarrn ist das. Mehr als ich kann sich gar niemand ein Kind wünschen.“

„Halt, langsam, musst mich net gleich so überfahren. Schau, vielleicht wünscht du dir viel zu sehr ein Kind, so dass dein Gehirn den Körper gar net reif dafür hält. Ursachen tät’s da viele geben, und es ist net gesagt, dass man sie überhaupt finden kann. Sicher kannst jetzt zum Psychotherapeuten rennen und ihm dein Leid klagen – ob’s was nützen tät’, bleibt dann immer noch die Frage. Ich halt es für viel wahrscheinlicher, dass du dich eines Tages damit abfinden wirst, kein Kind zu haben, und dann wird's schließlich klappen.“

Die Kerstin schaute den Arzt mit einem ungläubigen und abweisenden Blick an. „Kannst auch nur dummes Zeugs daherreden wie alle anderen auch. Und dabei hätt’ ich doch gedacht, wärst was anderes, was besseres, als diese hochgestochenen Eierköpfe, die klug daher schwatzen und sich besonders schlau vorkommen, weil’s ein paar Fremdwörter mehr kennen täten als unsereins.“

„Ich glaub’, jetzt gehst aber zu weit“, bremste der Florian Eberhardter, der Ehemann der jungen Frau. Aber die blitzte ihn nur zornig an und wehrte seine Hände ab, die beruhigend nach ihren verkrampften Fingern greifen wollten.

„Wenn’s aber doch wahr ist! Wer könnt sich denn noch mehr ein Kind wünschen als wir?“ Sie kämpfte unvermittelt mit den Tränen, beherrschte sich dann aber.

Florian und Kerstin hatten für einige Zeit als das Traumpaar von ganz Hindelfingen gegolten. Sie stammten aus zwei Familien, die sich schon über Generationen hinweg nicht grün waren. Immer wieder hatte es Streitigkeiten gegeben, und niemand wäre auf die Idee gekommen, dass sich eines Tages der ganze Krieg in Luft auflösen würde, weil sich zwei junge Menschen fanden, deren Liebe stärker war als alle Anfeindungen. Selbst die beiden Patriarchen hatten mittlerweile Frieden miteinander geschlossen, und zum Glück für alle fehlte jetzt nur noch ein Kind. Das würde den Bund endgültig besiegeln.

Aber mittlerweile waren Kerstin und Florian schon fast drei Jahre verheiratet, und noch immer gab es keine Anzeichen für eine Schwangerschaft. Nun hatten sie verschiedene Ärzte aufgesucht, die beide auf Herz und Nieren untersucht hatten, woran die scheinbare Sterilität wohl liegen könnte. Zum Glück war man längst über die Zeiten hinaus, wo eine mangelnde Zeugungsfähigkeit bereitwillig allein der Frau angelastet wurde. Der Florian hatte gutmütig und hoffnungsvoll alles mitgemacht, was man ihm abverlangt hatte. Doch die Ergebnisse aller Untersuchungen waren eindeutig, rein körperlich gab es keinen Grund, warum das junge Paar nicht endlich Eltern werden konnte.

Also hätte es längst klappen müssen.

Der Daniel sah allerdings sehr klar, dass sich besonders die Kerstin so sehr darauf versteift hatte, endlich schwanger zu werden, dass wahrscheinlich ihr Körper sich ganz einfach weigerte. Doch wie sollte er dem Madl das klarmachen, wenn sie schon zu Beginn eines solchen Gesprächs in Hysterie verfiel? Obwohl Hysterie vielleicht ein zu hartes Wort war für das einfach sturköpfige Verhalten der jungen Frau.

Der Florian blieb da doch etwas vernünftiger, aber ein Kind wurde nun mal nicht von einem allein gemacht. In diesem Zustand war es vielleicht sogar besser, wenn die Kerstin noch nicht schwanger wurde. Sie würde schon bei jeder angenommenen Unregelmäßigkeit durchdrehen, und das konnte ihr und dem Kind nur schaden. Ihr das jetzt allerdings ins Gesicht zu sagen, wäre ein ebenso großer Fehler wie gar nichts zu tun.

Der Doktor musste sie beruhigen, ihr einen Rat geben, Geduld predigen – und sie irgendwie dahin bringen, dass sie ein bisschen zu sich selbst fand. Nur dann bestand berechtigte Hoffnung, dass sich der sehnlichste Herzenswunsch der Kerstin einmal erfüllen würde.

Sie schaute die beiden Mannsbilder jetzt mit feuchten Augen an, ihr Blick war flehend, aber ihre Miene blieb trotzig.

„Ich versteh’s net“, seufzte sie schließlich. „Andre Leut’, die gar keine Kinder haben wollen und sie sich vielleicht auch gar net leisten können, werfen wie die Karnickel. Und unsereins ...“

„Kerstin!“, unterbrach der Florian geschockt, aber der Daniel lachte nur kurz auf.

„Hast gar net so unrecht, auch wenn ich’s vielleicht net so drastisch ausdrücken würd’. Vielleicht tät’s daran liegen, dass die sich keine Kinder wünschen. Kannst net deine Wünsche ein bisserl ändern, nein?“

Diese scherzhafte Frage lockerte ein wenig die Spannung.

„Nein, ich werd’ mir keine anderen Wünsche ausdenken“, beharrte das Madl. „Versteh’ doch, Daniel, das ist die Erfüllung unserer Liebe.“

„Das versteh’ ich sehr wohl, Kerstin“, versuchte er die aufgeregte Frau zu beschwichtigen. „Aber grad das kann ja schon der Hinderungsgrund sein.“

„Ich glaub’, da komm ich net mit. Und das will ich auch gar net“, blieb sie stur. „Der Florian will ebenso gern wie ich was Kleines. Also kannst dir deine Diagnose gleich in die Tasche stecken und vergessen.“

Der Arzt seufzte. „Deine Überzeugung in allen Ehren, Kerstin. Aber ich sag dir, dass es so net gehen wird.“

Sie funkelte ihn an. „Wirst schon sehen, wir werden weiter daran arbeiten, dann kann’s nimmer lang dauern ...“

„Kerstin, Schatzerl, willst net doch ein bisserl auf den Daniel hören?“, unterbrach der Florian sie sanft, aber sie ließ ihn kaum ausreden. Ihre Miene wurde plötzlich anders, sie schob die Tränen beiseite, und ihre Augen funkelten energisch.

„Der Daniel kann viel reden, dem pressiert’s ja auch net. Meinst am End gar, ich geh zu so einem Kopfgucker, einem Psychotherapeuten, der mir noch mehr Unsinn erzählt? Was will der schon tun? Mir einreden, wie schön das Leben ohne ein Kind ist? Ist doch alles Schmarrn. Es bleibt dabei, wir haben jetzt endgültig festgestellt, dass da nix bei dir oder bei mir ist, was uns daran hindert, ein Baby zu bekommen. Also bekommen wir eines.“

Der Arzt war nicht wenig erstaunt über die Verwandlung, die mit der Kerstin so rasch vorgegangen war. Hatte sie nicht noch vor wenigen Minuten wie ein Häuflein Elend hier auf dem Stuhl gesessen und war tieftraurig gewesen? Jetzt sprühte sie förmlich vor Energie und Entschlossenheit.

Innerlich schüttelte er den Kopf. Versteh’ einer die Frauen. Es gab Augenblicke, da war er doch recht froh darüber, dass er noch immer nicht verheiratet war. Dies war einer davon – oder? Gleich darauf tauchte vor seinem inneren Auge jedoch das liebliche Gesicht der Bernie Brunnsteiner auf, und jeder andere Gedanke verflog.

Die Bernie war die Tierärztin hier am Ort, und der Doktor hätte sie lieber heut’ als morgen zu seiner Frau gemacht, aber bis jetzt hatte sie es stets abgelehnt, auch nur mit einem Wort darauf einzugehen, wenn er eine zarte Andeutung in dieser Richtung machte.

Der Florian zuckte jetzt etwas hilflos die Schultern. „Ganz wie du denkst, mein Schatzerl“, meinte er nachgiebig.

„Ach, wennst nur weniger an deine Arbeit denken tätst, dann ginge es vielleicht auch noch besser“, meinte sie ironisch, obwohl dem Doktor nicht ganz klar war, was die Arbeit vom Florian denn damit zu tun haben sollte.

Der junge sympathische Mann war Archäologe beim Amt für Bodendenkmalpflege. Das klang ziemlich kompliziert, bezeichnete aber in Grunde nur die Leute, die sich um die Funde aus der Vergangenheit kümmerten, die man irgendwo unterirdisch auffand. Alte Siedlungen etwa, Werkstätten, die unter der Erde vom Lauf der Zeit begraben waren, Grundmauern, auf denen später Häuser gebaut geworden waren und die plötzlich wieder zum Vorschein kamen, wenn neu ausgeschachtet wurde. Aber auch Überreste von Schlachtstätten, alte Waffen, Schmuck, alles, was die Menschen früher gebraucht hatten und uns heute Aufschluss über die Vergangenheit geben kann, fiel in seinen Zuständigkeitsbereich.

„Wie meinst denn das?“, erkundigte der Daniel vorsichtig bei der Kerstin.

Die lachte etwas verlegen auf. „Ja, weißt, da tät’s schon mal vorkommen, dass wir in einer – ach, na ja – romantischen Stimmung sind. Dann geht das Telefon, und irgendein Depp hat ein paar vergammelte Holzstücke gefunden, die er dann für die Überreste eines Palastes hält. Dann muss der Florian natürlich weg. Und ich – na, verstehst schon, oder?“

Der Arzt lächelte. „Ja, ich weiß, was du meinst. Aber ich denk’, der Florian wird doch trotzdem noch oft genug daheim sein.“

Sie streichelte sanft über die Hand ihres Mannes. „Ja, freilich. Und dann tät’s ja auch ... Na gut. Jetzt wissen wir erst mal Bescheid. Wird schon was werden.“

Davon war der Daniel noch längst nicht überzeugt, aber es hatte wohl keinen Zweck mehr noch etwas zu sagen. Oder doch?

„Wart’ mal, wennst sagst, dass ihr zu häufig gestört werdet, dann tät’s ja wohl auch Sinn machen, mal weg zu fahren und Urlaub zu machen, wo niemand in der Nähe ist. Ganz abschalten, mal was anderes sehen, und vielleicht auch mal auf andere Ideen kommen“, schlug er praktisch vor.

„Siehst“, erklärte die Kerstin triumphierend. „Genau das hab ich dem Florian auch gesagt. Und er hat gemeint, wir leben doch schon da, wo andere Leut’ Urlaub machen, und daheim tät’s ohnehin am schönsten sein.“

„Das solltet ihr euch trotzdem mal überlegen“, bekräftigte der Arzt, und Florian nickte.

Als die beiden wieder draußen waren, dachte der Daniel noch einen Moment über diesen Fall nach. Ein bisschen machte es ihm Sorgen, dass die Kerstin so sprunghaft war in ihren Launen. Im einen Augenblick war sie zu Tode betrübt, und gleich darauf wurde sie wieder übersprudelnd lebhaft. Wie sollte das wohl werden, wenn erst noch ein Kind dazu kam? Nun, entweder würde das Madl dann ruhig und ausgeglichen, oder die Familie hatte endgültig ein Problem.


Es war ein Unfall, wie er alle Tage passieren konnte, und wie er auch unzähligen Leuten schon zugestoßen war. Dass es ausgerechnet die Kollmannberger Vreni treffen musste, war natürlich ausgesprochenes Pech.

Sie hatte auf der Leiter gestanden, um die Fenster zu putzen, die sich hoch hinaufzogen. Der Sepp, ihr Ehemann, war noch auf der Arbeit, und vielleicht wär’s klüger gewesen zu warten, bis er wieder daheim war, damit er die Leiter hätte halten können. Doch die Vreni ließ sich ja ohnehin nix sagen, da hatte der Sepp schon oft genug gegen Wände geredet.

So war es denn gekommen, dass die Leiter ins Schwanken geriet, während die Vreni werkelte, und schließlich kippte das gute Stück um. Mit einem lauten Aufschrei und viel Gepolter stürzte die Frau herunter und lag zwischen den Streben, ihren Putzlappen und einer reichlichen Menge Wasser aus dem Putzeimer. Sie schrie noch einmal laut. Ja, hörte sie denn keiner? Sonst war’s doch immer so, dass in Hindelfingen die Leut’ die Flöhe husten hörten.

Sie übersah dabei, dass es meistens sie selbst war, die Gerüchte und Neuigkeiten vernahm, die noch gar nicht geschehen waren. Hier war es etwas ganz anderes.

Vreni stöhnte auf und versuchte sich zu bewegen, doch sogleich zog ein furchtbarer Schmerz von ihrem linken Bein fast durch den ganzen Körper. Sie schrie wieder auf, und dieses Mal tatsächlich vor Schmerzen.

Ja, da sollte doch dieser und jener dreinschlagen, sie würde sich doch nicht etwa verletzt haben? Sie hob den Kopf und sah die Bescherung.

Das linke Bein lag in einem seltsam verkrümmten Winkel, wurde oberhalb des Knöchels rasend schnell dick und schmerzte höllisch. Außerdem war das Fenster offen, und draußen war es ziemlich kühl, immerhin war es schon Anfang November, und die Temperaturen bewegten sich um den Gefrierpunkt. Sie begann erbärmlich zu frieren.

„Hallo, Hilfe, hört mich jemand?“, versuchte die Vreni zu rufen, doch der Schmerz wurde jetzt so stark, dass ihre Stimme gepresst klang und vermutlich nicht bis auf die Straße hinausdrang.

„Was ist denn da los? Tät’ was net stimmen, kann ich vielleicht helfen?“, fragte plötzlich eine Stimme vom Fenster her. „Ach, herrjeh, da schaut’s aber bös aus. Warten S’, ich komm herein und helf’ Ihnen.“

„Depp, narrischer“, schimpfte die Vreni. „Wenn ich die Tür aufmachen könnt, dann tät’ ich selbst Hilfe holen.“

Die Einsamkeit war ein Problem, was man nicht unterschätzen sollte. In allgemeinen war hier in Hindelfingen die Welt noch in Ordnung, und viele jüngere Leute kümmerten sich um ihre Eltern und Großeltern. Doch die Arbeit in der heutigen Welt forderte ihren Tribut, und häufig genug blieb einfach nicht genug Zeit, um sich ausreichend mit den älteren Leuten zu beschäftigen. Hier griff dann die Aktion vom Pfarrer, der auf diese Weise auch sicher gehen konnte, dass wirklich niemand unversorgt in seiner Gemeinde blieb. Für die wirklich Bedürftigen war dieser Dienst kostenlos, dennoch verdienten die jungen Leut’ sich ein Taschengeld, weil es andere gab, die auch gern dafür zahlten, dass ihnen geholfen wurde. So waren eigentlich alle zufrieden, und dieser freiwillige Dienst war in der ganzen Gegend beispielhaft.

„Kann ich noch was tun?“, rief der Bursche nun durch das Fenster.

„Soll ich net besser einen Krankenwagen ...?“, schlug der Matthias vor, wurde aber rüde unterbrochen.

Dem musste der Matthias sich wohl fügen, doch so ganz wohl war ihm nicht dabei, und er erzählte auch dem Herrn Pfarrer sofort davon.