Beutemacher

Beutemacher

Rolf Silber

spraybooks Verlag

Für Doris

Und für alle, die uns durch jenen Winter gebracht haben.

Alle Personen der Handlung sind frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit tatsächlich existierenden Personen wären rein zufällig.

Inhalt

1. Sommerloch

2. Hundstage

3. Schweinefraß

4. Fressgass

5. Hundekurve

6. Falkenhorst

7. Fährtensucher

8. Bilderdiebe

9. Nachtfahrer

10. Gipfelstürmer

11. Lumpe’pack

12. Stubenküken

13. Räuberhöhle

14. Strippenzieher

15. Leuchtfeuer

16. Fallensteller

17. Unterhändler

Werbung

18. Vogelfänger

19. Mördergrube

20. Niemandsland

21. Jagdzeit

22. Oberwelt

23. Unterwelt

24. Bärenfutter

25. Nachteulen

26. Silbersträhne

27. Fleischwolf

28. Auszeit

29. Netzwerk

30. Veteranentag

31. Beutemacher

32. Nachspiel

33. Skiathos

Über den Autor

DAS LEBEN TOBT!

Glücksraben

Mehr spraybooks …

1

Sommerloch

Sie sah ihren Partner gut fünfhundert Meter westlich von sich. Etwas tiefer als sie zog er enge Kurven in den Aufwinden der Hochhäuser, deren Fassaden gerade anfingen, die Hitze der frühen Sonne zu speichern. Sie gab sich jetzt ganz ihren Augen hin. Kein Vogel klein genug, dass sie ihn nicht registrierte, keine fliegende Beute, die ihrer angespannten Aufmerksamkeit entging. Auch nicht der träge Taubenschwarm, der sich gerade tief unten, auf dem belebten Platz vor der Alten Oper, von einer alten Frau füttern ließ.

Mit einer spielerischen Bewegung der Schwanzfedern korrigierte sie ihre Flugbahn, suchte sich in den auf– und abströmenden Luftzügen über der brütenden Stadt einen ruhigeren Sektor. Dort kreiselte sie, knapp hundert Meter über den verspiegelten Doppeltürmen der Deutschen Bank, in einem so exakt gezirkelten Radius, als hinge ihr linker Flügel fest an einem Stück unsichtbarer Schnur.

Sie taxierte blitzschnell jede der müden, überfressenen Stadttauben tief unter sich, suchte nach bestimmten Merkmalen, wiedererkennbaren Mustern, kleinen Auffälligkeiten. Sie musste ihr Ziel präzise wählen, und ihre Augen waren dafür gerade richtig. Die besten Augen, die auf dieser Welt zu haben sind. Sie kalkulierte die Lichtverhältnisse, verlangsamte ihre Geschwindigkeit, brachte sich so in Position, dass sie den grellen Lichtpunkt, zu dem der Sonnenball geschrumpft war, genau im Rücken hatte. Dann passierte, worauf sie gewartet hatte.

Ein Geräusch vielleicht. Vielleicht ein spielendes Kind, oder ein bellender Hund. Etwas brachte die Tauben jäh zum Auffliegen. Zwanzig Flügelpaare flatterten los. Der Schwarm zog eine flache Kurve über den Platz, entschied sich aber nicht für die Deckung der Grünanlage, die sich direkt anschloss, sondern drehte in Richtung der spiegelnden Doppeltürme. Sie hatten die Beobachterin über sich nicht bemerkt. Und diese hatte sich im Bruchteil einer Sekunde entschieden: ein bräunlich gefärbter Nachzügler, er war langsamer, kaum erkennbar müder oder etwas älter als die anderen. Oder krank. Jedenfalls passte er in das Muster. Beute.

Eine Slipbewegung zur Seite, schon kippte sie über den linken Flügel ab. Schnelle, kräftige Schläge mit den Schwingen, sie ließ sich fallen, zog die Flügel eng an den Körper, schoss kopfüber der Erde und ihrem Opfer entgegen, zu Tropfenform geronnen, wie ein lebendiger Meteorit.

Die Taube hatte keine Chance. Einen Flügelschlag nur hatte sie Zeit, den dunklen Fleck zu bemerken, der aus dem Himmel gerast kam, dann war er auch schon heran, hatte sich mit unfliehbarer Plötzlichkeit vergrößert und in ein schreckliches, ein prächtiges Peregrinweibchen verwandelt, das seine Greife nach vorne warf, um am tiefsten Punkt des Sturzfluges messerscharfe Krallen durch den gefiederten Körper ihres Opfers zu ziehen.

Das und die Wucht des Aufpralls genügten. Die Taube war augenblicklich tot, ihre Wirbelsäule zerschmettert. Der verdrehte Körper überschlug sich mehrmals im Flug, Federn stoben, kleine Blutstropfen verteilten sich in der Luft, während das Peregrinweibchen eine steile Aufwärtskurve flog, dann eine enge Wendung vollführte, sich abwärts schraubte, um die leblos dem Erdboden entgegenstürzende Taube zu unterfliegen und sie mit einem zielsicheren Griff aus der Luft zu picken. So jagen Falken. Wanderfalken.

Ein paar Federn trudelten, von einem müden Wind Richtung Grünanlage getrieben, sanft zu Boden. Vielleicht würde sich jemand wundem, woher sie stammten. Vielleicht würde sich jemand an einen Kinofilm erinnert fühlen, der damit beginnt, dass eine Feder langsam über die Dächer einer Stadt dem Boden entgegentorkelt und schließlich neben einem Mann landet, der auf einer Parkbank sitzt und eine Pralinenschachtel in der Hand hält.

Dazu wenige Blutspritzer, die zaghaft niederregneten, auf die Schulterstücke eines Hemdes oder einer hellen Jacke vielleicht, wo sie rostbraune Flecken hinterließen, als stammten sie von Flüssigkeit aus dem Hydrauliksystem der Flugzeuge, die im Minutentakt über die Stadt zogen.

Der Falke drehte ab, die leblos in seinen Krallen baumelnde Last mit sich durch den Himmel reißend, unberührt, leidenschaftslos. Und die Stadt machte einfach weiter, weil sie sich um den Tod einer Taube nicht kümmern kann.

Nicht weit entfernt warteten zur gleichen Zeit Männer in großen Büros, die so hoch gelegen waren, dass man von dort aus bei gutem Wetter mühelos die ganze Senke des Rhein–Main–Gebietes überschauen konnte.

Sie warteten auf ein wichtiges Ereignis, von dem man ihnen fest versprochen hatte, dass es bald eintreten würde. Sie würden ohne erkennbare Regung ausharren, bis die Zeit reif war und ihre Pläne sich erfüllten. Sie waren es gewöhnt, Dinge nicht zu übereilen. Sie hatten Geduld, diese Männer in ihren vollklimatisierten Adlerhorsten. Aber nicht zu viel.

Nicht weit von diesen Männern, sehr viel tiefer gelegen, in einer kleinen Dachwohnung, verfolgte zur gleichen Zeit ein menschliches Augenpaar den Flug des Falken, so lange es ihm möglich war, dann wandten sich die Augen wieder der Suche nach einem halbwegs frischen Kleidungsstück zu.

Und noch etwas weiter weg erwachte eine junge Frau in einem heruntergekommenen Hotel, die Haut klebrig vom Angstschweiß, und sie erwachte aus einem Traum, in dem Klauen und Krallen und Blut eine große Rolle gespielt hatten.

Alles war da.

2

Hundstage

Es roch, ganz plötzlich, irgendwie nach Hund.

Mike hatte den Geruch in der Nase, noch bevor draußen, an der verzogenen Holztür zu seiner kleinen Dachwohnung, der Klingelknopf betätigt wurde. Und nachdem er die vielfach überstrichene Tür unter dem ängstlichen Geschrei ihrer schlecht geölten Angeln öffnete, schaute er direkt in die ungesund blasse und ungewöhnlich schmale Hundefresse seines Hausbesitzers. Rasp. Rüdiger Rasp. Von seinen Mietern auch liebevoll »Rudi die Raspel« genannt.

»Morgen«, schnarrte die Raspel, schlecht gelaunt wie beinahe immer, über das nervtötend fröhliche Quäken aus Mikes Radio hinweg.

Wenigstens hatte Rasp keinen seiner verfilzten Knochenkauer dabei. Nur er selber, der Rudelführer, ausnahmsweise ohne sein siebenköpfiges vierbeiniges Gefolge. Nur er, mit seinen langen, fisseligen, ewig ungewaschenen und zunehmend spärlicher werdenden Haaren, seinen verbeulten Hosen aus Breitcord, seinen abgeschrabbelten Pullovern, aus denen stets, wie tote Würmer, zahlreiche dicke Wollfaden hingen.

Knöchern, verbogen, unterernährt, einem frierenden Windhund nicht unähnlich, so stand er da, in dem engen dunklen Flur mit seinen stockfleckigen Tapeten, und roch intensiv nach nassem Hund; wie ein Labrador, der sich in einem frischen Schlammloch gewälzt hat.

»Tag«, antwortete Mike neutral.

Er musste den Impuls unterdrücken, der traurigen Gestalt sein restliches Kleingeld in die Hand zu drücken. Obwohl die es sicher genommen hätte. Rudi die Raspel nahm alles, und Geld zumal. Aber Mike war gerade knapp an Münzen – von Scheinen erst gar nicht zu reden. Also ließ er es sein.

»Und? Was ist?«

»Vor August läuft nichts …«, sagte Mike und versuchte dabei, die Stimme nicht allzu sehr zu heben.

Er wollte keinen Streit. Nicht heute. Obwohl Mike nicht unbedingt aussah wie einer, der immerzu jeden Streit vermeidet. Dazu war er zu stabil gebaut, wirkte er zu vierschrötig, mit seinem polnischen Schädel, den etwas zu eng stehenden Augen und den auffallend großen Händen, die aussahen, als könnten sie zupacken und festhalten.

»Für jede Woche früher gibt’s zweihundert Euro«, probierte es die Raspel noch einmal, müde und nicht sehr überzeugend.

Ja, dachte Mike, und für jeden Tag länger was auf die Schnauze. Rasp hatte so seine Methoden, wenn er ein Haus frei kriegen wollte und die Mieter nicht spurten, und er hatte die richtigen Leute an der Hand, um seine Methoden anwenden zu lassen: Nasenkorrektur, rezeptfrei.

»Vor August geht nichts…«

Sie hatten das schon so oft besprochen, dass sie sich den Rest würden sparen können. Jeder Satz bekannt. Rasp schüttelte seine Sauerkrauthaare, drehte sich ächzend um und ging einfach weg.

»Wundert mich, dass die sich’s leisten können…«, blaffte er.

Für einen Moment vermisste Mike das leise Kratzen und Trippeln von Krallen auf Linoleum, als der Mann mit hängendem Kopf davontrottete, um kurz darauf im Schlund des Treppenhauses zu verschwinden.

»Montagmorgen. Klasse!«, brummte Mike.

Er schaute einen Moment den nervös umeinander tanzenden Schatten nach, die Rasp aus dem sonnigen Treppenhaus in das dämmerige Dachgeschoss projizierte, schüttelte noch einmal den Kopf. Da streifte sein linkes Auge das Zifferblatt seiner Armbanduhr, und die mechanische Unruh, die in dem metallenen Gehäuse arbeitete, übertrug ihre blank polierte Nervosität unmittelbar auf Mikes Innereien.

Er war zu spät dran, viel zu spät. Also schoss er jetzt fluchend, aufgeregt wie das Kaninchen aus Alice im Wunderland, durch die unaufgeräumte Mansardenwohnung, suchte zwischen herumliegenden Kleidungsstücken nach Motorradhelm, Lederjacke und Schlüssel, ersetzte das Frühstück durch den Biss in einen muffigen Schokoriegel, den Morgenkaffee durch einen Schluck aus der Wasserleitung, den pelzigen Geschmack auf der Zunge durch ein Kaugummi. Sekunden später flog er polternd die schiefen Treppen hinab.

Ja, wirklich, ein ganz normal beschissener Montagmorgen, dachte Mike, während er die ausgetretenen Stufen hinuntersprang.

Im Erdgeschoss rammte er beinahe die bojenförmige Hauswartsfrau mit ihren Catcherarmen, die sich bereits beim ersten Geräusch von Schritten auf der Treppe ihre Kittelschürze glattgestrichen und ein ganzes Arsenal brandwichtiger Fragen zurechtgelegt hatte, die sie auf ihn abzufeuern gedachte. So wie sie es bei jedem machte, der ihr zu den üblichen Fragestunden, also von sechs Uhr früh bis zehn die Nacht, unter die Augen kam.

Nur, Mike hatte wirklich keine Zeit und rief, während er wie ein Gebirgsbach auf sie zusprudelte:

»Ja, Frau Bauermann, das stimmt, da gebe ich Ihnen absolut recht!«

Und schon war er an ihr vorbei, einfach über den Besen gesprungen, den sie, um von den Vorbeikommenden leichter ein paar Antworten erheben zu können, wie eine Zollschranke in den Weg geschoben hatte.

Nur ihr leise gestammeltes »Ja, ich hab doch noch gar nicht…« flatterte als müder Überrest eines nicht gehabten intensiven Gesprächs – über Krankheiten, das Ozonloch, die Preise im Supermarkt, den Besuch des Hausbesitzers, die Treppenhausreinigung und die musikalischen wie menschlichen Lautäußerungen in den Wohnungen unterm Dach – ihm hinterher in den Innenhof, wo es einfach verwehte.

Dabei – just heute Morgen hätte sich, möglicherweise, ein interessantes Thema ergeben. Frau Bauermann erinnerte nämlich gerade vage, dass es doch ihr Vater und ihre Mutter waren, die in den Bombennächten des letzten Krieges, sie selbst noch keine zehn Jahre alt, unter Lebensgefahr dieses große alte Mietshaus vor dem Abbrennen retteten. Weshalb sich über die Jahre in Frau Bauermann die exotische Idee festgesetzt hatte, sie habe von ihren verstorbenen Eltern eine Art ungeschriebenes Recht übernommen, hier unbehelligt wohnen zu dürfen. In einem Haus, das von ihrer Familie in den letzten Jahren hingebungsvoll gepflegt wurde und um welches sie sich weiter penibel zu kümmern gedachte. Obwohl ihr, von einem Besuch des Hausbesitzers zum nächsten, immer klarer wurde, dass sie nur noch als Visagistin für einen Todgeweihten arbeitete. Und dass der für den derzeitigen Besitzer unangenehmste Aspekt nicht zuletzt darin bestand, dass das Haus so gepflegt und voll vermietet, dass also alles, was an diesem Haus richtig, für ihn grundfalsch war.

Ebendieser Widerspruch war Frau Bauermann heute Morgen erneut aufgegangen. Und es hatte sich das nebulöse Gefühl in ihr verstärkt, sie sei auf eine ebenso unerklärliche wie angsteinflößende Weise mit der Gegenwart überkreuz.

Jedoch: Keine Zeit, viel zu spät. Eben warf Mike draußen seine bullige, roststarrende Motocross–Maschine an, um nur Sekunden später, unter dem Gejohle einer Handvoll türkischer Kleinkinder, vom Hof zu schießen, beobachtet von den müden Blicken eines halblebendigen Fettstrumpfs namens Karlo, der außen mit grauen Katzenhaaren dicht besetzt, innen mit viel Katzenschmalz und wenig Katze prall gestopft war.

Frau Bauermann stierte, weil nun ein Gespräch nicht hatte zu Stande kommen wollen, stumm in den gepflasterten Hof, von wo die unbeteiligten Augen Karlos zurückstarrten. In seinem lipidgeschmierten Synapsengeflecht war plötzlich und ohne besonderen Grund das anheimelnde Bild einer geöffneten Dose Katzikotz entstanden. Also schwabbelte er höchst ungrazil ins Treppenhaus.

Und weil Frau Bauermann mit einer Katze, die auf restlos jede Frage mit dem stets gleichen hungrigen Jaulen und einem grenzenlos durstigen Blick antwortete, schlecht eine befriedigende Konversation führen konnte, sagte sie bloß:

»Und du fett’ Sau, du kommst demnächst in die Mikrowell’!«

Der Kater, in der Ahnung, dass es gerade irgendwie um Nahrungsaufnahme ging, setzte sich erwartungsvoll in Positur, als wolle er seinem Frauchen die Kehrschaufel leer fressen, um dann mit dem Inhalt des Wischeimers nachzuspülen. Er miaute hungrig.

»Oder ich mach Presskopp. Katzepresskopp …«, murmelte Frau Bauermann.

Und Karlo war sich nun absolut sicher, dass sie vom Essen redete.

3

Schweinefraß

Die große Halle schwitzte, stöhnte und schnaufte, wie es Wundermaschinen aus Jules–Verne–Romanen in alten Hollywoodfilmen tun. Zähe Dampfwolken, zwischen denen unvermittelt weiß bekittelte Menschen auftauchten und ebenso plötzlich wieder verschwanden, wälzten sich aus Aluminiumbottichen, in denen breiig–grüner Eintopf brodelte.

Wie in einem vulkanisch befeuerten Schwefelsumpf platzten pestilenzialische Blasen mit fettem Schmatzen, sonderten dabei Gerüche ab, die sehr entfernt an Erbsen und etwas anderes erinnerten, das von den Schwärmen brauner Wurststücke herrührte, die ihre Bahn durch den Gemüsekleister zogen.

»Deutscher Eintopf mit Fleischwurst« – Menü A.

Irgendein blinder, grausamer Gott hatte beschlossen, dass für einen kleinen, höchst bedauernswerten Teil der malochenden Menschheit die Woche mit heißer, grüner Erbsenkotze beginnen sollte. Und mit zermatschtem Fleisch, das in einen Darm gepresst worden war.

Am Kopfende der Halle waren vier dicke Türkinnen dabei, beständig flach geklopftes Schweinefleisch auf ein metallenes Laufband zu drapieren.

Menü B – »Schnitzel Natur mit Salzkartoffeln«.

Das Band senkte sich nach einem halben Meter ab, transportierte die Fleischfladen gemächlich durch ein langes Becken, in dem einige Dutzend Liter heißen Speiseöls von unbestimmt ekelhafter Farbe prasselten. Hinten stieg das Band wieder an, und am Ende kippten braun verbrutzelte Schweineteile in zwei große Plastikwannen, die am Boden standen.

Eine Wanne für die erste Packstraße, wo das Schnitzel Natur zusammen mit den Kartoffeln in Schaumstoff und Metallfolie verschweißt wurde, die andere ging hinüber zu einem weiteren Spalier weiß bekittelter Frauen, wo die öltriefenden Fleischteile mit einer Scheibe Ananas und einem Stück Schinken belegt wurden.

Voilà: Menü C – »Schnitzel Hawaii«.

Im hinteren Teil des nüchternen Zweckbaus, in großen Öfen, die wie Brutkästen für eine Tierart aussahen, von der man intensiv hofft, dass sie ausgestorben sei, schnurrten derweil, von der eifrigen Besatzung der Halle noch unbemerkt, frische Rouladen zu Objekten zusammen, deren Äußeres entfernt an Eichhörnchen nach einem größeren Waldbrand erinnerte.

Menü Spezial – »Rheinische Rinderroulade«.

Hysterisches Gelächter wechselte sich mit wütenden Schreien ab, Druckventile zischten und spuckten, große Aluminiumtöpfe schepperten, und darüber, wie ein Zentralbass, dröhnten die mächtigen Lüfter, die vergeblich gegen den feinen Dunst kämpften, der durch die Halle waberte und sich in Kleider wie Haare setzte.

Mike grüßte zu den moppeligen Frauen am Fließband hinüber, die winkten fröhlich zurück, kicherten unter ihren Kopftüchern hervor und machten anatolische Bemerkungen, die seiner Person galten und in denen unendlich viele Üs und Ös vorkamen. Ihnen ging es sichtlich gut.

Mike fragte sich manchmal, ob sie nicht doch islamische Fundamentalistinnen waren, die den Auftrag hatten, ungläubige Christen mit Schweinefleisch vollzustopfen. So voll, dass selbst ein gnädig gestimmter Gott keine andere Chance hätte, als die Sünder für ewig im Feuer der Hölle schmoren zu lassen. Dort würden sie auf Metalllaufbänder gelegt und bis ans Ende der Zeit durch trübes, kochendes Öl gezogen.

Aber keine Gefahr für Mike. Aus Glaubensgründen hatte er kürzlich aufgehört, Schweinefleisch zu essen. Er glaubte fest, man bekäme davon Pickel.

»Mike! Mach los, du hast noch ’ne Extratour gekriegt!«

Er bekam immer die ganz speziellen Extratouren. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund glaubten alle hier, er sei ein gottbegnadeter Kartenleser und fähig, stets pünktlich und mit allergrößter Präzision die abgelegensten Wanderbaustellen zwischen Offenbach–Süd und Dieburg–Nord zu finden.

Der Disponent wedelte mit einem Lieferschein vor Mikes Nase herum. Auf seiner Halbglatze drängten sich Schweißperlen, er keuchte und pfiff höchst bedenklich auf dem einzigen Lungenflügel, den er noch besaß, während er Mike die Papiere in die Hand drückte, mit der freien Hand zur Rampe hinüberfuchtelte, wo eine brusthohe Mauer aus aufeinander gestapelten, länglichen Schaumstoffkisten und zwei runde, bauchige Suppencontainer warteten. Dabei versuchte er, wie an jedem Montagmorgen, keinen Herzinfarkt zu bekommen.

»Also, Mike … da ist ein Filmteam, am Westhafen, da lädst du nach deiner Runde noch achtunddreißig Essen ab, Getränke ebenfalls … nimm ’ne Steige Orangen mit und schmeiß ihnen extra Dessert hin, die Filmfritzen sind länger im Lande, und wir wollen sie uns warmhalten. Also … das ist zehnmal die C, dreimal die B und einundzwanzigmal die A. Ach ja … und viermal Spezial … hast du’s?«

»Machen die ’n Dokumentarfilm über Allesfresser?«

»Nee, die mache ein Porrno und suche noch e’ne Hauptda’stell’rr!«, nuschelte etwas dicht hinter Mike.

Die Stimme war so sanft wie mächtig; sie schien gleichzeitig an Mikes Ohr herumzukauen und schmatzend in es einzudringen. Van der Brucken. Er war entweder Belgier oder er hatte nur einen ordentlichen Sprachfehler oder beides zusammen, und er war Chefkoch des Etablissements.

Sein Gemüt war das eines zum Winterschlaf bereiten Braunbären, sein Netto–Schlachtgewicht das eines gutgenährten Mastochsen, und er sah einem dicklichen Gameshow–Moderator zum Verwechseln ähnlich, von dessen Sendung er sein Motto ableitete: »Der Scheiß ist heiß«.

Man hatte van der Brucken ungern dicht hinter sich stehen, vor allem wenn man über einen halbwegs präsentablen Hintern verfügte und, wahlweise, männlich oder weiblich war. Van der Brucken war menschlich so in Ordnung, wie er sexuell ein Tier war. Er vögelte, so wollten es die Gerüchte und seine eigene Propaganda, ganz egalitär, alles was ihm vor die Flinte kam und noch einigermaßen lebendig erschien: Männer, Frauen, domestizierte Großsäuger und eierlegende Nutztiere. Vorsichtshalber trat Mike einen Schritt beiseite.

»Vielleist lasse’se dis mitmache …«

Er machte eine obszöne Geste. Eine sehr obszöne Geste, die von einem rhythmisch klatschenden Geräusch begleitet war.

»Glaub nicht, dass die nach deinem Essen noch irgendwelche Empfindungen unterhalb ihres Bauchnabels haben.«

Mike deutete auf die brodelnden Töpfe. Kleine Augen musterten ihn mit einem wässrigen, vorwurfsvollen Blick, Lippen schürzten sich.

»Lass du mein Esse’ in Ruh’, sonst kommste in die Supp’. Aber vorher wi’st noch von mir vernas’t…

Van der Brucken grinste, breitete erwartungsvoll seine Patschhände aus, seine aufgeregten Wurstfinger machten erstaunlich schnelle Bewegungen, wie die Nesselarme eines Polypen, und er rollte genau auf Mike zu. Aber da wurde plötzlich von einem der Beiköche Rouladenalarm geläutet. Das Essen war in Gefahr! Van der Brucken verschwand fluchend zwischen Dampfwolken.

»So schlecht ist sein Essen nun wirklich nicht«, knurrte der Disponent, schüttelte den Kopf, und die Schweißperlen, die auf seiner Glatze klebten, stürzten, von der plötzlichen Bewegung überrascht, reihenweise ab.

Nein, so schlecht war es nicht. Mike machte sich auf den Weg zur Rampe, begutachtete den Lieferschein, suchte die genaue Adresse und nickte. Ein Halbstundenjob, höchstens. Wenn er geschickte Umwege fuhr und entsprechend mit dem Gaspedal spielte, konnte er eine volle Überstunde rauskitzeln.

»Und vergiss nicht die extra Desserts …«

Als hätte er die jemals vergessen. Mike packte sich immer etwas mehr auf den Bock, vor allem wenn seine Tour so lag, dass er zu Hause einen kurzen Zwischenstopp einlegen konnte.

Die Frauen, die neben ihm in den Mansarden wohnten, hatten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, Geldprobleme, und er half ihnen mit etwas Obst, Pudding und Joghurt oder dem buntverpackten Süßkram aus, mit dem sich sonst Kinder ihren Zahnschmelz ruinierten.

Vor der Halle wartete geduldig eine betagte Ansammlung aus Aluminium, Blech und Gummi auf Mike. Das »Mammut«, ein uralter, asthmatischer Ford Transit, ein klappriger Veteran an der Suppenfront, blau lackiert, wie alle Fahrzeuge von »Mainhattan Catering«, pockennarbig vom Rost, ein Fahrzeug, das aus einem Grund, den keiner wusste, nicht kaputtzukriegen war und das zum Schrottier zu bringen niemand übers Herz brachte.

Daneben zog sich gerade Oink auf den Fahrersitz seiner Kiste. Sein Wagen und der von Mike waren die letzten, die noch auf dem verdreckten Beton des Ladeplatzes standen, die anderen Fahrer schon seit einer Stunde unterwegs.

Oink hatte seine Skin–Glatze mit etwas Ähnlichem wie frischem Schweinefett eingerieben, jedenfalls schimmerte sie schmieriger als sonst. Er musterte Mike aus den Augenwinkeln und entschied sich, ihm heute keine Tracht Prügel anzudrohen, sondern zeigte nur den vergleichsweise liebenswürdigen Stinkefinger.

»Leck mich, Wichser.«

Es klang halb gerülpst und hieß in der einzigen Sprache, die Oink kannte: Guten Morgen, Kollege. Aus dem Fahrerhaus seines PS–starken VW Bulli drangen nun Oi–Oi–Chöre zu Rockmusik im Dampframmenstil. Mit der Hupe signalisierte er die übliche Aufforderung, ein kleines Rennen zu veranstalten. Für ein paar Kilometer liefen seine und Mikes Tour parallel die Hanauer Landstraße stadteinwärts, vorbei an der schreiend bunten Ödnis von Einkaufszentren und Möbelhäusern.

Aber Mike hatte keine Lust herauszufinden, wer als Erster an der Kreuzung ankommen würde, wo sich die Wege trennten. Er würde sowieso verlieren. Nicht nur weil Oink den schnelleren Wagen hatte, er fuhr noch dazu wie eine Wildsau, immer auf Konfrontation, immer in Gefahr, dass ihm die Ladung um die Ohren flog.

Oink zeigte ein Lächeln, das fatal an eine schadhafte Baggerschaufel erinnerte, dann stand er auch schon auf dem Gas, und die Räder seines Wagens schmirgelten wütend über den Beton. Mike schaute hinterher und hatte eine erste leise Ahnung, dass dieser Tag in irgendeiner unerklärlichen Weise anders und nicht notwendigerweise besser als die vorangegangenen sein würde.

Sein rechtes Kniegelenk tat ihm wieder weh, und das konnte nicht vom Wetter herrühren. Keine Kaltfront im Anzug. Er verscheuchte den Gedanken daran so schnell und so geübt, wie er das immer machte, ignorierte den Schmerz, der unter der Kniekappe seines rechten Beins saß und kräftig zubiss.

Keine Zeit, sich um die hässlichen, zappelnden Dinger zu kümmern, die unter der Hauptbühne seines gedanklichen Theaters rumorten.

Als der Wagen beladen war, warf er das Radio an. Im AFN, dem amerikanischen Militär– und Mikes Lieblingssender, den er stets angeschaltet hatte, weil er das öde Geseire der Radioreklame hier einfacher und ohne Senderwechsel überhören konnte, lief Tom Petty & the Heartbreakers:

I’m learning to fly.

Die ideale Musik, um im innerstädtischen Autostrom von Lücke zu Lücke zu slippen.

Mike dachte aus keinem bestimmten Grund an Falken und fuhr los.

4

Fressgass

Hilflos. Fast lächerlich. Ein scharfer Schmerz in der Seite, heißer, trockener Staub im Hals, und ihre Schuhe patschen über den Asphalt der kleinen Stichstraße mitten in der Innenstadt. Sie ist sich plötzlich sicher, dass sie es nicht schafft. Dieses merkwürdig laute Geräusch von Plastiksohlen auf Teer. So klingt es nicht. So plump, so täppisch hat es einfach nicht zu klingen, der Ton ist falsch, grundfalsch.

Aber sie hat keine Zeit, sich selbst beim Laufen zuzuhören. Alle Systeme ihres Körpers arbeiten mit voller Kraft, die Lungen schnappen hysterisch nach Luft, die Herzkammern pumpen Blut, Blut, das hoch mit Sauerstoff angereichert ist und mit Adrenalin. Blut, das in der Stirn pocht und in den Ohren rauscht. Ihr Körper weiß mehr als sie, spürt den Verfolger, die Wut, die sich hinter ihrem Rücken zu einer kalten, schwarzen Sonne ballt.

Schritt auf Schritt, die Beine im weiten Lauf vor sich geworfen. Nur nicht stehen bleiben. Aber da ist dieser Ton. Ein Klatschen und ein Patschen, das hart von den kahlen Wänden der Häuser und den geschlossenen Metalltüren der Garagen widerhallt, mit einem kleinen Echo versehen, beinahe künstlich, beinahe spöttisch. So, als spende ein einsamer Zuschauer in einem leeren Stadion ironisch Beifall. Nein, so klingt das nicht.

Und jetzt, hier, am Ende der schmalen Sackgasse, erscheint in ihrem Gesichtsfeld plötzlich diese Treppe, die zu der belebten Straße hinaufführt. Hinauf, als sei dort eine Uferpromenade voll gelangweilter Flaneure, als sei dort eine Küste, die noch nichts von ihr weiß, die nicht auf sie wartet, für die sie Treibgut ist, draußen auf den Wellen.

Nicht sehr hoch, zwanzig Stufen vielleicht. Aber genug, um ihre Flucht zu verlangsamen, vor allem weil das Gewicht der Sporttasche an ihr zerrt. Das Atmen, vorhin noch schwer, wird jetzt unmöglich. Warum hört ihr Körper nicht zu? Warum lässt er nicht mit sich reden? Warum ist er nicht bereit, endlich aufzugeben?

Warum? Weil er sich besser erinnert, vielleicht. Weil er weiß, was auf ihn wartet. Sehnen spannen sich, und Muskeln arbeiten im Rhythmus, den ein unerbittlicher Taktschläger vorgibt. Ihre Angst eine einzige Welle, die dem Ufer entgegenschäumt und sie mitreißt. Und schon ist sie oben.

Für eine halbe Sekunde hat sie Zeit zu schauen, von wo sie kommt, um dort die vertrauten Umrisse, ein bekanntes Muster, mehr zu ahnen als wirklich zu sehen. Ein Schatten, der sich mit ungleich schnellerem und leiserem Schritt nähert.

Nicht schreien, Luft holen, weiterrennen. Dann ist eine Hauswand zwischen ihr und ihm, hetzt sie die abschüssige Straße hinunter, rempelt sie gegen prall gefüllte Einkaufstüten, springt, stolpert, fällt sie, vorbei an Schaufenstern voller teilnahmsloser Sachen.

Die Straße ist zu lang. Obwohl sie nur zweihundert Meter weiter in einer belebten Fußgängerzone endet, durch die unaufgeregte Einkäufer in teurer Kleidung treiben. Zu lang, um Abstand zu ihrem Verfolger zu halten, ohne Möglichkeit, rechts oder links auszuweichen, weil dort Menschen vor den Läden stehen, Menschen, die ihr verblüfft nachschauen werden, wenn sie sich an ihnen vorbeikämpft, weil dort Schaufenster sind, die keine Deckung bieten, massive, verrammelte Türen mit Schließanlagen, Waschbeton, Wandfliesen, Marmorplatten.

Es ist eine Gegend, um aufzutreten, nicht zum Verschwinden. Aber woher soll sie das wissen. Und jetzt vor ihr die alte Frau mit dem Hund.

Mit dem aufgeregt japsenden Zausel, der gerade zitternd vor Erregung hinter seinem Frauchen den Gehsteig quert, der sich gleich auf seine bebenden Flanken pinkeln wird, wenn er seine nasse Schnauze erwartungsfroh in einem Haufen frisch duftender Scheiße versenkt.

Sie weiß, was jetzt passieren wird. Sie wird versuchen, über die sich spannende rote Leine zu springen, aber das Gewicht der Reisetasche wird ihr drei entscheidende Zentimeter stehlen. Ihr Fuß wird sich in der roten Leine verhaken, sie wird den Köter, der hysterisch zu bellen beginnt, ebenso mit sich reißen wie die Frau, die trotz der Affenhitze einen grauen Regenmantel trägt und eben noch mit verzücktem Blick in das opulente Schaufenster starrt.

Dann ist es endlich aus und vorbei. Zum Glück. Dann kann sie ein paar Sekunden liegen, ausruhen, die Augen schließen, Luft holen. Bis er heran ist. Aber etwas, über das sie keine Kontrolle mehr hat, reißt sie weiter.

Ihr Körper hat eine scharfe Rechtskurve eingeschlagen. Ihr Körper hat eine Tür aufgerissen. Ihr Körper hat getan, was Körper seit Millionen von Jahren tun, wenn sie flüchten: Er hat eine Höhle gefunden und sich hineingezwängt. Bevor sie begreift, wo sie ist, kauert sie schon, duckt sich keuchend und japsend. Sie spürt Finsternis, spürt die erstickende Wärme des Raums, in dessen hinterste Ecke sie sich nun presst, hinter Stapel merkwürdiger Kisten, die sich in der Dunkelheit seltsam trocken und stumpf anfühlen. Trocken, stumpf und warm.

Sie hört draußen die Straße. Überdeutlich. Jetzt hat sie das Gefühl, leichte und gleichzeitig feste Schritte würden nur wenige Zentimeter, wenige Millimeter von ihr entfernt vorbeiziehen. Vorbei? Wirklich vorbei?

Da schreit schon das Metall einer Tür, die aufgerissen wird. Licht explodiert in den Raum. Aber nur ein Arm in einem blauen Kittel erscheint. Kurz. Er wirft zwei grüne Kisten herein, dann fliegt die Tür mit einem ohrenbetäubenden Scheppern ins Schloss.

Dunkelheit bleibt. Durchbrochen von dem schmerzvoll klaren Licht, das von zwei Löchern im Boden stammt und das präzise wie aus Punktstrahlern ihr Gesicht trifft. Ein blasses Gesicht, im Dämmerlicht kaum auszumachen, nur die Augen sind überdeutlich zu sehen, Augen, die verzweifelt nach einem Objekt suchen, an dem sie sich festmachen können.

Jetzt plötzlich beginnt der Raum zu dröhnen, sich zu schütteln. Krachend werden irgendwo vor ihr Hebel bewegt, knirschend greifen Zahnräder ineinander.

Dann spürt sie die Bewegung. Der Raum fährt. Er fährt, und er nimmt sie mit. Das Licht aus dem Fußboden flackert unruhig, mit zunehmender Frequenz, während gleichzeitig erneutes Krachen und Knirschen verrät, dass die Maschine, die den Raum bewegt, sich immer höher schraubt, immer mehr Kraft freisetzt, immer mehr Bewegung erzeugt.

Durch die dünne Blechwand ist, nach wenigen Augenblicken schon, nur noch das Geräusch anderer Fahrzeuge zu hören. Und das einer Stadt, die vorbeizieht. Nun erst wird ihr bewusst, dass sie noch atmet. Nun erst, als sie den prickelnden Schmerz fühlt, der in ihrer Lunge schäumt. Sie hockt gekrümmt zwischen den warmen Kisten, die im Gleichtakt schwanken, so als sänge ihnen jemand ein rohes, einfältiges Wiegenlied.

Und Nika klemmt sich die Hand zwischen die Knie, damit sie nicht unkontrolliert um sich schlägt. Und dann beginnt sie tiefer zu atmen und versucht, nicht vor Erleichterung zu weinen.