Renate Behr

Anonymus@
Werne Krimireihe Band 4 

Kommissar Wischkamp

Renate Behr


anonymus@


Werne Krimireihe 4
Kommissar
Wischkamp




Kriminalhauptkommissar Jens Wischkamp saß gemeinsam mit seiner Frau Silvie beim Frühstück. Allerdings sah er von seiner Frau nicht allzu viel. Das hübsche Gesicht mit den rotblonden Locken versteckte sich hinter dem Lokalteil der Tageszeitung.

Vorsichtig tippte er von der Rückseite dagegen.

»Was gibt es denn so Fesselndes in unserer reizenden Kleinstadt Werne, dass du mich nicht einmal mehr ansehen magst?«, fragte er grinsend.

Silvia Wischkamp errötete leicht.

»Ach, nichts Besonderes. Ich habe hier nur gerade einmal wieder einen Artikel über diesen jungen Schriftsteller aus Werne gelesen. Der hat schon wieder einen neuen Kriminalroman geschrieben.«

»Ach ja?«

Das Interesse von Jens Wischkamp hielt sich deutlich in Grenzen. Nicht, dass er nicht gern einmal ein gutes Buch lesen würde. Aber es musste nicht unbedingt ein Krimi sein, denn damit hatte er von Berufs wegen nun mal schon genug zu tun. In seiner Freizeit wollte er von Mord, Totschlag, Erpressung und ähnlichen Dingen verschont bleiben. Ganz anders seine Ehefrau. Die verschlang Kriminalromane geradezu.

»Hör doch mal zu, Jens. Dieser Herr Schober veranstaltet eine Lesung aus seinem neuen Roman in diesem entzückenden kleinen Café am Markt. Das wird sicher ungeheuer spannend. Können wir hingehen? Bitte1«

Eigentlich konnte Jens seiner Frau eigentlich keinen Wunsch abschlagen. Trotzdem stöhnte er

»Muss das wirklich sein, Silvie? Du weißt, dass mich Krimis nicht sonderlich interessieren. Wann soll das denn stattfinden?«

Triumphierend grinste seine Frau ihn an.

»Übernächsten Mittwoch und in dieser Woche hast du Urlaub, mein Liebling. Bitte, tu mir den Gefallen und komm mit. Ich mag nicht gern allein da sitzen. Und es dauert ja auch nur ungefähr eine Stunde. Bitte.«

Jens Wischkamp gab sich geschlagen.

»Also schön, dann besorge eben die Karten. Ich werde das schon überstehen. Aber eines sage ich dir, wenn der Kerl Schwachsinn schreibt, werde ich ihm sagen, wer ich bin und was ich von seinem Buch halte.«

Silvie Wischkamp lächelte. Sie hatte natürlich gewusst, dass Jens ihr zuliebe mitgehen würde. Und sie hatte schon einige Bücher von Maximilian Schober gelesen, der wusste genau, wie er seine Leser zu fesseln vermochte. Und sachliche Fehler, nein, die waren Silvie auch nicht aufgefallen. Ein wenig konnte sie da ja schließlich auch mitreden, sie war ja mit einem Kriminalbeamten verheiratet. Da bekam man schon eine Menge mit.

Die Woche verging wie im Flug. Jens Wischkamp hatte auch im Kommissariat in Unna nicht allzu viel zu tun. Er freute sich auf seine Woche Urlaub, die er ruhigen Gewissens antreten konnte. Kein offener Fall lag da, der ihm vielleicht die Ruhe hätte rauben können. Wäre da bloß nicht diese blöde Autorenlesung, zu der seine Frau ihn unbedingt schleppen wollte. Darauf hätte er nun wirklich gern verzichtet. Aber was tat man nicht alles für den Menschen, den man liebte? Irgendwie würde er die Zeit schon überstehen. Ein oder zwei Stückchen Sahnetorte und ein guter Kaffee, und dann wäre ja auch schon alles vorbei.

In der Lokalredaktion der örtlichen Tageszeitung saßen Chefredakteur Walter Zwirbel und sein junger Praktikant zusammen.

»Chef, die Lesung von dem Schober, kann ich dahin gehen?«

Lukas Möller sah seinen Redakteur gespannt an. Der überlegte einen Moment.

»Das wäre dein erster Außenauftrag, den du ganz allein erledigst. Traust du dir das denn zu?«

»Ich bin ein echter Fan von Maximilian Schober und habe bisher jedes Buch von ihm gelesen. Wenn Sie meinen, dass ich das nicht hinkriege, kann ich ja einen Fragenkatalog vorbereiten. Also ehrlich, Chef, den Schober, den finden wir bestimmt irgendwann auf der BestsellerListe. Diese Krimis gehen einem wirklich unter die Haut.«

Walter Zwirbel grinste. So eine Begeisterung hatte er gar nicht erwartet. Ihm kam das ja auch ganz gelegen, denn genau an dem Abend fand im Kolpinghaus in Werne ein Doppelkopf-Turnier statt und da wollte Walter Zwirbel mitspielen. Er klopfte Lukas Benning auf die Schulter.

»Einverstanden, dann geh du mal da hin und schreibe einen schönen Bericht. Im Augenblick ist ja rein gar nichts los in Werne, ich halte dir für Donnerstag eine halbe Seite im Lokalteil frei. Aber der Bericht muss noch am Abend geschrieben werden, klar?«

Lukas Benning nickte. In Gedanken war er schon dabei, die Fragen zu entwerfen, die er seinem Idol Maximilian Schober stellen wollte. Hoffentlich war der zugänglich für Presseinterviews. Aber andersherum, der brauchte doch schließlich die Werbung in der Zeitung. Es würde schon schiefgehen und Lukas Benning nahm sich vor, gleich ein Exemplar des neuen Schober-Krimis zu kaufen. Bis zur Lesung war noch Zeit genug, das Buch durchzulesen und dann auch dazu ein paar fundierte Fragen zu stellen.

Jens rührte in seiner Kaffeetasse. Das Café füllte sich langsam und zum dritten Mal blieben seine Augen auf dem auffälligen Plakat hängen.

»Autor Maximilian Schober liest aus seinem aktuellen Kriminalroman „Ein Stückchen Tod“.«

Innerlich musste Jens grinsen. Er mochte nun mal keine Krimis, unter anderem deshalb, weil die meisten Autoren eine unbegrenzte Fantasie entwickelten, die auch vor der Polizeiarbeit nicht haltmachte. Manchen von denen würde er wünschen, einfach mal einen Tag in einem Kommissariat zu verbringen und zu sehen, womit sich ein Kriminalbeamter normalerweise so rumschlagen musste. Aber er hütete sich, diesen Gedanken im Beisein seiner Ehefrau auszusprechen. So, wie er Silvie kannte, würde die bestimmt nicht zögern, diesem Maximilian Schober ein solches Angebot zu unterbreiten und dann hätte er den Kerl am Hals. Nein, dazu hatte Kriminalhauptkommissar Wischkamp wahrhaftig keine Lust. Und überhaupt, dieser Titel „Ein Stückchen Tod“. Wahrscheinlich blutrünstig und unrealistisch, tat er jeden weiteren Gedanken an dieses Buch ab.

Maximilian Schober war immer noch sehr nervös und aufgeregt vor jeder Lesung. Für ihn würde das niemals zur Routine werden, da war er sich sicher. Es war aber auch sehr schwierig, aus einem Kriminalroman Texte herauszusuchen, die die Zuhörer zu fesseln verstanden und trotzdem nicht zu viel verrieten. Bisher war ihm das immer gut gelungen, aber würde es auch dieses Mal funktionieren? Man konnte sich schließlich niemals sicher sein. Hier in seiner Heimatstadt war Maximilian einigermaßen bekannt. Das war sicher auch der Grund dafür, dass die Lesung bereits nach wenigen Tagen ausverkauft war.

»Langsam müssen wir mal etwas Überregionales machen«, hatte sein Verleger in der letzten Woche gesagt.

Eigentlich wollte Schober das auch, aber er hatte auch gleichzeitig Angst davor, in einer fremden Stadt vielleicht vor leeren Stühlen lesen zu müssen. Trotzdem, sein Traum war es, als Autor erfolgreich zu sein. Er würde seine Ängste und die Nervosität in den Griff bekommen müssen, sonst konnte er seinen Traum vergessen. Die Qualität seiner Bücher hatte sich langsam, aber stetig verbessert und er hatte schon eine kleine Fangemeinde, die ungeduldig auf jedes neue Buch wartete. Davon zeugten die vielen Gästebucheinträge auf seiner Homepage. Über die meisten freute er sich wirklich, aber es gab auch ein paar Einträge, die ihm zu denken gaben.

Insbesondere ein Fan, der sich im Gästebuch immer nur als „Anonymus@“ eintrug, machte ihm ein wenig Angst. Zwar lobte auch dieser Fan seine Bücher in den höchsten Tönen, forderte ihn aber immer wieder auf, aggressivere Werbung für seine Bücher zu machen. Inzwischen beschränkte er sich auch nicht mehr darauf, Einträge im Gästebuch zu verfassen. Er schrieb E-Mails an den Autoren, in denen er Schober immer wieder aufforderte, endlich einmal etwas Außergewöhnliches zu unternehmen, um seine Romane besser bekannt zu machen. Maximilian Schober hatte keine Ahnung, was dieser Typ sich so vorstellte oder dachte. Als wenn das so einfach wäre. Er war doch immer schon sehr froh, wenn die Eintrittskarten für seine Lesungen gut verkauft wurden.

Und gerade heute hatte er nun eine E-Mail von Anonymus@ erhalten, der ihn sehr beunruhigte.

»Ich freue mich auf die Lesung heute in Werne, und weil ich Ihren Namen noch immer nicht in der überregionalen Presse oder auf irgendeiner Bestsellerliste finde, habe ich mich entschlossen, Ihnen bei der Vermarktung Ihres Buches behilflich zu sein. Gerade der neue Roman „Ein Stückchen Tod“ bietet dazu ideale Möglichkeiten. Nein, ich werde Ihnen nicht verraten, was ich im Einzelnen vorhabe, aber Sie können sicher sein, dass Ihnen ein durchschlagender Erfolg ins Haus stehen wird.

Anonymus@«

Dieser merkwürdige Fan seiner Krimis würde also bei der Lesung in Werne zugegen sein. Ob er sich zu erkennen geben würde? Und was mochte er vorhaben? Immer wieder hatte Maximilian Schober darüber nachgedacht, wieso gerade der aktuelle Krimi so gut geeignet wäre für einen Fan, etwas Entscheidendes für eine bessere Vermarktung zu tun, aber ihm wollte einfach nichts Passendes einfallen. Sein Roman war natürlich reine Fiktion, seiner ureigenen Fantasie entsprungen. Und sein Verleger tat, was in seinen Kräften stand, um die Werbung für Maximilian Schober und seine Bücher voranzutreiben. Wahrscheinlich erlaubte sich da jemand nur einen bösen Scherz mit ihm. Er beschloss, jeden weiteren Gedanken an diesen merkwürdigen Gästebucheintrag aus seinem Kopf zu verbannen und statt dessen jetzt da raus zu gehen und mit seiner Lesung zu beginnen.

Jens Wischkamp sah sich den Autoren genau an. Ziemlich mickrig, dachte er etwas hämisch. Der muss sich wohl was beweisen und schreibt deshalb blutige Kriminalgeschichten. Aber schon nach wenigen Minuten nahm ihn die ruhige und besonnene Stimme von Maximilian Schober gefangen. Jens ertappte sich dabei, dass er aufmerksam lauschte. Da hatte sich der Autor ja wirklich Gedanken gemacht. Ganz offensichtlich hatte er ziemlich genaue Recherchen darüber angestellt, wie ein Kapitalverbrechen bei der Kriminalpolizei bearbeitet wurde. Es war spannend, tatsächlich spannend, und als der Autor nach dreißig Minuten die erste Pause machte, stellte Jens mit Verwunderung fest, dass sein Kaffee inzwischen kalt geworden war. Das hatte er nun überhaupt nicht erwartet.

Lukas Benning schob sich nach vorn und stellte sich kurz vor. »Herr Schober, wir würden gern morgen einen ausführlichen Bericht über diese Lesung bringen und ich hätte da ein paar Fragen an Sie. Würden Sie die lieber jetzt beantworten oder erst am Ende der Lesung?«

»Nein, wir können das gern jetzt in der Pause erledigen. Was möchten Sie denn wissen?«

Lukas Benning stellte zunächst einmal die allgemein üblichen Fragen. Wie war er zum Schreiben gekommen, warum schrieb er ausgerechnet Kriminalromane, woher kamen die Ideen und so weiter. Maximilian Schober beantwortete jede Frage ausführlich und freundlich.

»Herr Schober, war es schwierig, einen Verlag für Ihre Romane zu interessieren?«

Schober nickte.

»In Deutschland ist es leider so, dass man als Nachwuchsautor kaum eine Chance bekommt. Die großen Verlage wollen auch große Namen. Einen Namen kann man sich als Autor aber nur machen, wenn man auch die Chance zur Veröffentlichung bekommt. Das ist wie eine Spirale, aus der man nicht herauskommt. Man braucht eine Menge Geduld, aber ich bin der Ansicht, ein gutes Manuskript setzt sich irgendwann durch. Ich hatte einfach Glück, das es bei mir so schnell ging.«

Lukas Benning bedankte sich artig und machte noch einige Fotos. Dann griff er in seinen Rucksack und zog den neuen Schober-Krimi heraus.

»Würden Sie mir mein persönliches Exemplar von „Ein Stückchen Tod“ bitte signieren, Herr Schober? Eine Widmung „für Lukas“ wäre toll. Ich bin nämlich ein großer Fan Ihrer Bücher.«

Maximilian fröstelte ein wenig. Ein großer Fan war er also? Ob das dieser seltsame Anonymus@ war? Ach was, das war ein Volontär der örtlichen Presse und es war doch toll, dass der seine Bücher so gern mochte. Schwungvoll schrieb er Widmung und Signatur in das Buch von Lukas Benning. Dann setzte er seine Lesung fort.

Auch vom zweiten Teil war Jens Wischkamp sehr angetan. Auf dem Heimweg lächelte er seine Frau an.

»Eigentlich hatte ich ja keine Lust auf diese Veranstaltung. Aber der Mann ist echt gut. Ich meine, ich fand diese Lesung ziemlich spannend und er hat gut recherchiert, das findet man selten. Du musst also kein schlechtes Gewissen haben, ich habe mich prima amüsiert. Vielleicht werde ich das Buch sogar lesen.«

Maximilian Schober schloss die Tür seiner Wohnung auf und atmete tief durch. Die Lesung war sehr erfolgreich gewesen, das Café bis auf den letzten Platz besetzt. Er hatte mindestens zwanzig Bücher verkauft und signiert. Er ging in die kleine Küche und nahm eine Flasche Chablis aus dem Kühlschrank. Er trank gern einen gut gekühlten trockenen Weißwein, das war so ziemlich der einzige Luxus, den Maximilian sich leistete. Sein Anrufbeantworter blinkte.

Maximilian drückte auf den Abhörknopf und zuckte schmerzhaft zusammen, als er die schrille Stimme seiner Mutter vernahm. Sie beschwerte sich wieder einmal, dass er es nicht für notwendig hielt, sie zu besuchen. Maximilian seufzte. Er nahm sich vor, seine Mutter am nächsten Tag anzurufen. Es stimmte schon, er drückte sich vor diesen Besuchen, wann immer es möglich war. In den Augen seiner Mutter war er doch ohnehin ein Versager. Bücherschreiben, das war für sie eine brotlose Kunst und sie hatte ja auch ein wenig Recht, denn leben konnte er vom Verkauf seiner Bücher noch nicht. Deshalb verdiente er sich etwas dazu, indem er für einige Werbeagenturen als Texter und Korrektor arbeitete. Es reichte zum Leben und mehr verlangte Maximilian Schober gar nicht. Aber dafür hatte seine Mutter natürlich kein Verständnis. Die Söhne ihrer Freundinnen aus dem Bridge-Klub waren Doktoren, Rechtsanwälte oder Geschäftsführer. Sie schämte sich für Maximilian, bestand aber trotzdem darauf, dass er sich regelmäßig bei ihr sehen ließ.

Der junge Autor war langsam weitergegangen in Richtung Wohnzimmer. Sein Blick fiel auf den Bildschirm seines Computers:

Sie haben eine E-Mail bekommen!

Er setzte sich vor den Bildschirm und öffnete sein E-Mail-Programm. Als er den Absender las, wurde ihm kalt. Schon wieder dieser Anonymus@. Widerwillig las Maximilian den Text:

Die Lesung heute hat mich sehr inspiriert, lieber Herr Schober. Aber wieder war nur die örtliche Presse anwesend und sie haben sich sogar erdreistet, nur einen Praktikanten zu schicken. Das wird Ihrem Können nicht gerecht, mein Lieber. Sie haben Anspruch auf mehr, auf viel mehr Beachtung. Aber machen Sie sich keine Gedanken darüber, ich werde das jetzt für Sie in die Hand nehmen. In ein paar Wochen, das verspreche ich Ihnen, kennt ganz Deutschland Sie und Ihre Bücher.

Vertrauen Sie mir.

Anonymus@

Dieser Spinner, dachte Maximilian Schober. Da war er also heute bei der Lesung dabei und ich habe ihn nicht erkannt. Er ließ die Gesichter der Menschen Revue passieren, die sein Buch gekauft hatten und es ihm zum Signieren vorlegten. Ein großer Teil davon waren Frauen gewesen. Eine Frau kam für diese E-Mails ganz sicher nicht infrage. Oder vielleicht doch? Maximilian Schober wusste aus Erfahrung, dass Frauen ziemlich exzentrisch sein konnten. Und bösartig! Wieso fiel ihm ausgerechnet jetzt wieder der Anruf seiner Mutter ein?

Dann war da dieser junge Mann von der Tageszeitung gewesen, aber auch das war mehr als unwahrscheinlich. Alle anderen Gesichter, an die er sich erinnern konnte, waren nichtssagend und unauffällig gewesen. Vielleicht hatte er ja gar kein Buch gekauft, sondern sich nur die Lesung angehört, um zu sehen, wie sie ablief. Und weil er mit dem Erfolg ja ganz offensichtlich nicht zufrieden gewesen war, schrieb er jetzt wieder eine dieser Nachrichten.

Maximilian wusste, dass es sinnlos war, darauf zu antworten. Die E-Mail kam von einem sogenannten no-reply-account, eine Direktantwort war nicht möglich. Die ersten Mails von diesem Anonymus@ hatte er einfach gelöscht. Aber mit der Zeit war ihm die ganze Sache doch etwas unheimlich geworden. Er hatte also einen Ordner angelegt, in dem er diese Mails sammelte. Es waren inzwischen schon über zwanzig Nachrichten in diesem Ordner und Maximilian schob auch diese dazu. Dann beschloss er, diesen merkwürdigen Fan einfach zu vergessen.

Die Woche Urlaub war wie im Flug vergangen. Jens Wischkamp hatte ein wenig im Garten gearbeitet, gemeinsam mit seiner Frau in der Sonne gelegen und zwei Mal waren sie an den Ternscher See zum Baden gefahren. Der Frühsommer dieses Jahr war sonnig und warm. Aber nun hatte der Alltag ihn wieder.

»Guten Morgen, Urlauber«, begrüßte ihn Verena Schneider. Seine Kollegin hatte hier im Kommissariat in Unna die Stellung gehalten, aber es war nichts Aufregendes passiert in der letzten Woche.

»Schön, dass es ruhig war. Ich hoffe, das bleibt noch eine Weile so. Wenn das Wetter so gut ist, sollten die Menschen was Anderes im Kopf haben als Mord und Totschlag, meinst du nicht auch?«

Verena Schneider nickte. Da konnte sie ihrem Kollegen nur recht geben. Aber sie wusste auch, dass Kriminelle keine Rücksicht auf das Wetter nahmen. Und für ihre Begriffe war es schon viel zu lange so ruhig gewesen. Irgendetwas lag in der Luft. Manchmal hatte sie einfach so Vorahnungen. Ihre Kollegen lachten darüber, deshalb behielt Verena das auch meistens für sich. Aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass die augenblickliche Ruhe trügerisch war und sie bald alle Hände voll zu tun bekommen würden.

»Was hast du denn in deiner Urlaubswoche so getrieben, mein Lieber?«

Jens grinste seine Kollegin an.

»Das wirst du mir sowieso nicht glauben, Schneiderlein. Neben der Gartenarbeit, die ich mir ja vorgenommen hatte, hat meine Frau mich dazu überredet, sie zu einer Autorenlesung von diesem Maximilian Schober aus Werne zu begleiten.«

Verena Schneider prustete los.

»Der schreibt doch Krimis, richtig? Du und eine Lesung aus einem Kriminalroman. Das hätte ich gern gesehen. Hast du bis zur Pause durchgehalten oder bist du schon vorher auf ihn los?«

Jens Wischkamp lachte. Die Kollegin kannte ihn doch wirklich besser als er dachte.

»Du wirst es nicht glauben, aber das war echt spannend. Der Typ hat sich wirklich die Mühe gemacht, zu recherchieren, wie die ganz normale Polizeiarbeit so abläuft. Silvie hat alle Bücher von ihm zu Hause, das sind inzwischen immerhin sieben Stück und ich habe dann nach der Lesung damit begonnen, sie zu lesen. Zugegeben, der erste Teil war recht langweilig. Da hatte ich irgendwie so das Gefühl, dass er Angst vor der eigenen Courage hatte. Aber ab dem zweiten Teil wurden die Bücher echt Klasse. Der hat eine Art zu schreiben, die packt einen wirklich an. Die Bücher sind echt gut. Solltest du mal lesen.«

Verena Schneider schüttelte den Kopf. Lesen, das war so gar nicht ihr Ding. Sie verbrachte ihre freie Zeit entweder im Fitness-Studio oder im Kino. Dass Jens sich für Kriminalromane derart begeistern konnte, war für sie allerdings sehr überraschend. Dieser Schober musste sein Handwerk also wirklich verstehen. Naja, vielleicht würde sie sich doch einmal eines dieser Bücher holen.

In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Die Polizeiwache in Werne verlangte Kommissar Wischkamp.

»Wischkamp hier, was kann ich für euch tun, Kollege?“

»Naja, wir haben uns gedacht, es ist ja ziemlich ruhig im Augenblick und wir haben hier einen etwas merkwürdigen Vorfall. Ist nicht wirklich was für euch, aber du wohnst ja in Werne und da habe ich gedacht, ob du auf dem Heimweg vielleicht mal vorbeikommen könntest?«

»Um was geht es denn, Christian?«

»Eigentlich fällt es in den Bereich Sachbeschädigung. Das ist ja leider so, wenn ein Tier zu Schaden kommt, auch wenn die Besitzer immer sehr entsetzt reagieren, wenn ich das so sage. Also, es geht um eine tote Katze.«

»Eine tote Katze? Also wirklich, Christian. Was kann denn an einer toten Katze so merkwürdig sein, dass du glaubst, ich sollte mich damit beschäftigen?«

»Ja, ich weiß, das hört sich echt blöd an, Jens. Aber du solltest dir die Fotos ansehen, wie man das arme Tier zugerichtet hat. Und dann war da auch noch eine Nachricht dieses perversen Tierquälers, mit der ich so gar nichts anfangen kann. Sieht aus, wie eine Seite aus einem Buch oder einer Zeitschrift. Mir wäre echt wohler, du würdest da mal draufgucken.«

Jens seufzte.

»Also schön, ich komme nachher vorbei. Aber nur, weil der Kaffee bei euch immer so lecker ist. Sorg dafür, dass genug frischer Kaffee da ist, sonst kriegst du Ärger, mein Lieber.«

Grinsend legte Jens Wischkamp den Hörer auf. Verena sah ihn fragend an.

»Die haben in Werne eine tote Katze gefunden, wahrscheinlich verstümmelt. Dabei befand sich eine Nachricht, wie Christian sagte. Ich bin allerdings eher der Ansicht, dass die da zufällig ein Stück Altpapier aufgelesen haben. Der Kollege ist noch jung, also tue ich ihm den Gefallen und fahre nachher dort vorbei. Aber irgendjemand wird dem ganz schnell klarmachen müssen, dass die Wache in Werne solche Dinge alleine regeln muss, es sei denn, das wird so eine Art Ripper-Geschichte und dieser Perverse tötet von jetzt an Katzen am laufenden Band. Darauf gibt es aber noch keine Hinweise.«

Jens Wischkamp tauchte am Nachmittag wie versprochen in der Werner Polizeiwache am Bahnhof auf. Dampfender, frischer Kaffee wartete auf ihn. Der junge Kollege zeigte ihm Fotos von einer Katze.

»So sah das arme Tier aus, als es noch gesund und munter bei seinen Besitzern weilte.«

Jens sah eine braun getigerte kleine Katze mit weißen Pfoten und einem rosa Näschen. Dann legte Christian ihm die Fotos vor, die ein Polizeibeamter im Garten der Besitzer geschossen hatte, nachdem diese die Polizei angerufen hatten.

Jens musste schlucken.

»Das ist ja ekelhaft. Wer kommt denn nur auf solch eine perverse Idee?«

Eines der Fotos zeigte das Fell der Katze, auf den anderen Bildern erkannte man, dass jemand die Katze in viele Teile zerlegt hatte. Sogar die Augen hatte man dem Tierchen aus dem Schädel geholt. Jens wurde übel. Er wandte sich ab.

»Ein Foto musst du dir noch ansehen, Jens.«

Christian Brückner schob ihm eine Gesamtaufnahme der aufgefundenen Körperteile zu. Widerwillig sah Jens auf das Foto. Mit einem fragenden Blick hob er den Kopf.

»Ja, uns ist es auch zuerst nicht aufgefallen. Aber sieh mal«, Christian Brückner nahm ein Duplikat des Fotos, auf dem er mit einem Filzstift die Umrisse des Tierkadavers nachgezeichnet hatte. Vor den Augen des Kommissars erschien das Wort »Puzzle«.

Jens schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Das ist wirklich unglaublich. Wenn ich den Kerl in die Finger kriegen würde ...» (Wieder das gleiche ... war und würde bitte weglassen - „ Christian Brückner nickte. Dann schob er eine Plastiktüte über den Tisch, in dem sich ein Papierfetzen von etwa 5  cm Breite und 3  cm Höhe befand. Es sah wirklich aus wie ein Stück einer Buch- oder Zeitschriftenseite.

Mit klopfendem Herzen nahm er das Messer zur Hand. Das kleine Lebewesen sah ihn mit großen, schreckerfüllten Augen an. Er griff nach den Lederhandschuhen, schließlich wollte er sich nicht .....

Mehr war nicht zu lesen. Jens wurde nachdenklich. Etwas an diesen Sätzen kam ihm bekannt vor, aber konnte auf Anhieb nicht sagen, was es war.

»Das sieht ja ganz so aus, als hätte unser Täter nach einer Vorlage gearbeitet. Das ist doch krank, einfach nur krank.«

Christian Brückner nickte.

»Zumindest glaubst du jetzt nicht mehr, es sei ein belangloses Stück Altpapier, was wir da gefunden haben.«

»Nein, ganz sicher nicht. Der Täter hat das absichtlich so platziert, dass ihr es finden musstet. Aber ehrlich, Christian, ich weiß nicht, wie ich euch dabei helfen kann. Wenn solche Fälle gehäuft auftreten, was der Himmel verhüten möge, dann kann ich tätig werden, aber so? Es ist leider genauso, wie du schon am Telefon gesagt hast. Nach den Buchstaben des Gesetzes haben wir es hier mit einer Sachbeschädigung zu tun und dafür bin ich nicht zuständig. Haltet aber die Augen offen und wenn das noch einmal passiert, ruf mich sofort an. Dann werde ich sehen, was wir tun können, um dem Kerl das Handwerk zu legen.«

Jens machte sich auf den Heimweg. Die Bilder der toten Katze verfolgten ihn. Und immer wieder überlegte er, wo er diese Sätze auf dem Papierfetzen schon gehört oder gelesen haben könnte, aber es wollte ihm nicht einfallen.

Silvie wartete bereits mit dem Essen auf ihn. Forschend sah sie ihm ins Gesicht.

»Du siehst so nachdenklich aus, mein Lieber. Ist etwas passiert? Am Telefon hast du doch gesagt, es sei alles ruhig.«

»Ist es in Unna auch. Aber ich war noch kurz auf der Wache in Werne. Hier treibt wohl ein Katzenfänger sein Unwesen. Heute früh hat man eine tote Katze gefunden und die war grausam zugerichtet. Ich denke jetzt darüber nach, wie krank ein Mensch im Kopf sein muss, einem wehrlosen Tier so etwas anzutun.«

Silvie strich ihm übers Haar. Sie wusste, dass ihr Mann sehr tierlieb war. Dass ihm so etwas unter die Haut ging, konnte sie also gut verstehen. Also versuchte sie, ihn abzulenken.

»Komm, lass uns essen. Und danach machen wir beide einen schönen Spaziergang, das wird dich sicher auf andere Gedanken bringen.«

Er saß auf seinem Stuhl, die Hände vor sich auf dem Tisch und beobachtete das Flackern der vielen Kerzen. Hier, in seinem kleinen Refugium, wollte er kein elektrisches Licht haben. Die Kerzen gaben dem Raum eine fast unwirkliche Atmosphäre. Niemand wusste von diesem Raum, hier war er ganz allein mit sich und seinen Plänen. Er lächelte. Es hatte begonnen. Er erinnerte sich an das Herzklopfen, dass er gestern Morgen verspürt hatte. Er hatte es sich leichter vorgestellt, das auszuführen, was er sich vorgenommen hatte. Aber es musste sein. Er würde sich überwinden. Und wer wusste es schon, vielleicht würde er es bald sogar genießen können.

Vielleicht wäre es besser, es noch ein zweites Mal zu probieren, nur so zur Sicherheit. Denn der gewünschte Erfolg war ausgeblieben. Zwar gab es in der Zeitung einen kurzen Bericht, aber offensichtlich hatte die Polizei seinen Hinweis überhaupt nicht verstanden. Da stand nichts davon, wie liebevoll er alles arrangiert hatte. Da stand nichts davon, wie viel Mühe er sich gegeben hatte, Aufmerksamkeit zu erregen. Und von dem Teil der Buchseite hatten sie auch nicht berichtet.

Diese ignoranten Kleinstädter wollten oder konnten offensichtlich gar nicht verstehen, dass er ihnen ein Kunstwerk hinterlassen hatte, das einem ganz besonderen Zweck geweiht war.

Hässlich lachte er auf. Die würden schon sehen, wohin sie das führte. Sie würden ihn nicht lange ignorieren können, da war er sich sicher. Er würde schon dafür sorgen, dass ihnen die Augen geöffnet wurden. Und wenn diese beschauliche kleine Stadt nicht der richtige Schauplatz für sein Vorhaben war, nun, dann würde er sich in einer anderen Region umschauen müssen.

Er nahm das Buch zur Hand, aus dessen Mitte er einen Papierfetzen herausgerissen hatte, um der Polizei einen entscheidenden Hinweis zu liefern. Einen Hinweis, der dazu führen sollte, dass ein Name genannt wurde. Nein, nicht sein Name, dazu war er viel zu vorsichtig. Ihn würden sie niemals erwischen. Aber sie sollten erkennen, woher er seine Ideen bezog. Das würde dazu führen, dass man den, für den er dies alles tat, endlich so wichtig nahm, wie es ihm zustand. Vorsichtig, um die anderen Seiten nicht zu beschädigen, löste er ein weiteres Stück aus dieser Seite heraus.

Dann begann er, seine Tasche zu packen. Er brauchte Handschuhe, um sich nicht zu verletzen. Diese kleinen Biester waren so widerspenstig und kratzten und bissen. Das Messer, das er gestern gründlich gereinigt hatte, würde er wieder verwenden. Den neuen Papierfetzen packte er sorgfältig ein eine Plastiktüte. Bei all diesen Vorgängen hatte er dünne Latexhandschuhe an. Niemand sollte seine Fingerabdrücke finden können. Denn dass sie irgendwann nicht mehr umhin konnten, alles auf Fingerabdrücke zu untersuchen, das war ihm schon klar. Er musste schlucken. Er wusste, dass er weitergehen musste auf dem Weg, den er eingeschlagen hatte. Und er hatte Angst davor. Ein Tier, das war eben nur ein Tier. Aber damit würde es nicht getan sein. Damit hatte es begonnen, aber aufhören würde es damit nicht. Und es kamen ihm Zweifel, ob er wirklich in der Lage sein würde auszuführen, was er sich vorgenommen hatte.

Dann aber griff er wieder zu dem Buch. Da stand seine Rolle in kleinen schwarzen Buchstaben auf weißem Papier gedruckt. Er würde diese Rolle spielen, genau nach den Vorgaben des Buches. Er würde dieses Werk lebendig werden lassen. Durch ihn wurde diese Fiktion zur Realität. Dann würde niemand mehr daran vorbeigehen können. Jeder würde sie lesen wollen, diese Romane, von denen er eines als Drehbuch für seine Taten benutzt hatte. Jeder würde wissen wollen, wie es weitergeht. Eigentlich waren sie es selbst schuld. Wenn sie, genau wie er, von Anfang an erkannt hätten, welches Genie in dem Schreiber dieser Zeilen steckte, dann wäre es gar nicht notwendig, dass er sich so engagierte. Aber sie waren dumm, unwissend, ungläubig. Er würde ihnen den Glauben bringen. Den Glauben daran, dass alles, was da geschrieben stand, ganz leicht Wirklichkeit werden konnte.

Er nahm die Polaroid-Fotos zur Hand, die er nach der Vollendung seiner Tat gemacht hatte. Das Arrangement war ihm wirklich gut geglückt, aber diese bornierten Beamten hatten das offensichtlich gar nicht zur Kenntnis genommen. Nun, beim nächsten Mal würden sie es tun müssen.

Er stockte. Eigentlich hatte er sich ja überlegt, woanders hinzugehen. Aber konnte er dann sicher sein, dass ein anderer Polizist die Augen besser aufmachte? War es nicht vielleicht doch sinnvoller, noch einmal hier zuzuschlagen?

Er wurde unsicher. Er hatte sich seinen Plan so schön zurechtgelegt und nun musste er so viel nachdenken. Nachdenken versursachte ihm immer starke Kopfschmerzen. Das mochte er nicht. Er hatte ein Ziel und das wollte und musste er erreichen. Nun gut, einmal noch würde er der örtlichen Polizei hier die Chance geben zu erkennen, dass sie die Hinweise, die er ihnen lieferte, nicht übersehen durften. Heute Abend würde er sich noch einmal auf die Suche machen. Und spätestens übermorgen müsste dann in der Zeitung doch ein Hinweis zu finden sein. Er brauchte diesen Hinweis, um dem Anderen zu beweisen, dass sein Plan funktionierte. So, wie er es versprochen hatte.

Wieder war eine ruhige Woche im Kommissariat der Kripo in Unna fast zu Ende. Ein paar kleinere Wohnungseinbrüche, zu denen Jens Wischkamp gerufen wurde und ansonsten hatte er endlich Zeit gefunden, alte Berichte aufzuarbeiten und seinen üblichen Papierkram zu erledigen. Jens Wischkamp freute sich auf das Wochenende. Der Frühsommer war sehr sonnig in diesem Jahr und er wollte mit seiner Frau eine ausgedehnte Radtour durch das Münsterland unternehmen. Silvie wurde oft vernachlässigt, das wusste Jens Wischkamp genau. Aber sie hatte ja gewusst, worauf sie sich einließ, als sie zustimmte, einen Kriminalbeamten zu heiraten.

Jens hatte gerade seinen Schreibtisch aufgeräumt und den PC heruntergefahren, als Verena Schneider das Büro betrat. Im Schlepptau hatte sie Christian Brückner, den jungen Polizisten aus Werne, der Jens vor Kurzem um Hilfe gebeten hatte, als er eine tote Katze unter merkwürdigen Umständen gefunden hatte.

»Hallo Christian, was führt dich denn hierher nach Unna? Wenn du mich sprechen wolltest, hättest du doch nur kurz anrufen müssen. Eure Wache liegt doch quasi auf meinem Heimweg.«