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Moni & Simon Reinsch

Moselruh

Moni Reinsch, geb. 1968, lebt mit ihrer Familie in Trier. Sie hat alles mal probiert (Bank, Marketing, Personalwesen, Psychologie), lebt aber eigentlich fürs Schreiben.

Ihr Sohn Simon Reinsch, geb. 1993, studiert zurzeit Medieninformatik in Birkenfeld.

Ihren ersten gemeinsamen Krimi »Tief im Hochwald« veröffentlichten die beiden 2013.

Moni & Simon Reinsch

Moselruh

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Originalausgabe

© 2015 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

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Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

unter Verwendung von:

© Ingo Bartussek – www.fotolia.de

Redaktion: Nicola Härms, Rheinbach

Print-ISBN 978-3-95441-254-9

E-Book-ISBN 978-3-95441-268-6

Inhalt

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Für (Oma) Gisela,

ihren Lebensgefährten Edmond

und alle diejenigen,

die einen Partner

zu dessen Lebzeiten an

Alzheimer verloren haben.

Gedankenverloren

Ich sitze im Zug von A nach B

und merke, ein Gedanke tut mir weh.

An A kann ich mich nicht entsinnen,

doch spüre ich, wie ganz tief drinnen

sich etwas Wohliges in mir regt,

während der Zug sich fortbewegt.

Die Vergangenheit war mir vertraut,

während sich drohend vor mir aufbaut,

wohin mich dieser Weg wohl bringt.

Etwas aus meiner Erinnerung dringt

nicht mehr ganz zu mir hervor.

Fühl mich wie vor einem großen Tor

und weiß nicht, wohin ich mich wenden soll.

Um mich herum ist alles so voll.

Fremde Stimmen dringen an mich heran.

Mir gegenüber sitzt ein Mann,

der mit mir spricht, als würd’ er mich kennen.

Es wird Zeit, dass sich unsere Wege trennen.

Er will sich in mein Innerstes schleichen

und ich muss dringend von ihm weichen.

Beim nächsten Halt, da steig’ ich aus!

Der Mann verfolgt mich, ich will hier raus.

Die Türen gehen auf, doch der Mann hält mich fest.

Ich will, dass er mich gehen lässt!

Ich kenne ihn nicht, hab ihn nie gesehen,

doch dieser Mann lässt mich nicht gehn.

»Was fällt Ihnen ein, lassen Sie los!«

Doch seine Augen werden ganz groß.

»Vater«, versucht er gezwungen heiter,

»wir müssen noch drei Stationen weiter!«

Ich weiß nicht, wovon der Fremde spricht,

sehe nur Trauer in seinem Gesicht.

Ich habe Angst, wohin will er mich bringen,

während tausend Gedanken mit mir ringen.

Erinnerungen dröhnen in meinen Ohren.

Da war ein Gedanke – doch ich hab ihn verloren.

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Sonntag

Johannes betrachtete das alte Anwesen von der Straße aus. Er war erst gestern mit seinem Vater hier im Altersheim gewesen, um seine Tante Adele zu besuchen. Sie war sehr verwirrt gewesen, vielleicht noch mehr als sonst. Sie hatte sich beklagt, dass ihre Haftcreme aufgebraucht war, dabei war es noch nicht lange her, seit er mit Tante Adele alle wichtigen Hygieneartikel eingekauft hatte. Allerdings kam es immer wieder vor, dass andere Bewohner sich in fremde Zimmer verirrten und mitnahmen, was ihnen in die Finger kam.

Johannes mit seinen fünfunddreißig Jahren stellte sich ein Leben in einem Demenzaltersheim außerordentlich trostlos vor. Vielleicht hatte die alte Frau die Haftcreme auch als Zahnpasta benutzt, statt ihre dritten Zähne damit festzukleben. Oder sie hatte sie einfach weggeworfen, weil sie sich nicht daran erinnern konnte, was sie damit machen sollte.

Johannes’ Vater Hajo, den Adele immer noch erkannte, hatte gestern eine Schale Weintrauben mitgebracht, über die Adele sich sehr gefreut hatte. Die konnte sie auch ohne Zähne am Gaumen zerdrücken. Aber sie hatte kraftlos gewirkt, so, als habe sie schon mehrere Tage kaum etwas gegessen. Die Grippewelle hatte das Heim zudem fest im Griff, viele Bewohner waren krank, genauso wie einige Angestellte, sodass Adele möglicherweise auch dadurch angeschlagen war.

Johannes machte sich Sorgen um seine Lieblingsgroßtante, die einzige seiner Großtanten, die noch am Leben war. Darum war es für ihn selbstverständlich, ihr gleich heute Morgen die Haftcreme zu bringen, bevor er einen Termin zu einer Wohnungsbesichtigung hatte. Er befürchtete, dass die alte Dame sonst wieder nichts essen würde. Adele Kröber war über neunzig und seit einigen Monaten sehr wackelig auf den Beinen, an den meisten Tagen fühlte sie sich im Rollstuhl sicherer. Die Schwester hatte gestern erzählt, dass sie sich in den letzten Wochen sogar manchmal geweigert hatte, aufzustehen und mit den anderen im Gemeinschaftsraum zu essen. Stattdessen wollte sie alleine in ihrem Zimmer essen, was Hajo und Johannes Sorgen bereitete.

Wie alle Bewohner im Haus Moselruh war sie dement und hatte sich zu Hause nicht mehr behelfen können. Die Pflegerinnen sagten immer, es ginge Adele ein paar Tage lang besser, wenn sie Besuch gehabt hatte, darum versuchte Johannes, die Zeit irgendwie in seinen Alltag einzubauen, auch wenn es manchmal schwerfiel. Aber er genoss es zugleich, bei diesen Besuchen Zeit mit seinem Vater zu verbringen. Johannes war vor einigen Monaten nach der Trennung von seiner Frau Lenny zu seinem Vater nach Hellersberg in den Hochwald gezogen, aber wegen seiner Arbeitszeiten in einer Luxemburger Bank und der langen Fahrt dorthin sahen sie sich fast nur am Wochenende. Hajo war auf Johannes als Fahrer angewiesen, denn er fuhr kein Auto mehr, seit seine Frau, Johannes’ Mutter, vom Scheunenboden auf das Dach seines alten Opel Kapitän gefallen war und sich dabei tödlich verletzt hatte. Er hatte das als Zeichen gesehen, das demolierte Auto an einen Liebhaber verkauft und fuhr seitdem höchstens noch mit dem Traktor durchs Dorf.

Den Besichtigungstermin hatte Johannes erst um zehn Uhr, bis dahin wäre er auf jeden Fall von Mehring aus rechtzeitig in Trier. Er hatte sich in den letzten Wochen schon einige Wohnungen angesehen, weil er endlich wieder in einer eigenen Wohnung leben wollte, bevor sein siebzehnjähriger Sohn Jonas in zwei Monaten von seinem Schüleraufenthalt in Amerika zurückkäme. Aber es war nicht leicht, eine Bleibe für sich und seinen Sohn zu finden, die verkehrsgünstig sowohl nach Luxemburg als auch zur Schule gelegen und zugleich bezahlbar war. Viele Vermieter wollten nur an Paare vermieten, manche wollten keine Kinder, schon gar nicht, wenn sie sie nicht zuvor gesehen hatten. Erst gestern hatte Johannes eine Diskussion mit einer Vermieterin, die ihn jetzt noch ärgerte, wenn er daran dachte.

Johannes hatte am Randstreifen der Bundesstraße geparkt, die im Sommer und während der Weinlese viel befahren war, vor allem von holländischen Touristen mit Wohnwagen und Wohnmobilen, aber auch von Motorradfahrern und Kurzzeittouristen, die eine Fahrt entlang der Mittelmosel mit einem Besuch in der Römerstadt Trier verbanden. Sonntagmorgens war die Straße leer, aber heute standen erstaunlich viele Autos am Rand.

Johannes hatte das große, schmiedeeiserne Tor in der Mauer erreicht, die den Park einschloss, und ging über den langen Kiesweg zum Eingang der Villa. Im Rosengarten sah er zwei Pflegerinnen aufgeregt zwischen kurz geschnittenen Rosensträuchern herumlaufen. Johannes grüßte laut und freundlich. Eine der Pflegerinnen kreuzte seinen Weg. Sie sah verfroren und genervt aus.

»Suchen Sie etwas, Schwester Veronika, kann ich helfen?«, bot Johannes an.

»Ewald ist schon wieder weg, wir suchen ihn schon den ganzen Morgen. Ich fürchte, wir müssen gleich die Polizei einschalten«, erzählte sie aufgeregt. Sie hatte sicherlich viel Routine in ihrem Beruf und war nicht so leicht aus der Bahn zu werfen, aber jetzt wirkte sie erschöpft und höchst angespannt.

Johannes erinnerte sich, dass sie gestern schon nach Ewald Braun gesucht hatten, einem körperlich rüstigen, aber geistig verfallenen Mann in den Neunzigern. Er schien häufig wegzulaufen, darauf war der Personalschlüssel des Heimes einfach nicht ausgelegt.

»Am liebsten würde ich seine Tür abschließen oder ihn fixieren, solange wir mit so wenigen Leuten hier arbeiten müssen«, murrte Jessica, eine junge Pflegeschülerin.

Schwester Veronika sah sie tadelnd an.

»Nein, natürlich nicht«, lenkte die Schülerin ein. »Aber es nervt schon mächtig, dass wir uns hier den Arsch aufreißen und nur noch zu fünft im ganzen Haus sind, weil alle anderen krankgeschrieben sind. In der Berufsschule hören wir immer, wie das richtige Zahlenverhältnis zwischen Pflegekräften und Bewohnern sein sollte, aber die Realität sieht völlig anders aus. Wenn ich weiter hier draußen rumlaufen muss, bin ich nächste Woche auch krank.«

Johannes sah auf die dünnen Chucks an ihren Füßen und ihre kurze Jacke, die die Nieren nicht bedeckte und einen Spalt zwischen Oberteil und Hüfthosen frei ließ, was ihren Fluch sehr bildhaft untermalte.

»Das können Sie mir nicht antun, Jessica, Sie sind doch schon für eine kranke Kollegin eingesprungen, noch mehr Personalmangel und wir können bald dichtmachen«, hörte Johannes im Weitergehen.

Die hochherrschaftliche Eingangshalle war leer. Gestern hatte noch die kleine Ordensschwester Engelberta an der Rezeption, wie die Ein- und vor allem Ausgangskontrolle im Haus Moselruh offiziell hieß, gesessen. Sie war heiser gewesen, Johannes hatte noch den dicken, schwarzen Schal um ihren Hals vor Augen, der auf der Ordenstracht sehr ungewohnt ausgesehen hatte. Rechter Hand hörte Johannes Stimmen aus dem Aufenthalts- und Speisesaal. Adele Kröbers Zimmer war ganz hinten im linken Gang mit Blick auf den Park.

Tante Adele schien es heute etwas besser zu gehen. Sie war wie immer anfangs leicht verwirrt und konnte sich nicht an Johannes’ gestrigen Besuch erinnern, aber nach wenigen Minuten schien sie deutlich lebendiger zu werden. Wie meist verwechselte sie Johannes mit seinem Vater Hajo, aber das störte ihn nicht, er sah es eher positiv, dass sie sich wenigstens noch an Hajo erinnerte. Sie erzählte lebhaft, wie sie vor dem Krieg eine Fahrradtour mit Freunden gemacht hatte, und lächelte bei der Erinnerung zahnlos. Tante Adele nippte an dem Traubensaft, den Johannes ihr eingegossen hatte, steckte sich eine Traube nach der anderen in den Mund und plapperte vor sich hin. Sie fragte nach dem Hof, auf dem Johannes groß geworden war; nach seiner Arbeit in der Bank fragte sie nie.

»Tante Adele, die anderen warten sicher schon mit dem Frühstück auf dich«, unterbrach Johannes ihren Redefluss. »Kommst du mit der Haftcreme alleine zurecht oder soll ich dir eine Schwester rufen?«

Adele Kröber schüttelte ungeduldig den Kopf. »Wozu soll ich denn Haftcreme brauchen?«

Johannes atmete einmal tief durch. »Tante Adele, du hast gestern erzählt, dass deine Haftcreme verschwunden ist und du ohne sie nichts essen kannst. Darum bin ich extra heute so früh gekommen, weil ich mir Sorgen um dich mache. Es ist wichtig, dass du etwas isst und vor allem trinkst.«

Die alte Frau sah ihn aus jetzt traurigen Augen an, eine Träne glänzte in ihrem Augenwinkel. »Dann lauf ich mal schnell ins Bad«, sagte sie und wollte aufstehen. Johannes bot ihr einen Arm an, auf den sie sich stützen konnte. Im Gegensatz zu ihr wusste er, dass sie nicht mehr alleine laufen konnte. Adele lächelte ihren Großneffen dankbar an und ließ sich wieder in den Rollstuhl sinken. Johannes schob sie in das behindertengerechte, geräumige Bad und sah zu, wie Adele die Haftcreme auf ihre Zähne drückte und mit dem Kiefer mahlte, bis alles seinen richtigen Sitz hatte.

»Komm, Tante Adele, ich helfe dir noch beim Anziehen und fahre dich dann in den Speisesaal. War denn heute noch niemand bei dir, um dich zu holen?«, fragte Johannes mit einem Blick auf seine Uhr. Es war schon nach neun, ungewöhnlich spät zum Frühstücken. Er musste endlich fahren, eine knappe halbe Stunde wäre er bis Trier sicher unterwegs.

»Gib mir bitte die blaue Hose aus dem Schrank und einen warmen Pulli, vielleicht den hellblauen. Und dann lässt du mich einfach alleine zum Anziehen«, bat sich die alte Dame aus.

Johannes legte ihr die gewünschte Kleidung aufs Bett, öffnete die Terrassentür und trat hinaus in den kühlen Märzmorgen. Die Tür ließ er offen, um das Zimmer von den Gerüchen der Nacht zu lüften.

Adele brauchte fast zehn Minuten, bis sie fertig war, aber dann strahlte sie Johannes an und meinte, sie habe Hunger. Johannes lächelte zurück.

»Komm, ich bringe dich jetzt in den Speisesaal.« Als er die Zimmertür öffnete, hörte er Tumult aus dem Speisesaal. Johannes fuhr mit Adele durch die leeren Gänge und betrat den großen, hellen Raum. Er bat zwei Mitbewohner, die kurz hinter der Tür den Weg versperrten, ihn mit dem Rollstuhl durchzulassen. Als sie zur Seite wichen, sah Johannes den Pfleger Daniel in einer Blutlache auf dem Boden liegen, den Kopf in einem unnatürlichen Winkel zur Seite geneigt. Mit einem Blick erfasste Johannes die Situation, griff zu seinem Handy und wählte den Notruf. Dann rief er seinen Vater an.

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Das Heim lag recht einsam vor dem Moselweinort Mehring, und Vanessa Müller-Laskowski wunderte sich, warum alle Parkplätze an der Straße belegt waren, bis sie ein Schild mit der Aufschrift IVV sah – eine Volkswanderung, ausgerechnet heute!

Vanessa quetschte sich etwas entfernt in eine Parklücke und nahm ihre Schultertasche vom Beifahrersitz. Es war empfindlich kühl, und sie bedauerte, keine Handschuhe eingepackt zu haben.

Das schmiedeeiserne Tor war offen, vor der Eingangstür standen ein Krankenwagen, ein Notarztwagen und ein Polizeifahrzeug. Vanessa ging durch die menschenleere Halle und wandte sich nach rechts dem Lärm zu. Sie betrat einen großen, lichtdurchfluteten Raum, den sie schon von außen durch die großflächigen Fenstertüren hatte sehen können. Die erste Fenstertür war weit offen, eine Pflegeschülerin saß bleich davor und krallte sich an die Sitzfläche ihres Stuhls. Vanessa verharrte einen Moment neben ihr und überblickte die Lage. Abgesehen von den Einsatzkräften sah sie sicherlich mehr als ein Dutzend Personen, die im Aufenthaltsraum saßen oder standen, und über ihre Köpfe hinweg dröhnte die Stimme einer Schwester, die routiniert alle bat, Ruhe zu bewahren, es käme gleich jemand, der sich um sie kümmere. Vanessa musste einem Rollstuhl ausweichen und wäre beinahe über ein Paar Krücken gestolpert, die an einem Tisch lehnten. Sie ging zu dem Notarzt und einem Rettungssanitäter, die mitten im Raum im Gespräch miteinander standen. Zu ihren Füßen lag ein junger Mann mit einer weißen Pflegerhose und einer ehemals weißen Pflegerjacke, die jetzt blutrot verfärbt war. Aus dem hinteren Bereich des Raumes löste sich eine Gestalt und kam auf die Kommissarin zu. »Hallo Vanessa, schön, dass du so schnell kommen konntest«, sagte Johannes und küsste Vanessa flüchtig auf die Wange. Vanessa hatte Hajos Sohn bei ihren Ermittlungen im Hochwald im vergangenen Herbst kennengelernt und freute sich, ihn zu sehen, wenn auch nicht unter diesen Umständen.

»Ich habe meine Tante Adele besucht und dabei diesen toten Pfleger, Daniel, gefunden. Ich dachte mir, es ist das Beste, dich dazuzurufen, aber ich hatte deine Handynummer nicht. Mein Vater hat dich also angerufen? Oder haben deine Kollegen dich informiert?«

Ein eifriger, uniformierter Polizist drängte sich zwischen die beiden und räusperte sich. »Michael Lieser, Polizeikommissar, ich bin hier der zuständige Beamte. Und wer sind Sie?«

»Kriminalhauptkommissarin Vanessa Müller-Laskowski, Mordkommission Trier, freut mich, Sie kennenzulernen. Der Zeuge Johannes Nert hat mich informieren lassen, und ich habe mich mit Ihren Kollegen auf der Dienststelle abgesprochen, dass ich den Fall übernehmen werde.«

Michael Lieser war vermutlich Anfang bis Mitte dreißig und schien äußerst ambitioniert zu sein. Vanessa sah seinem bemüht beherrschten Gesichtsausdruck an, dass es ihm nicht passte, hier nicht die Oberhand zu haben. »Aber der Daniel ist in meinem Revier ...«, argumentierte er schwach.

»Ich bin froh, dass Sie sich hier auskennen, dann sind wir sicherlich ein gutes Team. Sie kennen den Toten?«, lenkte Vanessa ab.

»Na ja, wir fahren beide Motorrad, also, ich meine, Daniel ist auch Motorrad gefahren, genau wie ich. Wir schrauben beide in einer kleinen Werkstatt in Schweich an unseren Maschinen rum, da haben wir uns kennengelernt. Dann sind wir mal zusammen an den Nürburgring gefahren, aber gut kenne ich ihn nicht.«

»Herr Lieser, ich wüsste erst einmal gerne, was passiert ist. Haben Sie Wünsche, wie wir uns die Arbeit hier aufteilen sollen?«, fragte Vanessa.

»Ich würde am liebsten erst einmal die ganzen Zivilpersonen hier wegschaffen«, schlug Lieser vor, aber Johannes schüttelte energisch den Kopf. »Entschuldigen Sie, ich habe meine Tante Adele Kröber besucht, die dort hinten sitzt, und habe den Toten gefunden. Kurz nach mir kamen Schwester Veronika und Schwesternschülerin Jessica. Die ist erst mal ohnmächtig geworden, die Sanitäter haben sich bereits um sie gekümmert. Um den Pfleger Daniel konnten sie sich nicht mehr kümmern, da kam wohl jede Hilfe zu spät. Ich habe mit Schwester Veronika gesprochen, sie sagt, es ist unmöglich, die Leute jetzt in ihre Zimmer zu bringen. Die Menschen haben etwas Traumatisches erlebt, was vielleicht an verschütteten Erinnerungen rührt, außerdem können sie vermutlich nicht verarbeiten, was sie gesehen oder gehört haben. Es wäre fatal, sie jetzt alleine zu lassen. Die Schwester möchte gerne alle im Blick behalten, um gegebenenfalls eingreifen zu können, sobald sie eine Unregelmäßigkeit bemerkt.«

Der Polizist schien hin- und hergerissen zu sein. Vanessa sah sich im Raum um. Die Schwester, die Johannes als Veronika bezeichnet hatte, strich einer alten Frau über die zerzausten Haare und reichte ihr einen Becher mit Pfefferminztee, dessen Duft über dem Raum lag. Es roch außerdem nach Urin und Kot. Vanessa griff in ihre Jackentasche und zog automatisch Latexhandschuhe über ihre eiskalten, steifen Finger. Sie ließ die beiden Männer stehen und wandte sich an den Notarzt.

»Ich bin ja kein Gerichtsmediziner oder so, nur ein einfacher Landarzt, aber das da ist ein Genickbruch, daran habe ich keinen Zweifel. Der hat nicht lange gelitten. Dazu noch der Blutverlust. Kopfwunden bluten immer wie ...«

Vanessa kniete sich neben den Toten. Er dürfte Mitte zwanzig sein, ein hübscher junger Mann mit langen, mittelblonden Haaren, die ihm sonst sicher im Gesicht hingen. Vor Vanessas innerem Auge stellte sich das Bild eines jungen Mannes ein, der immer wieder den Kopf zur Seite werfen musste, um den Pony aus dem Gesicht zu bekommen. Jetzt lag er auf dem Rücken, die Haare in einer Blutlache auf dem Boden verklebt, die Augen schreckgeweitet, das Gesicht voller Angst. Der Blick war gebrochen, die Haut kalt, und die Totenstarre begann sich schon im Gesicht auszubreiten. Vanessa hätte so gerne die Augen des jungen Mannes geschlossen, aber der entsetzte Blick schien ihr wichtig zu sein.

Schwester Veronika hatte sich von der Frau an ihrer Seite gelöst, eilte zu Vanessa und stellte sich vor. »Danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Ihr männlicher Kollege ist, wie soll ich sagen, wenig einfühlsam.« Dann fragte sie hilflos: »Was sollen wir denn machen?«

»Ich habe schon gehört, dass die Bewohner nicht in ihre Zimmer sollen«, sagte Vanessa. »Unsere Kriminaltechnik wird zwar im Dreieck springen, aber ich kann Ihre Argumente sehr gut verstehen.«

»Wir haben auch gar kein Personal dafür. Wir sind heute nur zu fünft, alle anderen sind krank. Selbst Schwester Engelberta, die sonst an der Rezeption sitzt, hat sich für heute krankgemeldet. Und jetzt sind wir nur noch zu viert!«, murmelte sie mit Blick auf den toten Kollegen.

»Wo sind die anderen?«, hakte Vanessa nach.

»Die suchen mal wieder einen unserer körperlich rüstigen Bewohner, Ewald Braun. Er ist schon wieder weg. Schwesternschülerin Jessica und ich haben ihn auch gesucht, während Daniel sich ganz alleine um das Frühstück gekümmert hat. Er ist«, sie stockte, »er war eine sehr zuverlässige Kraft, ich konnte ihm gut die ganze Abteilung alleine anvertrauen. Als Jessica und ich reinkamen, um die Polizei anzurufen, damit sie uns bei der Suche nach Ewald helfen, hörten wir schon vom Eingang her eine große Unruhe. Viele sprachen durcheinander, andere sangen laut vor sich hin wie kleine Kinder, die man alleine in den Keller schickt und die ihre Angst mit Gesang übertönen wollen. Andere wiegten sich hin und her, eine betete. Der Neffe von Frau Kröber fühlte gerade Daniels Puls, aber da war nichts mehr. Während Herr Nert mich informierte, dass er bereits den Notarzt angefordert hatte, wurde Jessica ohnmächtig und ich musste mich erst einmal um sie kümmern. Die Kolleginnen draußen haben das Handy vergessen, es hängt hinten am Ladekabel«, sie wies mit dem Kopf hinter sich zum Büro der Schwestern. »Sie sind mit Herrn Nert verwandt?« In ihrer Stimme schwangen Unsicherheit und Verzweiflung mit.

»Nein, ich kenne den Vater gut, den Neffen einer Ihrer Bewohnerinnen. Er wusste, dass ich bei der Kriminalpolizei bin, darum hat er mich informiert. Das ging schneller, als den offiziellen Dienstweg einzuhalten. Aber der Kollege Lieser von der Polizeiinspektion Schweich ist ja auch schon da. Ich rufe jetzt meine Kollegen aus Trier an, die werden uns unterstützen. Brauchen Sie Hilfe?«

»Ich weiß nicht, ob sie in ihre Zimmer zurücksollen oder ob sie als Zeugen hierbleiben müssen. Ich müsste sie frisch machen, es ist Sonntag, da kommt oft jede Menge Besuch. Wobei durch die Grippewelle viele Angehörige nicht kommen. Einige sind selbst zu krank für einen Besuch, andere haben wir aufgefordert, die geschwächten, alten Leute nicht mit möglichen Bakterien und Viren noch weiter zu schwächen, es könnte also einigermaßen ruhig bleiben. Aber ich weiß gar nicht, ob Daniel das Frühstück an diejenigen, die bettlägerig sind, überhaupt schon verteilt hatte. Ich ... « Sie brach in Tränen aus und hielt sich an einem Tisch fest, weil sich offenbar alles um sie herum drehte. Vanessa packte sie beherzt und setzte sie auf den nächstbesten Stuhl, bevor sie ihr Handy herauszog. »Gunter? Vanessa hier. Ich brauche dich für einen Todesfall im Altenheim Moselruh kurz vor Mehring. Bring bitte das ganze Aufgebot mit und versuche, ein paar Leute vom Roten Kreuz oder den Johannitern zu besorgen.« Sie lauschte in den Hörer. »Ja, Malteser geht natürlich auch. Hier sind mindestens ein Dutzend pflegebedürftige Menschen, die betreut werden müssen. Außerdem brauchen wir eine Staffel, die einen Heimbewohner suchen muss.« Wieder hörte sie zu. »Natürlich ist ein Todesfall im Altenheim nichts Ungewöhnliches. Aber wenn der Tote Mitte zwanzig ist und in einer Blutlache liegt, dürfte das ein Fall für uns sein. Ja, mein Sonntag sollte auch anders aussehen, es tut mir leid.«

Verärgert steckte Vanessa das Handy in ihre Hosentasche. Gunter war eigentlich ein sehr kooperativer Kollege, mit dem sie gerne zusammenarbeitete, aber sein Wochenende war ihm als Familienzeit heilig. Das nutzte jetzt nichts. Aber sie wusste genau, dass er seinen Ärger jetzt einmal am Telefon entladen hatte, wahrscheinlich auch, damit seine Frau hörte, dass er alles versucht hatte, aber sobald er in einer halben Stunde am Tatort wäre, wäre er konzentriert und kompetent wie immer.

»Schwester Veronika, können Sie mir sagen, was für Kleidung Ewald Braun trägt?«, wandte sich die Kommissarin an die ältere Pflegerin.

»Ich weiß es nicht, ich hatte ihn noch gar nicht gesehen heute. Grazyna und Schwester Clara haben die Bewohner zum Frühstück geholt und dabei festgestellt, dass Ewalds Bett leer war. Im Bad roch es nach Rasierwasser, und seine Schuhe fehlen. Im Haus war er nirgendwo zu finden.«

»Gestern trug er einen langen, dunklen Mantel«, erinnerte sich Johannes.

»Natürlich hat der Ewald seinen Mantel getragen«, meldete sich ein alter Mann im Trainingsanzug zu Wort. Vanessa ging zu ihm und stellte sich vor.

»Ich bin der Jupp«, antwortete dieser. »Der Ewald hat das Zimmer neben mir. Natürlich hat er seinen Mantel getragen. Und die dunklen Schuhe. Was soll er auch sonst unter dem Mantel tragen? Ich glaube, er hatte auch einen Hut.«

»Der Ewald trägt doch nie einen Hut«, mischte sich ein anderer Mann ein und stellte sich als Werner Baltes vor.

»Warum trägt der Ewald denn keinen Hut mehr, es ist doch kalt draußen. Der muss aufpassen, dass er sich nicht erkältet«, schaltete sich eine Frau ein. Als Vanessa nach ihrem Namen fragte, sah die alte Dame sie ganz erschrocken an und blickte wieder auf den Rosenkranz in ihrer Hand, den sie lautstark weiterbetete.

»Das ist Erika«, half der Mann aus, der sich als Jupp vorgestellt hatte.

»Das ist doch nicht Erika, das ist Hedwig. Erika sitzt da hinten unterm Tisch«, widersprach Werner Baltes.

Vanessa folgte ungläubig seinem Fingerzeig mit dem Blick und entdeckte eine Frau in einem fliederfarbenen Strickpullover, die tatsächlich unter einem Tisch kauerte und vor sich hinmurmelte.

»Was ist mit ihr?«, fragte sie Schwester Veronika verdutzt, die gerade einer Frau die Hände mit einem Waschlappen wusch. Der weiße Waschlappen färbte sich rot.

»Meinen Sie Henriette?« Schwester Veronika zeigte auf die Frau, deren beige Hose ebenfalls rote Striemen zeigte. »Unser Jettchen hat sich wohl um Daniel gekümmert, als er auf dem Boden lag. Sie kümmert sich immer um alle. Früher war sie Hebamme, sie kann nicht anders als helfen. Sie hat Blut an den Händen und hat versucht, es an ihrer Hose abzuwischen.«

Vanessa notierte sich im Kopf, dass sie unbedingt Henriettes Fingerabdrücke nehmen mussten. Wer weiß, ob sie wirklich nur geholfen hatte oder ob sie schuld war am Tod des Pflegers. »Eigentlich hatte ich die Dame unter dem Tisch gemeint, was ist mit ihr?«

In dem Moment durchschnitt ein lautes »Psssst« den Raum. Die alte Dame quälte sich unter dem Tisch hervor, kam mühsam auf die Beine und lief wackelig zum Fenster. Drei bodentiefe, doppelte Fenstertüren ließen Licht in den Raum.

»Psst, wir müssen leise sein. Wer hilft mir denn endlich mal? Wir müssen verdunkeln, der Feind kommt. Wenn es Tote gibt, kommt immer der Feind. Wir müssen die Fensterläden schließen, damit kein Licht nach draußen dringt. Und ihr müsst ganz leise sein. Lösch doch mal einer das Licht, wir müssen uns vor dem Feind schützen«, wies sie mit gezischten, fast geflüsterten Anweisungen alle Anwesenden an.

»Lieselotte, alles ist gut. Wir sind nicht in Gefahr«, versuchte die Pflegerin die Frau zu beruhigen.

»Aber der Feind kommt, wir müssen alle Fensterläden schließen. Packt mit an«, rief die verwirrte Frau aufgeregt. »Mein Albert ist da draußen, den müssen wir reinlassen, wenn er kommt.«

»Lieselotte, Albert ist im Krieg gefallen, das ist viele Jahre her. Wir haben keinen Krieg mehr, es geht uns gut, alles ist in Ordnung. Setzen Sie sich wieder an den Tisch und trinken Sie ein bisschen Tee.«

»Die Bomben, wir müssen uns schützen. Sicher kommen gleich die Flieger. Setzt euch alle unter die Tische. Weg von den Fenstern!« Sie schob einen leeren Stuhl zur Seite und kletterte wieder mühsam unter den Tisch.

»Unter dem Tisch wird sie gleich ruhiger, wir können sie erst einmal sich selbst überlassen«, klärte die erfahrene Pflegerin die verwunderte Kommissarin auf.

Vanessa beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Kommissar Michael Lieser unruhig ein paar Schritte auf die alte Dame zuging, sich dann aber wieder zu dem Arzt umwandte, der ihn von hinten angesprochen hatte.

»Der Michael ist mit der Enkelin von Lieselotte, also von Frau Jostock, liiert«, raunte Schwester Veronika und nickte zu dem Polizisten hin. »Seine künftigen Schwiegereltern würden erwarten, dass er seinen Dienst vernachlässigt und sich stattdessen erst mal um die Oma kümmert. Aber das kann ich besser als er, er soll mal seinen Job machen.«

Von der Eingangstür zum Speisesaal klangen Adventslieder, schräg mit brüchiger Stimme, aber sehr textsicher gesungen von der Dame im Rollstuhl, um die Vanessa zu Beginn hatte herumgehen müssen.

»Sie singen aber sehr schön heute, Hedwig«, sagte Jessica gerade zu ihr und tätschelte ihr die Hand. Jessicas Gesicht hatte wieder etwas Farbe bekommen, und sie konnte ohne zu zittern stehen. Vorsichtig ging sie zu Schwester Veronika und fragte sie, was sie als Nächstes tun solle.

»Sehen Sie bitte nach, ob die Patienten, die im Zimmer geblieben sind, ihr Frühstück bekommen haben, füttern Sie bitte, wo es nötig ist. Und versuchen Sie, die alten Leute nicht aufzuregen, sonst bricht hier die Hölle los.«

Jessica sprach kurz mit den beiden Sanitätern, von denen einer nicht viel älter war als Jessica selbst. Die beiden jungen Männer schlossen sich Jessica an und gingen mit ihr in den Wohntrakt. Vanessa sah, wie sich der Arzt von Kommissar Lieser verabschiedete.

Unterdessen hatte Lieser die örtliche Polizei um Hilfe bei der Suche nach Ewald Braun gebeten. Die Personenbeschreibung fiel ihm nicht schwer, da er ihn als Mitbewohner seiner Schwiegeroma gut kannte. Wichtig war, dass die Polizisten nicht nach einem offenkundig hilfsbedürftigen Mann suchten, sondern nach einem Mann, der durchaus sicher und selbstbewusst wirkte, dessen Antworten glaubhaft schienen, aber in sich nicht schlüssig waren. Wie viel leichter war es doch, ein umherirrendes Kind zu suchen, dem man schon von Weitem ansah, wenn es irgendwo nicht alleine hingehörte.

Vanessa suchte Johannes’ Nähe, als dieser sein Handy ungehalten in die Hosentasche steckte. »Probleme?«

»Ich hätte um zehn Uhr einen Besichtigungstermin für eine Wohnung in Heiligkreuz«, erklärte Johannes. »Ich habe der Vermieterin gerade geschildert, warum ich nicht kommen kann, und sie um einen neuen Termin gebeten. Aber sie sagte mir, das sei ein Sammeltermin, dafür sei sie extra nach Trier gekommen. Wer nicht da sei, hätte eben Pech.«

Vanessa sah auf die Uhr, es war kurz vor zehn. »Willst du fahren und wir treffen uns später für deine Zeugenaussage?«

Johannes schüttelte den Kopf. »Bei der möchte ich gar nicht mehr wohnen. Tante Adele geht vor.«

Zum ersten Mal sah sich Vanessa in Ruhe im Raum um und stellte fest, dass es einige Blutspuren gab, weit mehr, als sie erwartet hatte. Aus der Blutlache, die sich rund um den Kopf des Pflegers ausgebreitet hatte, führten feine, blutige Streifen heraus. Vanessa verfolgte sie mit dem Blick und landete bei einem Rollator, dessen Räder rot verfärbt waren. Auch blutige Fußspuren führten zu dem Tisch, an dem ein Mann saß und sich eine Tageszeitung vors Gesicht hielt. Es war die Zeitung von Donnerstag, und der Mann hielt sie falsch herum. Schwester Veronika war ihrem Blick gefolgt und trat neben Vanessa. »Das ist Heinrich, Heinrich Ruppenthal. Er kann schon seit Jahren nicht mehr lesen, aber er sieht sich gerne die Bilder an. Früher war er Studienrat für Kunst und Geschichte, er hat eigene Ausstellungen gehabt. Jetzt malt er Malbücher für Kleinkinder aus und freut sich, wenn er neue Buntstifte bekommt. Er hat wohl eine Ahnung davon, dass er gebildeter ist als die anderen Bewohner und dass sie ihn dafür bewundern, wie belesen er ist, darum umgibt er sich gerne mit Papier, aber seine Fähigkeiten sind völlig verloren gegangen.«

Vanessa setzte sich zu Herrn Ruppenthal, der mit dem Rücken zu Daniel saß und so tat, als sei er in seine Zeitung vertieft. »Ich bin Vanessa Müller-Laskowski, ich bin von der Polizei«, stellte sie sich vor, aber der alte Lehrer reagierte nicht. »Sie sind Herr Ruppenthal?«

»Stören Sie mich bitte nicht, ich möchte das hier gerne fertig lesen. Sehr interessant, sehr interessant. Kennen wir uns?«, murmelte er mit monotoner Stimme vor sich hin.

»Sie haben Ihre Schuhe und Ihren Rollator schmutzig gemacht, wie ist das denn passiert?«, versuchte Vanessa einen Einstieg.

»Stören Sie mich nicht, ich muss lesen! Ich war noch nie schmutzig. Ich bin immer sauber. Das kann gar nicht sein. Lassen Sie mich jetzt, ich muss lesen.«

Vanessa merkte, dass sie nicht weiterkommen würde. Hinter sich hörte sie einen Stuhl scharren und fühlte eine kalte Hand in ihrem Nacken, was sie erschrocken zusammenfahren ließ. Sie spürte, wie ihr jemand die Haarspange löste und ihre roten Haare ihr über die Schultern fielen.

»Der Herr sei gepriesen, du bist endlich wieder da«, nuschelte eine zusammengesunkene Frau hinter Vanessa und fuhr mit den Fingern durch die langen Haare. »So lange warst du nicht mehr hier. So lange. Aber jetzt bist du da. Der Herr sei gepriesen.«

Vanessa drehte sich um und sah in das faltige, entrückte Gesicht einer alten Frau. Es war die mit dem Rosenkranz, die sich jetzt in ihrem Stuhl aufgerichtet hatte. Sie fiel Vanessa um den Hals und schluchzte tränenlos.

»Das ist Erika, Erika Lorenz«, erläuterte Veronika, die neben Vanessa getreten war. »Werner, was machen Sie denn da?«, sagte sie dann entsetzt, als sich Werner Baltes neben den toten Daniel kniete und ihm die Augen schließen wollte.

»Bitte nicht!«, rief Vanessa und sprang auf, aber es war schon zu spät.

»Ich muss doch einem toten Kameraden die Augen schließen, das haben wir im Krieg immer so gemacht. Sie sollen nicht mehr sehen müssen, was um sie herum geschieht«, erläuterte er bestimmt. »Schließlich habe ich alles mit angesehen, das reicht. Er muss nicht mehr alles ansehen!«

Vanessa reichte dem alten Mann eine Hand, um ihm beim Aufstehen zu helfen. »Was haben Sie denn gesehen?«

Bevor er etwas antworten konnte, hörte man in der Halle die Türe schlagen, und alle blickten zum Eingang, woher das Trappeln zahlreicher Füße kam. Vanessa ging in die Eingangshalle und sah sich Gunter mit einigen Kollegen von der Spurensicherung gegenüber.

»Rotes Kreuz und Malteser schicken uns Leute. Bis Bernadette von Saarburg herkommt, wird es noch eine Weile dauern. Dr. Breuer ist unterwegs. Was steht an?«, erkundigte er sich wohl strukturiert wie immer.

Vanessa setzte alle kurz ins Bild und erklärte, dass die alten Leute noch im Speisesaal bleiben müssten, bis Pflegekräfte kamen, die sich um sie kümmern konnten. Gemeinsam gingen sie in den Speisesaal, und Vanessa stellte Hauptkommissar Gunter Hermesdorf vor.

Ein Kollege von der Spurensicherung fluchte laut, als er die vielen Menschen sah. »Ich brauche Platz und Ruhe, um zu arbeiten. Keine Schaulustigen, die mir erklären, wie ich meine Arbeit machen soll. Schafft doch mal einer die ganzen Leute hier raus!«

»Menschlichkeit geht vor. Gehen Sie mal davon aus, dass die meisten in dieser Generation schon mehr Tote gesehen haben als Sie. Für die ist Tod etwas Selbstverständliches, das ist etwas anderes als in unserer Generation. Sie können also warten oder mit Ihrer Arbeit anfangen. Aber lassen Sie die Leute in Frieden«, wies Gunter ihn zurecht.

»Aber die ganzen Insassen sind mir im Weg, ich muss die Kamera aufbauen ...«, versuchte der Mann sich zu verteidigen.

»Sprechen Sie nicht noch einmal von Insassen, sonst bekommen Sie von mir eine Dienstaufsichtsbeschwerde an den Hals«, raunte Vanessa dicht neben seinem Ohr. »Machen Sie Ihre Arbeit, und schweigen Sie am besten dabei!«

Der Kriminaltechniker knallte seinen Alukoffer auf den Boden, sagte aber nichts mehr.

»Hat er einen wunden Punkt getroffen?«, flüsterte Gunter neben ihr.

»Sprich mal mit diesen Menschen, lass dir von den Schwestern aus ihrem Leben erzählen. Das sind weder Gefangene noch Verrückte, nichts könnte den Begriff Insassen rechtfertigen. Der soll sich mal überlegen, wie sein eigenes Leben in vierzig Jahren aussehen könnte«, knurrte Vanessa.

In der Halle schlug die Haustür gegen die Wand, und schwere Schritte von vielen Menschen näherten sich.

»Fürchte dich nicht, Hilfe ist nah«, murmelte Erika und schnippte eine Perle in ihrer Hand weiter.

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»Ich mochte noch nie Pfefferminztee, schon als Kind nicht!« Gunter Hermesdorf schob die Tasse von sich und schüttelte sich angewidert.

»Das kann ich gut verstehen, aber er ist wenigstens warm. Mir wäre ein Latte macchiato zu Hause auf der Kaminbank auch lieber als dieses Zeug im Altenheim, aber wir können froh sein, dass wir wenigstens ein Mittagessen bekommen haben«, rügte ihn Vanessa.

»Rouladen mit Rotkohl und Kartoffeln war sogar mehr, als ich erwartet hätte, du hast ja recht. Und jetzt sitzen wir hier in diesem Zimmerchen und müssen die ersten Fakten sortieren. Wie praktisch, dass vorgestern ein Bewohner gestorben ist und das Zimmer noch nicht neu vergeben wurde, da haben wir ja einen richtigen Rückzugsraum«, lästerte Gunter. »Hier muss doch sowieso frisch gestrichen werden, meint ihr, wir könnten die Wände einfach als Notizpapier nehmen?«

Michael Lieser, der junge, ortsansässige Kollege räusperte sich verlegen, schwieg aber.

»Lasst uns vielleicht mit normalen Zetteln anfangen, der Nachmieter steht bestimmt schon morgen mit seinem Rollator vor der Tür. Also, was habt ihr bislang gesammelt?«, drängte Vanessa.

»Fangen wir mit den zuverlässigen Aussagen an: Der Gerichtsmediziner hat sich die Verletzungen angesehen. Dr. Breuer meint, es gäbe da einige Ungereimtheiten, aber du weißt ja ...«, ließ Gunter Hermesdorf den Satz unvollendet.

»Alles Weitere im Obduktionsbericht in ein paar Tagen. Daran hatte ich keinen Zweifel. Hat er etwas über die Ungereimtheiten gesagt?«

»Todesursache war vermutlich ein Genickbruch«, schaltete sich Michael Lieser ein. »Die Angst in seinem Gesicht deutet auf einen Kampf hin, das würde auch zu den Gewebespuren unter den Fingernägeln passen, die selbst ein Laie sehen konnte. Alles in allem können wir einen geplanten Mord mitten im Speisesaal doch mit ziemlicher Sicherheit ausschließen, es dürfte also ein Unfall mit Todesfolge, bestenfalls Totschlag, gewesen sein. Aber das entbindet uns selbstverständlich nicht davon, die Sache aufzuklären. Es gab eine heftig blutende Wunde am Hinterkopf, wie wir ja alle gesehen haben, aber auch Hämatome und eine Beule durch stumpfe Gewalteinwirkung.«

»Hat Bernadette von der Spurensicherung schon etwas gesagt?«, hakte die Kommissarin an Hermesdorf gewandt nach.

»Sie hat zahlreiche Fingerabdrücke und Reifenspuren sichergestellt.«

»Reifenspuren? Da gab es bei der Volkswanderung sicher jede Menge, aber gibt es denn einen flüchtigen Verdächtigen?«, wunderte sich Vanessa.

»Ich meine Reifenspuren von Rollstühlen und Rollatoren. Du hast doch selbst die Spur von diesem Heinrich gesehen, der entweder als Täter, als Zeuge oder einfach völlig unbeteiligt in das Blut seines toten Pflegers getreten ist. Wie lief es mit den Befragungen der Bewohner?«, wollte Gunter wissen.

»Oh, du hast doch schon miterlebt, wie kompetent unsere Zeugen sind. Matthias Erbes ist stocktaub. Er saß zwar dem Opfer am nächsten, aber mit dem Rücken zu ihm. Ich brauchte die geduldige Schwester Clara, um ihm klar zu machen, was vorgefallen ist. Selbst als er den toten Daniel sah, schien er kaum zu reagieren. Ich werde sie noch einmal danach fragen.«

»Kannst du mir erklären, warum man ins Kloster geht, wenn man so jung und so hübsch ist wie diese Schwester Clara?«, fragte Gunter.

»Wenn ich es richtig verstanden habe, war sie als Missionsschwester in Afrika und ist vorübergehend nach Deutschland zurückgekommen, um sich von einer Erkrankung zu erholen«, erklärte Lieser.

»Während diese polnische Schwester zunächst Zeter und Mordio geschrien hat, war Schwester Clara sehr besonnen«, schilderte Vanessa ihren Eindruck. »Ihr Glaube scheint ihr viel Halt zu geben.«

An der Tür klopfte es.

»Darf ich kurz stören?«, stieß die Schülerin Jessica aufgeregt hervor, ohne auf eine Aufforderung zum Eintreten zu warten. »Wir haben schon überall nachgesehen, uns fehlt ein weiterer Bewohner.«

»Wie bitte?«, riefen die Polizisten gleichzeitig und sprangen auf.

»Alwis, also Alois Schlöder, ist verschwunden. Herr Lieser, Sie kennen ihn doch. Wir waren so froh, dass Ihre Kollegen Ewald Braun wiedergefunden haben, aber in der Aufregung haben wir ganz übersehen, dass wir Alwis schon seit dem Frühstück nicht mehr gesehen haben.«

»Was heißt, seit dem Frühstück?«, hakte Gunter nach.

»Also, um es genau zu sagen, seit wir bemerkt haben, dass Ewald weg ist und wir vier uns auf die Suche gemacht haben, um Ewald zu finden. Wir hatten ja gehofft, er stünde wieder an der Bushaltestelle wie so oft. Aber heute ist Ewald runter an die Mosel gelaufen und war schon fast in Longen, als Ihre Kollegen ihn aufgegriffen haben.«

»Können Sie näher eingrenzen, wann Herr Schlöder verschwunden ist? Also, wann wurde er zuverlässig zuletzt gesehen?«, wollte Vanessa wissen.

»Schwester Grazyna hat ihn heute Morgen geweckt. Sie hat kurz mit ihm darüber gesprochen, dass es heute sehr kalt draußen ist, aber immerhin trocken. Danach hat sie ihn nicht mehr gesehen. Und wir auch nicht«, gestand Schwester Jessica.

»Also können wir direkt die Kollegen zurückrufen, sie sollen ihn auch noch suchen. Ich habe gesehen, dass an jeder Zimmertür ein Foto des jeweiligen Bewohners hängt, können wir das abnehmen und unseren Kollegen geben? Wie war Herr Schlöder denn heute Morgen bekleidet? Gibt es Auffälligkeiten an ihm?«, löcherte Gunter die Schülerin.

»Ich weiß nicht, ich frage Schwester Grazyna«, stotterte Jessica und verschwand wieder.

Lieser fingerte sein Handy aus der Hosentasche und forderte zwei Streifenwagen an. Es war jetzt kurz nach Mittag, aber gegen sieben Uhr wäre es schon stockfinster. Und da es den ganzen Tag bedeckt war, würde es wohl noch früher dunkel werden. Also entschied er sich doch lieber für mindestens drei Streifenwagen. Das Foto und eine nähere Beschreibung könnten sie im Haus Moselruh abholen, erklärte Lieser dem Streifenbeamten.

Wieder klopfte es an der Tür, die polnische Altenpflegerin erschien mit dem Mann, der sich vorhin als Jupp vorgestellt hatte. »Herr Herres hat Herrn Schlöder heute Morgen gesehen«, erklärte die Schwester mit einem harten, osteuropäischen Akzent.

»Herr Herres, können Sie uns erzählen, welche Kleidung der Herr Schlöder heute getragen hat?«, fragte Vanessa.

»Ich bin der Jupp«, sagte dieser und verfiel wieder in Schweigen.

»Darf ich Jupp zu Ihnen sagen? Was hatte denn der Herr Schlöder heute an?«, versuchte die Kommissarin es erneut.

»Sie meinen den Alwis?« Wieder Schweigen.

»Heißt er eigentlich Alwis oder Alois?«, fragte Vanessa, da sie die Suchmeldung korrekt herausgeben musste.

»Also, wir sagen hier Alwis. Aber ich glaube, er schreibt sich Alois«, erklärte Jupp und schwieg wieder.

Gunter hielt es nicht länger aus und drückte sich an den beiden vorbei durch den Türrahmen. »Welches Zimmer gehört Herrn Schlöder? Ich brauche das Foto«, fragte er über die Schulter.