Gabriella Engelmann

Sturmgeflüster

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Gabriella Engelmann
Die gebürtige Münchnerin entdeckte in Hamburg ihre
Freude am Schreiben. Nach Tätigkeiten als Buchhändlerin,
Lektorin und Verlagsleiterin genießt sie die Freiheit des
Daseins als Autorin von Romanen, Kinder- und Jugendbüchern.
Bei Arena ist sie mit ihrer Märchenreihe bekannt geworden.

www.gabriella-engelmann.de

Weitere Bücher von Gabriella Engelmann im Arena Verlag:

Weiß wie Schnee – Rot wie Blut – Grün vor Neid
Ein mörderischer Schneewittchenroman

Hundert Jahre ungeküsst
Dornröschens bittersüße Liebesgeschichte

Cinderella undercover
Aschenputtels wahre Geschichte

Küss den Wolf
Rotkäppchens zauberhafte Lovestory

Goldmarie auf Wolke 7
Eine himmlische Liebesgeschichte

Im Pyjama um halb 4 (zusammen mit Jakob M. Leonhardt)

»Weiß wie Schnee – Rot wie blut – Grün vor Neid«,
»Hundert Jahre ungeküsst« und »Küss den Wolf«
sind auch als gleichnamiges Hörbuch erhältlich.

 

 

Quellenhinweis:
Kapitelanfänge ab Kapitel 10 aus: Friedrich de la
Motte Fouqué: Undine, Anaconda Verlag, Köln 2012.

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Auflage 2015
© 2015 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Einbandgestaltung: Frauke Schneider
ISBN 978-3-401-80474-3

www.arena-verlag.de
Mitreden unter forum.arena-verlag.de

Personenregister

Kathinka Köster: Genannt Tinka. Schülerin aus Berlin, Leseratte und leider ein wenig kurzsichtig, was sie gelegentlich in schwierige Situationen bringt. Dass es in den Sommerferien nach Sylt gehen soll, passt ihr zunächst überhaupt nicht.

Doch dann kommt alles anders …

Oma Inken: Die beste Oma der Welt. Bäuerin und Exhebamme aus Leidenschaft. Ihr Kirschkuchen ist eine Wucht und sie kennt jede Menge Sylter Spukgeschichten. Ist immer für ihre Enkelin da. Einziger Nachteil: Sie wohnt weit entfernt von Tinka in Morsum auf Sylt.

Opa Eycke: Bester Opa der Welt. Als ehemaliger Kapitän führt er ab und zu noch Seebestattungen durch und raucht gern Pfeife, wenn seine Frau nicht da ist. Kann super Fahrräder reparieren und fühlt geschickt jedem auf den Zahn, der an seiner Enkelin Interesse zeigt.

Sven: Attraktiver Sonnyboy aus Kampen. Profi-Kiter und Surflehrer. Verdreht Tinka auf der Stelle den Kopf und bringt ungewollt nicht nur ihr Herz zum Kentern. Wird Tinka mit ihm den Sommer ihres Lebens verbringen?

Antonia: Rothaarige Exfreundin von Sven. Fährt ihre scharfen Krallen aus, als Tinka ihr in die Quere kommt. Schon bald ist klar: Notfalls wird sie mit allen Mitteln darum kämpfen, Sven zurückzuerobern.

Piet: Ehemaliger Tischler und Rettungsschwimmer. Bewahrt Tinka immer wieder vor verhängnisvollen Fehlern. Hat ein großes Herz und verkörpert den hawaiischen Aloha-Spirit wie kein anderer. Doch spielt der smarte Typ mit den magischen Händen wirklich mit offenen Karten?

Okke: Besitzer des Twisters, des Restaurants, in dem sich die Inselclique regelmäßig trifft. Ist nach einem Unfall nicht mehr in der Lage, profimäßig zu kiten. Trotzdem immer gut gelaunt und darum besorgt, dass alle genug zu essen haben. Seine Spezialität: Cajun-Burger.

Wienke: Hübsche Modedesign-Studentin und Kellnerin im Twisters. Freundet sich schnell mit Tinka an und bemüht sich, all die Fragen zu beantworten, die der Neuen auf den Nägeln brennen. Verbirgt sich hinter ihren himmelblauen Kulleraugen aber vielleicht doch eine dunkle Seele?

Konstantin: Megaehrgeiziger Kitesurfer, der einen Großteil seiner Zeit auf dem Wasser und bei Wettkämpfen verbringt. Auch nach Wochen auf der Insel weiß Tinka nicht viel mehr über ihn, als dass er mit dem Meer verheiratet zu sein scheint.

Prolog

Nach einer knappen Woche absoluter Flaute, in der sich die Kitesurfer die Zeit mit Kickern oder im Whirlpool vertrieben hatten, herrschte an diesem Tag zur Abwechslung Sturm. Und zwar einer, der so heftig zuschlug, dass sowohl der sechsköpfigen Jury als auch den Besuchern des Kitesurf World Cups in St. Peter-Ording mulmig zumute war.

Fröstelnd standen die rund zwanzigtausend Zuschauer am Nordseestrand und versuchten, sich mit Sonnenbrillen und Tüchern vor dem herumwirbelnden Sand zu schützen, der sich wie Nadelstiche in die Haut bohrte.

Vor ihren Augen tanzten die bunten Kites der Surfer, an denen der Sturm ebenfalls zerrte. Einige der Besucher verkrochen sich irgendwann in das Innere der Surferzeltstadt mit ihren Buden, in denen Schmuck, Getränke, Würstchen und Surfutensilien verkauft wurden. Überall flatterten Banner mit den Namen der Sponsoren im Wind und an den Ständen die bunten Häkelmützen in grellen Neonfarben, die gerade hip waren.

»Bist du startklar für den Heat?«, fragte er und blickte ihr tief in die Augen. Diese wenigen Minuten wollte er sich noch gönnen, bevor es losging.

»Was für eine Frage, ich kann es kaum erwarten«, antwortete sie mit einem bedeutungsvollen Lächeln und zog sich die farbigen Stulpen über den Neoprenanzug.

Nur noch fünfzehn Minuten bis zum Auftakt ihrer beider Königsdisziplin Freestyle, einer spektakulären Wettkampfform, bei der die Kiter im K.-o.-System gegeneinander antraten. Dabei ging es darum, die Jury mit rasanten Tricks und Loops zu beeindrucken und sich einen Platz in der Hall of Fame zu sichern.

Oder wenigstens unter den Top Five.

»Gut, dann mal los«, sagte er. Gleich würden sie als Konkurrenten gegeneinander antreten und sich aufs Bitterste bekämpfen. Schließlich ging es um sehr viel.

»Viel Glück, Darling«, flüsterte sie ihm zu und gab ihm einen kurzen, leidenschaftlichen Kuss. »Wir sehen uns heute Abend auf der Party. Ich kann es kaum erwarten, danach wieder mit dir allein zu sein – unter dem Sternenhimmel.«

»Das klingt verführerisch«, antwortete er, wirkte jedoch abwesend. Seine Gedanken kreisten jetzt ausschließlich um den Wettkampf. Ohne ein weiteres Wort verließ er den Gemeinschaftsraum. Die restliche Zeit bis zum Start wollte er niemanden um sich herum haben, sondern sich ganz auf den bevorstehenden Fight konzentrieren.

Ich muss gewinnen, ich muss, murmelte er lautlos vor sich hin und versuchte, sich auf diese Weise mental zu coachen. Alles, aber auch wirklich alles hing vom Ausgang dieses Tages ab: der heiß ersehnte Sponsorvertrag, der Titel, zehntausend Euro Preisgeld, Reisen zu den grandiosesten Kitesurf-Revieren der Welt, die Freiheit, nach der er sich so sehnte.

Seine gesamte Zukunft.

Er hatte alles Menschenmögliche getan, um einen so schweren Wettkampf zu gewinnen. Er hatte wochenlang aufs Härteste trainiert, auf seine Ernährung geachtet und fast nichts anderes getan, als sich auf den World Cup vorzubereiten. An diesem Tag war er früh aufgestanden, hatte nur ein leichtes Frühstück zu sich genommen und später eine Handvoll Nüsse gegessen, um den nötigen Energiekick zu bekommen. Nachdem er sich am Strand mit Gymnastik und Dehnübungen warm gemacht hatte, war er aufs Wasser gegangen, um die Bedingungen zu checken.

Starke Böen blähten sein schwarzes Segeltuch mit dem grünen Drachenkopf, eine extravagante Spezialanfertigung, an der die anderen Kiter und Fans ihn schon von Weitem erkannten.

Nur noch wenige Schritte bis zum Wasser.

Volle Aufmerksamkeit. Hochspannung. Adrenalin pur.

Sieben Minuten hatten die Teilnehmer Zeit, um ihr Können unter Beweis zu stellen. Sieben Minuten, in denen die Rivalen besiegt werden mussten. Ein leichter Ruck an der Lenkstange, dann machte der Drachen einen Satz nach vorn, der Zug nahm zu und wurde immer gewaltiger, bis der heiße Ritt über die grau schäumende Bucht begann.

Jetzt ein Sprung, in Richtung Himmel, fünfzehn Meter hoch. Dann wieder zurück aufs Wasser, rauf und wieder runter. Ein geniales Gefühl, von dem er einfach nicht genug bekommen konnte. Er war wie auf Speed, im Rausch, nicht mehr er selbst.

Oder mehr er selbst, als er es an Land jemals war.

Doch dann überschätzte er sich, verlor bei einem der Sprünge die Kontrolle. Er landete unzählige Meter zu weit draußen, anders als geplant.

Viel zu dicht bei ihr.

Als sich die Leinen seines Kites unglücklich mit ihren verhedderten und das Board mit hoher Geschwindigkeit auf ihres zuraste, blieb ihm nur eine Nanosekunde, um seine Entscheidung zu treffen: Er tat das Naheliegendste und löste die Safety-Leash, um sich zu retten. Doch genau in diesem Moment wurde ihm klar, dass sie nun mit der Zugkraft beider Schirme würde kämpfen müssen, ein schier unlösbarer Kraftakt, zumal bei diesen Windverhältnissen. Und er konnte nichts mehr tun, um etwas daran zu ändern.

Er sah ihren verzweifelten Blick, der ihm beinahe das Herz zerriss. Aber auch eine gewisse Ungläubigkeit darüber, was soeben mit ihnen beiden geschah.

Jury und Zuschauer verfolgten die Situation mit angehaltenem Atem: Dass diese Sportart gefährlich war, ja mitunter lebensgefährlich, war hinlänglich bekannt. Doch keiner von ihnen hatte damit gerechnet, an diesem Tag Zeuge eines schrecklichen Unfalls zu werden. Live mit ansehen zu müssen, wie eine attraktive junge Frau erst unter Wasser gezogen und dann von zwei Kites über den Strand geschleift wurde. Wenige Sekunden später schleuderte sie mit grausamer Wucht gegen die Fensterscheibe des Judge-Towers, in dem die Jury saß.

Mit vor Entsetzen geweiteten Augen verfolgten Juroren, Presse, Sponsoren und Zuschauer, wie das Leben der jungen Favoritin an diesem Tag brutal zerstört wurde …

1

Echt doof, dass du nicht mitkommst. Ich werde garantiert vor Langweile sterben. Und du bist schuld daran«, maulte ich zum x-ten Mal, seit meine beste Freundin Jule mir kurz vor knapp abgesagt hatte. Eigentlich hatten wir gemeinsam zu meinen Großeltern fahren wollen. Doch irgendwelche Reitturniere, an denen sie unbedingt teilnehmen musste, hatten unsere gemeinsamen Ferienpläne geschreddert und ich guckte jetzt dumm in die Röhre.

»Stell dich nicht so an. Es gibt ja wohl Schlimmeres, als den Sommer auf Sylt zu verbringen«, konterte Jule, ihrerseits genervt von meiner Leier. »Du wirst den ganzen Tag am Strand abhängen, Natursträhnen kriegen, mit denen du wie ein cooles Beach-Babe aussiehst, super Typen kennenlernen und jede Menge Spaß haben.«

»Weil es in diesem verschlafenen Nest ja auch sooooo viele heiße Jungs und jede Menge Clubs gibt, in denen man Leute kennenlernen kann«, sagte ich im gleich lamentierenden Ton, obwohl ich mich selbst allmählich unausstehlich fand. »Morsum ist weder Kampen noch Westerland. Da gibt es nichts außer Kühen, Schafen, Misthaufen und Bauern. Und das Meer musst du auch suchen, das ist nämlich ständig weg.«

Jule grinste. »Oh, ist das Meer auf der Flucht? Ach komm schon, Süße, du wirst es überleben. Und wenn nicht, kannst du ja immer noch zurück nach Berlin fahren. Zwingt dich ja keiner, die gesamten Sommerferien dort zu verbringen.«

»Nur meine Eltern, die froh sind, dass sie mich mal los sind«, fuhr ich mit meiner Nölerei fort. Keine Ahnung, was heute mit mir los war.

Im Grunde hatte ich einfach nur gechillt mit Jule frühstücken wollen, bevor sie mich zusammen mit Mum zum Bahnhof Südkreuz brachte, von wo aus der ICE nach Hamburg fuhr. In Altona musste ich dann in die NOB umsteigen mit Ziel Westerland auf Sylt. Am späten Nachmittag würden Opa und Oma mich in Morsum abholen. »Und wehe, ihr schafft es, morgen ins Berghain zu kommen, dann kille ich dich«, sagte ich in spielerisch drohendem Ton. Seit unserem sechzehnten Geburtstag träumten Jule und ich nämlich davon, uns an dem gefürchteten Türsteher des angesagtesten Techno-Clubs in Berlin vorbeizumogeln.

»Mann, du bist ja heute echt übelst drauf!« Jule schnappte sich den Rest meines Croissants mit Himbeermarmelade und aß ihn auf. »Wenn du deine miese Laune beibehältst, wird der Urlaub garantiert ’ne Pleite. Freust du dich denn gar nicht auf deine Oma und deinen Opa? Wie lange ist es her, dass du sie zuletzt gesehen hast?«

Ich dachte nach. So vier, fünf Jahre waren es bestimmt, wenn nicht gar länger, weil immer irgendetwas dazwischengekommen war. Was schade war, denn damals hatte ich viel Spaß mit Oma Inken und Opa Eycke gehabt.

»Doch«, antwortete ich und beschloss, mich am Riemen zu reißen. »Okay, okay, ich habe die Botschaft verstanden. Ich nehme mir fest vor, den Sommer meines Lebens zu haben. Und zwischendurch werde ich dich bedauern, weil du dich auf irgendwelchen Turnieren langweilst, statt mit mir auf Sylt Spaß zu haben.«

»Jaja, streu nur Salz in meine Wunden.« Jule zog spielerisch einen Flunsch. »Wenn ich gewusst hätte, dass das mit dem Reiten so anstrengend werden würde …«

»… hättest du trotzdem damit begonnen«, vollendete ich ihren hypothetischen Satz, den ich schon zigmal gehört hatte. »Du bist eine Pferdenärrin, wie sie im Buch steht, warst es immer und wirst es immer bleiben.«

»Bist du startklar, Tinka?«, hallte es auf einmal durch mein Zimmer in der Berliner Altbauwohnung mit den dunklen Dielenböden und hohen Stuckdecken. Auftritt Mum.

»Glaub schon«, murrte ich und schaute auf die Uhr. Tatsächlich. Wir mussten schleunigst los, wenn ich den Zug nach Hamburg nicht verpassen wollte. Gut, dass ich schon vor dem Frühstück fertig gepackt hatte.

Keine vierzig Minuten später saß ich im ICE und versuchte, gegen den Kloß anzukämpfen, der sich in meinem Hals bildete, auch wenn ich gar nicht genau wusste, woher der plötzlich kam.

Vielleicht Hormonschwankungen?

Jule schob zurzeit alles darauf, auch wenn ich persönlich bezweifelte, dass schlechte Noten, Stress mit den Eltern und Liebeskummer ausschließlich auf das Konto dieser kleinen Biester im Körper gingen. Das waren nicht nur die Hormone, sondern das Leben.

Eine gefühlte Ewigkeit später fuhr die Nord-Ostsee-Bahn über den Hindenburgdamm, der Sylt mit dem Festland verband. Links grasten Schafe auf dem Deich, rechts spazierten Möwen auf dem Schlicksand des Wattenmeers umher.

Hübscher Anblick, das musste ich zugeben. Ich nahm mein Handy, fotografierte ein paar dieser Postkartenmotive und schickte sie per WhatsApp an Jule. Die antwortete postwendend mit Fotos von ihrer Stute White Beauty, die gerade für den Transport zum nächsten Turnier auf die Rampe des Anhängers geführt wurde.

»Als nächste Station erreichen wir Morsum«, ertönte eine Stimme aus dem Lautsprecher und schon tauchte das Schild auf dem Bahnsteig auf. Unter Morsum stand Muasem, der friesische Name für das im Osten von Sylt gelegene Dorf.

»Moin, da bist du ja endlich. Hübsch siehst du aus«, sagte Oma Inken zur Begrüßung und drückte mich dann so heftig an ihre Brust, dass ich kaum Luft bekam. Sie sah genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte: klein, rundlich, mit von der frischen Luft geröteten Wangen, die mit den blauen Augen kontrastierten, die aus ihrem Gesicht hervorblitzten. Ihre ehemals schwedischblonden Haare waren mittlerweile weiß. Die Sommersprossen auf ihrem Handrücken hatten sich in größere Altersflecken verwandelt. Trotzdem waren ihre Hände für mich noch immer wunderschön.

Opa Eycke grinste sich eins: »Na, na, Inken, lass die Lütte leben«, sagte er frotzelnd und zwinkerte mir zu. »Und sag jetzt bitte nicht, dass unsere Tinka groß geworden ist, denn das weiß sie selbst am besten.« Inken ließ mich los und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel, während Opa mich kurz umarmte und dann meine beiden Koffer nahm. »Wie lange wolltest du noch mal bleiben? Ein Jahr?«, fragte er und entschied sich dann doch dafür, die beiden Gepäckstücke zu rollen, statt zu tragen.

Ich wollte gerade entsetzt Ein Jahr? Bist du verrückt? ausrufen, doch ich verkniff es mir. Es fühlte sich gut an, die beiden nach so langer Zeit mal wiederzusehen. Wohlig und heimelig irgendwie. Meine Eltern hatten die beiden zwar öfter zu uns nach Berlin eingeladen, aber auch dabei war leider immer irgendetwas dazwischengekommen: Als Oma Inken noch als Hebamme arbeitete, musste sie zig Kinder auf die Welt bringen oder eine der Milchkühe auf dem Hof war plötzlich erkrankt. Und Opa, der zwar schon lange im Ruhestand war, war angeblich ebenfalls nie abkömmlich, wie er behauptete. Unter anderem führte er ab und zu noch Seebestattungen durch.

»Bist ’n kleines büschen blass um die Nase, hockst wohl zu viel vor dem Computer?«, fragte Oma, während wir den Bahnsteig verließen.

»Die Jugend hängt heutzutage vor Smartphones ab oder vor dem Tablet, aber doch nicht vor dem Computer«, korrigierte Opa sie und rollte einen meiner Koffer ungerührt über etwas, das nach Kuhfladen aussah. Igitt!, dachte ich. Doch ihn schien es nicht weiter zu stören oder er hatte es gar nicht bemerkt, weil er seine Brille nicht aufhatte.

Nachdem wir ungefähr zehn Minuten gegangen waren, erreichten wir den Bauernhof meiner Großeltern am Dorfrand. Diesmal kam er mir nicht ganz so riesig vor wie bei meinem letzten Besuch. Doch für zwei Menschen allein war das Gelände mit den Ställen und dem Haupthaus, dessen Fassade aus rot gebrannten Ziegeln und weißen Sprossenfenstern bestand, groß genug.

Ein Hahn machte Kikeriki, Hühner gackerten aufgeregt und der strenge, erdige Geruch von Kuhmist stieg mir in die Nase. Kein Zweifel: Ich war mitten auf dem Land. Und meilenweit entfernt von den breiten weißen Sandstränden von Kampen, Westerland, Wenningstedt oder Rantum, wo die meisten Touristen ihren Urlaub verbrachten.

»Hereinspaziert, junge Dame«, sagte Opa Eycke und zog schwungvoll die weiße, zweigeteilte Tür auf, die man hier Klönschnacktür nannte, wenn ich mich richtig erinnerte. Wenn die Türklingel ging, öffnete man erst einmal nur die obere Hälfte, schaute hinaus und konnte mit dem Besucher über die untere Hälfte hinweg klönen. Praktisch, fand ich, zum Beispiel, wenn man überraschend Besuch von jemandem bekam, den man ganz schnell wieder loswerden wollte.

Ich folgte meinen Großeltern in das Innere des Hauses, in dem es vom Eingangsbereich in den Pesel, die Wohnstube, ging. Dort stand ein bulliger hellblauer Kachelofen. Schon als kleines Kind war die Bank, die ihn umgab, mein Lieblingsplatz gewesen, vor allem an kalten Wintertagen war es dort urgemütlich.

»Weißt du noch, wie du hier immer mit deinen Puppen und Stofftieren gepicknickt hast?«, fragte Oma, die meine Erinnerungen offenbar teilte.

»Aber das ist ja nun schon ein ganzes Weilchen her und unsere Tinka spielt jetzt sicher lieber mit jungen Männern als mit Puppen«, wandte Opa ein.

Ups, jetzt wurde ich doch tatsächlich rot. Wie die armen Sylter Hummer, wenn sie lebendig in den Kochtopf geworfen wurden, um dann von Touristen verspeist zu werden.

»Eycke, lass die Sprüche!« Oma blitzte ihn so streng an, dass ich mir gut vorstellen konnte, warum sie im Dorf allseits Respekt genoss. »Komm, ich zeig dir jetzt dein Zimmer, Lämmchen. Diesmal haben wir dich unterm Dach untergebracht, weil du bestimmt lieber ein bisschen abseits von uns alten Leutchen wohnst, nicht wahr?«

Bevor ich etwas antworten konnte, stand sie auch schon auf dem Absatz der schneeweiß lackierten Treppe, und Opa folgte ihr mitsamt den beiden Koffern.

Er war das, was man einen stattlichen Mann nannte: groß und breitschultrig. Auf seinen grau gewellten Haaren trug er eine dunkelblaue Kapitänsmütze. Die große, leicht gekrümmte Nase war, genau wie die Mütze, sein Markenzeichen.

»Gefällt es dir?«, fragte Oma, nachdem sie die Tür zu dem schnuckeligen Zimmer geöffnet hatte, in dem ich die nächsten knapp sechs Wochen wohnen würde. Unter der Schräge stand ein breites Bett mit Holzrahmen, auf dem eine Quiltdecke mit einem Karomuster in Pink, Türkis und Lila lag. Dazu passende Kopfkissen in unterschiedlichen Größen. Hier hätten Jule und ich locker zusammen Platz gehabt. »Oh ja. Danke für die viele Mühe, die ihr euch gemacht habt. Es ist schön, mal wieder hier zu sein.« Während ich mich noch ein bisschen umschaute, spürte ich plötzlich, dass ich zum Umfallen müde war.

»Na Tinka, kaum siehst du das Bett und schon musst du gähnen, was?«, sagte Opa lachend. »Das ist unsere gute Nordseeluft. Die macht in den ersten Tagen müde …«

»… und hungrig«, ergänzte Oma. »Deshalb schlage ich vor, dass du erst mal in Ruhe auspackst, und in einer halben Stunde sehen wir uns unten zum Essen. Es gibt Kartoffelsuppe mit Nordseekrabben und als Nachtisch Sylter Rote Grütze mit Vanillesoße. Die magst du doch, nicht wahr?«

Ich nickte, hatte aber große Mühe, die Augen offen zu halten.

Doch ich durfte mich jetzt auf keinen Fall aufs Bett legen, weil ich dann auf der Stelle einschlafen würde, sondern musste erst meine Eltern anrufen, um ihnen zu sagen, dass ich gut angekommen war. Danach wollte ich ein Foto von dem süßen Zimmer mit den cremefarbenen Wänden, weißen Vorhängen und der antiken Schminkkommode machen und an Jule schicken.

Na, bist du jetzt nicht doch ein bisschen neidisch?, schrieb ich ihr. Zur Antwort bekam ich nur ein Selfie, das sie bei einem Picknick im Stall zusammen mit Kay, ihrer neusten Flamme, zeigte. Wieder hatte ich den Verdacht, dass Jule in erster Linie wegen Kay nicht mit nach Sylt gefahren war und nicht so sehr wegen der anstehenden Turniere.

»Jaja, die Hormone …«, murmelte ich, setzte mich auf die Bettkante und schaute aus dem Fenster. Ob ich in diesem Sommer auch jemanden kennenlernen würde, so wie Jule es prophezeit hatte?

Nach dem Schlamassel mit Ben Anfang des Jahres hätte ich nichts gegen einen Flirt einzuwenden. Mein Selbstbewusstsein war noch immer ganz schön angeknackst, weil sich Ben nach einigem Hin und Her für eine Klassenkameradin entschieden hatte. Und so war ich bis zu den Sommerferien gezwungen gewesen, mir täglich ihre Love-Show reinzuziehen.

Echt ätzend.

2

Kikerikiiiiiiiiiiiii!

Oh nee, echt jetzt? Was war das denn, bitte schön? Wie spät war es überhaupt? Als ich auf den Wecker schaute, traf mich beinahe der Schlag. Es war halb fünf. Morgens, wohlgemerkt. »Halt die Klappe, ich habe Ferien!«, rief ich, so laut ich konnte, nachdem der Hahn offensichtlich beschlossen hatte, sämtliche Hennen der Insel herbeizukrähen. Und als wäre dieser Lärm nicht schon schlimm genug, umkreiste mich auch noch eine Mücke mit diesem fiesen, süßlichen Gesumme, dessen Untertitel lautete: Gleich hab ich dich und saug von deinem leckeren Blut … Genervt zog ich mir die Decke über den Kopf, in der Hoffnung, den durchgeknallten Hahn und das blöde Mückengesumse ausblenden zu können. Doch was erwartete ich eigentlich, wenn ich bei gekipptem Fenster einen gefühlten Meter vom Kuhstall und einem riesigen Misthaufen entfernt schlief?

Traurig dachte ich daran, dass ich eigentlich zusammen mit meinen Eltern nach Italien hätte fahren sollen. Doch das Schicksal hatte anders entschieden: Die beiden steckten in einer Ehekrise und beschlossen, zunächst jeder für sich Urlaub zu machen und danach vielleicht noch ein, zwei Wochen gemeinsam. Aber jedenfalls ohne mich, als sei ich ein Störfaktor bei ihrem Versuch, »wieder zueinanderzufinden«. Aus der Traum von der italienischen Riviera. Finito! Dabei hatte ich mich seit Monaten so auf diesen Urlaub gefreut. Statt mich ins dolce vita zu stürzen, würde ich mich nun mit dem Landleben in Morsum anfreunden müssen, wenn ich mir diesen Sommer nicht komplett verderben wollte.

Nachdem ich mich eine weitere halbe Stunde schlaflos und voller finsterer Gedanken im Bett herumgewälzt hatte, beschloss ich aufzustehen. Vielleicht war Oma ja schon wach und ich konnte ein bisschen mit ihr quatschen und Dampf ablassen. Oder mir ein paar Tipps holen, was ich an einem Samstag auf Sylt unternehmen konnte. Denn eins kam jedenfalls nicht in die Tüte: mit den beiden auf dem Sofa sitzen und fernsehen.

»Moin, Lämmchen, bist du aus dem Bett gepurzelt?«, fragte Oma erstaunt, als ich sie im Kuhstall fand.

Sie umarmte mich herzlich, dann fiel ihr Blick auf meine Plüschpantoffeln mit dem Frosch drauf. Außerdem trug ich immer noch meinen Frotteepyjama. »Willst du nicht lieber die anziehen?«, fragte sie und hielt mir ein Paar Gummistiefel vor die Nase. Das würde also in den kommenden Wochen mein Leben sein: müffelnde Gummistiefel, die zwei Nummern zu groß waren, ein hyperaktiver Hahn und ein stinkender Misthaufen.

Na, herzlichen Dank auch.

»Hast du Lust, Eier für mich sammeln zu gehen?«, fragte Oma als Nächstes, wie um noch einen draufzusetzen. »Das hast du früher so gern gemacht.« Ach so? Hatte ich das?

Ich murmelte: »Wenn du meinst«, und gab meinen Plan auf, mich bei ihr wegen meiner Eltern auszuheulen. Ich ließ mir einen geflochtenen Weidenkorb geben, dann stapfte ich in den kleineren Stall nebenan, um der Hühnerschar einen Besuch abzustatten, die hektisch pickend auf dem mit Stroh ausgelegten Boden herumwuselte.

Ich muss heute Abend dringend in die Zivilisation, sonst werde ich hier noch irre!, dachte ich, nachdem ich den Hühnern die noch warmen Eier, an denen zum Teil Federn oder anderer Unrat klebte, quasi unterm Hintern weggezogen und in den Korb gelegt hatte. Bäh! Ich hatte das Gefühl, nie, nie wieder ein Ei hinunterzubekommen.

Eine Stunde später, als der Duft von frisch gebratenem Rührei und Tomaten sowie frischen Kräutern aus Omas Garten die Küche durchzog, überlegte ich es mir jedoch kurzfristig anders.

Ich starb nämlich beinahe vor Hunger.

»Was hast du denn für Pläne heute?«, fragte Opa, nachdem er sein Krabbenbrötchen zu Ende gegessen und die aktuelle Ausgabe der Sylter Tageszeitung zur Seite gelegt hatte. »Das Wetter ist großartig. Wenn du magst, kann ich dich nachher nach Westerland mitnehmen. Ich muss da was besorgen.«

Bei der bloßen Erwähnung von Westerland wurde ich schlagartig wach. »Super Idee. Ich packe nur rasch meine Badesachen und dann kann’s losgehen.«

»Vergiss aber nicht, dich ordentlich einzucremen, die Sonne ist zurzeit sehr intensiv«, sagte Oma und mir fiel ein, dass ich die Sonnenmilch daheim vergessen hatte. Ich würde nachher in einem der Geschäfte in Weserland eine kaufen, beschloss ich.

Zwei Stunden später hatte Opa mich in der Nähe des Strands abgesetzt und war weitergefahren, nicht ohne mir viel Spaß zu wünschen. Da stand ich nun also, bewaffnet mit einem riesigen Korb voll Sachen, die man für einen gechillten Tag am Meer brauchte. Doch schon bereute ich, so viel Kram eingepackt zu haben, weil ich mich ganz schön damit abschleppen musste. Egal, irgendwie schaffte ich es zur Promenade, wo großes Gewusel herrschte: Alle Strandkörbe waren besetzt, ebenso die Bistrotische der Imbissbuden.