DER ZEHNTE HEILIGE 

Daphne Niko


Aus dem Amerikanischen übersetzt von Madeleine Seither

  

  






Für Nicola

  

In memoriam

  

  





Copyright © 2012 by Daphne Niko

 

Die Originalausgabe erschien 2012 bei Medallion Press, Inc., USA, unter dem Titel THE TENTH SAINT.
Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de), in Zusammenarbeit mit Gloria Goodman.

 

The original edition was published in 2012 at Medallion Press, Inc., USA, under the title THE TENTH SAINT.
This book was arranged by erzähl:perspektive Literary Agency, Munich (www.erzaehlperspektive.de), in cooperation with Gloria Goodman.

 

 

Impressum


zweite überarbeitete Ausgabe

Originaltitel: THE TENTH SAINT

Copyright Gesamtausgabe © 2020  Luzifer Verlag

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

                                

Cover: Michael Schubert

Übersetzung: Madeleine Seither

                                

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2020) lektoriert.

                                

ISBN E-Book: 978-3-95835-066-3

                                

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Eins

 

Das Kamel trat vorsichtig auf einen Flecken rissiger Erde. Die obere Kruste zersprang unter dem Huf des schwer beladenen Tieres wie ungebrannte Keramik in tausend Stücke. Der Kameltreiber, ein hagerer, vom Kopf bis zu den nackten Füßen in indigoblauen Flor gehüllter Mann, schlug dem Tier mit einer Palmwedelpeitsche auf das Hinterteil. Das Kamel reagierte mit zwei schnellen Schritten, dann stoppte es und ächzte seinen Unmut heraus. Trotz wiederholter Aufforderungen seines Treibers ging es keinen Schritt weiter, und damit hatte sich der Fall.

Der Mann zog seine Kopfbedeckung zurück, um sein Gesicht zu enthüllen. Seine Haut besaß die Farbe von Antilopenfell und ausgeprägte Furchen hatten sich auf seine Stirn und in die Vertiefungen seiner Wangen gegraben. Die Sonne hatte in den mehr als fünfzig Jahren, in denen er durch die Wüste gezogen war, ihren Tribut von ihm gefordert. Er sah aus wie ein ausgemergelter Achtzigjähriger, müde und vom Leben geschlagen, doch seine Augen, Teiche flüssigen Onyxes, glänzten mit einem Geist voller Vitalität und Weisheit, ganz von der Art, wie sie vonnöten war, um einen Nomadenstamm durch dieses unerbittliche Land zu führen. Er spähte zum Himmel, um sich den Stand der Sonne zu bestätigen. Sie war, wo er sie angenommen hatte: direkt über ihm. Er taxierte die Wüste um sich herum. Alles war trocken und ausgedörrt. Ausgedörrt wie die Kamele und seine Mitreiter. Die Mittagssonne sengte ohne Reue, und keine Erlösung – kein Wasser, kein Schatten – war in Sicht.

Mit einer Hand malte er Kreise in die Luft, um die anderen Männer herbeizurufen. «Wir werden hier anhalten», sagte er zu ihnen, nachdem sie sich versammelt hatten. «Die Tiere sind müde. Sie brauchen Wasser.»

«Aber Sheikh, es gibt kein Wasser», entgegnete einer der jüngeren Männer, dessen schmale Augen voller Zweifel waren. «Es hat schon seit vielen Monden kein Wasser mehr gegeben.»

Der Führer legte seine Hand auf die Schulter des jungen Mannes. «So werden wir welches finden, Abu. Die Wüste ist unsere Mutter. Sie versorgt uns immer.»

Der junge Mann widersprach seinem Ältesten nicht. Dies war die Art der Beduinen: Vertrauen und Gehorsam. Die Ältesten hatten sich als Männer von bedeutendem Charakter und großer Ehre bewährt, und als solche verlangten sie den Respekt der Familien. Hairan war das Oberhaupt des Stammes, der moralische und spirituelle Führer der Beduinen.

Die anderen standen auf Anweisungen wartend bei dem Stammesoberhaupt. Hairan beauftragte sie, das Lager aufzuschlagen und ein Feuer zu entfachen. Dann rief er die alte Taneva herbei, um sie zu bitten, einige der Frauen zu versammeln und auf der Suche nach Wasser gen Osten zu gehen.

Versunken in ihren schwarzen Wollgewändern, welche die für Witwen der Beduinen übliche Kleidung waren, kniete Taneva ehrfürchtig vor dem Stammesführer nieder. Sie war die älteste Frau der Sippe und so auch diejenige, die am meisten erlebt hatte, einschließlich der Geburt zweier Generationen. Von ihrer Jugend war nichts als Würde verblieben. Ihre Augen, schwarz umrandet, schwelten wie ein halb herabgebranntes Feuer. Ihre eingesunkenen braunen Lippen zeugten von Entschlossenheit. Diejenigen Haarsträhnen, die ihrem schwarzen Schleier entkommen waren, umrandeten ihr Gesicht wie Fäden von Rauchsilber.

Hairan gebot ihr, sich zu erheben und als Ebenbürtige bei ihm zu stehen. «Vor zwei Tagen gab es Regen im Osten.» Er deutete auf ein paar hohe Sanddünen. «Hinter diesen Dünen liegt ein tiefes Tal. Sucht dort nach dem Wasser.»

Taneva verneigte sich und zog sich zurück.

 

***

 

Drei Frauen begleiteten Taneva ostwärts. Der Sand unter ihren bloßen Füßen war heiß wie ein siedender Kessel. Auf ihren Köpfen trugen sie irdene Gefäße. Sie beklagten sich nicht, sondern gingen immer weiter, wie es ihr Volk jahrhundertelang vor ihnen getan hatte.

Eine halbe Stunde lang ertrugen sie die Unannehmlichkeit und wurden dann dafür belohnt. Genau, wie Hairan es vorhergesagt hatte, befand sich eine Wasserpfütze in einer Vertiefung im Sand. Es war nicht viel – kaum genug, um einen Tag lang vorzuhalten – und es wimmelte von Insekten. Doch morgen war ein neuer Tag und er würde so viel Hoffnung bringen wie jeder andere auch. Die Frauen knieten sich hin, um das wenige Wasser zu sammeln. Um es zu reinigen, filterten sie es durch den Flor ihrer Kopftücher.

Von der Vorahnung getrieben, dass es mehr zu finden gab, verließ Taneva die anderen und lief auf eine weitere Senke im Sand zu. Als sie sich dem Rand der Mulde näherte, fiel ihr Blick auf etwas, auf das sie noch nie zuvor gestoßen war. Sie kniff die Augen zusammen, um einen besseren Blick zu bekommen.

Im Sand befand sich eine Wölbung.

Als Taneva hinuntereilte, wirbelte sie mit ihren nackten Füßen große Staubwolken auf. Dort unten war tatsächlich etwas. Etwas Unnatürliches.

Sie näherte sich der Masse und begann, mit dem Pflichtgefühl einer Wüstenfrau, den Sand zur Seite zu wischen, um zu enthüllen, was darunter lag. Ihre Hand strich über ein grobes Gewirr, ähnlich dem Wust ihrer wollenen Stickereifäden nach einem Sandsturm. Sie zog ihre Hand zurück. Ihre Augen weiteten sich und ihr Mund bebte vor Furcht. Instinktiv sah sie sich nach Hilfe um, doch niemand war in der Nähe. Mit einem tiefen Atemzug machte sie weiter. Die Frauen der Wüste, wie auch die Männer, wendeten sich nicht von dem ab, was ihnen in den Weg gelegt wurde. Es war ihr Schicksal. Wegzugehen hieße sich den Mächten zu widersetzen, was zum sicheren Untergang führen würde.

Tanevas Hand stieß auf etwas Hartes, eine Wölbung wie Knochen. Mit beiden Händen zog sie eine Rinne in den Sand und grub mit neuer Entschlossenheit.

Der Kopf offenbarte sich zuerst. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Die Haut um sie herum war violett, von einem Schlag oder von Schmerzen. Das Haar war von blonder Farbe und kurz und so sehr mit Sand verkrustet, dass es an das Vlies eines längst verstorbenen Schafes erinnerte.

Taneva schob den Rest des Sandes beiseite, um den nackten Körper eines Mannes zu enthüllen, bleich wie der Tod und in der Kindslage zusammengerollt. Sie presste beide Hände auf ihren Mund, um einen gellenden Schrei zurückzuhalten. Noch während sie neben dem Körper auf die Knie fiel, begann sie das Lied der Sterbenden als Opfergabe für die Seele des Verunglückten zu singen.

 

***

 

In dieser Nacht kümmerte Hairan sich in seinem eigenen Zelt um den Fremden. Dem Vernehmen nach hätte der Mann tot sein müssen. Dank eines Wunders war er es nicht. Hairan selbst bezweifelte, dass er überleben würde, da sein Atem flach war, sein Körper geschunden und sein bewusstloser Zustand dem Tod näher als dem Schlummer. Doch als ein Beduine, ein Sheikh und ein Medizinmann, war er verpflichtet, sich um den Fremden zu kümmern, bis dieser sich entweder erholte oder den Kampf aufgegeben hatte.

Hairan hatte den Mann auf seine eigene Matte gelegt und all seine Wolldecken über ihm ausgebreitet, um das Sinken seiner Körpertemperatur aufzuhalten. Die Haut des Fremden fühlte sich kalt und trocken an, als ob das Leben langsam schied. Der Stammesführer hatte niemals zuvor einen Mann mit Haut von der Schattierung gebleichten Knochens gesehen oder mit Haaren von der Farbe der Sonne. Es war einerlei. Wer immer der Fremde war und wo immer er hergekommen sein mochte, sie waren gleich, genau so, wie Mensch und Tier und das Korn des Wüstensands gleich waren.

Mit der schwankenden Flamme einer alten Öllampe als einziger Orientierungshilfe platzierte der alte Mann einige Kräuter auf einem Stein und walzte sie mit seinen Fingern. Er hob eine Prise davon auf und hielt sie an seine Nase. «Nicht genug», murmelte er und fuhr fort die Pflanze zu zerdrücken, bis ihre heilenden Öle freigesetzt waren.

Sobald er mit Konsistenz und Aroma der Paste zufrieden war, rieb er eine Handvoll davon auf Wangen, Stirn und Lippen des Fremden, und eine weitere auf dessen Brust. Den restlichen Brei legte er in die Hände des Mannes und schloss diese zu leichten Fäusten.

Hairan hob seine eigenen Hände in Ehrerbietung der Mächte zum Himmel. «Ich bin ein einfacher Mann, der nichts weiß», psalmodierte er leise. «Jegliche Weisheit, die mir gewährt wurde, teile ich gerne mit meinem blassen Bruder. Doch ist es nicht an mir, ihn zu retten. Sein Schicksal ist nur dem Großen Geist bekannt, dem Hüter allen Lebens.» Er rollte sich neben dem Fremden auf dem Boden zusammen; dieser würde heute Nacht seine Bettstatt sein, so kalt und ungastlich er auch war. Unbequemlichkeiten schreckten den Beduinen nicht. Sie waren genauso ein Teil des Daseins in der Wüste wie die brennende Sonne, oder eines Kamels fauler Atem, oder die endlose Weite von den letzten Strahlen des Tageslichts vergoldeter Dünen. Hairan beobachtete den Mann, der dort um sein irdisches Leben kämpfend lag. Mit seiner spitzwinkligen Nase, seinen blassrosa Lippen und seiner unpigmentierten Haut war er weder ein Beduine noch überhaupt ein Araber und auch kein Jude. Taneva trat mit einem Glas warmer Ziegenmilch ein. «Wird er überleben?»

Der Stammesführer schüttelte den Kopf. «Dessen kann ich nicht sicher sein.»

«Ist er einer der Wilden aus dem Osten, Sheikh?»

«Womöglich. Oder vielleicht ist er ein Händler von der anderen Seite des Roten Meeres. Es gibt keinen Grund, solche Fragen zu stellen. Alle Dinge werden offenbart, wenn es Zeit ist und wenn wir bereit sind.»

«Du bist ein weiser Mann, Hairan. Ein großherziger Mann.»

«Ich tue nur, was von mir verlangt wird. Wir alle sind gleich und wir leben, um einander zu dienen.»

Taneva warf Hairan ihre alte Decke über und strich im sanft durchs Haar; eine seltene Zurschaustellung von Zuneigung. Vor den anderen Familien waren er der Sheikh und sie eine alte Frau. Nur wenn sie alleine waren, war sie seine Mutter. «Dein Vater wäre stolz. Gute Nacht, mein Sohn.»

 

***

 

Der Fremde öffnete seine Augen am Morgen des siebten Tages. Der Schleier der Bewusstlosigkeit wog noch schwer auf seinen Lidern und sein Körper schmerzte so sehr, dass er nichts weiter tun konnte, als stillzuliegen.

Er betrachtete seine Umgebung mit der Benommenheit eines langen Schlummers, wie ein aus dem Winterschlaf erwachter Bär. Die Wände waren aus dickem Sackleinen, das Dach aufrecht gehalten von einem Baumstamm in der Mitte des Raumes. Es gab keinen Fußboden; er lag auf über den Sand gebreiteten Decken. In der hinteren Ecke stand eine kleine aus Holz geschnitzte Bank, auf welcher Steinwerkzeuge lagen. Neben seiner Schlafstatt befand sich ein Tontopf, feuergeschwärzt, und ein Stapel schmutziger Gaze. Seine Decken waren aus Wolle und so schwer, dass er nicht die Kraft besaß, um sie anzuheben, aber sie waren schön, offensichtlich von der Hand eines Künstlers gewoben, mit Bildern von Sternen und Skorpionen und allsehenden Augen in Indigo, Safran und Purpur.

Trotz seines Bemühens, das Gesehene zu ordnen, verarbeite sein Gehirn es nicht. Die Bilder waren ihm nicht vertraut. Er wusste, dass er im Inneren eines Zeltes war, doch wessen Zelt? Wo? War er in Gefahr? Und wie war er hierhergekommen? Sein Kopf schmerzte bei dem Versuch, sich an die Umstände zu erinnern, die ihn an diesen Ort geführt hatten. Er konnte es nicht. Gerade blickte er sich entmutigt um, auf der dringenden Suche nach einem Hinweis, um seine Erinnerung anzufachen, als ein Mann sich hereinduckte.

Dieser nickte ihm zu, sagte aber nichts. Ein schmales Lächeln überflog seine wettergegerbten Lippen und sein Gesicht verzerrte sich, um ein Netzwerk von Falten zu enthüllen.

«Wer bist du?», krächzte der Fremde auf Englisch. «Was für ein Ort ist das? Warum bin ich hier?»

Der Mann sagte etwas in einer unverständlichen Sprache, tauchte Gaze in Flüssigkeit, und wischte ihm über die Stirn.

Er begann zurückzuweichen, es mangelte ihm jedoch an Kraft, um sich zur Wehr zu setzen.

Der Mann reichte ihm einen kleinen Tontopf, deutete auf seine eigenen Lippen und sprach dann wieder.

Noch immer verwirrt wandte der Fremde seinen Kopf ab. «Lass mich in Ruhe, alter Mann. Geh und kümmere dich um deine Ziegen oder so etwas.»

Der Mann schlüpfte stumm aus dem Zelt.

Mit geschlossenen Augen versuchte der Fremde, eine Erinnerung heraufzubeschwören. Wahllose Bilder rasten durch seinen Verstand und es war unmöglich, aus ihnen schlau zu werden. Er sah Gesichter – Gesichter, die er nicht erkannte, deren Züge von der grausamen Hand des Gedächtnisses ausgelöscht waren. Metallische Stimmen dröhnten in seinem Kopf, verspotteten ihn mit ihrer unheimlichen Tonhöhe. Zuerst sah er Dunkelheit, dann ein grelles, orangefarbenes Licht, gestaltlos und stürmisch wie Feuer. Das Bild ließ sein Blut gefrieren. Die Stimme einer Frau erhob sich hinter der Dunkelheit. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber sie klang ruhig und tröstlich. Sie sagte ein einzelnes Wort: Gabriel.

Er wusste mit aller Bestimmtheit, dass dieser Name sein eigener war, doch seine Erinnerung betrog ihn um alles andere. Kein Maß an Anstrengung brachte die Rückbesinnung darauf, wer und was Gabriel gewesen war.

 

Zwei

 

Zur Mittagsstunde brannte die subsaharische Sonne die Erde zu feinem Pulver. Der Boden war brüchig und trocken wie altes Pergament. Jedes Mal, wenn eine Schaufel sich knirschend in die Erde bohrte, stieg der Staub in großen Wirbeln auf und hing in der Luft. Sarah Weston machte eine Pause vom Graben und wischte sich Schmutz und Schweiß von ihrer Stirn. Sie war erschöpft, da sie seit dem Morgengrauen gearbeitet hatte, so wie sie es jeden Tag in den letzten fünf Monaten getan hatte, um etwas – irgendetwas – zu finden, das ihre Theorie bestätigte, unter der heißen Erde und dem Granit läge eine königliche Totenstatt, wie sie ihresgleichen kein Archäologe in diesem Teil der Welt je unberührt vorgefunden hatte.

Aksum. Jenes äthiopische Großreich, welches vor Jahrhunderten das einflussreichste Königreich in Ostafrika und Arabien gewesen war. Das sagenumwobene Ahnenland der Königin von Saba. Die Heimat von Herrschern und mächtigen Kriegern und unermesslichen Reichtums, alles begraben in weitläufigen Labyrinthen unterhalb der zerbrochenen Stelen, welche wie stumme, immerwährende Soldaten an den Ausläufern des Sankt-Georgs-Bergs standen.

Sarah glich ihre Koordinaten mit der Anzeige des Georadars ab. «Hier muss es sein.» Sie grub ihre Schaufel in die Erde.

Diese Routine war ihr nicht neu. Als Archäologin der Universität von Cambridge war sie auf Expeditionen rund um die Welt gesandt worden, von den Grabmälern Ägyptens zu den Dschungeln Guatemalas. Bei der Arbeit vor Ort würde niemand jemals vermuten, dass sie eine Aristokratin war; die einzige Tochter eines britischen Baronets und einer amerikanischen Schauspielerin, die genauso berühmt für ihre Schönheit gewesen war, wie auch für ihren Hang zu Wodka und Valium, die ihr Leben gefordert hatten.

Ungeachtet des allbekannten Namens Weston hütete Sarah ihr Privatleben und unternahm große Anstrengungen, um ihrer Crew gleichzustehen. Sie war die Erste, die vor Sonnenaufgang ihre Ärmel aufrollte, und die Letzte, die ihre Spitzhacke nächtens aufhing.

Sie sah kein bisschen wie die Debütantinnen aus, mit denen sie aufgewachsen war. Sie versuchte nicht, ihre herabfallenden blonden Locken zu bändigen; stattdessen steckte sie ihre Haare unter billige Bandanas, die sie von Straßenhändlern kaufte. Ihre Figur, so schlank und geschmeidig wie die eines Windhundes, versteckte sie unter ausgebeulten, abgetragenen Khakihosen und ausgefransten T-Shirts von Marks & Spencer. Ihre Augen hatten die Klarheit und Farbe von Gletschereis, doch niemand konnte das wissen, da sie die große schwarze Fliegersonnenbrille selten absetzte, die sie seit ihrem Aufbaustudium besaß. Sie gab sich auch keine besondere Mühe, die dunklen Halbmonde von den Spitzen ihrer Fingernägel zu entfernen. Der «vornehme Schmutz», wie sie ihn nannte, erinnerte sie an ihre Verbindung zur Erde und zu den Menschen, die vor ihrer Zeit darauf gewandelt waren.

Sie arbeitete an der Ausgrabung mit wie jeder andere, obwohl sie die Expedition leitete – zum ersten Mal in ihren fünfunddreißig Lebensjahren hatte sie diese begehrte Chance erhalten. Sie wusste es besser, als sich aufs hohe Ross zu setzen; es war zu einfach, herunterzufallen oder gestürzt zu werden – wie sie es auf die harte Tour von ihrer Mutter gelernt hatte.

«Das ist so frustrierend», meinte Aisha, eine Austauschstudentin von der Al Akhawayn-Universität in Marokko. «Es sind jetzt, was, fünf Monate? Man sollte meinen dürfen, dass wir mittlerweile fündig wären.»

«Geduld, Mädchen», sagte Sarah, ohne aufzusehen. «Das ist kein Indiana-Jones-Film. Die erste Lektion der Archäologie: Egal wie lange es dauert, du lässt nicht locker.»

Aisha richtete ihren Hidschab mit langen, dunklen Fingern. Sie seufzte mit der Ungeduld der Jugend und nickte in Richtung der Berge jenseits der Ausgrabungsstätte. «Glauben Sie, dass etwas da draußen ist?»

Eine leichte Brise wisperte über die ausgedörrte Landschaft. Sarah verengte die Augen und blickte zum Horizont. «Ich weiß es.»

«Ist das Ihre professionelle Meinung oder das berühmte Bauchgefühl, das von Archäologen erwartet wird?»

«Ein bisschen von beidem, nehme ich an. Sieh mal, wenn es leicht wäre, dann wäre die Stätte aller Wahrscheinlichkeit nach längst geplündert worden. Die Tatsache, dass wir so lange brauchen, um sie zu finden, ist genau genommen ein gutes Zeichen. Was immer da unten ist, wurde sehr wahrscheinlich seit fünfzehn und mehr Jahrhunderten nicht mehr von menschlichen Augen gesehen.»

«Nur ein Brite würde das für sexy halten.»

Sarah lachte und klopfte dem Mädchen auf die Schulter. «Na los. Lass uns in die Stadt fahren und zu Mittag essen. Ich sterbe vor Hunger.»

 

***

 

Die moderne Stadt Aksum zeigte nichts ihrer einst bedeutsamen Identität. Von allen vergessen – außer den Gläubigen, welche Wache über die Kirchen standen, und den Bauern, welche darauf beharrten, der wasserarmen Erde ihren Lebensunterhalt abzuringen – stand sie da wie ein trauriges Mahnmal längst verlorenen Glanzes.

Dennoch nannte die Stadt siebenundvierzigtausend Einwohner ihr Eigen, von denen die meisten zur Mittagszeit unterwegs waren. Der Ort schwirrte vor Geschäftigkeit. Das würzige Aroma köchelnder Wots strömte aus lehmigen Innenhöfen. Alte zahnlose Frauen, zu schwach zum Kochen, saßen auf Bänken am Wegesrand und spannen Baumwolle für die Webstühle. Kinder rannten unbeaufsichtigt über die halbbefestigten Straßen und kreischten voller Freude, während sie einander mit dornigen Akazienzweigen nachjagten. In weiße Baumwollgewänder gehüllte und das hagere Antlitz der Armut tragende Dörfer bummelten durch die Stadt, zu keinem weiteren Zweck als die Langeweile zu mildern, welche in einem armen, abgelegenen Bauerndorf unvermeidbar war.

Sarahs liebste Küche war Tigrinya, ein chaotischer Stand am Straßenrand, der mittags hunderte von Äthiopiern verpflegte. Das Essen war nicht besonders gut, aber die Energie war unbezahlbar. Alle versammelten sich hier, um sich zu treffen und Klatsch zu teilen. Dieser Tag war wie jeder andere: Es gab keinen Sitzplatz, Einheimische stritten mit dem Koch über die Wartezeit für ihr Essen, der Gestank heißen Öls tränkte die Luft, amharische Musik plärrte aus einem altmodischen Gettoblaster aus den Achtzigerjahren.

«Versucht, einen Tisch zu bekommen», sagte Sarah zu den anderen. «Ich gehe bestellen.»

Sie sprach ein besseres Amharisch als jeder andere in ihrer Crew. Seit ihrer Kindheit hatte sie eine Begabung für Sprachen gehabt, und ihre Fähigkeit, sich Fremdsprachen innerhalb weniger Monate anzueignen, hatte ihr unter den Archäologen einen Vorteil verschafft. Sie mochte es, sich an den Einheimischen zu üben. Während sie in der Schlange stand, verwickelte sie die Menschen in Gespräche: Bauern über den grausig regenlosen Sommer und Teenager über ihre Tischfußballstrategien. Um die Wahrheit zu sagen, genoss sie es mehr, mit den Afrikanern zu sprechen, als mit ihren eigenen Leuten, deren kannibalischen Klatsch übereinander sie unerträglich langweilig fand.

Über ihre Schulter hinweg flüsterte ein äthiopischer Mann in gebrochenem Englisch: «Sie sind die englische Lady, ja? Von der Ausgrabung im Tal.»

Sie wandte sich dem Fremden zu. Er war groß und schlaksig und trug Levi’s Jeans, die über den Knöcheln endeten, eine Kette mit einer silbernen Menelik-Münze als Anhänger und eine alte Yankees Baseballmütze. Sie schätzte ihn als einen typischen Profiteur aus der Gegend ein, der gefälschte Antiquitäten für alles Fremde – bevorzugt amerikanisch – eintauschte. Sie zwang sich zu einem steifen Lächeln, antwortete aber nicht.

«Ich kann Ihnen helfen. Ich kenne einen Ort mit alten Dingen.»

«Hören Sie, Mister …»

«Ejigu.» Er streckte seine Hand aus. «Sehr schön, Sie zu treffen.»

«Hören Sie, Ejigu, ich will nicht unhöflich sein, aber ich brauche Ihre Hilfe nicht. Danke trotzdem.»

«Schauen Sie das.» Er holte zwei Keramikfragmente aus seiner Tasche, wobei er verstohlen über seine Schulter blickte.

Sarah bemühte sich darum, desinteressiert zu wirken, während sie die Scherben begutachtete. Eine trug verblasste geometrische Muster – Rautenbahnen, stilisierte vertikale Linien, kleine Kreise mit Kreuzen darin –, die alle in Ockergelb gezeichnet waren. Die andere war schwarz und weiß mit fließenden Schnörkeln. Sie ließ ihre Finger über den freigelegten Lehm der zerbrochenen Kante gleiten. Sie war glatt, als wäre sie vor langer Zeit geborsten und längst wieder von der Erde ausgehärtet worden. Viertes oder fünftes Jahrhundert schätzte sie aufgrund der Symbolik. Insbesondere die Kreuze deuteten auf die nachchristlichen aksumitischen Zivilisationen hin, die hierzulande irgendwann nach dem Jahr 320 verbreitet gewesen waren. «Woher haben Sie das?»

Ejigu war deutlich zufrieden mit sich selbst, dass er ihr Interesse geweckt hatte. «Ist Geheimnis», flüsterte er in pseudoverstohlener Manier. «Aber wenn englische Lady wissen will …»

Er rieb Zeigefinger und Daumen in der universalen Geste des Geldes aneinander.

Sarah schüttelte den Kopf und lachte. «Nein, danke, mein Freund. Ich arbeite für eine Universität. Das bedeutet, dass ich kein Geld habe, das ich Ihnen geben könnte.»

Ejigu musterte sie von oben bis unten. «Das ist eine schöne Uhr», sagte er, während er auf die ramponierte Timex an ihrem Handgelenk deutete. «Sie geben mir und ich bringe Sie, wo Sie diese Dinge finden.»

«Sie haben mehr von dieser Art gesehen?»

«Oh, ja, Lady. Viel, viel mehr.» Er weitete die Augen.

Sarah schmunzelte, um ihm zu zeigen, dass sie das für eine Übertreibung hielt. Sie traute ihm nicht, aber die Scherben interessierten sie genug, um das Ganze einen Schritt weiterzutreiben.

Die voluminöse äthiopische Dame hinter der Scheibe bellte Sarah an, ihr Gequatsche zu beenden und ihre Bestellung aufzugeben.

«Hören Sie, ich muss los. Wenn Sie es ernst meinen, treffen Sie mich morgen hier. Sie bringen mich zu Ihrem Fundort, und wenn Ihre Behauptung wahr ist, dann verspreche ich, Sie zu entlohnen.»

Sie gaben sich die Hand darauf, und Sarah lief zum Bestellfenster.

 

***

 

Am nächsten Nachmittag wartete Sarah bei Tigrinya. Ihre anständige englische Erziehung riet ihr, niemals einem Einheimischen zu vertrauen, besonders nicht an einem Ort wie Äthiopien, wo alles für den richtigen Preis gekauft oder verkauft werden konnte. Doch ihre amerikanische Seite fiel genauso schwer ins Gewicht. Nachdem ihre Eltern sich hatten scheiden lassen, war sie mit ihrer Mutter nach New York gezogen und hatte ein Internat in Connecticut besucht. In dieser rücksichtslos wetteifernden Umgebung hatte sie ihre Instinkte geschärft. Sie hatte gelernt, wie man Menschen einschätzte und sie bei ihren eigenen Spielchen austrickste. Diese Raffinesse «made in America» leistete ihr in der Praxis gute Dienste. Ganz bestimmt hatte sie keine Angst vor Ejigu. Sie betrachtete ihn als einen kleinen Gauner, einen Kerl, der auf einen schnellen Dollar aus war und sich dann dem nächsten Handel zuwandte.

Obwohl sie bezweifelte, dass viel dabei herauskäme, würde sie trotzdem gehen. Die meisten anderen Archäologen – ganz gewiss ihre Kollegen aus Cambridge – würden es niemals in Betracht ziehen, Hinweisen von Eingeborenen zu folgen, welche sie alle als raffgierige falsche Propheten betrachteten. Sie andererseits hatte keine derartigen Vorurteile. Obwohl sie sich darüber im Klaren war, dass neunundneunzig Prozent dieser Versprechungen leer waren, hatte sie ein Gespür für das restliche eine Prozent, und das Leben hatte ihr beigebracht, ihrem Gespür zu folgen.

Ejigu war pünktlich. Für eine Wanderung angezogen – mit zerrissenen Jeans und schlammverkrusteten Nike-Schuhen mit limonengrünen Schnürsenkeln, die er offensichtlich bei einem Touristen eingetauscht hatte – gesellte er sich zu Sarah an einen hölzernen Picknicktisch unter einem Baum abseits der die Zeit vertrödelnden Einheimischen.

Sie zündete sich eine Zigarette an und offerierte auch ihm eine. «Also», sagte sie in einem argwöhnischen Tonfall. «Wo gehen wir hin?» Sie sprach amharisch, damit sie nicht für eine unwissende Auswärtige gehalten wurde.

Ejigu deutete in Richtung der Berge, nördlich des Tals, in dem Sarahs Expedition stationiert war. «Da oben. Nicht einfach zu finden. Sie müssen klettern.»

Sie klappte ihr tragbares Fernglas auseinander, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Das Gelände, felsig und ausgedörrt, ging langsam in das Vorgebirge über und gipfelte in steilen, von den Winden aufgerauten Felswänden. Auf einer der weit entfernten Klippen stand ein fachgedecktes Steinbauwerk. Sarah konnte es nicht genauer erkennen. «Was ist das für ein Gebäude?»

Sie kannte die Legende des Klosters. Es war eine der von den neun Heiligen, die das Christentum in Äthiopien verbreitet hatten, gebauten Kirchen. Abuna Aregawi, einer jener Neun, hatte sein Ordenshaus hoch auf eine Klippe gestellt, wo kein gewöhnlicher Mensch es erreichen konnte. Selbst die Mönche, die dort lebten, hatten keinen leichten Zugang. Jedes Mal, wenn sie das Kloster verließen, um Wasser zu holen oder sich auf Meditation zu begeben, mussten sie über ein geflochtenes Lederseil herabsteigen, das von der Felswand herabhing, und auf demselben Weg auch wieder hinauf.

Die exilartige Lage war nicht unbeabsichtigt; der Ort war dazu bestimmt, von der Welt abgeschieden zu sein. Debre Damo beherbergte wichtige illuminierte Handschriften und fantastische religiöse Gemälde, und die Äthiopier betrachteten diesen Platz als heilig. Sarah hatte ihn schon lange sehen wollen, wusste aber, dass es unmöglich war, denn bis zu diesem Tag war es Frauen nicht erlaubt, in dessen geweihten Bereich vorzudringen.

«Diese Dinge, ich finde in Höhlen auf der Straße zu Debre Damo», fuhr Ejigu fort. «Es ist sehr reich. Töpferei, Münzen, Glas …»

«Glas?» Sarah war überrascht. Laut aksumitischer Geschichte waren Glaswaren nicht in Äthiopien hergestellt, sondern vielmehr aus Ägypten und Syrien importiert worden. Sie waren kompliziert zu befördern und sehr teuer und wurden daher nur von den wohlhabenden Klassen verwendet. Derartige Objekte könnten Hinweise auf die schwer auffindbare Grabanlage bieten. Das reizte sie.

«Ja, gefärbtes Glas», sagte er. «Blau, gelb … Sie werden sehen.»

Am Ende könnte doch etwas dran sein. «Dann lassen Sie uns gehen.» Sie drückte ihre Zigarette im dünnen Aluminiumaschenbecher aus. «Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.»

 

***

 

Nach einer Fahrt Richtung Norden zu den Gebirgsausläufern wanderten sie stetig aufwärts, bis sie das Hochland erreichten. Sarah benötigte keine Pause, hielt aber an, um die Aussicht auf sich wirken zu lassen. Unter ihr, im Süden, lag das Tal der Stelen, wo ihre Kollegen in ihrer Abwesenheit mit den Grabungen fortfuhren. In der Ferne erhoben sich die stummen Ruinen einer antiken Anlage, welche die Einheimischen gerne als den Palast der Königin von Saba bezeichneten, obwohl Archäologen sie auf das siebte Jahrhundert datiert hatten, lange nach Sabas Zeit. Die Äthiopier liebten ihre Legenden und die Wissenschaft konnte ihren Glauben nicht entmutigen. Ein paar hundert Meter über ihrem jetzigen Standpunkt befanden sich die berüchtigten Granitklippen mit ihrem Netzwerk von Höhlen; manche davon natürlichen Ursprungs, manche nicht. Sie war erpicht darauf, sie zu erkunden, bevor das Licht schwand.

«Die Töpfereien, sie sind in einer Höhle auf dem Gipfel dieses Berges.» Ejigu deutete in die Richtung ihres Ziels. «Kommen Sie. Hier entlang.» Er führte sie über ein Findlingsfeld zu einem schmalen Pfad, der die kahle Klippenwand hinaufführte. Der Weg wand sich um die Felskante und war kaum breit genug, dass ein Mensch darauf stehen konnte. Ein Abgrund auf der anderen Seite fiel steil zu noch mehr Felsen hin herab.

Daran gewöhnt, immer einen Schritt vorauszudenken, rechnete sich Sarah aus: Wenn sie abrutschte, könnte sie versuchen ihren Fall zu bremsen, indem sie sich an den knorrigen Wurzeln der Kossobäume festhielt, welche dort – unmöglicherweise – zwischen den Steinen wuchsen.

Ejigu beschritt den Pfad mit der Leichtigkeit eines Menschen, der entweder keine Angst kannte oder das Leben zu gering schätzte. Mit dem Rücken an der Felswand schob er sich Zentimeter um Zentimeter, einen Fuß nach dem anderen, seitwärts wie eine Krabbe nach oben.

Sarah folgte ihm widerwillig. Schweißperlen bildeten sich jedes Mal auf ihrer Stirn, wenn das lockere Gestein und der Kies nachgaben.

«Ein paar Meter noch», kündigte Ejigu an und ließ ein grauzahniges Grinsen aufblitzen. «Fast da.»

Sarah atmete tief durch und konzentrierte sich. Auf dem letzten Stück des Pfades gab es keinen Halt. Der Felsen war von den Elementen glatt poliert worden. Sie richtete ihren Blick auf den Horizont. Wenn sie nach unten sah, könnte sie ihren festen Stand verlieren. Mittlerweile schwitzte sie richtig, teilweise wegen der Hitze, aber hauptsächlich aus Sorge. Ihre Hände waren klamm und rutschig am Stein, aber sie konnte sie nicht an ihrem Bandana abwischen, welches sie für ein ebensolches Szenario um ihr Handgelenk gewickelt hatte.

«Lady. Nicht bewegen.» Ejigu sprach leise, war aber eindeutig beunruhigt. «Ein Skorpion. Vor Ihren Füßen. Halten Sie still, dann wird er Ihnen nichts tun.»

Der Skorpion kletterte auf Sarahs Stiefel. Von dort krabbelte er ihr Bein hinauf.

Sie blieb bewegungslos und ruhig. Sie hatte genug Zeit an abgelegenen Orten verbracht, um zu wissen, dass sich ein Skorpion von Bewegung bedroht fühlen und zustechen würde. Unbeweglichkeit könnte ihn tatsächlich dazu verleiten, sie für einen Teil der Landschaft zu halten.

Mit eingerolltem und wie ein Lasso über ihrem Kopf baumelnden Schwanz schob sich die lästige schwarzgepanzerte Kreatur langsam nach oben, überquerte Sarahs Bauch und erreichte schließlich ihren nackten Hals. Die Haare standen ihr zu Berge, als sie zuerst seine Scheren über ihre Haut streifen, und dann seine acht haarigen Beine, eins nach dem anderen, über ihren Hals schreiten spürte. Ein Stich in die Halsschlagader wäre tödlich.

Sie wägte ihre Möglichkeiten ab. Sie könnte ihn mit einer schnellen Bewegung wegschnipsen, die sie mit Sicherheit ihre Balance verlieren und den Abhang hinunterfallen ließe, oder sie könnte nichts tun und hoffen, dass sich das auszahlen würde.

Obwohl es ihr vor der Aussicht darauf graute, eine tödliche Dosis neurotoxischen Gifts injiziert zu bekommen, bewahrte sie Ruhe. Was sie jedoch nicht kontrollieren konnte, war der Schweiß, der an ihrem Haaransatz entlangrann und den Konturen ihres Gesichts bis hin zu ihrem Kiefer folgte. Ihr Herz hämmerte doppelt so schnell, während sich die Szene in Zeitlupe abspielte. Ein einzelner Tropfen fiel von ihrem Kinn auf den Kopf des Skorpions.

Er hob seinen Stachel.

In dem Sekundenbruchteil, ehe er angreifen konnte, beförderte sie ihn mit einem rückhändigen Fingerschnippen von ihrem Körper. Sie hatte keine Zeit nachzusehen, wo er landete, da der Boden unter ihr abbröckelte und sie den steinigen Hang hinunterrutschte. Sie griff nach dem Felsen, um wenigstens einen kleinen Halt zu bekommen, aber die Klippe war zu steil und ihr Fall zu schnell. Ein zerklüftetes Stück Granit riss ihr die Innenseite des linken Arms vom Bizeps bis zur Handinnenfläche auf, doch sie war zu vollgepumpt mit Adrenalin, um Schmerz zu spüren.

Sie blickte über ihre Schulter, um das Terrain zwischen sich und der felsigen Abbruchkante, die mit nervenaufreibender Geschwindigkeit auf sie zukam, zu sondieren. Sie erspähte den geschwärzten, löchrigen Ast eines uralten Kossobaums, griff danach und schaffte es, ein Büschel Blätter zu erwischen. Die Schwerkraft erlaubte es ihr nicht, ihren Halt zu festigen, doch die Bewegung verlangsamte sie und brachte ihr Zentrum gerade so sehr ins Schleudern, dass es sie auf Kollisionskurs mit der üppigen Astkonstruktion des Baumes brachte.

Es funktionierte. Ihr Fall war gestoppt, zumindest so weit, dass sie die Kontrolle wiedererlangte. Jetzt konnte sie die Felsen passieren und es in einem Stück bis zur Abbruchkante hinunterschaffen.

Ejigu rief ihr von oben zu: «Lady, bleiben Sie. Ich komme runter.»

«Nein. Es ist zu gefährlich.»

Es nützte nichts. Ejigu kletterte mit der Geschicklichkeit einer Bergziege herab.

In der Zwischenzeit ließ Sarah sich langsam nach unten. Als sie in sicherer Entfernung war, ließ sie die Wurzeln los und sprang auf den Vorsprung, wo sie wie ein Sack Steine auf der Seite landete. Dieser letzte Sturz presste ihr die Luft aus den Lungen. Einen Augenblick lang glaubte sie, dass sie sterben würde.

Langsam normalisierte sich ihre Atmung wieder und Sarah überprüfte den Schaden. Ihre zerrissenen Kleider waren von frischem Blut befleckt und aus ihrem linken Arm tröpfelte noch mehr Blut auf die Steine. Ihre Stirn pochte so heftig, dass sie es in ihren Fingerspitzen spüren konnte.

Sie versuchte sich zu bewegen, doch da es zu sehr wehtat, hielt sie es für klüger, sich gegen die Felsen zu lehnen und auf Ejigu zu warten. Sie befürchtete, dass ihre Verletzungen sie davon abhalten könnten, mit der Ausgrabung fortzufahren. Dämliche Närrin, schimpfte ihre innere Stimme, du hättest es wirklich besser wissen sollen.

Ejigu erreichte die Abbruchkante mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Seine Fähigkeiten in diesem unwirtlichen Gelände beruhigten Sarahs Verstand ein wenig und sie gestattete sich selbst die schwache Hoffnung, es vor dem Einbruch der Nacht von hier wegzuschaffen.

«Geht es Ihnen gut, Lady?» Er schreckte zurück. «Sie sehen sehr schlecht aus.»

«Schöntuerei hilft jetzt auch nichts mehr», sagte sie und ließ sich von ihm auf die Füße helfen. «Vielleicht hätten Sie mir sagen sollen, dass wir eine Kletterausrüstung brauchen.»

«Entschuldigung. Entschuldigung.»

Sarah löste das Bandana von ihrem Handgelenk und hielt es fest gegen ihre Wunde. Sobald die Blutung unter Kontrolle war, lehnte sie sich gegen einen Steinhaufen, um sich zu stabilisieren und Kräfte für den Rückweg zu sammeln. Sogar in ihrem durchgeschüttelten Zustand konnte sie nicht anders, als die Symmetrie des Gebildes zu bewundern. Die Steine vor ihr waren säuberlich gestapelt, als ob sie von den Steinmetzen der Natur in die Felswand gekeilt worden wären. Doch etwas an dem ordentlichen Muster war merkwürdig. Sie sah genauer hin, konnte es aber nicht begreifen. Sie wusste nicht, ob sie der Schmerzen wegen fantasierte und sich Dinge einbildete, aber hinter einem Wurzelgewirr befand sich etwas, das wie eine Gravur im Stein aussah: ein grober Umriss des koptischen Kreuzes vielleicht, oder eine Variation davon.

Sarah sah zu Ejigu, der hinter ihr Kieselsteine ins Nichts warf. Dann wandte sie sich der Verzierung zu, schob ihre Hand hinter die Wurzeln, um die Oberfläche des Steins zu erreichen. Sie fuhr mit den Fingern in die Rillen des Symbols. Es war rissig, von der Zeit und den Elementen abgetragen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

Ejigu klatschte, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. «Hallo? Wir müssen bald gehen. Die Sonne wird verschwinden.»

Er hatte recht. Die Sonne begann ihren Abstieg hinter den Bergen. In Kürze würde es dunkel sein und sie hatten noch eine gut zweistündige Wanderung vor sich.

Während Sarah Ejigu abwärts folgte, verfluchte sie ihre Neugier auf jedem Schritt des Weges.

 

***

 

In dieser Nacht, nachdem sie dem städtischen Arzt einen Besuch nach Feierabend abgestattet und mit einer Unzahl von Schmerzmitteln zum Lager zurückgekehrt war, saß Sarah vor ihrem Laptop und zeichnete das Symbol aus dem Gedächtnis nach. Jetzt war sie nicht mehr so sicher, dass es ein koptisches Kreuz war. Ungleich des Crux ansata, des symbolischen Kreuzes der koptisch-christlichen Kirche, besaß dieses zwei Kreise, einer im Inneren des anderen, und ein Kreuz, das den inneren Kreis in vier gleich große Teile dividierte. Der Stab der Kraft, die vertikale Linie, die sich von der Mitte des Kreises erstreckte, war unterbrochen. Sarah war sich nicht sicher, ob das absichtlich der Fall war oder der Erosion von möglicherweise hunderten von Jahren zugeschrieben werden musste. Sie zog ihre Online-Enzyklopädie über Symbole zurate, entdeckte aber nichts, das exakt so aussah.

So sehr sie auch Gefallen daran fand, Dinge selbst herauszufinden, so hatte sie doch keine andere Wahl, als die Symbologen in Cambridge hinzuzuziehen. Sie scannte ihre Zeichnung ein und schickte sie per E-Mail an Stanley Simon, den Leiter der archäologischen Fakultät der Universität.

 

Professor:
Fand dieses Symbol eingeritzt in eine Felswand auf dem Weg nach Debre Damo. Variation des koptischen Kreuzes – oder nicht? In der gleichen Gegend befand sich ein etwas zu perfekt gestalteter Steinhaufen. Mein Instinkt sagt, er ist menschlichen Ursprungs. Plane, morgen mehr zu erkunden. Ihre Meinung?
S.W.

 

***

 

Unter dem Einfluss von Schmerzmitteln schlief Sarah fest bis 5:30 Uhr am nächsten Morgen. Als ihr Telefon klingelte, war sie desorientiert und hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Instinktiv nahm sie den Hörer ab und betrachtete ihn, als sei er ein außerirdisches Objekt. Sobald sie sich gesammelt hatte, konzentrierte sie sich auf die Anruferkennung: Stanley Simon. Erschrocken realisierte sie, dass sie noch immer in Aksum war und eine Stunde länger als üblich geschlafen hatte. «Professor», krächzte sie. «Ich nehme an, Sie haben meine E-Mail erhalten.»

«Sie klingen schrecklich.» Die Stimme am anderen Ende war schroff und griesgrämig; der übliche Tonfall des Professors, wenn ihm etwas missfiel. «Sind Sie eben erst aufgewacht?»

«Das ist eine lange Geschichte. Ich hatte gestern ein paar Schwierigkeiten.»

«Ich bin nicht sicher, ob ich das wissen will. Was haben Sie überhaupt auf den Klippen getan? Die Grabkammer befindet sich im Tal. Oder haben Sie das vergessen?»

«Nein, Sir. Ich meine … das war ein kleiner Abstecher. Ich bin einem Hinweis nachgegangen.»

«Ein Abstecher? Ein Hinweis?» Seine Stimme überschlug sich. «Sarah, muss ich Sie daran erinnern, was zu tun man Sie nach Aksum geschickt hat? Ist Ihnen klar, dass Sie fünf Monate lang vor Ort sind und schon eine halbe Million Pfund von UNESCO-bewilligtem Geld verbraucht haben? Eine Menge Personen werden dieser Expedition wegen langsam unruhig. Sie wollen Ergebnisse sehen. Ich kann Sie nicht weiterhin herausreden, besonders nicht, solange Sie herumflanieren und wahllosen Hinweisen aus dubiosen Quellen nachjagen.»

«So ist es nicht. Ich habe die Artefakte gesehen. Sie waren echt. Ich fand, dass das zu überprüfen ein paar Stunden meiner Zeit wert wäre.»

«Junge Dame, es ist Ihnen vielleicht nicht bewusst, aber wir sind mit unserem Geldgeber ein wenig in Schwierigkeiten geraten. Die UNESCO wird sehr ungeduldig. Man will einen Berater schicken.»

«Wie bitte?»

«Sie haben mich verstanden. Man hat Daniel Madigan nach Aksum entsandt. Er sollte in einer Woche eintreffen.»

Daniel Madigan – diesen Namen kannte sie. «Sie meinen diesen selbstgefälligen Amerikaner? Ist der denn nicht damit beschäftigt, in der ein oder anderen Dokumentation aufzutreten?»

«Ob Sie das gut finden oder nicht, Dr. Madigan ist einer der führenden Gelehrten bezüglich der Region Saudi-Arabiens. Tatsächlich befindet er sich gerade mit einer Gruppe der König-Saud-Universität im Leeren Viertel, und sie kommen ausgezeichnet voran … anders als andere.»

Sie erinnerte sich daran, die Berichte über die Arbeit des Kulturanthropologen in Qaryat-al-Fau, der antiken Stadt unter dem Sand Arabiens, gelesen zu haben. Das Projekt hatte ihm weltweites Ansehen verschafft, nicht zuallerletzt, weil er einen IMAX-Film über seine Untersuchungen produziert hatte und auch darin aufgetreten war. «Schön. Ich werde mitspielen. Aber wenn er mit einer Filmcrew auftaucht, bin ich weg.»

«Sarah, ich bitte Sie, blamieren Sie die Universität nicht. Ich weiß, dass es für Sie schwer zu verstehen ist, aber hier steht recht viel auf dem Spiel.»

Simons herablassender Tonfall ging Sarah auf die Nerven; sie tat ihr Bestes, um das zu ignorieren. «Professor? Ich nehme nicht an, dass Sie das Symbol überprüft haben, das ich Ihnen geschickt habe?»

«Natürlich habe ich es überprüft. Die Jungs von der Theologie halten es ganz und gar nicht für ein Crux ansata. Da waren sie sehr bestimmt. Das koptische Kreuz hat nur einen Kreis. Ein Doppelkreis wie dieser besitzt keinen theologischen Symbolismus. Ideogramme konzentrischer Kreise wurden zwar auf prähistorischen Felsmalereien in der Sahara gefunden, aber jene waren heidnische Symbole.»

«Aber was ist mit dem Kreuz? Das hat bestimmt religiöse Signifikanz. Besonders wenn man seine Nähe zum Kloster in Betracht zieht.»

Simon schnaubte. «Sarah, hören Sie auf meinen Rat und vergessen Sie das Ganze. Ihre momentane Aufgabe fordert Ihnen genug ab. Sie haben keine Zeit für Abstecher. Verstehen Sie das?»

Das verstand sie ganz ausgezeichnet, aber ihrer Faszination konnte sie sich dennoch nicht verweigern. Sie legte auf, genervt darüber, dass der Professor sie nach all den Jahren noch immer wie ein Kind behandelte. Er hatte sie zwar schon als Kind gekannt – er und ihr Vater, Sir Richard Weston, waren Sandkastenfreunde gewesen, Studienkollegen an der Universität, und Forscher in den Hochregionen des Himalajas –, aber das gab ihm nicht das Recht, sie herablassend und ewig belehrend zu behandeln.

So vertraut er mit ihrem Vater war, hatte sich Simon doch nie für Sarah erwärmen können. Tatsächlich betrachtete er sie als eine Art Querdenker. Als er darauf bestanden hatte, dass sie die Aksum-Expedition leiten sollte, und damit der gängigen Meinung zuwiderhandelte, welche einen routinierteren, bevorzugt männlichen Experten am Steuer eines derart wichtigen Projekts verlangte, war sie selbst verblüffter gewesen als jeder andere. Sie hatte sich gefragt, ob ihr Vater irgendetwas damit zu tun hatte, ihre Bedenken jedoch für sich behalten. Sie wollte es sich mit dieser Magie nicht verscherzen – welcher Art auch immer diese sein mochte –, die ihr die Möglichkeit verschafft hatte, auf die sie so lange warten musste.

Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht und erneuerte den Verband an ihrem genähten Arm. Eines Tages mochte ihre Neugier ihr Untergang sein, aber zurückhalten konnte sie sich nicht.

Sie vernahm ein Klopfen an der Tür.

«Sarah? Hier ist Aisha. Geht es Ihnen gut? Die Crew wartet schon seit einer Stunde auf Anweisungen.»

Sarah öffnete die Tür.

Einer verwirrten Gazelle gleich starrte das Mädchen auf den verwundeten Arm ihrer Chefin.

«Ich bin okay. Sag der Mannschaft, sie sollen östlich der AB-Stele weitergraben. Dann hol Dennis und Marcus und pack ein Seil und die Karabiner ein. Wir werden einen kleinen Spaziergang unternehmen.»

 

Drei

 

Sarah protokollierte gerade die am Vortag von der Crew zutage beförderten Metallwerkzeuge und Münzen im Labor, als eine Autohupe die Stille des Sommermorgens zerschnitt. Das konnte nur eines bedeuten – nur ein Amerikaner würde seine Ankunft auf solch unhöfliche Weise ankündigen.

Sie beobachtete durch das Fenster, wie Daniel Madigan aus einem verbeulten blauen Land Cruiser stieg. Er sah genau so aus wie in seinen Dokumentarfilmen: eine kräftige Gestalt mit markantem Kinn in staubigen Kaki-Shorts und einem ausgewaschenen T-Shirt eines alten Smiths Konzerts. Ein Schlangentattoo wand sich um seinen linken Bizeps. Seine Haare, die seinen Nacken umspielten, waren ein Durcheinander kastanienbrauner leichter Wellen mit grauen Strähnen an den Schläfen, die auf seine Vierzig-und-ein-paar-Jahre hinwiesen. Von der arabischen Sonne zu einer Tabakschattierung gebräunt und mit der schlanken und muskulösen Statur eines Menschen, der im Freien arbeitete, wirkte er wie ein Rockstar mittleren Alters. Er griff in den Fond des Land Cruisers und holte zwei armeegrüne Reisetaschen und ein Computergehäuse aus Aluminium heraus. Er würde eine Weile bleiben.

Sarah verschloss die Labortür hinter sich, als sie nach draußen ging, um ihn zu begrüßen. «Hallo, Dr. Madigan. Willkommen in Aksum.»

«Wie ich sehe, wissen Sie, wer ich bin», sagte er in dem gedehnten Tonfall eines Südstaatlers. «Ich bin nicht sicher, ob das gut oder schlecht ist.»

Sie brachte ein angespanntes Lächeln zustande. «Tja. Sie bedürfen keiner Vorstellung. Ihr Ruf eilt Ihnen voraus.»

Sein Blick wanderte langsam an ihrem Körper hinab. «Genau wie Ihrer. Sie sind Lord Westons Tochter, nicht wahr?»

Sarah zuckte zusammen. Sie hasste es, wenn Menschen von ihr als Lord Westons Tochter sprachen, als ob sie keinen eigenen Wert besäße. Der Vergleich mit ihrem legendären Vater, einem blaublütigen Aristokraten und Mitglied des House of Lords des britischen Parlaments, verfolgte sie überall hin, sogar bis zu diesem staubigen Berggipfel im abgelegensten Afrika. Sie bemühte sich, ihre Entrüstung nicht zu zeigen. «Sie kennen meinen Vater?», fragte sie mit falscher Höflichkeit.

«Wir trafen uns letztes Jahr auf der Spendenveranstaltung für Medecins Sans Frontières.» Daniel verunstaltete das Französische mit seinem Tennessee-Akzent. «Furchtbarer Abend. Wenn Ihr Vater nicht gewesen wäre, wäre ich nach der Foie gras gegangen. Der Mann ist ein fantastischer Geschichtenerzähler.»

«Ich bin sicher, Sie haben sehr viel mit ihm gemeinsam», sagte sie, wobei sie ihren Sarkasmus gekonnt verbarg.

«Zwei Männern mit einer Leidenschaft für das Erforschen gehen nie die Gesprächsthemen aus. Tatsächlich war ich zwecks einer Dinnerparty in seinem Haus in Belgravia, kurz bevor ich in die Wüste aufbrach. Ich bin überrascht, dass er Ihnen nichts davon erzählt hat.»

«Mein Vater und ich haben ein ganzes Zeitalter lang nicht miteinander gesprochen. Vielmehr war ich mit meinen eigenen Projekten beschäftigt. Nun, also … ist dies Ihr erster Aufenthalt in Äthiopien?»