Blancmanger

Zutaten:

1 Suppenhuhn (1000 g)

1,2 l Hühnerbrühe

250 g Reis

150 g Mandeln, gerieben

Salz, Pfeffer

Zubereitung: Das Suppenhuhn in gut 1 Liter Hühnerbrühe (schwach schmeckend) bei niedriger Hitze eine bis eineinhalb Stunden garen. Abkühlen lassen. Danach die Haut und Knochen entfernen und das Fleisch klein schneiden.

Den Reis in der Hälfte der Hühnerbrühe garen.

Die andere Hälfte der Hühnerbrühe aufkochen, Mandeln dazugeben und eine viertel Stunde ziehen lassen. Den Reis abgießen und zusammen mit dem Hühnerfleisch zu den Mandeln geben. Mit Salz und Pfeffer abschmecken.

1

Marie pulte die Granatapfelkerne aus ihrer Behausung. In einem Video hatte sie sich angesehen, wie diese kleinen ›Mistkerle‹ tropfenfrei entblößt werden können, ohne rote Lachen in ihrer Küche zu hinterlassen, die sie an Fleischmesser-Massaker erinnerten.

Im Radio ertönte die Melodie von Antenne Unna. Marie summte mit: ›Antenne Unna‹ … fünf Töne und doch so einprägsam. Es war kurz vor 5 Uhr. Sie wusste ganz genau, wer die Stimme im Radio war. Gutgelaunt in den Tag war die Devise. Gute-Laune-Meldungen, Hit-Mix, Diskussionen, Verkehrsstudio – viertelstündlich mit allen Staus! Er würde die Hörerinnen und Hörer begrüßen mit den Worten: »Moin Leute – Lodda hier!«

Der Granatapfel war nun oben und unten geköpft. Marie schnitt das weiße Fleisch länglich ein. Danach würde sie den Granatapfel mit dem Daumen in Teile zerlegen können und die kleinen ›Perlen‹ würden in ihre Schüssel fallen.

»Hallo, Lothar Baltrusch – Guten Morgen.«

Er machte eine Pause. Das war nicht seine Art der Begrüßung. Marie wurde hellhörig. Sie stand auf und wusch sich die Hände, zog die Schublade auf, um den passenden Deckel für die Schüssel zu finden.

»Ihr wisst ja, dass ich in Schwerte wohne, und die B236 fahre ich fast täglich. Bin ebenso ein Harleyfan und … «

Lodda schluckte hörbar, Marie drehte das Radio lauter.

»Vorhin ist wieder einmal ein Unfall passiert. Leute! Fahrt langsam und vorsichtig. Es ist glatt in den frühen Morgenstunden. Ich muss euch sagen, der Unfall hätte nicht sein müssen, Leute! Jo ist tot und hatte keine Schuld. Pfarrer Jo Nolte ist bequem gefahren auf seinem Motorrad auf’m Weg zur Arbeit. Ein Autofahrer ist zu schnell gewesen …!«

Lothar Baltrusch brach die Meldung ab. Es wurde Musik eingeblendet. Wer war Jo?, fragte sich Marie Gutario. Im letzten Jahr gab es sehr viele Motorradunfälle, ob verschuldet oder unverschuldet. Es war jedenfalls immer ein Unfall zu viel. Basta.

In diesem Moment klingelte das Telefon. Marie stellte das Radio ab, eilte in den Flur und nahm den Hörer. Ihre Mutter begrüßte sie herzlich.

»Guten Morgen, mein Schatz. Geht es dir gut?«

Jeden Morgen das gleiche Ritual. Ihre Eltern waren vor Jahren aus Unna weggezogen. Bevor sie in Essen, die Stadt trug zwischenzeitlich die Auszeichnung Kulturhauptstadt Europas, die Ladentür ihres italienischen Feinkost-Supermarktes öffneten, war viel zu erledigen. Insbesondere der morgendliche Gruß an ihre Tochter durfte nicht fehlen.

»Mir geht es genau so gut, wie gestern. Was machst du eigentlich, wenn ich mal ausschlafen möchte – könnte ja mal sein?«, fragte Marie.

»Dann hast du hoffentlich den Hörer daneben liegen«, antwortete ihre Mutter.

Marie überlegte kurz, ob sie das jemals getan hatte. Als Kripobeamtin sollte sie jederzeit erreichbar sein, meinte sie. Und als Tochter nicht unbedingt, behauptete sie.

»Sehr gute Idee, Mama!«

»Er fehlt mir so!«

Bei diesen Worten schluchzte ihre Mutter leise, doch Marie wollte davon nichts hören. Eltern mussten mit dem Tod des Sohnes fertig werden, das ist sicherlich schlimm. Marie hatte ihren Bruder verloren, das ist nicht weniger schrecklich

»Mama, mir auch. Wir können die Zeit nicht zurück drehen.«

Marie hätte beinahe ihrer Mutter von dem Unfall in dieser Nacht erzählt. Womöglich kannte sie Pfarrer Nolte sogar. Ihre Eltern lebten schließlich mehrere Jahre in Unna. Marie ließ es bleiben. Diese Information hätte ihre Eltern zu sehr belastet. Sie spürte diesen Schmerz im Hals, kämpfte mit den Tränen und beendete schnell das Telefonat.

Marie war bekennende Frühschwimmerin und versuchte, das täglich einzurichten. An schönen warmen Tagen joggte sie zum Hallenbad und von dort aus zur Dienststelle. Sie hatte von ihrem Haus aus, das in der Nähe eines Gymnasiums stand, kurze Wege. Sie bog lediglich auf den Ring ab, fuhr die Hammer Straße und schon war sie da. Sie schnappte sich ihre Badetasche, schlüpfte in ihre Fettleder-Stiefeletten, nahm den Wollschal und den Canvas Parka, schloss zunächst die Wohnungs- und dann die Haustüre ab. Noch auf dem Treppenabsatz kam ihr eine sibirische Kälte entgegen. Ja – minus zwei Grad Celsius zeigte ihr Außenthermometer. Sie schaute sich um. Die Nachbarn schliefen noch. Bis auf ein wenig Licht durch die Peitschenleuchten war es dunkel. Im Schein ihrer Haustürbeleuchtung sah Marie die Schneeglöckchen auf der Rasenfläche und sie ahnte, dass in ein paar Tagen die Haselnuss Knospen entwickeln würde. Dann wäre der Spätwinter vorbei – oder der Frühling begann.

Das Garagentor öffnete sie mit einer Fernbedienung, es war halb geöffnet, da hörte Marie ihr Handy. Es lag auf dem Beifahrersitz und von ihr zuvor vergessen worden. Das konnte Ärger geben, dachte sie. Ihre Kollegen meinten, dies sei reine Schusseligkeit. Dabei lachten sie herzlichst, da Marie ansonsten als Perfektionistin galt.

Sie richtete ihren Blick auf die Ganzjahresabdeckplane, hinten in der Ecke. Manchmal schaffte sie es tagelang, nicht hinzuschauen. Wenn sie eine zweite Garage besitzen würde, hätte sie das Motorrad dort überwintern lassen. Auf der Plane befand sich ein Aufnäher von BMW, ein von Hand besticktes Stoff-abzeichen, und das Gesamtwerk war ein Geburtstagsgeschenk ihres Bruders Cristian. Marie mochte nie mehr ihren Geburtstag feiern …Sie stieg in ihren Volkswagen.

»Gutario!«

»Michael Borger hier. Bist du unterwegs?«

»Ja, ich befinde mich auf dem Weg ins Hallenbad, warum?«

»Hast du die gesunden Sachen dabei?«

Michael meinte die Granatapfelkerne, etwas Gesundes für das Büffet; er feierte heute seinen Schnapszahlgeburtstag.

»Klar. Doch deshalb rufst du nicht um 6 Uhr morgens bei mir an.«

Oder hatte ihr Chef es schon vorher versucht? Das Handy konnte lange vor sich hersummen, wenn es im Auto in der Garage lag.

»Nein, nicht nur wegen der kleinen gesunden Naschereien.

Vor dem kleinen Umtrunk werden wir an der Sitzung der Unfallkommission teilnehmen. Zunächst hatte unser Kommissariat keine Einladung, doch unser oberster Boss findet es vorteilhafter, wenn wir von Anfang an alle Informationen haben.«

»Da ist was dran«, gab Marie zu.

»Doch muss ich dabei sein? Ich werde doch in zwei Tagen...«

»Daran ändert sich nichts. Den Urlaub hast du Dir verdient. Du bist allerdings in ein paar Wochen wieder im Dienst und wirst mit diesem Problem konfrontiert. Oder willst du die Abteilung wechseln?«

Es herrschte langes Schweigen. Würde sie nicht auf jeder anderen Stelle immer und immer wieder mit Motorradunfällen konfrontiert? Ob sie in Essen ihren Dienst täte oder in Wiesbaden …

»Bist du noch dran?«, fragte Michael.

»Ich hätte da nämlich noch eine Mitteilung für dich!«

»Von dem Motorradunfall auf der B236 habe ich vorhin im Radio gehört. Meinst du den?«

Michael Borger sagte, dies sei der Grund, warum das Kriminalkommissariat kurzfristig zur Unfallkommission gerufen wurde. Die nächste Information war, dass Claus Constein während ihres Urlaubes seinen Dienst antreten wird. Er habe sich entschlossen, den Sonderurlaub aus familiären Gründen nicht zu verlängern. Die Kinder seien aufgeweckt und zielstrebig; sie wollten unbedingt in den Offenen Ganztag.

Marie schwelgte kurz in Erinnerungen. Sie besetzte vor mehreren Jahren die Stelle, die einst Claus Constein inne hatte. Die würde er ihr nicht streitig machen, er neidete ihr diese auch nicht. In dem Fall hatte Claus seinen Karriereknick selbst verschuldet, wenn man das überhaupt so nennen durfte. Doch jede Kollegin erlitt das gleiche Schicksal. Die Jahre fehlten. Nach dem Erziehungsurlaub den beruflichen Anschluss zu finden, war nicht einfach.

»Wir werden ihn lange nicht zu sehen bekommen, denn auch er muss, wie das weibliche Personal, die Fortbildung in Anspruch nehmen. Da können wir ja beim Frühstück drüber reden. Er kommt übrigens …«, erklärte Michael.

»Dann schwimm’ ich mal los.« Marie lachte ins Handy.

Mit dem Umdrehen des Zündschlüssels ertönte Musik aus dem Radio. Sie wählte die Frequenz 102,3 für Unna, Kamen, Bönen, Fröndenberg, Holzwickede, Schwerte, Selm, Werne, Bergkamen und Lünen, also für den gesamten Kreis Unna. Der Radiosprecher schien gefasster als vorhin. Reiss’ dich zusammen, Junge, dachte Marie. Da musste ich auch durch …

Der Straßenbelag glitzerte tatsächlich. Ein untrügliches Zeichen, langsam zu fahren. Auf dem Ring war gestreut, auf der Hammer Straße ebenso. In der Straße zum Hallenbad noch nicht. Auf dem Parkplatz war es ruhig. Niemand wagte, um 6.20 Uhr um Einlass zu bitten. Und bei dieser Kälte wollte ebenso keiner frieren; also kamen die Frühschwimmer pünktlich. Marie interessierte das nicht. Sie hatte den Deal: Sobald der Hallenmeister anwesend war, die Hallentüren geöffnet, konnte sie sich umziehen. Sie bräuchte ja mit ihren langen schwarzen Haaren auch einige Zeit, diese unter einer Badekappe zu verstauen und nachher wieder zu trocknen, meinte der Hallenmeister. Im Sommer könne er da nicht so viele Augen zudrücken, gab er ihr zur Antwort. Und außerdem würde eine Kripobeamtin der Sicherheit dienen. Das sei das schlagkräftigste Argument, fand Marie.

Sie glitt ins Wasser und bemerkte einen weiteren Frühschwimmer. Oft hatte sie ihn noch nicht gesehen. Und auch nicht regelmäßig. Sie würde ihn nicht fragen, warum. Nach Smalltalk stand ihr nicht der Sinn. Es würde heute im Büro noch viel zu viel geredet. Doch auf Claus freute sie sich. Sie schwamm an den Beckenrand und absolvierte gymnastische Übungen. Dabei schloss sie kurz die Augen, um ihn sich vorzustellen. Groß, dunkle lockige Haare, Ehemann der bezaubernden Monika, Vater zweier Mädchen. Vor ein paar Jahren, als Claus sich in den Erziehungsurlaub verabschiedete, ermittelte dieser in einem nervenaufreibenden Fall auf eigene Faust, begab sich in Lebensgefahr. Marie hatte ihm Unterlagen aus dem Kriminalkommissariat, das seinerzeit KK 11 hieß, zugespielt und mit ihm gemeinsam einen Tatverdächtigen überführt.

Als Marie die Augen öffnete, hörte sie ein fröhliches »Guten Morgen«, sah Unterwasser blaue Augen, helle Locken, die unter der Badekappe hervor lugten.

Die Friedrich-Ebert-Straße hätte ebenso Kastanienallee heißen können. Entlang der Villen stand ein Baum an den anderen gereiht. Das in den sechziger Jahren erbaute Kreishaus erhielt vor ein paar Jahren eine Grundsanierung.

»Weißt du eigentlich, wie das Kreishaus vor der Sanierung ausgesehen hat?«, fragte Michael völlig außer Atem.

Marie hatte den Vorschlag gemacht, die paar Meter von der Unteren Husemann Straße aus zu joggen.

»Das vergisst man schnell, nicht wahr?«, antwortete Marie und schritt bereits durch die sich öffnenden Türen.

»Nur gut, dass die Sitzungen nicht mehr in dem ehemals innen liegenden Sitzungssaal stattfinden. Die Klimaanlage dort hat mir immer den Rest gegeben.«

Michael nickte zustimmend und fand das lichtdurchflutete Atrium angenehmer.

Maries Blick fiel auf zwei große Edelstahl-Blumenkübel, die den ansonsten sterilen Eingangsbereich auflockerten. Sie waren aus Brandschutzgründen angeschafft worden und ihrer Meinung nach eine schöne innenarchitektonische Lösung.

»Guten Morgen, Herr Borger und herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«

Henriette Maibaum reichte dem Leiter des Kriminalkommissariats die ausgestreckte Hand, hielt ihn auf Abstand, um danach direkt Marie an sich zu ziehen. Angedeutetes Küsschen links, eines rechts und schon rannte sie weiter.

»Haben wir es eilig, Henriette?«, fragte Marie.

»Als Leiterin des Sachgebietes Verkehrsüberwachung will ich nicht schon vor der Sitzung mit Fragen überschüttet werden. Immerhin gab es diese Nacht einen Unfall. Ein gefundenes Fressen für die Presse sozusagen. Ich habe vor, schnell zu reagieren.«

»Frau Maibaum.«

Michael bemühte sich, Schritt zu halten. Sie drehte sich zu ihm um und nahm ihre rote Lesebrille aus dem Etui. Michael fand, sie passte ausgezeichnet zu diesem kuscheligen Mohairpullover, der exakt mit dem Bund des grauen Wollrocks abschloss.

»Ja?«

»Ach, schon gut. Sie werden uns sicherlich gleich berichten, dass der Schälk kein Unfallschwerpunkt ist und wir andere Baustellen zu bearbeiten haben«, nörgelte Michael.

Frau Maibaum kümmerte sich nicht um Michael und nahm Kurs auf den Besprechungssaal, der ebenerdig mit großer Glasfront, direktem Bezug nach außen und zu den Besuchern lag.

»Ist die Presse anwesend?«, fragte Marie ihren Chef.

»Wir werden es sehen.«

Der Freiherr-vom-Stein-Saal II/III war bis auf den letzten Stuhl besetzt. Auf den rechts an die Wand gestellten Tischen wurden soeben die letzten Getränke serviert. Der Blick nach draußen, der die Unfallkommission hätte ablenken können, wurde durch von innen regelbare Jalousien verhindert. Auf den Tischen befanden sich Schilder, auf denen die Namen der Behörden aufgedruckt waren: Straßen NRW, Vertreter der Kreisverwaltungen und Städte, der Polizeibehörden sowie der Motorradverbände.

Frau Maibaum setzte sich und sortierte sofort ihre Unterlagen. Sie schaute weder nach rechts noch nach links. Konzentriert, so schien es, prüfte sie schon jetzt ihre Wortwahl. Es kehrte Ruhe ein. Marie sah lediglich zwei Vertreter der Lokalredaktionen. Endlose Minuten lang holten sich die Anwesenden ihr Mineralwasser oder Apfelsaft und setzten sich gehorsam an die für sie vorgesehenen Plätze.

Frau Maibaum stand auf und schaute in die Runde.

»Ich möchte Sie bitten, mit mir zusammen eine Schweigeminute für Herrn Pastor Nolte einzulegen. Er ist der erste Unfalltote dieser Saison.«

Sie faltete die Hände und ergänzte: »Auf … dem … Schälk …«!

Das Geburtstagsfrühstück würde lediglich der Nahrungsaufnahme dienen – Grund zum ausgelassen Feiern gab es in Anbetracht des nächtlichen Todesfalles nicht. Das Büfett konnte sich allerdings sehen lassen: Möhren, Cocktailtomaten, Kartoffelsalat, Ziegenkäse, Vollkornbrot, Sonnenblumenmargarine, Fruchtsäfte. Der Kaffee stand wie gehabt auf dem Sideboard von IKEA, das sich das Team vor Jahren in einer Gemeinschaftsaktion zugelegt hatte.

»Und was hat uns der Herr Kommissaranwärter mitgebracht?«, fragte Etienne Chagall.

Der ehemalige Polizeiarzt, zwischenzeitlich pensioniert, hatte es sich nicht nehmen lassen, zu gratulieren. Er gesellte sich zum Jüngsten in der Runde, der durch sein schwedenblondes Haar auffiel. Schwedenblond, da seine Mutter Schwedin war. Mit seinen 177 cm Größe und 80 Kilo Gewicht besaß er einen Bodymaßindex an der Grenze.

»Knäckebrot von Mama«, berichtete Kristofer Langert.

»Sie hat das nicht für mich mitgegeben.«

»Wer heute noch Hunger bekommt, gesellt sich zu mir in die Leitstelle. Es gibt Apfelkuchen, wie immer!«

Willi Kuhn konnte nicht bleiben und verabschiedete sich.

Die Frage, was in der Unfallkommission beraten wurde, stand im Raum, und Michael Borger fasste es in kurze Worte. Bevor es Anwohnerbeschwerden gibt: Noch vor Beginn der Frühjahrssaison wird die Straße Schälk auf der B236 komplett für Motorradfahrer gesperrt werden. Und zwar werktags ab 18 Uhr. Es gäbe noch andere Unfallschwerpunkte wie in Werne an der Autobahnauffahrt Nordlippestraße – Einmündung Köln – mit sechs Unfällen, doch im gesamten Kreisgebiet außer Lünen drohen keine Anwohnerbeschwerden wegen unvernünftiger Fahrer in einer Applauskurve.

»Und wer war dieser ›Jo‹, der dort tödlich verunglückt ist?«

Die Frage stellte Kristofer Langert, und sie war berechtigt.

»Jo war der Pfarrer Nolte, der alljährlich die Predigt bei Saisonbeginn hielt. Sein richtiger Vorname ist Wilhelm-Josef. Eigentlich fuhr er Sommer wie Winter Motorrad. Ich weiß nicht, ob er überhaupt ein Auto in der Garage hatte. Jedenfalls segnete Jo die Motorradfahrer, ermahnte sie zur Rücksichtnahme und Vorsicht. Der Termin steht zwar zu Frühlingsanfang an, den Gottesdienst wird jedoch ein anderer übernehmen müssen,« erklärte Michael.

»Ich glaube, ich habe von diesem ›Windgesicht‹ in der Zeitung gelesen«, wusste Kristofer Langert plötzlich Bescheid und machte ein wichtiges Gesicht.

Er selbst war als Junge mit ›Abstellstütze‹ bekannt, erzählte er vor kurzer Zeit. Seine Eltern konnten allerdings nicht sicher sein, dass er sich an die Abmachung hielt. Und die war: Finanzielle Unterstützung, wenn Kristofer das Motorradfahren aufgab.

Marie Gutario schaute sich um. Sollte heute Morgen nicht Claus Constein anwesend sein? Sie schaute ihren Chef an und formte mit den Fingern zweimal ein C. Er verstand, schlenderte zu ihr herüber und berührte sie stupsend mit der Schulter.

»Claus musste zunächst in die Verwaltung. Du weißt doch: Dienstausweis etc.«, erklärte er.

In diesem Moment kam Wolfgang aus einem anderen Büro. Der ›Hüter der Telefone‹ winkte Michael heran und flüsterte ihm anscheinend etwas Wichtiges zu. Marie sah den Ernst in der Beiden Blicke. Die Party schien zu Ende.

Für Marie Gutario gab es einen Einsatz bei einem nicht unüblichen Vorfall. Auf dem Marktplatz in Kamen hatten der oder die Täter eine bereits 79 Jahre alte Frau angerempelt. Augenzeugen berichteten, sie sei dadurch gestürzt, und ein junger Mann habe ihr beim Aufstehen helfen wollen. Anscheinend oder augenscheinlich. Stattdessen hatte er in aller Seelenruhe die Handtasche entwendet und entfernte sich von dem Geschehen. Die Frau verstarb noch an der Unfallstelle an den Folgen einer Kopfverletzung. Es galt nunmehr die Augenzeugen zu hören, deren Aussagen zu protokollieren und ein Phantombild zu erstellen.

Eine Verschnaufpause gab es nicht. Das Mittagessen in der Kreishauskantine musste sie abbrechen. Sie stellte ihr Tablett mit dem kaum angerührten ›Wildragout auf Bandnundeln‹ zurück auf das Laufband. Mit einem entschuldigenden Blick in Richtung Koch verließ sie die Kantine.

In Bergkamen war ein Kind über die Querungshilfe gelaufen. Ein weißer Pkw soll mit überhöhter Geschwindigkeit, so die Aussage von gleich drei Müttern, durch die dreißiger-Zone gefahren sein. Ein Bremsmanöver konnte die Kollision mit dem Kind nicht mehr verhindern. Doch der Junge stand sofort auf, torkelte zurück auf den Bürgersteig und brach dort bewusstlos zusammen. Der Pkw-Fahrer verließ den Unfallort, ohne sich um das Kind zu kümmern. Keine der drei Mütter hatte sich das Kennzeichen merken können. Eine Schülerin meinte, das Kennzeichen habe mit einem ›F‹ begonnen. Und einer der Schüler habe eine vierstellige Ziffer gesehen.

Endlich wieder auf dem Weg nach Unna, freute sich Marie auf das Büfett. Doch leider hatten ihre Kollegen lediglich eine Möhrencreme-Suppe übrig gelassen, die sich Marie jedoch gerne in der Mikrowelle heißmachte. Ein Stück vom Baguette würde ihren Hunger stillen.

»Frau Gutario. Hätten Sie in einer dringenden Angelegenheit einen Moment Zeit für mich?«

Marie verzichtete auf eine Antwort. Stattdessen prustete sie los, drehte sich um und ging freudestrahlend auf Claus Constein zu. Sie blickte auf seine Jeans, seinen lila Pullover, darunter ein gestreiftes Hemd.

»Oh«, sagte sie nur. »Soll dir deine Garderobe Glück bringen – für den Neuanfang?«

Claus trug die Jeans und diesen Pullover, als er bei einem Ermittlereinsatz auf eigene Faust sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Die Erinnerung war ihr immer noch präsent. Claus hatte Erziehungsurlaub für seine Zwillinge genommen, da seine Frau Monika, eine begnadete Handchirurgin, für mehrere Wochen in den USA zu einer Fortbildung angemeldet war. Kurz vor der Jubiläumsfeier des Wasserschlosses in seinem Wohnort Heeren-Werve wurde er in eine unterirdische Katakombe gestoßen. Es war dem Zufall überlassen, dass Jugendliche ihn hörten und die Feuerwehr alarmierten.

»Ja, so dachte ich es mir. Ich habe das nun mehrere Jahre nicht angehabt. Passt aber noch!«, triumphierte er.

»Und wie war dein erster Tag in trauter Umgebung?«, fragte sie.

Claus verhielt sich ziemlich reserviert, wie sie meinte. Eigentlich würde Claus drauflos plaudern, doch er hielt sich zurück. Vielleicht war es für ihn nicht interessant genug, zu erklären, dass er als Berufsrückkehrer all das noch einmal schulen musste, was er vor seinem Erziehungsurlaub aus dem Effeff beherrschte.

In diesem Augenblick betrat ihr gemeinsamer Vorgesetzter Michael Borger den Aufenthaltsraum. Sein Gesichtsausdruck war sehr ernst. Und das nicht nur, weil sein heutiger fünfundfünfzigster Geburtstag gänzlich ins Wasser fallen würde. Denn an einen geregelten Feierabend war nicht zu denken. Zu Marie gewandt bestätigte er, der Schüler aus Bergkamen sei an den Folgen des Unfalles soeben im Krankenhaus verstorben.

»Zwei Todesfälle an einem Tag – mit dem Pastor drei! – Claus, kommst du bitte mal mit in mein Büro?«

Michael Borger schloss die Tür hinter sich.

»Oberstes Gebot ist, nicht über deinen Einsatz zu sprechen!«

»Darf ich auch nicht erwähnen, dass ich für eine Woche im Bildungszentrum Carl Severing bin?«

»Na, das ja wohl erst recht nicht. Die Fortbildung der, nach jahrelanger Familienpause rückkehrenden, Beamten, wird üblicherweise hier im Hause absolviert. Wenn du erwähnst, dass dich das Land Nordrhein-Westfalen nach Münster schickt, verrätst du schon die Hälfte. Jedenfalls wird Jeder, der sich halbwegs mit dem Personalrecht auskennt, Vermutungen laut werden lassen. Das gefährdet die Operation. Und bitte ebenso kein Wort zu Marie. Die hat ohnehin bald mehrere Wochen Urlaub und kommt uns nicht in die Quere.«

Am späten Nachmittag verließ Marie das Polizeigebäude. Die Tage wurden zusehends länger. Ihr Blick folgte einigen Elstern, die sich bereits einen Baum ausgeguckt hatten. Es wirkte ein wenig hektisch, wenn die Elster mit dem Schnabel an einem verdorrten Ast riss. Und noch hektischer sah es aus, wenn ihr der Ast runter fiel, in den Ästen darunter hängen blieb und sie ihn wieder holte. Der Nestbau würde seine Zeit dauern, da galt es früh zu beginnen. Ein Fußmarsch quer durch die Stadt hätte Ablenkung gebracht, dachte sie, doch ihr Auto stand auf dem Parkplatz. Nun gut, wenn ich mich zu Hause auf das Sofa lege, kann das auch nicht verkehrt sein, dachte sie. Urlaubsreif fühlte sie sich. Ob sie es Morgen zum Frühschwimmen schaffte? Jetzt im Augenblick hatte sie keine Lust. Doch wenn sie dann doch täglich ihren inneren Schweinehund bezwang und einige Bahnen schwamm, fühlte sie sich topfit.

Die Fahrt zu ihrem Haus dauerte keine fünf Minuten. Auf dem Bürgersteig hatten sich ein paar Jugendliche versammelt. Sie schienen sich nett zu unterhalten. Es war keine Aggression zu erkennen, weder in der Mimik noch in der Gestik. Und wie die jungen Menschen nun einmal so sind, stand ein Pärchen etwas abseits und flirtete kräftig miteinander. Schon von hier aus konnten sie das Blubbern einer Maschine hören, die kurz darauf um die Straßenecke gefahren kam. In einer eleganten, fast liegenden Haltung fuhr der Driver auf einer Harley-Davidson an ihnen vorbei. Die Jugendlichen schauten, als wenn sie noch nie eine Harley gesehen hätten. Vielleicht war es die erste der Saison in diesem Jahr, musste sich Marie eingestehen und blickte ebenso verträumt. Der Mann auf der Harley schien jedoch wie aus einem amerikanischen Film abgekupfert. Lange, ergraute Haare flatterten im Fahrtwind. Dieser Typ verzichtete auf einen Helm und wenn sie richtig geguckt hatte, fuhr dort ein Senior daher. Wie alt mochte er sein? Wann wurde denn den ›alten Herrschaften‹ empfohlen, den Motorradführerschein abzugeben? Doch das sollte ihr Problem nicht sein. Die meiste Zeit fuhren die Gentlemen ziemlich genügsam.

»Frau Gutario!«, raunte sie die Nachbarin von gegenüber an. Marie kannte sie seit Jahren und dachte, sie habe vergessen, die Mülltonne rauszustellen. Doch Frau Emilie Meier rannte förmlich auf sie zu. War die Katze verstorben, der Mann gestürzt, wollte Sie sie gar bitten, die Wege besser abzustreuen? Oder die Gruppe Jugendlicher bitte schön zu zerstreuen? Marie hob ein wenig verkrampft die Schultern an, denn die alte Dame sagte noch einmal mit aller Deutlichkeit: »Frau Gutario! Wenn Sie früh morgens das Haus verlassen, sollten Sie die Fenster schließen!«

Mit einer Geste zeigte Frau Meier auf das kleine Fenster direkt neben dem Hauseingang. War dort jemand eingebrochen? Nein, mit Sicherheit nicht. Das Fenster befand sich immer noch auf ›Kipp‹. Bei ihr war doch nichts zu holen, wie man so schön sagt. Bevor sie jedoch einen Gruß hervorbrachte, übernahm Frau Meier das Regiment.

»In der Zeit von 13 - 15 Uhr halten wir unseren Mittagsschlaf. Doch heute wollten wir Essen gehen und einen kleinen Spaziergang dranhängen. Als wir zurück kamen, klingelte bei Ihnen das Telefon – auf voller Lautstärke – sozusagen. Na, wenn das keine Einladung ist? Da können Sie ja gleich einen Zettel an den Briefkasten kleben mit den Worten ›Bin nicht Zuhause‹.

Jetzt verstand Marie. Die alte Dame machte sich Sorgen, passte auf die Nachbarhäuser auf.

»Sie haben ja so Recht, Frau Meier. Ich werde das Flurfenster schließen und das Telefon leiser einstellen!«

Bin ja nicht schwerhörig, wollte sie noch sagen, unterdrückte das allerdings.

»Gern geschehen, Frau Gutario«, entgegnete sie und machte sich schon wieder auf den Weg. Sie trug Hauspuschen.

Marie stellte sofort das Telefon leiser, schloss das Fenster, was bei dieser Kälte auch notwenig war und steckte ihren Haustürschlüssel von innen in die Tür. Sie streifte ihre Stiefel ab und warf ihre Jacke gleich dazu. Ein paar Minuten Beine ausstrecken, dachte sie, ging in ihr Schlafzimmer und legte das Handy auf den Nachttisch. Sie ließ sich auf ihr Bett fallen und meinte, der nächste Einsatz würde sie sowieso wecken, sie könne ruhig ein paar Minuten die Augen schließen. Marie ließ den Tag noch einmal Revue passieren. Claus Constein hatte seinen Dienst wieder angetreten, Pastor Nolte und zwei weitere Personen waren leider Gottes verunglückt, und der Mann beim Frühschwimmen machte auf sie einen netten Eindruck. Mit diesem letzten Gedanken schlief sie ein.

Ein Geräusch schreckte sie auf. Sie drehte sich zur Nachttischlampe, knipste sie an, schaute auf ihren Wecker, den sie abends nicht gestellt hatte. 6 Uhr am Morgen. Dann ist also soeben die Tageszeitung gebracht worden, resümierte sie. Der Bote sprang stets die Treppe hinunter und lief zu seinem Mofa, das er knatternd vor jedem Hause stehen ließ, wenn er den ›Hellweger Anzeiger‹ brachte. Das erzählten sich die Nachbarn, allen voran Frau Meier. Sie selbst hörte und störte das kaum. Sie sprang aus dem Bett. Um 6 Uhr war sie üblicher Weise auf dem Weg ins Hallenbad! Sie hatte verschlafen, damit fiel ihr Frühschwimmen aus. Sie tappte Richtung Küche. Ihr war der Sinn nach Kaffee. Nachdem sie Wasser aufgefüllt hatte, zog sie die Zeitung aus dem Briefkasten und verschwand im Bad. Doch bevor sie dort irgendetwas ›erledigen‹ konnte, klingelte ihr Telefon – ungewohnt leise. Das überhöre ich, will nicht immer für alle erreichbar sein. Ist wahrscheinlich Mutter. Die ist aber spät dran. Schlagartig wurde ihr klar, dass sie den Anruf ihrer Mutter tatsächlich überhört haben musste.

»Gutario«, rief sie in den Hörer.

Sie wollte jedem, der sie heute Morgen störte, zu erkennen geben, wie unpassend dieser Anruf kam.

»Marie. Schön, dich noch zu erreichen. Adna hier. Bist du nicht zum Schwimmen? Na egal. Du hast doch bald Urlaub. Meldest du dich dann bei mir? Wir, also Alessia und ich, würden gerne sonntags mit dir essen gehen. Welcher ist wurscht …Marie?«

Adna Kern sprach gemächlich. Einer besten Freundin war das schier egal, wenn Marie auch manchmal ungeduldig wurde. Das lag weniger an ihrer Freundin als an ihrem stressigen Job.

Adna war der Ruhepol.

»Ich habe verschlafen. Aber ja doch, wir gehen essen. Ich melde mich dann!«, antwortete sie knapp.

Die Zeitung immer noch unter ihren Arm geklemmt, schlurfte sie zur Küche zurück, legte einen ›Coffee-Pad‹ mit verschiedensten exklusiven Arabicas in den Padhalter ein und drückte ›on‹ an ihrem Kaffeeautomaten. Sie faltete noch im Stehen die Zeitung auseinander und interessierte sich zunächst für den Teil ›Kreis Unna‹. Das war ja klar, dachte sie. Da stürzt sich die Presse drauf. Der tödliche Unfall des Pastors erhielt eine flammende Überschrift: ›Saisoneröffnung ohne Biker-Gottesdienst‹? Im Text stand sinngemäß, es sei pietätlos, direkt nach dem Tode einen Vertreter zu bestellen, um den Gottesdienst abzuhalten. Andererseits sei es eine kirchliche Verpflichtung, auch den Motorradfahrern Gottes Segen zukommen zu lassen, wie es schon jahrelang Tradition besaß.

Ein anderer Artikel erweckte nur ihre kurze Aufmerksamkeit. Er war von der noch relativ jungen Chefredakteurin Bernhardine Wackert verfasst und trug die Überschrift: ›Fahnder im Einsatz gegen Rechts‹. Das war nicht ihr Gebiet. Damit wollte sie auch nichts zu tun haben. Dass dies ebenso im Kreisgebiet notwendig war, konnte sie nachvollziehen. Die Großdemo in Kamen war ihr noch in guter Erinnerung. Zu diesem Zeitpunkt ahnte Marie Gutario noch nicht, dass sie während ihres Urlaubes noch genug Gelegenheit hatte, sich dieses Themas anzunehmen.