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Jenny Green

DAZWISCHEN DAS MEER

Roman

© 2015

édition el!es

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Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-147-6

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1
Neuseeland

Theresa breitete die Arme weit aus, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Feine Wasserperlen, die der Wind durch die Luft trug, bestäubten ihre Haut. Nur das Rauschen des Meeres und Vogelgezwitscher waren zu hören. Theresa sog das Gefühl der Freiheit tief in sich auf, das Leben, so, wie es sein sollte.

Unter ihren nackten Füßen spürte sie den kalten Sand, den die Sonne erst im Laufe des Tages aufheizen würde – dann, wenn Theresa diesen wundervollen Ort bereits wieder hinter sich gelassen hatte. Wehmut stieg bei diesem Gedanken in ihr auf, und sie ließ langsam die Arme sinken.

Sie hatte das Paradies gefunden. Genau so hatte sie es sich immer vorgestellt. Das Meer, die unendliche Weite und Natur, so weit das Auge reichte. Alles wirkte so friedlich. Das genaue Gegenteil der lauten, pulsierenden Stadt, in der sie sonst jeden Tag erwachte.

Erst als Theresa das Knarzen der Schiebetür ihres alten VW-Busses vernahm, öffnete sie die Augen langsam wieder und drehte sich um in Richtung Strand, auf dem sie tags zuvor ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten. Ein einfaches Zelt neben ihrem Bus, den sie gestern erst freudestrahlend abgeholt hatten und der sie nun vier Wochen über die Südinsel Neuseelands befördern sollte.

Gestern Nachmittag waren sie in Christchurch gelandet, aufgeregt wie kleine Kinder, die eine völlig neue Welt entdeckten und sich auf eine Reise ins Ungewisse machten. Ein großes, spannendes Abenteuer lag vor ihnen.

Schon so lange hatte Theresa von Neuseeland geträumt, ein Traum, der bisher unerreichbar schien. Immer wieder hatte sie Bücher über das Land, die Kultur und die Menschen gewälzt. Und als das Reisemagazin, für das sie seit Jahren immer wieder neue Länder bereiste und in großen Reportagen darüber berichtete, sie mit einer neuen Reportage über Neuseeland beauftragt hatte, hatte sie keine Sekunde gezögert. Es war ein Traum, der in Erfüllung ging. Eine einmalige Chance, die sie sofort beim Schopf gepackt hatte.

Vom ersten Moment an war sie von der Schönheit dieses Landes gefangen gewesen. Und nun stand sie hier an diesem wunderschönen Strand, konnte sich kaum satt sehen und nur widerwillig den Blick vom Meer lösen.

Langsam setzte sie sich in Bewegung und stapfte durch den Sand zurück zum Zelt, aus dem sich kurz zuvor Anna hervorgearbeitet hatte. Jetzt stand sie kopfschüttelnd und mit zerzausten Haaren vor Theresa. »Dein Eifer in allen Ehren. Aber ganz ehrlich – fünf Uhr morgens? Wir können doch auch erst in zwei Stunden aufbrechen und wären immer noch sehr früh dran.«

»Hab dich nicht so«, gab Theresa grinsend zurück. »Schließlich könntest du in Hamburg im November nicht so einfach am Strand schlafen. Findest du es nicht traumhaft hier?«

Anna gähnte herzhaft. »Das ändert nur leider auch nichts daran, dass ich hundemüde bin. Der lange Flug hat mich echt geschlaucht. Dich etwa nicht?« Sie sah Theresa ungläubig an, ehe sie sich demonstrativ streckte und die Augen rieb. Ihre kurzen Haare standen wild in alle Richtungen. Wirklich zurechnungsfähig sah sie noch nicht aus.

Theresa schmunzelte. »Ich bin viel zu aufgeregt, um müde zu sein. Das Meer, die frische Luft . . . ein Traum. Ich war wach und konnte einfach nicht mehr ruhig liegen bleiben. Nein, ich bin gerade alles andere als müde. Ich kann es kaum erwarten loszufahren.«

»Ja, ein toller Traum. Ich brauch erst einmal einen Kaffee«, brummte Anna und fing an, im Businneren zu kramen auf der Suche nach den Bechern mit den kalten Kaffeegetränken, die sie neben anderem Proviant gestern in einem kleinen Supermarkt gekauft hatten.

»Pass auf, auch du alter Morgenmuffel wirst schon noch merken, wie schön es hier ist!« Damit ließ sich Theresa in ihren Campingstuhl fallen und sah erneut hinaus auf das Meer.

Wenig später hatten sie ihr Zelt abgebaut und alles in ihrem rot-weißen 1966er Campingbus verstaut. Das Faltdach war defekt, daher hatte der Vermieter ihnen das Zelt mit auf den Weg gegeben. Doch das sollte nicht das Einzige bleiben, was an diesem Bus nicht ganz in Ordnung zu sein schien. Schon als sie das Gefährt abgeholt hatten, waren sie beide mehr als skeptisch gewesen, ob es die lange Reise verkraften würde. Doch der Vermieter hatte nur gelacht und gemeint, der alte VW sei viel zuverlässiger als er aussehe. Sehr beruhigend, wie Anna und Theresa fanden. Doch sie hielten sich an dem Gedanken fest, dass er sie schon nicht in ihr Unglück fahren ließ.

Als Anna sich jetzt hinter das Steuer schwang und immer wieder und immer fester das Gaspedal drückte, passierte allerdings gar nichts, außer dass das laute Heulen des Motors über den Strand fegte und die wenigen anderen Camper aufschrecken ließ. Erst dann bemerkten die beiden, dass ihr Bus im nassen Sand eingesunken war und sich keinen Millimeter bewegte.

»Ganz klasse. Kalter Kaffee und dann auch noch das«, seufzte Anna genervt und ließ den Kopf auf das Lenkrad sinken. »Das geht ja sehr gut los.«

»Warum bist du eigentlich so schlecht drauf?« Theresa sah Anna prüfend an. Als sie keine Antwort erhielt, öffnete sie kurzerhand die Tür, sprang ins Freie und sah sich hilfesuchend um.

Die Reifen steckten tief im Sand und hatten sich durch die vergeblichen Fahrversuche noch mehr eingegraben. Zu zweit würden sie den Bus wohl kaum befreien können.

»Und was jetzt?«, rief Anna vom Fahrersitz und starrte bewegungslos durch die Frontscheibe in Richtung Meer.

»Rumsitzen hilft uns auch nicht weiter«, antwortete Theresa und merkte, dass sie sich langsam von Annas schlechter Laune anstecken ließ. »Ach, bleib einfach sitzen. Ich bin gleich wieder hier.«

Zu ihrem Glück war Tim Davids, der Campingplatzwärter, bereits wach. Wenig später kam er mit ihr zurück zum Bus, um sich den Schlamassel genauer anzusehen.

»Warum seid ihr Europäer eigentlich immer so scharf darauf, direkt am Strand zu parken?« Er hatte die Hände vor der Brust verschränkt und schnalzte mit der Zunge.

»Na ja«, meinte Theresa verlegen, »weil das hier erlaubt ist, zu Hause aber nicht?«

»Ah ja«, brummte Tim, ein Bär von einem Mann, und lächelte. »Ich glaube, euch beiden wird hier sicher nicht langweilig werden. Vor allem mit dieser alten Schüssel, die sich Bus schimpft.« Skeptisch betrachtete er Annas und Theresas ganzen Stolz.

Dann drehte er sich um und ging, um ein Abschleppseil aus seinem Wohnwagen zu holen. Kurz darauf hatte er den Bus mit seinem Geländewagen befreit und auf festes Gelände befördert.

»Nein, langweilig wird es uns beiden sicher nicht«, lachte Anna, als sie schließlich den alten VW zurück auf die Straße lenkte und Theresa ansah. »Ich glaube, jetzt bin auch ich hier endlich angekommen.«

Dann fuhren sie los. Das Abenteuer Neuseeland konnte endlich beginnen. Schon auf den ersten Kilometern begannen sie, sich mit hysterischem Kichern zu überbieten, als der Schlüssel in einer Kurve unbemerkt aus dem Schloss rutschte und in den Tiefen des Fußraumes verschwand, der Bus jedoch trotzdem weiterfuhr. Von der Bremse, die mal bremste und mal nicht, dem dritten Gang, der sich kaum einlegen ließ, und der Besteckschublade, die in der Kurve aufsprang und Gabeln und Messer durch den Innenraum spie, mal ganz abgesehen. Ja, an diesem Bus war so einiges nicht in Ordnung. Aber gehörte das nicht zum Abenteuer? Vorsichtshalber schickte Theresa trotzdem ein Stoßgebet gen Himmel, dass sie das alles hier heil überstehen würden.

»Wir können froh sein, wenn wir die vier Wochen mit dieser alten Schüssel überleben«, kicherte sie und wischte sich den Angstschweiß von der Stirn, als Anna zu scharf in die nächste Kurve bog. »Oder eher, dass ich diese vier Wochen mit dir überlebe.«

»Du wolltest deinen alten Bus, und jetzt hast du deinen alten Bus, also stell dich mal nicht so an«, antwortete Anna, ehe sie kurz darauf scharf auf die Bremse trat und vor einer Kreuzung zum Stehen kam. »So, jetzt müssen wir wohl mal kurz vor die Tür gehen.«

Theresa sah auf die Schilder vor ihnen. Sie selbst wollte am liebsten sofort an die Westküste, doch Anna beharrte auf der Ostküste. Schnell kramte Theresa nach ihrer To-do-Liste im Rucksack, auf der sie bereits in Hamburg alle Plätze notiert hatten, die sie sehen und über die sie berichten wollten. Vielleicht konnte sie Anna ja überzeugen, dass die wichtigsten Orte an der Westküste lagen.

Da Anna jedoch schon immer den größeren Dickkopf von ihnen beiden hatte, ging diese Runde an sie, und sie steuerte den Bus mit einem Gewinnerlächeln in Richtung Ostküste.

7

»Habe ich dir zu viel versprochen?« Amiri stand so dicht hinter Theresa, dass diese ihren Atem im Nacken spüren konnte. Ein prickelnder Schauer lief Theresa den Rücken hinunter. Sie war wie elektrisiert.

Außer ihnen hatte sich keine Menschenseele herverirrt. Sie standen auf einer hohen Klippe und sahen hinab in die Bucht, in der kleine Wellen schäumend an Land rollten. Der Wind spielte mit den Blättern der Bäume hinter ihnen, was zusammen mit dem Rauschen des Meeres eine einzigartige Komposition bildete.

Theresa seufzte glücklich. »Hier ist es wirklich wunderschön.« Sie konnte ihren Blick nicht von der Weite des Meeres unter dem samtigen, langsam dunkler werdenden Himmel abwenden.

Amiri flüsterte nahe an ihrem Ohr: »Wunderschön und ruhig. Einer der wenigen Orte, die noch nicht von Touristen überlaufen sind. Ich komme sehr gern hierher, wenn ich nachdenken muss.«

»Deine eigene kleine Oase sozusagen«, stellte Theresa fest und hielt ihr Gesicht in den kühlen Abendwind.

»Das kann man so sagen. Eigentlich komme ich immer allein hierher.«

Jetzt wandte sich Theresa doch zu ihr um. »Du hättest nicht . . .«

»Nein, so war das gar nicht gemeint«, unterbrach Amiri sie sofort. »Ich finde es wirklich schön, dass du mitgekommen bist und dich darauf eingelassen hast. Und ich hoffe vor allem, du kannst hier alles um dich herum ausblenden.«

Theresa nickte langsam. »Ja, ich denke, das kann ich. Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll. Der ganze Trubel der letzten Zeit, der Reisestress und . . . ach, das ist momentan alles etwas zu viel.«

»Willst du vielleicht allein sein?« Amiri trat einen Schritt nach hinten und machte Anstalten zu gehen.

Schnell hielt Theresa sie zurück. »Nein, bleib hier. Also – wenn du nichts dagegen hast. Es tut gut, mit jemandem zu reden . . . wenn du willst.« Bei den letzten Worten wurde ihre Stimme leiser. Was tat sie hier?

Amiris Lippen formten sich zu einem Lächeln, das wie am Vortag ein heftiges Kribbeln in Theresa auslöste. Sie versuchte es mit aller Kraft zu verdrängen. So etwas hatte ihr gerade noch gefehlt.

Verlegen räusperte sie sich. »Sollen wir uns setzen? Vielleicht dort drüben auf die Bank?«

»Ich habe eine bessere Idee«, erwiderte Amiri und lief los. »Warte kurz, ich bin sofort wieder da.«

Wenig später hatte Amiri eine Decke auf einem Felsvorsprung ausgebreitet, auf der sie nun nebeneinander saßen. Fast unmittelbar vor ihnen fiel der Fels steil bis zum Meer ab. Der Blick auf die Bucht war atemberaubend.

Theresa ließ sich nach hinten fallen, legte die Hände unter den Kopf und sah hinauf in den inzwischen bereits tiefblauen Himmel.

»Wie lange machst du das eigentlich schon?«, erkundigte sich Amiri. »Ich meine diese Reisereportagen?« Sie hatte sich neben Theresa gelegt, den Kopf auf einer Hand abgestützt, und sah auf sie herab.

Ohne den Blick vom Himmel abzuwenden, antwortete Theresa: »Ein paar Jahre schon. Das Ganze hat sich aus einem Praktikum ergeben, das ich während meines Studiums bei diesem Magazin absolviert habe. Und von Jahr zu Jahr habe ich mehr Aufträge bekommen.«

»Das heißt, du darfst das ganze Jahr über durch die Welt reisen und darüber schreiben?«, fragte Amiri ungläubig.

»Nein, das leider nicht.« Theresa sah sie an und schmunzelte. »Ich besitze ein Café in Hamburg und gehe vielleicht so zwei- bis dreimal im Jahr für dieses Magazin auf Reisen. Ein so großes Projekt wie Neuseeland hatte ich allerdings schon lange nicht mehr. Die letzten Reisen und Reportagen spielten sich immer in Europa ab.«

»Ich finde es wirklich schön, dass es dich hierher verschlagen hat«, sagte Amiri und unterbrach sich. »Ähm . . . was ich sagen will . . . ich meine, das ist bestimmt ein Traum, so eine Gelegenheit zu haben . . . fremde Länder und Kulturen kennenzulernen . . .« Offenbar hatte sie sich in ihren eigenen Worten verheddert.

Theresa ertappte sich dabei, dass Amiris Verlegenheit ihr gefiel – sehr gefiel. Lächelnd half sie ihr aus ihrer Verwirrung: »Ich finde es auch schön, hier sein zu können.«

Doch Amiri fing sich schnell wieder. Selbstsicher nahm sie das Gespräch wieder auf: »Tut mir übrigens leid, dass ich dich heute auf dem Boot so direkt angesprochen habe. Ich konnte nicht anders. Aber viele kommen damit nicht klar.«

Theresas Lächeln verschwand. »Mach dir da mal keine Gedanken. Ich dachte nur nicht, dass man mir ansehen könnte, dass etwas nicht stimmt.« Sie schaute wieder nach oben gen Himmel. »Das hat mich etwas überrascht.« Ein dicker Kloß hatte sich in ihrem Hals gebildet. Sie versuchte ihn hinunterzuschlucken, aber vergeblich.

»Na ja«, bemerkte Amiri, »das konnte man auch nicht auf den ersten Blick.«

Nicht auf den ersten Blick? Theresa wurde abwechselnd heiß und kalt. Hatte Amiri sie etwa die ganze Zeit beobachtet?

»Das ist eigentlich gar nicht meine Art«, fuhr Amiri hastig fort, obwohl sie sich Theresas Meinung nach gar nicht hätte rechtfertigen müssen. »Du warst mir einfach auf Anhieb sympathisch, schon bevor wir uns persönlich kennengelernt haben. Und ja . . . mir ist aufgefallen, dass es dir nicht gutging.«

»Das ist eine lange Geschichte.« Theresa schloss die Augen. Wollte sie das wirklich? Darüber zu reden war noch immer ein Kampf.

»Du musst nichts erzählen, wenn du das nicht willst«, versicherte Amiri sanft. »Wir können auch einfach nur hier liegen, dem Meer lauschen, den Wind fühlen und schweigen.«

Theresa atmete einmal tief ein und aus, und dann kamen die Worte plötzlich wie von selbst. Sie hatte sich bisher nur wenigen Menschen anvertraut, mehr als die gröbsten Fakten gab sie normalerweise nicht preis; nur ihre engsten Freunde kannten die ganze Geschichte. Zum ersten Mal erzählte sie sie nun einer Außenstehenden, die ihr Leben und ihre Familie nicht kannte.

»Vor ungefähr eineinhalb Jahren hat meine Mutter die Diagnose Brustkrebs bekommen. Nach einer einfachen, harmlosen Routineuntersuchung . . .« Sie musste schlucken und kurz durchatmen, ehe sie weitersprechen konnte. »Bei einer Routineuntersuchung haben sie den Knoten entdeckt. Aber die Ärzte hatten ihr zu Beginn gute Heilungschancen vorausgesagt, hatten meine Mutter beruhigt und waren optimistisch.«

Amiri hörte aufmerksam zu, ohne zu unterbrechen. Sie lag einfach neben ihr und sah sie an.

»Doch der Tumor wuchs, und die Chemotherapie hat zunächst nicht angeschlagen. Und als sie es letztendlich doch tat, kam noch eine schwere Lungenentzündung dazu, die meine Mutter fast nicht überstanden hätte. Wir waren Tag und Nacht im Krankenhaus, immer in Alarmbereitschaft, immer zwischen Hoffen und Bangen. Über Monate hinweg . . . Wir haben alle nur gehofft, dass sie durchkommt, an etwas anderes konnten wir kaum denken. Mit Mühe haben wir den Restaurantbetrieb meiner Eltern am Laufen gehalten, und mein Café ist nur durch meine tollen Mitarbeiter nicht den Bach runtergegangen. Wir alle waren in Gedanken nur bei Mama, Tag und Nacht.« Ihre Stimme wurde brüchig, sie musste gegen die Tränen kämpfen, als sie die letzten Monate noch einmal Revue passieren ließ.

Amiri rückte ein Stück näher, um ihr beruhigend die Hand auf den Arm zu legen. »Wie geht es denn deiner Mutter jetzt?«, fragte sie vorsichtig.

Theresa räusperte sich, bevor sie antwortete: »Die Ärzte haben uns vor einer Woche gesagt, sie habe den Krebs besiegt. Doch sie ist immer noch sehr schwach. Die Chemotherapie hat ihr viel abverlangt. Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis sie wieder auf dem Damm ist.« Hastig wischte sie sich eine kleine Träne aus dem Augenwinkel. Sie wollte nicht weinen. Sie konnte nicht weinen, nicht vor Amiri. Doch ihre Augen brannten.

»Aber du machst dir immer noch große Sorgen?«

Theresa nickte verzagt. »Was, wenn der Krebs zurückkommt? Was, wenn wir uns alle falsche Hoffnungen machen, genau wie am Anfang?«

Betreten sah Amiri zu Boden, dann streichelte sie behutsam über Theresas Arm. »Deine Mutter hat ihn besiegt«, sagte sie leise, aber fest. »Sie muss eine sehr starke Frau sein, und sie hat eine tolle Familie. Sie schafft das. Ihr schafft das zusammen.«

Jetzt, da sie alles losgeworden war, wusste Theresa nicht mehr, was sie sagen sollte. Sie wusste nur, dass Amiris Nähe ihr guttat. Was vollkommen verrückt war. Vollkommen. Noch nie hatte sie sich so schnell jemandem geöffnet. Doch Amiri war so . . . anders als irgendjemand sonst. Aus irgendeinem Grund hatte Theresa zu ihr von Anfang an Vertrauen gehabt, und sie wusste, dass ihre Geschichte bei ihr gut aufgehoben war. Mehr noch – die Aussprache hatte ein unsichtbares Band zwischen ihnen gewebt. Auch wenn sie sich morgen voneinander verabschieden mussten und womöglich nie wiedersehen würden.

Nie wieder.

Der Gedanke schmerzte Theresa. Was passierte hier nur? So etwas hatte sie noch nie zuvor erlebt.

Amiri war langsam näher gerückt, so dass sie nun Schulter an Schulter lagen und gemeinsam nach oben schauten, zu den ersten Sternen in dem warmen, samtigen Dunkelblau. Auch Amiri schwieg. In Theresas Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander.

Ohne eine bewusste Entscheidung, wie automatisch, tasteten sich ihre Finger nach vorn, bis sie vorsichtig Amiris Hand umschlossen und festhielten.

Sie konnte hören, wie sich Amiris Atem beschleunigte, doch keine von beiden sprach ein einziges Wort. Sie hielten sich einfach fest, spürten die Wärme der anderen, und mit einem Mal hatte Theresa das überwältigende Gefühl, dass sie angekommen war. Dass sie genau hierhin gehörte, an Amiris Seite, mit Amiris Hand in ihrer.

9

»Du machst dir aber nicht immer noch Sorgen?« Anna warf Theresa vom Beifahrersitz her immer wieder kurze Blicke zu. »Es ist doch alles in Ordnung zu Hause.«

»Nein, ich mache mir keine Sorgen.«

»Aber warum bist du dann so still?«

»Ich bin nicht still.«

»Du schweigst die ganze Zeit.«

»Tue ich nicht.«

»Klar. Der Einzige, der sich mit mir unterhält, ist der Moderator im Radio.«

Theresa kurbelte das Fenster nach unten und hielt den Kopf nach draußen in den kühlen Fahrtwind.

»Theresa!«

»Was denn?«

»Könntest du dich bitte aufs Fahren konzentrieren? Ich will keinen neuseeländischen Baum knutschen.«

Theresa zog den Kopf zurück, setzte den Blinker und fuhr die nächste Parkbucht an. »Willst du?«, fragte sie, ehe sie den Wagen anhielt.

»Is’ wohl besser so«, brummte Anna, und sie tauschten die Plätze. Dann trat Anna aufs Gaspedal und schlingerte zurück auf die Straße. Ihr Fahrstil drückte mehr als deutlich aus, wie wütend sie sein musste. Und wenig später brach es aus ihr hervor: »Aber du erzählst mir jetzt endlich, was los ist, sonst halte ich sofort wieder an. Und du sagst mir, wohin du gestern mit Amiri gefahren bist.«

Theresas Herz setzte einen Schlag aus. »Woher . . .«

»Woher ich das weiß?«

Mit offenem Mund starrte Theresa ihre Freundin an. So war das Ganze nicht geplant.

»Ich hab dich in ihr Auto steigen sehen«, erklärte Anna, den Blick stur nach vorn auf die Straße gerichtet, »als ich gerade aus einer Querstraße gekommen bin. Also, warum erzählst du mir nichts davon?«

»Weil . . . ich mir sicher war, dass du das alles andere als toll finden würdest?«

»Weißt du, was ich alles andere als toll finde?«

»Hmm?«, machte Theresa zögernd.

»Dass du nicht mit mir redest und Ausreden erfindest. Warum?«

Überfordert rieb sich Theresa die Stirn. »Tut mir leid, Anna. Ich dachte, wenn ich dir erzähle, dass ich mit Amiri unterwegs bin, bist du enttäuscht.«

»Enttäuscht? Warum enttäuscht? Jetzt bin ich enttäuscht.«

»Na ja, aber ich hab doch gemerkt, wie toll du sie findest.«

Anna lachte laut los. »Gott, ja, Theresa, ich hab vielleicht ein bisschen mit ihr geflirtet. Das war’s aber auch schon wieder.«

»Das war’s? Im Ernst?«

»Ja.« Jetzt endlich sah Anna wieder kurz zu Theresa hinüber. »Von Frauen hab ich die Schnauze voll. Hin und wieder flirten, warum nicht? Aber darum bin ich doch noch lange nicht beleidigt, wenn du Zeit mit ihr verbringst. Hast du das wirklich gedacht?«

Zerknirscht murmelte Theresa: »Das hab ich dann wohl etwas missverstanden.«

»Hast du wohl. Aber erzähl mir endlich, wo ihr wart. Das bist du mir schuldig, nachdem du mich gestern Abend allein gelassen hast.«

Theresa atmete tief ein. »Amiri hat nachmittags auf dem Boot wohl gemerkt, dass es mir nicht so gutging. Und sie hat angeboten, mich abends zu einem Platz zu bringen, an dem ich mal Ruhe finde und nachdenken kann.«

»Und sie ist den ganzen Abend bei dir geblieben? Wo?«

»An einer kleinen Bucht, mit Blick aufs Meer. Keine Ahnung, wo das genau war. Aber ja, sie war bei mir, die ganze Zeit.«

Anna nickte und starrte wieder auf die Straße vor ihnen. Die Hände hatte sie krampfhaft um das Lenkrad geklammert.

»Ich musste einfach mal raus, mich neu ordnen.«

»Dagegen sagt doch auch niemand was, Theresa. Das verstehe ich doch. Ich bin die Letzte, die das nicht versteht. Aber ich hab gedacht, ich bin deine beste Freundin. Warum erzählst du mir dann nicht einfach, was du machst? Egal, ob du denkst, dass ich was von Amiri will oder nicht. Du kannst mir alles sagen, okay?«

Theresa schwieg eine Weile. Alles? Unsicherheit machte sich in ihr breit.

Einerseits drängte es sie regelrecht dazu, Anna alles zu erzählen. Andererseits – würde sie auch dann noch auf großes Verständnis treffen? Doch wenn sie dieses Geheimnis für sich behielt, würde es sie irgendwann zerreißen. Sie wollte keine Geheimnisse vor Anna haben.

Unvermittelt schoss es aus ihr heraus: »Wir haben uns geküsst.«

»Ihr habt was?« Anna legte eine Vollbremsung mitten auf der Straße hin. Sie hatten Glück, dass hinter ihnen kein Auto fuhr. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie Theresa an.

»Wir haben uns geküsst«, wiederholte Theresa leise. »Ich weiß doch auch nicht, wie das alles passieren konnte.«

Anna rang nach Worten. »Okay, ihr habt euch geküsst. Okay, also . . . okay.«

»Ich weiß schon, was du jetzt denkst.«

»Ach ja, weißt du das?« Anna zog eine Augenbraue hoch.

»Ich bin ein Vollidiot. So etwas hätte nie passieren dürfen. Ich hätte mich nicht so gehen lassen dürfen.«

»Ach, Theresa. Ihr habt euch geküsst, okay. Das ist passiert, aber ihr werdet euch sowieso nicht wiedersehen.«

Theresa schluckte und sah betreten in ihre Handflächen. »Ich will sie wiedersehen, denke ich«, sagte sie und seufzte tief. »Das war nicht nur einfach . . .«

Wildes Gehupe ließ sie beide aufschrecken. Der vorbeifahrende ältere Herr wedelte wild mit einer Hand und deutete Anna an, sofort den Weg freizumachen, was diese, wild zurückgestikulierend, umgehend tat. Sie fuhr den Bus an, scherte wenig später auf einen kleinen Parkplatz aus und hielt. Wie von der Tarantel gestochen sprang sie aus dem Auto und kreuzte die Hände hinter dem Kopf. Theresa folgte ihr etwas langsamer.

»Du willst sie wirklich wiedersehen?«, fragte Anna mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Entsetzen. »Wie stellst du dir das denn bitte vor?«

Theresa ließ die Schultern hängen. »Ich weiß es doch auch nicht, Anna. Aber ich kann nicht anders.«

»Du kannst nicht anders?«

»Nein, mir ist doch so was auch noch nie passiert.«

»Und was bitte ist mit Maren?« Anna sah sie durchdringend an.

Theresa wurde schlecht. Annas Frage hatte denselben Effekt wie ein direkter Schlag in die Magengrube.

Unbarmherzig fuhr Anna fort: »Die sitzt zu Hause in Hamburg und vermisst dich. Sie wartet darauf, dass du dich endlich entscheidest – und was machst du?«

»Ich bin Maren keine Rechenschaft schuldig, okay?« Trotzig kickte Theresa einen Stein zur Seite.

»Ich weiß, dass du dich nie auf eine Beziehung mit ihr festnageln lassen wolltest«, sagte Anna mit etwas ruhigerer Stimme. »Aber sie hat dich in den letzten Wochen immer unterstützt. Sie hat dir Halt gegeben. Ist dir das gar nichts wert? Ganz egal, ob ihr jetzt fest zusammen seid oder nicht.«

Theresa sah hilfesuchend nach oben. »Doch, natürlich. Das ist mehr wert als alles andere. Ich weiß, wie sehr sie mir geholfen hat. Aber . . .« Sie zögerte.

»Was dann aber, Theresa?«

»Ich liebe sie nicht.«

Anna drehte sich um, entfernte sich ein paar Schritte, machte wieder kehrt und kam direkt auf Theresa zu. Sie legte ihr beide Hände auf die Schultern, ganz so, als wolle sie sie gleich schütteln. »Hast du ihr das jemals gesagt?«, fragte sie eindringlich.

Theresa versuchte sich aus Annas Griff zu befreien, doch vergeblich. Kleinlaut versuchte sie zu erklären: »Ich dachte immer, die Gefühle entwickeln sich. Dann, wenn ich den Kopf dafür frei habe. Ich dachte, wenn wir erst einmal Zeit für uns haben, entwickelt sich etwas.«

Energisch schüttelte Anna den Kopf. »Entweder du hast Gefühle für sie oder nicht, ganz egal, was um euch herum passiert ist. Du musst mit ihr reden, Theresa, so schnell wie möglich.«

Theresa wischte mit einer schnellen Handbewegung eine Träne aus dem Augenwinkel. Mit einem Mal verachtete sie sich selbst. Sie hatte Maren nie verletzen wollen. Ihr zu sagen, dass es keine Zukunft für sie beide gab, nach allem, was sie für Theresa getan hatte – das war ein Schritt, der sie einiges an Überwindung kosten würde. Nicht zuletzt, weil sie sich stets an der Hoffnung festgeklammert hatte, dass ihre Liebe irgendwann wachsen würde.

Dass dies absoluter Schwachsinn war, begriff sie erst jetzt.

»Ich kann sie doch nicht einfach anrufen und ihr das alles am Telefon erklären«, stammelte sie mit schwacher Stimme.

»Nein«, bestätigte Anna, »das wäre unterste Schublade. Du wirst es ihr wohl erklären müssen, sobald du zurück bist. Dann aber sofort.«

Theresa seufzte. Sie konnte Annas Wut verstehen. Zum einen hatte Anna Theresa immer eine Frau gewünscht, die stets an ihrer Seite stehen würde, und geglaubt, dass Maren diese Frau sein könnte. Zum anderen war Anna ja selbst vor wenigen Wochen von Luisa verlassen worden, einer anderen wegen. Kein Wunder, dass sie sich nun besser in Maren hineinversetzen konnte als in Theresa.

Natürlich konnte Theresa nichts für ihre Gefühle – oder den Mangel daran. Dennoch fühlte sie sich miserabel. All die Wochen hatte sie mit Anna gelitten, hatte ihr Schicksal geteilt, und durch all die schlimmen Erlebnisse der letzten Monate und Wochen waren sie nur noch enger zusammengewachsen. Und nun standen sie sich gegenüber, und aus Annas Augen funkelten ihr Wut und Unverständnis entgegen.

»Und für Amiri hast du Gefühle? So schnell? Du kennst sie doch gar nicht!«

Endlich gelang es Theresa, sich aus Annas Griff herauszuwinden. Schnell drehte sie sich um, ging zu einer kleinen Holzbank am Rand des Parkplatzes und setzte sich darauf. Sie hatte den Eindruck, nicht einmal mehr genug Kraft zu haben, um sich auf den Beinen zu halten.

Anna folgte ihr auf dem Fuß und ließ sich neben sie fallen.

»Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat«, sagte Theresa verzweifelt. »Ich weiß, dass wir uns eigentlich nicht kennen und dass das alles sowieso keine Zukunft hat. Wie auch? Aber ich bekomm sie einfach nicht aus dem Kopf.« Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. »Was soll ich denn machen, Anna?«

Ein leises Seufzen. »Ich merk doch, wie sehr du durch den Wind bist.« Annas Stimme klang jetzt sanfter, der erste Schock schien langsam zu verfliegen. Dann fügte sie in dringlichem Tonfall hinzu: »Aber du solltest herausfinden, was das ist. Was das zwischen euch beiden ist.«

Theresa öffnete die Augen und sah Anna an. »Und wie?«

Anna zuckte nur mit den Schultern. »Sie wiedersehen?«

Allein der Gedanke schien Theresa den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

Ganz kurz legte Anna ihr die Hand auf den Oberschenkel, ehe sie aufstand. »Bring das bitte auf die Reihe, okay? Schon allein für Maren. Und weil ich befürchte, dass du die nächsten Tage und Wochen kaum zu ertragen bist.«

Theresa atmete tief ein und nickte.

»Dann komm, wir sollten weiter«, rief Anna, die bereits wieder vor dem Bus stand.

Theresa ließ ein letztes Mal ihren Blick über die weite, sattgrüne Hügellandschaft vor ihr schweifen, hinter der sich die von überallher sichtbaren Berge erhoben. Und dann wusste sie, was sie zu tun hatte.

5

Theresa wusste nicht, wann sie schließlich eingeschlafen war. Als sie in den frühen Morgenstunden erwachte, lag ihr Reisetagebuch offen und nur spärlich gefüllt neben ihr auf dem Kissen, und das kleine Licht am Nachttisch brannte seit Stunden fröhlich vor sich hin.

Etwas orientierungslos sah sich Theresa im Zimmer um. Von Anna war noch nicht mehr zu hören als ein leises Schnarchen unter ihrem Deckenberg. Theresas Augen brannten, als sie hinaus in den Sonnenaufgang sah. Nur langsam legte sich die Schwere der Nacht. Mit Anbruch des neuen Tages wich das beklemmende Gefühl, das sie die halbe Nacht fest im Griff gehabt hatte und sie keinen Schlaf hatte finden lassen. Doch jetzt konnte sie allmählich wieder frei atmen.

Sie schwang ein Bein aus dem Bett, dann das andere, streckte sich genüsslich und trat dann ans Fenster, um es zu öffnen. Frische Luft strömte ins Zimmer. Sie konnte das Meer riechen. Ein lang vermisstes Glücksgefühl durchfloss sie.

Noch war es ruhig in den Straßen. In wenigen Stunden, sobald die ersten Touristenscharen genau wie Anna und Theresa zu den Katamaranen strömen würden, um hinaus aufs Meer zu den Walen zu fahren, würde sich das ändern. Doch für diesen Moment genoss Theresa die friedliche Stille, die nur vom Gezwitscher der Vögel durchbrochen wurde. Dieser Moment gehörte nur ihr.

Sie setzte sich auf die breite Fensterbank und ließ den Blick über die Stadt schweifen. Dann legte sie den Kopf in den Nacken, sah hinauf in das Tiefblau des Himmels und atmete tief ein.

Ein traumhafter Ort, um den Tag zu beginnen. Ja, ein traumhafter Ort, um endlich loszulassen.

»Mal wieder eine schlaflose Nacht?« Anna musterte Theresa besorgt, als sie ihre schweren Taschen mit der Kameraausrüstung von den Schultern gleiten ließ. »Ich dachte, es wäre alles in Ordnung?«

»Das mit dem Abschalten klappt wohl noch nicht so ganz, wie ich mir das wünsche«, antwortete Theresa schulterzuckend und sah zu den Bootsanlegestellen hinüber, von wo aus sie zusammen mit Amiri und vielen anderen starten würden. »Dauert wohl noch etwas, bis ich wieder ruhig schlafen kann.«

»Du hättest mich doch jederzeit wecken können.«

»Schon okay, Anna. Es ist gut, wenn wenigstens eine von uns schlafen kann.« Theresa lächelte. »Ich komm schon klar. Ich brauche wohl einfach noch etwas Zeit, bis ich realisiert habe, dass ich mir keine Sorgen mehr machen muss. Außerdem geht es dir momentan auch nicht so besonders.«

Anna machte eine fahrige Handbewegung und wehrte ab: »Ach, mir geht’s gut. Ich kann nicht ändern, was nicht zu ändern ist, das habe ich viel zu lange versucht. Das Thema ist durch.« Dann erhellte sich ihre Miene von einer Sekunde zur anderen, und sie begann zu strahlen. Theresa musste sich gar nicht erst umdrehen, um zu wissen, wer sich ihnen gerade näherte.

Dieser Gedanke ließ jedoch auch ihr Herz einen Takt schneller schlagen. Als sie sich schließlich doch umwandte, um Amiri zu begrüßen, traf sie deren Lächeln mit voller Wucht mitten ins Herz. So unerwartet, so heftig, dass ihr der Atem stockte. Was passierte hier plötzlich?

Das konnte doch nicht sein. Ihr Körper begann verrückt zu spielen, sobald sie Amiri in die Augen sah. Sie wurde nervös, wenn Amiri sie nur anlächelte . . . Hatten sie die letzten Wochen wirklich so durcheinandergebracht, dass das Lächeln einer Fremden sie so aus dem Konzept bringen konnte? Anscheinend konnte sie nicht einmal mehr mit dem kleinsten Funken Fröhlichkeit und Freundlichkeit umgehen, ohne vollkommen durchzudrehen.

Während Anna Amiri umarmte, versuchte Theresa ihren Atem zu kontrollieren. Es gelang ihr nur mit Mühe. Ihr Herzschlag galoppierte ihr nach wie vor davon.

Sie durfte die Situation nicht überbewerten. Sie musste einfach von neuem lernen, sich fallenzulassen und alles entspannter zu sehen. Ihre Nerven waren, was Gefühle betraf, wohl vollkommen überreizt. Zu viele Emotionen hatte sie in den letzten Monaten kontrollieren müssen.

Ja, sie musste einfach wieder leben! Leben, wie sie es vor den schwarzen Monaten getan hatte: nicht völlig sorglos, aber ruhig und sicher, mit dem Wissen, wohin sie gehörte und wer sie war. Sie musste nur wieder den richtigen Weg dorthin finden. Dann würde sie so schnell nichts mehr aus dem Tritt bringen können.

Als Anna Amiri wieder aus ihrer Umarmung entließ – Theresa hatte das Gefühl, sie habe Amiri länger im Arm gehalten als nötig, doch den Gedanken verbot sie sich umgehend –, ging auch Theresa auf sie zu und nahm sie kurz in den Arm. »Hi, Amiri. Schön, dich wiederzusehen.«

»Schön, dass ihr hier seid! Das wird eine tolle Fahrt!« Amiri sprühte wie bereits tags zuvor vor Energie und war sichtlich in ihrem Element, als sie Theresa und Anna das Prozedere des Tages erklärte und ihnen half, die schwere Ausrüstung durch den Check-in an Bord zu schleppen.

Anna strahlte wie ein kleines Kind, als sie direkt hinter Amiri an Bord kletterte, wo bereits Amiris Kollegen und weitere Touristen auf die Abfahrt warteten. Theresa folgte in einigem Abstand und beobachtete die Situation argwöhnisch. Sie wunderte sich selbst ein wenig über dieses Misstrauen, das sie plötzlich empfand. Doch sie konnte es auch nicht einfach ignorieren.

Amiri begrüßte die Gäste: »Wir bringen euch heute etwa fünf Kilometer raus aufs Meer. Das Wetter ist perfekt, ich hoffe, eure Stimmung ebenso. Und mit etwas Glück können wir heute nicht nur Wale, sondern auch Delphine bewundern.« Dann half sie mit, den Katamaran loszumachen.

Theresa notierte sich schnell die wichtigsten Informationen, die ihnen Amiri im Vorfeld gegeben hatte, in ihrem Reisetagebuch. Und Anna begann bereits damit, die ersten Bilder des Tages zu schießen, noch ehe der Katamaran abgelegt hatte. Theresa fiel auf, dass sie dabei immer wieder ihr Objektiv auf Amiri richtete. Typisch Anna . . . Theresa konnte nur den Kopf schütteln.

Sie stellte sich an die Reling und blickte übers Meer in die Ferne, nicht sicher, ob sie über Annas Flirtlaune schmunzeln oder sich ärgern sollte.

Noch immer fiel es ihr schwer, rund um die Uhr Leben um sich zu haben. Das spürte sie in diesem Moment allzu deutlich. Immer wieder überkam sie das Bedürfnis, sich zurückzuziehen. Sie wollte einfach nur allein sein. Weit weg von diesem ganzen Trubel. Doch hier auf diesem kleinen Boot voller Touristen wäre das nur durch einen Sprung ins Wasser möglich gewesen, was wohl weniger ratsam gewesen wäre.

Theresa beobachtete noch eine Weile die kleinen Wellen, die das Meer überzogen. Dann setzte sie sich in eine freie Ecke und setzte eifrig ihre Notizen fort. Je konzentrierter sie sich in ihre Aufzeichnungen vertiefte, desto geringer war die Gefahr, in ein Gespräch verwickelt zu werden. Dabei bekam sie kaum mit, dass Amiri sich leise neben sie setzte.

»Du wirkst traurig.« Völlig unvermittelt riss Amiris Stimme Theresa aus ihren Gedanken. Sie hob den Kopf und sah Amiri an, verwirrt und etwas überrumpelt.

»Was? Oh, nein, nein, ich bin einfach nur müde«, wehrte sie ab, als sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. »Der Jetlag macht mir mehr Probleme als mir lieb ist.« Sie bemühte sich um ein kleines Lächeln, um jegliche Zweifel aus dem Weg zu räumen. »Dieser ewig lange Flug fordert einem doch einiges ab.«

»Ich meinte eigentlich den Ausdruck in deinen Augen. Diese tiefe Traurigkeit«, erwiderte Amiri leise, so dass niemand sonst etwas davon mitbekam. Dabei sah sie Theresa so tief in die Augen, dass diese sofort den Blick senkte. Die Intensität dieser dunkelbraunen Iris ging ihr durch und durch.

»Ich . . . ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, seufzte sie. Sie wollte nicht reden. Nicht darüber und vor allem nicht hier. »Es ist alles in Ordnung, wirklich.«

Amiri schien Theresas Widerwillen zu spüren. Sachte legte sie ihr die Hand aufs Knie, für einen Moment nur. Doch die kurze Berührung löste einen Stromschlag aus, der Theresa in alle Glieder fuhr.

Sanft sagte Amiri: »Ich weiß, ich bin eine völlig Fremde und eigentlich nur dafür da, euch beide auf dieser Tour zu begleiten wie abgesprochen. Aber nachdem wir uns ja gestern Abend schon etwas kennenlernen durften . . . Ich wollte nur wissen, ob es dir gutgeht.«

Theresa umklammerte ihr Reisetagebuch und kämpfte gegen die Erinnerungen und die Traurigkeit an. Nein, sie wollte sich jetzt nicht davon übermannen lassen. Sie war hier, um dieses Land zu genießen.

Und was hätte sie Amiri auch groß sagen sollen? Amiri kannte sie nicht, und dieser Ausflug würde daran auch nichts ändern, zumal sie am nächsten Tag bereits wieder getrennte Wege gehen würden. Was hätte es also gebracht, Amiri ihr Herz auszuschütten, ihr all die komplexen Probleme zu erklären – nur um sie dann nie wiederzusehen? Theresa schwieg und mied dabei Amiris Blick.

»Wenn du willst«, hörte sie Amiris leise Stimme, »zeige ich dir heute Abend einen wunderschönen Ort, an dem man zur Ruhe kommen kann. Also nur, wenn du willst. Ich fahre sehr gern dorthin, um Kraft zu tanken. Du sollst dich natürlich nicht dazu gezwungen fühlen – ich denke nur, es könnte dir guttun.«

Dieses Feingefühl hätte Theresas innere Mauern um ein Haar brechen lassen. Wenn sie jetzt etwas gesagt hätte, wäre es um ihre Selbstbeherrschung geschehen. Also nickte sie nur zaghaft. Wie sehr sehnte sie sich nach Ruhe. Da konnte eine kleine Auszeit nicht falsch sein.

Amiri nickte ebenfalls. »Tut mir leid«, sagte sie, »wenn ich zu direkt war. Ich wollte dir nicht zu nahe treten . . . Dann lasse ich dich jetzt besser allein.« Sie stand auf, drehte sich noch einmal um und lächelte aufmunternd, ehe sie zu den anderen Gästen ging.

Theresa blieb sitzen. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie hatte nicht gedacht, dass ihr der Ballast, den sie mit sich trug und nicht abschütteln konnte, so deutlich anzumerken war. Sie hatte sich doch alle Mühe gegeben, keine Schwäche nach außen zu zeigen . . . Doch Amiri schien eine besondere Sensibilität zu besitzen und ihre Melancholie zu spüren.

Warum sonst sollte sie eine völlig Fremde, die sie am nächsten Tag bereits hinter sich lassen würde, so offen darauf ansprechen und so genau spüren, dass irgendetwas nicht stimmte?

3

»Langsam, aber sicher beginnt mein Magen zu rebellieren.« Anna saß wie ein kleines Häufchen Elend auf der Bettkante, die Haare noch nass vom Duschen, als Theresa zurück ins Zimmer kam.

»Wem sagst du das«, meinte Theresa und warf die letzte Tasche aufs Bett, die sie aus dem Bus geholt hatte, »ich bin völlig ausgehungert. Aber einen kleinen Moment musst du dich noch gedulden. Ich springe auch noch eben unter die Dusche, und dann können wir gleich los, okay?«

Anna verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Wenn ich bis dahin nicht verhungert bin.«

»Iss doch einen von diesen komischen Riegeln, die du unbedingt haben wolltest.«

Jetzt entgleisten Annas Gesichtszüge endgültig. »Nee, lass mal. Ich glaub, ich hab doch keinen so großen Hunger mehr.«

Theresa lachte bei der Erinnerung an Annas Gesicht, als diese zum ersten Mal in einen der viel zu harten und viel zu süßen Müsliriegel gebissen und dann über Zahnschmerzen geklagt hatte. »Nicht alles, was lecker aussieht, tut dir auch gut. Das müsstest du doch nach dieser Julia und der Party letzte Woche gelernt haben«, stichelte sie und brachte sich schnell in Sicherheit, als Anna ein Kissen nach ihr warf.

»Diese Anspielung hättest du dir sparen können«, lachte Anna und schüttelte den Kopf. »Dann nehm ich lieber diesen Riegel.«

»Welches Restaurant meintest du?«, fragte Anna.

»Ich glaube, wir müssen da vorn noch einmal um die Ecke, und dann müsste es dort auch schon sein.« Theresa kniff die Augen zusammen, um im grellen Sonnenschein etwas erkennen zu können. Frisch geduscht und in kurzen, leichten Sachen ließ sich die Hitze schon weit besser ertragen.

Auch Anna schien mittlerweile ausgeglichener zu sein, was wohl auch daran lag, dass sie die ersten Bilder mit ihrer erst kürzlich neu erworbenen Kamera geschossen hatte. Theresa hatte wenig Ahnung von Technik, doch Annas schwärmerischen Erklärungen nach musste diese Kamera der Traum eines jeden Fotografen sein. Zumindest war sie unübersehbar Annas Traum. Selbst ihren Bärenhunger schien sie darüber völlig zu vergessen, denn Theresa musste eine ganze Weile vor dem Eingang des Restaurants warten, bis Anna endlich ihren Finger vom Auslöser nehmen und ihr folgen wollte.

Der Geruch frisch gebratenen Fisches lag in der Luft, und wie auf Kommando begannen Theresas und Annas Mägen im Chor zu knurren. Sie wurden zu einem Tisch am Fenster geführt, vor dem sich ein unglaubliches Panorama auftat: das dunkelblaue Meer, grüne Wiesen, exotische Bäume und die hohen Berge im Hintergrund, auf deren Gipfeln sogar jetzt im neuseeländischen Sommer Schnee leuchtete. Aber das würden sie noch ausgiebig genießen können, wenn sie endlich ihren Hunger gestillt hatten.

Amiri wollte erst in einer Stunde zu ihnen stoßen. Sie hatten also Zeit und Ruhe zum Essen. In andächtigem Schweigen, nur von gelegentlichen »Mmhs« und »Aahs« unterbrochen, saßen sie sich gegenüber und waren ganz in das Geschmackserlebnis vertieft. Theresa konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal so gut gegessen hatte. Oder war es einfach nur der enorme Hunger, der in diesem Moment alles tausendmal besser schmecken ließ?

Vollkommen satt und glücklich lehnte sie sich schließlich zurück, legte eine Hand auf ihren vollen Bauch und sah versonnen hinaus in die üppige grüne Landschaft, die jetzt am Abend in goldenen, ins Rötliche spielenden Sonnenschein getaucht war.

Sie waren gerade einmal eine Nacht und einen Tag in diesem Land, doch ihr schien es wie eine kleine Ewigkeit. Sie hatte sich vom ersten Moment an willkommen und wohlgefühlt, was wahrlich selten vorkam. Meist brauchte sie einige Tage, um sich umzustellen und an ihrem Reiseziel zurechtzufinden.

Doch das hier, dieses unglaubliche Gefühl von Freiheit, war neu, aufregend und gerade deswegen wunderschön.

Als Anna sie sanft an die Schulter tippte und mit dem Kopf in Richtung Tür deutete, kehrte Theresa aus ihrem Kokon aus Gedanken zurück und blickte auf.

»Ist sie das nicht?«, fragte Anna. »Da vorn beim Eingang.«

»Ich weiß nicht . . .« Zweifelnd beäugte Theresa die Frau, die das Restaurant gerade betreten hatte.

Anna reckte den Kopf, um besser sehen zu können. »Na ja, ich habe auch nur die Fotos auf der Homepage gesehen. Aber doch, ich denke, das ist sie.«

Theresa legte den Kopf schief und sah um die Ecke. Doch erst als die Frau sich ihnen näherte, war auch sie sich sicher, dass es Amiri war. Schnell hob sie eine Hand, um auf sich aufmerksam zu machen. Als die Frau sie entdeckte, malte sich ein strahlendes Lächeln auf ihren Lippen, und sie kam eilig auf Anna und Theresa zu.

Theresa hatte noch nie ein so offenes, warmes Lächeln gesehen. Es ließ die Augen der Frau regelrecht funkeln. Und dieses Funkeln entfachte ein wildes Kribbeln in Theresa, das sie sich nicht erklären konnte. Wahrscheinlich lag es einfach nur daran, dass sie an Lachen und Fröhlichkeit von Fremden gar nicht mehr gewöhnt war, nachdem so viele Wochen lang nur düstere Themen ihr Leben beherrscht hatten.

»Kia ora«, begrüßte Amiri sie und streckte zunächst Anna ihre Hand entgegen.

»Kia O. . .?« Anna sah Amiri perplex an und vergaß darüber sogar, ihr die Hand zu geben, so dass Amiri ihre wieder sinken ließ.

»Kia ora«, wiederholte sie verlegen lächelnd. »Das ist die traditionelle Begrüßung der Maori und heißt ganz einfach ›Hallo‹. Ich freue mich jedenfalls sehr, dass ihr hier seid.«