image
image
image

Inhalt

image
image
image

Meinem Freund Erik Jayme gewidmet
In Erinnerung an gemeinsame Tage in Venedig
und an Lorenzo Perosi

I

Es gibt Zeiten, da sind alle Touristen verflogen. Dennoch geht die Sonne unter, wie die (wie sagt man?) Verantwortungsträger es gern sehen. Aber er schaut nicht hin; er sitzt wahrscheinlich im Caffè Quadri und denkt bei einem Arbeitsessen darüber nach, wie man die letzten Horrornachrichten am besten unter den Teppich kehren kann. Auch die vier, fünf Venezianer, die am Anlegesteg der Linie 82 an S. Giorgio Maggiore stehen, schauen nicht hin. Sie haben das ja jeden Tag. Der Canale della Giudecca plätschert schwarz gegen die Pfosten, die Silhouetten der Dogana und der Salute ragen wie ausgefeilt gegen einen Stahlhimmel, wie von Canaletto gemalt. Von oben senkt sich die Dämmerung, und hinten im Westen breitet sich ein Band von rotem Brokat quer über den Himmel. Es ist so schön, dass einem jedes Wort vergeht.

Aber alles täuscht. Venedig ist eine Inszenierung, ist immer eine Inszenierung gewesen, weswegen viele, die nicht genau genug nachdenken können, nur Flitter und Glitzerkram gesehen haben. Venedig ist eine Inszenierung, aber Venedig hat die Realität, das Leben inszeniert. Echt und falsch verschränkt sich in Venedig. Alles täuscht, vor allem täuscht die Täuschung, und eine vorgetäuschte Täuschung ist das Echte. Von einem der berühmtesten Venezianer gibt es eine – von ihm selber erzählte – Anekdote. Von Giacomo Casanova ist die Rede. Auf einer Gesellschaft in Paris wurde Casanova einem verarmten französischen Herzog vorgestellt, Ritter des Ordens vom Heiligen Geist, dessen Ordenskleinod, das er am Rock trug, allerdings aus Strasssteinen und Blech war. Casanova schmückte sich gern mit einem erfundenen Orden, den er sich selber verliehen hatte. Das Kleinod an Casanovas Rock war aus Gold und Brillanten. »Sehen Sie«, sagte Casanova, »Ihr Orden, Monseigneur, ist echt, aber falsch. Meiner ist falsch, aber echt.« So vernetzt ist falsch und echt in Venedig.

Venedig kann es nicht geben, denn man kann keine Stadt ins Wasser bauen. Aber Venedig gibt es doch. Venedig ist das Trugbild der Realität, aber dadurch, dass die Täuschung echt wird, bringt Venedig die Wirklichkeit hervor. Venedig ist die Stadt als Ding an sich. Venedig ist die Stadt, die es gibt, weil es sie nicht gibt. Venedig war das, was die Welt als letzte Blüte der Schönheit hervorgebracht hat. Es ist nur folgerichtig, dass Venedig als Erstes von unserer Welt zugrunde gehen wird. Diese Einladung nach Venedig kommt zu spät, denn Venedig wird nicht untergehen, Venedig ist schon untergegangen, man will es nur noch nicht wahrhaben, insbesondere die Verantwortungsträger nicht, die immer noch im Caffè Quadri beim Arbeitsessen sitzen.

II

Gemessen an den anderen großen Städten Italiens ist Venedig jung. Die Städte der Toscana sind etruskische Gründungen, Mailand wurde schon im 4. Jahrhundert v. Chr. von den gewissen Insubrern erbaut, wer immer die waren (und so sieht es auch heute noch aus), Neapel geht auf die alten Griechen zurück, die sizilianischen Städte sind noch älter, Gründungen vormenschlicher Giganten, wenn man den Legenden glauben darf, und Rom ist überhaupt so alt wie die Welt, weil es ja ihre Seele ist, nur Venedig ist jung. Früher zählten die Venezianer nach römischem Muster auch »a. u. c.« (ab urbe condita = seit Gründung der Stadt), aber das Jahr, das sie dafür ansetzten, war nicht 753 v. Chr. wie in Rom, sondern 421 nach Chr. Vorher war hier Sumpf, ins Meer ausgefranste Wiese, ein paar unbewohnte Inseln und die Lagune, wahrscheinlich alles in allem ein Paradies, dessen Geschichte allein in der Generationenabfolge von Seevögeln, Fischen und Ameisen bestand. Die Lagune, die sich mit dem hin- und herrollenden Sand ständig veränderte, hieß bei den Römern Laguna Veneta, weil weiter landeinwärts bis ans Gebirge der illyrische Volksstamm der Veneter (Veneti) saß.

Wer diese Veneti oder griechisch ένετοι (also: Henetoi) waren, weiß niemand. »Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.« Die Veneti verlieren sich dort unten in undurchdringliche Schatten. Die alten Scriptoren haben die Veneti den Illyriern zugezählt. Wahrscheinlich, meine ich, waren diese Illyrier gar keine ethnisch einheitliche Gruppe. Für die Griechen war der Begriff Illyrier wohl eher ein Name für ein Sammelsurium von kleinen (und in ihren Augen halbwilden) Stämmen, die um die obere Adria herum wohnten. Von den Henetoi weiß man, dass sie eine eigene Sprache, sogar eine Schrift und eine gewisse Höhe der Zivilisation erreicht hatten und, ein hübscher Zug, zu fast ausschließlich weiblichen Gottheiten beteten.

Immer noch schwappte über das Röhricht der Lagune das brackige Wasser, noch jahrhundertelang, unberührt davon, dass das venetische Gebiet im 3. Jahrhundert v. Chr. unter römischer Herrschaft und zur Provinz Gallia ciscalpina kam. Aquileja, die Adlerstadt, wurde 181 v. Chr. von den Römern als Castell gegründet und entwickelte sich zum Mittelpunkt des venetischen Landes. 42 v. Chr. kam – durch die neue Verwaltungseinteilung – Venetien an Italien und bildete mit Histrien die »zehnte Region«, Hauptstadt blieb Aquileja.

Es ist sicher, dass sich um diese Zeit oder wenig danach an der Lagune und auf manchen Inseln die inzwischen latinisierte Bevölkerung ansiedelte, woraus sich die Gemeinwesen entwickelten, die später Grado, Bibione, Caorle, Jesolo, Torcelo, Murano, Malamocco, Heraclea heißen werden, und: Das Dorf Rivus altus – Rialto. Die Übersetzung »Hoher Fluss« ist nicht richtig. Altus bedeutet im Lateinischen nicht (oder nicht nur) »hoch«, sondern: »von großem Niveauunterschied«. »Altus« ist auch ein tiefer, wohl auch ein breiter Fluss. Im Übrigen gehörte das Rialto noch einige Jahrhunderte lang zu den unwichtigeren Ansiedlungen an und auf der venetischen Lagune.

Bei der Reichsteilung Ende des 3. Jahrhunderts unter Diocletian kam »Venetia et Histria« zum Westteil, und mit dem Sturm der germanischen Barbaren und der Hunnen, der das Ende des Weströmischen Reiches herbeiführte, beginnt zwar nicht die Geschichte, aber die eigentliche Vorgeschichte der Stadt Venedig. Insofern ist das legendäre Gründungsdatum: Mariae Verkündigung (also 25. März) 421 nicht ganz abwegig. Vor den Goten flohen sehr viele Bewohner des Festlandes auf die Inseln, wodurch die Einwohnerschaft und die Bedeutung der oben aufgeführten »Dörfer« wuchs. Die Veneti fühlten sich als Römer, waren ja auch römische Bürger, ihre Hauptstadt war das ferne Byzanz. Die Verbindung zu allen Landwegen war nun oft abgeschnitten. So orientierten sich die Ortschaften schon damals aufs Meer hinaus.

Ein religiöses Moment kam dazu. Es gab ja immer noch das Römische Reich, und der Kaiser in Byzanz, der de jure der Nachfolger des Augustus und dessen Ideal-Hauptstadt immer noch Rom war, postulierte selbstverständlich die Herrschaft über das ganze Mittelmeerreich. Die Ostgoten, deren Herrscher eigentlich nur Volkskönige, nicht Könige über Italien und schon gar nicht über die römischen Bürger waren, betrachtete der Kaiser als einen lästigen, im eigenen Haus sich breit machenden Barbarenverein. Zum Glück für Byzanz degenerierten die Ostgoten sofort nach des großen Theoderich Tod zu einem undisziplinierten Haufen von wasseräugigen Raufbolden, von dem die byzantinischen Feldleute Narses und Belisar Italien sehr rasch desinfizieren konnten. 554 war Italien wieder »römisch« oder – de facto – byzantinisch, aber nicht lange. 14 Jahre danach drang ein anderer germanischer Stamm nach Süden vor, ein Stamm, der weniger romantisch verklärt ist als die Goten, aber offenbar zäher und zielstrebiger war, was nicht wundert, wenn man sich vergegenwärtigt, dass er alemannischer Abkunft war: die Langobarden. Sie besetzten ganz Ober- und Mittelitalien und richteten sich für alle Zukunft alemannisch und häuslich ein, allerdings blieben nicht unbedeutende Reservate unter direkter byzantinischer Herrschaft: Rom, Campanien, Sizilien und unter anderem Venetien, das von Ravenna aus von einem byzantinischen Statthalter regiert wurde. In Venetien war dieses Gebiet nur ein schmaler Küstenstreifen. Nun das erwähnte religiöse Moment: Die Langobarden waren Arianer, die Bevölkerung in Venetien war orthodox. Der Arianismus war eine – in den Augen der heutigen Kirchen – irrige Lehre, die im 4. Jahrhundert entstand und auf einen alexandrinischen Priester Areios zurückging. Im Grunde genommen vertrat die arianische Theologie die wohl reinere christliche Lehre vom Einen Gott, also den strikten Monotheismus gegen den damals aufkommenden, bis heute nur schlecht verhüllten Polytheismus der Katholiken, die sich mit der nur sehr schwer und mit haarsträubenden Gedankenvolten zu begründenden Dreifaltigkeit eine neue olympische Göttertrias schufen. Für die Arianer gab es nur einen Gott, nämlich »Gott-Vater«, Jesus sahen sie als eine Art herausragenden Mittler, einen abschließenden, endgültigen Propheten an, ein theologisches Modell, das später Mohamed – wie so vieles – abkupferte. Der Zufall der Zeitläufte und die Laune des Weltgeistes verfügte, dass der wohl bessere Arianismus unterging und die sogenannte Orthodoxie blieb.

Die arianischen Langobarden und ihre Priester schikanierten die Orthodoxen in Venetien, und so wanderten neuerlich ganze Schübe von Emigranten auf die Lagunen-Inseln aus. (Es ist oft zu lesen, dass sich die Landbewohner Venetiens wegen des Hunnensturms auf die Laguneninseln flüchteten, wo sie sicher waren, weil die Hunnen zwar entsetzlich schnelle Pferde, aber keine Schiffe besaßen. Das ist nur zum Teil richtig. Es stimmt, dass einer der Schübe 452 beim Hunneneinfall erfolgte, aber eben nur einer und nicht der entscheidende.)

Einige der Inselgemeinden wurden so bedeutend, dass dort eigene Bistümer gegründet wurden (Caorle, Torcello, Heraclea, Malamocco und Jesolo – nicht Rialto!). Der Metropolit Venetiens, seit alter Zeit der Ober-Bischof von Aquileja, der, warum und mit welchem Recht, weiß man nicht, seit dem 6. Jahrhundert wie der Papst und die bedeutendsten Bischöfe des Ostens den Titel »Patriarch« führte, floh schon 368 von Aquileja auf die Inseln, nämlich nach Grado. Da die Arianer in Aquileja einen eigenen Patriarchen wählten, gab es nun zwei schismatische und rivalisierende Oberhirten, worauf später zurückzukommen sein wird.

In der Zeit der Herrschaft oder besser Statthalterschaft des Exarchen von Ravenna über die Ortschaften der Lagune verwalteten die einzelnen Gemeinwesen sog. Tribuni. Die spätere Stadtverfassung der aristokratischen Seerepublik Venedig kündigte sich hier schon an: Die Tribuni wurden zwar gewählt, aber nur aus vornehmen »tribunizischen« Familien. Die Lagunen-Gemeinden Venetiens, die nun schon einen nicht unbeachtlichen politischen und wirtschaftlichen Faktor an der Adria bildeten, blieben nach dem Fall Ravennas der letzte Brückenkopf Byzanz’ in Oberitalien. Die Langobarden hatten stetig die byzantinischen Restenklaven bestürmt und im Lauf von knapp 200 Jahren eine nach der anderen erobert. Venetien im Schutz der Lagune widerstand. Als es keinen Exarchen in Ravenna mehr gab, wurden die Ämter der Tribunen abgeschafft und stattdessen ein Dux (Herzog = venezianisch Doge) gewählt. Das war der Legende nach