Cover

Sigmund Freud.
Seine Persönlichkeit und seine Wirkung

(Sigmund Freud’s Mission
An Analysis of His Personality and Influence)

Erich Fromm
(1959a)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Aus dem Amerikanischen von Renate Oetker-Funk und Christiane von Wahlert auf der Basis der Übersetzung von A. R. L. Gurland

Erstveröffentlichung unter dem Titel Sigmund Freud’s Mission. An Analysis of His Personality and Influence als Band 21 der „World Perspectives“, geplant und herausgegeben von Ruth Nanda Anshen, New York 1959 (Harper and Bros.). Eine deutsche Übersetzung von A. R. L. Gurland erschien erstmals 1967 als Band 9 der „Weltperspektiven“ im Verlag Ullstein unter dem Titel Sigmund Freuds Sendung. Persönlichkeit, geschichtlicher Standort und Wirkung. Für die Veröffentlichung in der zehnbändigen Erich Fromm-Gesamtausgabe 1980 wurde die Übersetzung stark überarbeitet und der Titel Sigmund Freud. Seine Persönlichkeit und seine Wirkung gewählt. Ab 1980 fand diese Neufassung auch Eingang in die Einzelpublikationen beim Ullstein Verlag und beim Deutschen Taschenbuch Verlag.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band VIII, S. 153-221.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1959 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Inhalt

1. Freuds leidenschaftliche Suche nach Wahrheit und sein Mut

Die Psychoanalyse war, wie Freud selbst gern betonte, seine Schöpfung. Ihre großen Errungenschaften, aber auch ihre Mängel tragen den Stempel der Persönlichkeit ihres Begründers. Zweifellos ist daher der Ursprung der Psychoanalyse in Freuds Persönlichkeit zu suchen.[1]

Was für ein Mensch war Sigmund Freud? Was waren die treibenden Kräfte, die ihn in seiner besonderen Art handeln, denken und fühlen ließen? War er, wie ihn seine Gegner sahen, ein dekadenter Wiener, verwurzelt in der sinnlichen und disziplinlosen Atmosphäre, die gemeinhin als typisch wienerisch gilt – oder war er, wie seine getreuesten Anhänger behaupten, der große Meister, ohne persönliche Schwächen, furchtlos und unnachgiebig in seiner Suche nach Wahrheit, liebevoll der Familie zugetan, gütig zu seinen Schülern und gerecht allen Feinden gegenüber, ohne Eitelkeit und Selbstsucht? Will man Freuds komplexe Persönlichkeit und die Wirkung dieser Persönlichkeit auf die Struktur der Psychoanalyse erfassen, so kommt man weder mit Verunglimpfung noch mit Heldenverehrung ans Ziel. Dieselbe Objektivität, die Freud als eine entscheidende Voraussetzung für die Analyse seiner Patienten entdeckte, ist notwendig, wenn wir uns ein Bild zu machen versuchen, wer er war und was ihn motivierte.

Die auffallendste und wahrscheinlich stärkste emotionale Kraft in Freud war seine Leidenschaft für Wahrheit und sein kompromissloser Glaube an die Vernunft. Für ihn war die Vernunft die einzige menschliche Fähigkeit, die dazu beitragen kann, das Problem der Existenz zu lösen oder zumindest das dem menschlichen Leben innewohnende Leid zu lindern.

Freud sah in der Vernunft das alleinige Werkzeug – oder die einzige Waffe –, die wir besitzen, um das Leben sinnvoll zu machen, uns von Illusionen zu befreien (zu ihnen zählen nach Freud auch die religiösen Glaubensvorstellungen), unabhängig von fesselnden Autoritäten zu werden und so unsere eigene Autorität aufzurichten. Immer wenn er in der Komplexität und Vielfalt der wahrnehmbaren Erscheinungen eine theoretische Wahrheit erkannte, dann war dieser Glaube an die Vernunft die Grundlage seiner unermüdlichen Suche nach der Wahrheit. Es störte Freud nicht, wenn seine Ergebnisse vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes aus gesehen [VIII-156] absurd erschienen. Im Gegenteil – das Lachen der Menge, deren Denken vom Wunsch nach Bequemlichkeit und nach ungestörtem Schlaf bestimmt war, umriss für ihn nur noch schärfer den Unterschied zwischen Überzeugung und bloßer Meinung, Vernunft und gesundem Menschenverstand, Wahrheit und Rationalisierung.

Mit seinem unerschütterlichen Glauben an die Macht der Vernunft war Freud ein Kind des Zeitalters der Aufklärung. Ihre Devise Sapere aude! – „Wage zu wissen!“ – prägte Freuds Persönlichkeit und sein gesamtes Werk. Entstanden war dieser Glaube in der Emanzipation des westlichen Bürgertums von den Fesseln und dem Aberglauben der feudalen Gesellschaft. Spinoza und Kant, Rousseau und Voltaire hatten, so verschieden ihre philosophischen Lehren auch sein mochten, diesen leidenschaftlichen Glauben an die Vernunft geteilt; sie alle waren im Kampf für eine neue, wahrhaft aufgeklärte, freie und humane Welt verbunden. Dieser Geist lebte weiter im west- und mitteleuropäischen Bürgertum des 19. Jahrhunderts, vor allem unter den Studenten, die sich dem Fortschritt der Naturwissenschaften hingaben. Erst recht verstärkte Freuds jüdische Herkunft seine Verbundenheit mit dem Geist der Aufklärung.[2] Die jüdische Tradition selbst war eine Tradition der Vernunft und der intellektuellen Disziplin; überdies hatte eine in gewissem Sinn missachtete Minderheit ein starkes emotionales Interesse daran, die Mächte der Finsternis, der Irrationalität und des Aberglaubens zu bekämpfen, die ihr den Weg zu ihrer Emanzipation und zum Fortschritt versperrten.

Neben diesem allgemeinen Trend in der europäischen Intelligenz des späten 19. Jahrhunderts gab es besondere Umstände in Freuds Leben, die seine Neigung verstärkten, auf die Vernunft und nicht auf die öffentliche Meinung zu bauen.

Ganz im Gegensatz zu allen westlichen Großmächten war die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie zu Freuds Lebzeiten ein zerfallendes Gebilde. Sie hatte keine Zukunft vor sich. Mehr als alles andere hielt die Macht der Trägheit die einzelnen Teile der Monarchie zusammen, trotz der Tatsache, dass ihre nationalen Minderheiten verzweifelt um ihre Unabhängigkeit kämpften. Dieser Zustand eines politischen Verfalls und politischer Auflösungserscheinungen war dazu geeignet, in einem intelligenten Jungen Verdacht zu erwecken und seinen fragenden Verstand zu schärfen. Die Diskrepanz zwischen der offiziellen Ideologie und den Tatsachen der politischen Realität musste das Vertrauen in die Gültigkeit von Worten, Parolen und autoritativen Erklärungen schwächen und kritisches Denkvermögen fördern. In Freuds speziellem Fall muss noch ein weiterer Unsicherheitsfaktor diese Entwicklung gefördert haben: Freuds Vater, ein wohlhabender kleiner Fabrikant in Freiberg (Pribor) im nördlichen Mähren, musste seinen Betrieb wegen der Veränderungen in der ganzen österreichischen Wirtschaft, die auch Freiberg trafen und verarmen ließen, aufgeben. [VIII-157]

Der Knabe Freud lernte in jungen Jahren durch drastische Erfahrungen, dass nicht nur auf die politische, sondern auch auf die soziale Stabilität kein Verlass war, dass weder Tradition noch hergebrachte Ordnung Sicherheit boten und Vertrauen verdienten. Zu welchem anderen Ergebnis konnten solche Erlebnisse einen ungewöhnlich begabten Jungen bringen als dazu, sich nur noch auf sich selbst und auf die Vernunft zu verlassen? Anderen Waffen war nicht zu trauen.

Gewiss gab es viele andere Jungen, die unter denselben Umständen aufwuchsen, und die keine Freuds wurden und keine derartige Leidenschaft für Wahrheit entwickelten. Es muss in Freuds Persönlichkeit besondere, nur ihm eigene Elemente gegeben haben, die für die außerordentliche Intensität dieser Qualität verantwortlich waren. Welches waren diese Elemente?

Zweifellos müssen wir zunächst die überdurchschnittliche intellektuelle Begabung und Vitalität erwähnen, die zu Freuds Konstitution gehörte. Diese außerordentliche intellektuelle Begabung, verbunden mit dem Klima der Aufklärungsphilosophie, die Zerrüttung des herkömmlichen Zutrauens zu Worten und Ideologien: Dies alles mag schon hinreichend erklären, warum sich Freud an die Vernunft hielt. Es mag andere, rein persönliche Faktoren geben; so zum Beispiel Freuds Wunsch nach Prominenz, die zu seinem Vertrauen auf die Vernunft geführt haben können, da ihm keine andere Macht, sei es Geld, soziales Prestige oder physische Kraft zur Verfügung stand. Suchen wir aber nach noch persönlicheren Elementen in Freuds Charakter, die seine leidenschaftliche Suche nach Wahrheit erklären können, so stoßen wir auf ein negatives Element in seinem Charakter: seinen Mangel an emotionaler Wärme und menschlicher Nähe, an Liebe und darüber hinaus an Lebensfreude. Das mag, wenn vom Entdecker des „Lustprinzips“ und vom vermeintlichen Protagonisten sexueller Lust die Rede ist, erstaunlich klingen; indes sprechen die Tatsachen eine zu laute Sprache, als dass sie Zweifel hinterlassen könnten. Später werde ich zur Bekräftigung dieser Aussage Beweise anführen; hier sei vorerst nur festgestellt: Ein Knabe, den es so sehr nach Ruhm und Anerkennung verlangte wie Sigmund Freud und der eine so geringe Lebensfreude besaß, hatte bei seiner Begabung, in seinem kulturellen Klima, und angesichts der besonderen europäischen, österreichischen und jüdischen Faktoren in seiner Umgebung keine andere Möglichkeit, seine Wünsche zu erfüllen, als indem er sich dem Abenteuer des Erkennens verschrieb. Andere Persönlichkeitselemente mögen dazu beigetragen haben: Freud war ein sehr unsicherer Mensch, er fühlte sich leicht bedroht, verfolgt, verraten und hatte daher, wie nicht anders zu erwarten, ein großes Verlangen nach Gewissheit. In Anbetracht seiner ganzen Persönlichkeit konnte es für ihn keine Gewissheit in der Liebe geben – Gewissheit gab es nur in der Erkenntnis, und er musste die Welt intellektuell erobern, um vom Zweifel und vom Gefühl des Versagens loszukommen.

Ernest Jones, der Freuds leidenschaftliches Streben nach Wahrheit als „das tiefste und stärkste Motiv seines Wesens (...) und eben das, welches ihn zu seinen Pionierleistungen vorwärtstrieb“, begreift (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 506), bemüht sich um eine Erklärung im Rahmen der orthodoxen psychoanalytischen Theorie. Danach hat die Wissensbegierde des Kindes „ihren letzten Beweggrund in der infantilen Neugierde, die sich auf die primären Tatsachen des Lebens richtet: die Bedeutung der [VIII-158] Geburt und dessen, was zu ihr geführt hat“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 506). Mir scheint, dass hier eine bedauerliche Verwechslung vorliegt; Neugierde ist nicht dasselbe wie Glaube an die Vernunft. Bei sehr neugierigen Menschen mag sich eine frühzeitige und besonders intensive Sexualneugier nachweisen lassen, doch lässt sich schwerlich sagen, dass damit leidenschaftlicher Durst nach Wahrheit Hand in Hand gehe. Nicht sehr viel überzeugender ist ein anderes Argument, das Jones geltend macht: Freuds Halbbruder Philipp war ein Mann, der gerne scherzte, und in dem Freud den Ehepartner der Mutter vermutete und „den er weinend gebeten hatte, die Mutter nicht wieder zu schwängern“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 508).

Konnte man sicher sein, dass ein solcher Mensch, der offensichtlich alle Geheimnisse kannte, darüber die Wahrheit sagen würde? Es wäre eine seltsame Laune des Schicksals, wenn sich erwiese, dass dieser unbedeutende kleine Mann – er soll als Hausierer geendet haben – durch seine bloße Existenz das ausgelöst hätte, was den späteren Freud bewog, nur sich selbst zu trauen, jedem Impuls, anderen mehr als sich selbst zu glauben, Widerstand zu leisten, und somit den Namen Freuds unsterblich gemacht hätte. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 508.)

Hätte Jones recht, so wäre es in der Tat eine „seltsame Laune des Schicksals“. Ist es aber nicht zu einfach, Freuds Ideen mit der Existenz eines Halbbruders und seiner sexuellen Scherze, denen Freud nicht traute, zu „erklären“?

Wenn wir über Freuds leidenschaftliche Suche nach Wahrheit und Vernunft sprechen, müssen wir schon hier etwas vorwegnehmen, was erst ausgeführt werden kann, wenn wir ein vollständigeres Bild von Freuds Charakter erhalten haben: Für Freud erschöpfte sich Vernunft im Denken; Gefühle und Emotionen galten ihm per se als irrational und deshalb dem Denken gegenüber als minderwertig. Diese Verachtung von Gefühl und Affekt teilte Freud mit den Philosophen der Aufklärung. Ihnen galt das Denken als der einzige Träger des Fortschritts, und nur im Denken gab es für sie Vernunft. Sie sahen nicht, was Spinoza gesehen hatte: Wie das Denken, so können auch Affekte sowohl rational als auch irrational sein, und die volle Entwicklung des Menschen erfordert die rationale Weiterentwicklung beider, des Denkens und der Affekte. Sie sahen nicht, dass die Abspaltung des Denkens vom Fühlen sowohl das Denken als auch das Fühlen entstellt, und dass ein Menschenbild, das auf der Annahme dieser Spaltung [von Denken und Fühlen] basiert, ebenso entstellt ist.

Diese rationalistischen Denker waren überzeugt, dass der Mensch nur die Ursachen seines Elends intellektuell zu verstehen braucht, um aus diesem intellektuellen Wissen auch die Macht zu schöpfen, die Umstände zu verändern, die sein Leiden verursachen. Von dieser Haltung war Freud stark beeinflusst, und er hat Jahre gebraucht, um von der Annahme loszukommen, dass das bloß intellektuelle Wissen der Ursachen neurotischer Symptome auch schon deren Heilung mit sich bringt.

Solange nur von Freuds leidenschaftlicher Suche nach Wahrheit die Rede ist, bleibt das Bild unvollständig. Um es zu vervollständigen, müssen wir gleichzeitig eine seiner hervorragenden Qualitäten erwähnen: seinen Mut. Viele Menschen haben potentiell ein leidenschaftliches Streben nach Vernunft und nach Wahrheit. Dieses Potential in die Wirklichkeit umzusetzen, ist aber deswegen so schwer, weil dazu Mut gehört, und dieser Mut ist selten, weil es ein Mut besonderer Art ist. Es geht hier nicht in erster Linie um den Mut, sein Leben, Freiheit und Besitz aufs Spiel zu setzen, [VIII-159] obwohl auch dieser Mut selten ist. Wer den Mut hat, ganz der Vernunft zu trauen, nimmt die Gefahr der Isolierung und des Alleinseins auf sich, und für viele ist diese Gefahr unerträglicher als eine Bedrohung des Lebens. Gerade die Suche nach Wahrheit setzt den Suchenden notwendig dieser Gefahr der Isolation aus. Wahrheit und Vernunft stehen im Gegensatz zum gesunden Menschenverstand und zur öffentlichen Meinung. Die Mehrheit klammert sich an bequeme Rationalisierungen und an Ansichten, die sich aus der oberflächlichen Betrachtung der Dinge herleiten lassen. Die Vernunft dagegen hat die Aufgabe, die Oberfläche zu durchstoßen und bis zum Wesentlichen vorzudringen, das sich unter ihr verbirgt; sie hat die Aufgabe, objektiv, das heißt ohne von den eigenen Wünschen und Ängsten bestimmt zu werden, zu erkennen, welche Kräfte die Welt und die Menschen bewegen. Dazu braucht der Mensch Mut, die Isolierung auszuhalten und den Spott und Hohn derer, die von der Wahrheit gestört werden und den Störenfried hassen. Freud besaß diese Fähigkeit in einem bemerkenswerten Maß. Er lehnte sich gegen seine Isolierung auf, er litt unter ihr, aber er war nie willens oder auch nur geneigt, sich auf den geringsten Kompromiss einzulassen, der die Isolierung möglicherweise erleichtert hätte. Dieser Mut war auch sein größter Stolz. Er bildete sich nicht ein, ein Genie zu sein, aber er schätzte seinen Mut als die hervorstechendste Qualität in seiner Persönlichkeit. Dieser Stolz mag zuweilen einen negativen Einfluss auf seine theoretischen Aussagen gehabt haben. Freud misstraute jeder theoretischen Formulierung, die als versöhnlich hätte aufgefasst werden können, und es gab ihm – wie Marx – eine gewisse Befriedigung, manche Dinge zu sagen, um den Bürger vor den Kopf zu stoßen – pour épater le bourgeois. Es ist nicht einfach, die Quellen des Mutes auszumachen. War er eine Gabe, mit der Freud zur Welt gekommen war? Inwieweit ist er das Ergebnis seines Gefühls für seine historische Sendung? Inwieweit ist er eine innere Stärke, die mit seiner Position als unanfechtbarer Lieblingssohn seiner Mutter zusammenhängt? Aller Wahrscheinlichkeit nach haben alle drei Quellen zu Freuds ungewöhnlichem Mut beigetragen. Darüber werden wir mehr erfahren, wenn wir in seinen Charakter einen tieferen Einblick gewonnen haben.

2. Freuds Verhältnis zu seiner Mutter – sein Selbstvertrauen und seine Unsicherheit

Will man die nicht-konstitutionellen Faktoren verstehen, die die charakterliche Entwicklung eines Menschen bestimmen, so muss man mit der Beziehung zur Mutter beginnen. Über diese Beziehung wissen wir bei Freud verhältnismäßig wenig. Aber die Tatsache, dass Freuds Mitteilungen über seine Mutter in seinen autobiographischen Versuchen sehr spärlich sind, ist in sich selbst bedeutsam. Nur zwei von über 30 eigenen Träumen, die er in der Traumdeutung wiedergibt, handeln von der Mutter. Da Freud viel und ausgiebig träumte, darf man annehmen, dass er nicht wenige Träume über seine Mutter für sich behalten hat. Die beiden veröffentlichten Träume drücken eine intensive Bindung an sie aus. Einen davon, den Traum „von den drei Parzen“, schildert Freud folgendermaßen:

Ich gehe in eine Küche, um mir Mehlspeise geben zu lassen. Dort stehen drei Frauen, von denen eine die Wirtin ist und etwas in der Hand dreht, als ob sie Knödel machen würde. Sie antwortet, dass ich warten soll, bis sie fertig ist (nicht deutlich als Rede). Ich werde ungeduldig und gehe beleidigt weg. Ich ziehe einen Überrock an; der erste, den ich versuche, ist mir aber zu lang. Ich ziehe ihn wieder aus, etwas überrascht, dass er Pelzbesatz hat. Ein zweiter, den ich anziehe, hat einen langen Streifen mit türkischer Zeichnung eingesetzt. Ein Fremder mit langem Gesicht und kurzem Spitzbart kommt hinzu und hindert mich am Anziehen, indem er ihn für den seinen erklärt. Ich zeige ihm nun, dass er über und über türkisch gestickt ist. Er fragt: Was gehen Sie die türkischen (Zeichnungen, Streifen...) an? Wir sind aber dann ganz freundlich miteinander. (S. Freud, 1900a, S. 210.)

Deutlich ist in diesem Traum der Wunsch, von der Mutter gefüttert zu werden. (Dass die „Wirtin“ – wie wahrscheinlich alle drei Frauen des Traums – die Mutter darstellt, ergibt sich eindeutig aus Freuds eigenen Assoziationen zu diesem Traum.) Was besonders auffällt, ist die Ungeduld des Träumenden. Da ihm bedeutet wird, er müsse warten, geht er „beleidigt“ von dannen. Der Traum jedoch bricht nicht ab: Er zieht einen Mantel mit Pelzbesatz an, der ihm zu lang ist, dann einen, der jemand anderem gehört. Wir sehen in diesem Traum die typische Reaktion eines Jungen, der von seiner Mutter vorgezogen wird: Er besteht darauf, von der Mutter gefüttert zu werden (was symbolisch ausdrückt, dass er versorgt, geliebt, geschützt, bewundert werden [VIII-161] will); er ist ungeduldig und wütend darüber, dass er nicht sofort „gefüttert“ wird, denn er fühlt sich berechtigt, sofortige Beachtung und ungeteilte Aufmerksamkeit zu verlangen. Seine Wut lässt ihn weggehen, aber dabei maßt er sich sogleich die Rolle des großen Mannes, des Vaters, an: Der Mantel ist zu lang und gehört einem Fremden.

Der zweite Traum, der mit der Mutter zu tun hat, stammt aus Freuds siebentem oder achtem Lebensjahr. Noch 30 Jahre später erinnert er sich daran: Der Traum „war sehr lebhaft und zeigte mir die geliebte Mutter mit eigentümlich ruhigem, schlafendem Gesichtsausdruck, die von zwei (oder drei) Personen mit Vogelschnäbeln ins Zimmer getragen und aufs Bett gelegt wird“ (S. Freud, 1900a, S. 589). Freuds Erinnerung sagt, er sei „weinend und schreiend“ aufgewacht – ein verständlicher Angstausbruch, da er ja vom Tode der Mutter geträumt hatte. Dass der Traum nach drei Jahrzehnten nicht verblasst war, unterstreicht seine Bedeutung.

Nimmt man beide Träume zusammen, so sieht man ein Kind, das von der Mutter mit Bestimmtheit die Erfüllung all seiner Wünsche erwartet und bei dem Gedanken, dass sie sterben könnte, zutiefst erschrocken ist. Dass Freud nur diese zwei Träume von der Mutter mitgeteilt hat, ist psychoanalytisch aufschlussreich und bestätigt Jones’ Annahme, „dass es in Freuds frühester Kindheit außerordentlich starke Beweggründe gegeben hat, eine wichtige Phase seiner Entwicklung zu verbergen – vielleicht vor ihm selbst. Ich möchte die Hypothese wagen, es handle sich um die tiefe Liebe zu seiner Mutter“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 479). In dieselbe Richtung weisen andere Tatsachen, die wir aus Freuds Leben kennen. Dass er auf den elf Monate jüngeren Bruder Julius maßlos eifersüchtig war und die zweieinhalb Jahre jüngere Schwester Anna nie gemocht hat, braucht allein noch nicht viel zu besagen. Es gibt aber genauere und stichhaltigere Fakten. Am deutlichsten zeigt sich seine Stellung als Lieblingssohn an einem Vorfall, der sich ereignete, als seine Schwester etwa acht Jahre alt war.

Ihre sehr musikalische Mutter begann, ihr Klavierunterricht zu erteilen; aber das Klavierspiel störte den jungen Schüler, obgleich sein „Kabinett“ etwas abseits lag, so sehr, dass er verlangte, das Instrument müsse fort; es wurde tatsächlich weggeschafft. So kam es, dass sowohl Freuds Geschwister wie später seine Kinder ohne jede musikalische Ausbildung aufwuchsen. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 1, S. 37).

Es ist nicht schwierig, sich die Position vorzustellen, die der zehn Jahre alte Junge bei seiner Mutter erreicht hatte, wenn er die musikalische Erziehung seiner Familie verhindern konnte, nur weil er das „Geräusch“ der Musik nicht leiden konnte.[3]

Die tiefe Zuneigung zur Mutter hat ihre Spuren auch in Freuds späterem Leben hinterlassen. Der vielbeschäftigte Arzt, der sich außer für seine Tarockrunde und seine Kollegen kaum für jemanden – auch nicht für seine Frau – Zeit nahm, besuchte die Mutter sein Leben lang, auch noch als alter Mann, jeden Sonntagmorgen, und jeden Sonntagabend war die Mutter bei Freuds zu Tisch.

Diese Bindung an die Mutter und die Rolle des bewunderten Lieblingssohnes hat eine [VIII-162] wichtige Bedeutung für die Entwicklung seines Charakters, die Freud selbst sah und in einem wahrscheinlich autobiographischen Sinne formulierte: „Wenn man der unbestrittene Liebling der Mutter gewesen ist, so behält man fürs Leben jenes Eroberergefühl, jene Zuversicht des Erfolges, welche nicht selten wirklich den Erfolg nach sich zieht.“ (S. Freud, 1917b, S. 26.)

E. Simon, 1957