Renate Behr

Silvias Flucht
Werne Krimireihe Band 1 

Kommissar Wischkamp

Renate Behr

silvias flucht


Werne Krimireihe 1
Kommissar
Wischkamp




»Und du bist dir wirklich ganz sicher, dass du das Richtige tust?«

Zweifelnd und mit leicht gerunzelter Stirn sah Margrit Bartels ihre Freundin an. Silvie lächelte, zuckte mit den Schultern und deutete auf den Stapel gefüllter Umzugskartons:

»Es wäre ein wenig spät, jetzt Zweifel zu bekommen, oder?«, fragte sie lächelnd.

Dann ging sie auf ihre Freundin zu und legte ihr den Arm um die Schultern.

»Nun zieh nicht so ein Gesicht. Ich wandere schließlich nicht nach Zentralafrika aus. Ich ziehe um, in eine entzückende kleine Stadt im Münsterland. Das sind mit dem Auto gerade einmal vier Stunden von Hamburg aus.«

Margrit seufzte. Vier Jahre hatte sie sich jetzt mit Silvie dieses Appartement geteilt. Nicht, dass sie es sich nicht leisten konnte, hier allein zu wohnen. Ihre Eltern waren immer überaus großzügig in finanziellen Dingen. Aber Silvies fröhliche und unbekümmerte Art würde ihr fehlen. Sie selbst war eher zurückhaltend, aber Zurückhaltung war für Silvie ein Fremdwort und irgendwie hatte sie Margrit immer mitgerissen.

»Ich weiß, ich weiß. Aber Münsterland, wer um alles in der Welt will schon dahin, wenn er in Hamburg leben kann. Ich verstehe es einfach nicht. Du hättest auch hier sicher einen Job als Fotografin bekommen, jetzt, wo deine alte Firma zugemacht hat.«

Silvie nickte.

»Klar hätte ich das. Aber wahrscheinlich wäre ich da eine unter vielen gewesen und genau das will ich nicht. Das Angebot aus Werne an der Lippe war einfach zu verlockend. Ich bin zwar angestellt bei dieser Frau Bockmann, aber es ist trotzdem mein Fotostudio, weil sie von der Materie gar keine Ahnung hat. Sie hat das Geschäft von ihrem verstorbenen Mann geerbt und ich soll es führen. Das wird sicher ungeheuer spannend.«

Margrit rümpfte schon wieder die Nase.

„»Spannend! Pah, was soll denn dort unter den ganzen Bauern schon spannend sein. Diese Stadt hat gerade einmal 37.000 Einwohner. Da gibt es nicht einmal ein Theater und in diesen Landdiscos wirst du auch nicht gerade einen Märchenprinzen treffen.«

Silvie musste lachen. Für Margrit bestand das Leben immer noch zum größten Teil aus Vergnügungen, mit ihrer Arbeit nahm sie es dagegen nicht ganz so genau. Als Designerin hatte sie in Papas Modesalon Narrenfreiheit und konnte kommen und gehen, wann sie wollte. Schade eigentlich bei dem Talent! Obwohl Silvie  zwei Jahre jünger war ihre Freundin, fühlte sie sich irgendwie erwachsener, Theaterbesuche und Tanzen kamen für sie jedenfalls nur am Wochenende in Frage. Margrit war eine talentierte Designerin, aber in Papas Modeatelier hatte sie „Narrenfreiheit“. Sie konnte kommen und gehen, wie sie wollte. Obwohl Margrit zwei Jahre älter war als sie selbst, fühlte Silvie sich irgendwie viel erwachsener. Sie nahm es Margrit schon ein wenig übel, dass sie sich so abfällig über ihr neues Domizil äußerte. Silvie seufzte. Ihre beste Freundin war eben ein echtes Großstadtkind und würde dem Landleben wohl nie etwas abgewinnen können. Sie hingegen freute sich auf den neuen Abschnitt in ihrem Leben und blickte aufgeregt in die Zukunft.

Silvie war in einem kleinen Bauerndorf in der Nähe von ClausthalZellerfeld im Harz aufgewachsen. Sie hatte sich dort immer sehr wohl gefühlt und deshalb freute sie sich auch so auf diese kleine Stadt im Münsterland.

Hamburg hatte sie erschreckt, als sie vor vier Jahren hierher gekommen war. Sie hatte damals gerade die Schule abgeschlossen und in Hamburg in einem Fotoatelier einen Ausbildungsplatz bekommen. Dort hatte sie auch Margrit kennengelernt. Sie hatten sich angefreundet und schon nach kurzer Zeit hatte Silvie ihr möbliertes Zimmer gegen die Wohngemeinschaft mit Margrit eingetauscht. Eine Wohngemeinschaft, die sie jetzt aber auch ohne großes Bedauern wieder aufgab. Sie sah auf ihre Armbanduhr.

»Wo Paul nur bleibt? Er wollte mit dem Transporter schon vor einer halben Stunde hier sein.«

Paul Becker, Margrits Freund, war Kriminalbeamter in Hamburg und hatte Silvie versprochen, sie mitsamt ihren Umzugskartons nach Werne zu fahren. Margrit hatte ursprünglich auch mitfahren wollen, aber dafür war in dem kleinen Transporter, den sich Paul geliehen hatte, einfach zu wenig Platz. Silvie war darüber auch nicht wirklich unglücklich. Sie freute sich auf ihr neues Zuhause, aber in Gedanken sah sie schon Margrits gerümpfte Nase beim Anblick der zwei winzigen Zimmer im Dachgeschoss eines alten Fachwerkhauses.

Wie aufs Stichwort öffnete sich die Tür.

Paul verbreitete gute Laune, wo immer er war.

»Hallo, Mädels. Alles startklar?«

Mit einem Schwung warf er die Tür ins Schloss und zog Margrit in seine Arme. Er küsste sie, streichelte ihr übers Haar und drehte sich dann zu Silvie um.

»Kann es losgehen mit dem Ausflug ins Mittelalter?«, fragte er grinsend.

»Wieso Mittelalter?«

»Na, ich habe mal im Internet ein wenig nachgeschaut. Sieht sehr ländlich aus die Gegend, und die historische Altstadt, die dein Werne da hat, ist sicher malerisch, wenn man Urlaub machen will, aber zum Wohnen? Also, ich weiß nicht. Ob du dir das wirklich gut überlegt hast?«

Er fragte das sehr ernsthaft, aber in seinen Augen blitzte ein Lachen auf und da wusste Silvie, dass er mit diesen Bemerkungen eigentlich eher seine Freundin Margrit ein wenig ärgern wollte.

Kurz entschlossen griff sie nach ihrer Jacke.

»Lass uns die Kartons runterschaffen und losfahren, du willst schließlich heute noch wieder zurück und am frühen Nachmittag kommen meine Möbel.«

Gesagt, getan. Selbst Margrit, die ansonsten jeder Arbeit eher aus dem Weg ging, packte mit an und in weniger als zwanzig Minuten hatten sie alles im Wagen verstaut. Draußen auf der Straße hatte Margrit dann tatsächlich Tränen in den Augen. Sie umarmte die Freundin ein letztes Mal und unterdrückte das aufkommende Mitleid.

»Hey, nun freu dich doch für mich. Und schließlich, ich bin ja nicht aus der Welt. Wenn es dir zu langweilig wird, setzt du dich einfach ins Auto und kommst mich besuchen. Und in vier Wochen, zu Pauls Geburtstag, komme ich zu euch. Wir telefonieren nachher, wenn wir angekommen sind.«

Energisch befreite sie sich dann aus der Umklammerung, klopfte Paul auf die Schulter und zeigte auf den Fahrersitz.

»Na, dann mal los. Tschüss, Süße. Ich melde mich nachher.«

Das waren die letzten Worte, die Margrit noch zu hören bekam. Falls sie etwas hätte sagen wollen, wäre das in dem Lärm des startenden Motors ohnehin untergegangen. Seufzend drehte sie sich um und ging zurück in ihr nun ziemlich leer wirkendes Appartment.

Die Autofahrt verging für Silvie wie im Flug. Paul erzählte gern und viel und oft musste sie sich vor Lachen den Bauch halten. Als Mann fand sie ihn zwar uninteressant, aber als Freund und Unterhalter war er einfach unbezahlbar. Ihr fiel plötzlich auf, dass sie Paul viel mehr vermissen würde als Margrit. Bei dem Gedanken daran war ihr nicht ganz wohl. Aber eigentlich war das doch völlig normal. Paul war unkompliziert und offen, genau wie Silvie. Margrit hingegen, als Tochter aus einem reichen Elternhaus, konnte manchmal ziemlich versnobt und zickig sein. Eine Eigenschaft, die Silvie hin und wieder völlig wahnsinnig gemacht hatte. Und dann dachte sie daran, dass sie jetzt zum ersten Mal seit vier Jahren wieder ganz allein sein würde. Sie kannte ja noch niemanden dort außer dieser Frau Bockmann, der das Fotostudio gehörte. Sie würde also ganz von vorn beginnen müssen, in jeder Beziehung. Sie wusste aus Erfahrung, dass es ihr nicht schwerfallen würde, sich einen Bekanntenkreis aufzubauen, aber Freunde? Würde sie Freunde finden in dieser kleinen Stadt? Freunde wie Margrit und Paul, auf die man sich immer verlassen konnte? Sie seufzte. Paul sah sie an.

»Na, was ist? Jetzt, wo wir gleich da sind, wird dir wohl doch ein wenig komisch, oder?«

Silvie lächelte.

»Ach was. Ich freue mich. Aber mir fiel gerade auf, dass ich euch beide sehr vermissen werde. Bekannte hat man schnell gefunden, aber wirkliche Freunde, das wird bestimmt nicht so leicht.«

Paul wischte ihre Bedenken mit einer Handbewegung zur Seite.

»Als du vor vier Jahren nach Hamburg gekommen bist, hast du auch keine Menschenseele gekannt. Und wie lange hat es gedauert, bis du bei Margrit eingezogen bist?«

Silvie lächelte. Er hatte ja recht, so wie immer. Sie würde auch in Werne Freunde finden. Sie war jung, energisch und eigentlich ganz liebenswert.

Abwarten und Teetrinken, das hatte ihre Großmutter immer gesagt. Und genauso wollte Silvie es jetzt halten. Abwarten, was da auf sie zukommen würde und mit offenen Augen durch die neue Welt gehen, die sich vor ihr auftat. Alles andere würde sich dann schon finden.

Sie hatten inzwischen die Autobahn verlassen und Silvie lotste Paul durch die Straßen in Richtung Innenstadt. Sie sah auf ihre Uhr. Noch knapp zwei Stunden, dann würden die Möbel kommen. Alles genau im Plan, so wie Silvie es gern hatte. Das kleine Haus, in dem sie die Dachgeschosswohnung gemietet hatte, lag mitten im historischen Ortskern von Werne am Roggenmarkt. Malerisch sah es aus, ein wenig schief, aber zwischen den dunklen Eichenbalken war es frisch gestrichen. Paul hatte angehalten und Silvie zeigte auf das Haus.

»So, da wären wir nun. Lass uns die Kartons nach oben bringen, dann kann ich mit dem Auspacken anfangen, sobald die Möbel da sind. Hoffentlich sind die pünktlich.«

Paul öffnete die Türen des Transporters und Silvie schloss die Haustür auf. Im Flur war es ziemlich dunkel und die Treppe war eng und steil. Es dauerte etwa eine Stunde, bis alle Kartons oben waren. Paul stand in dem kleinen Flur von Silvies Wohnung und sah sich um.

»Na, groß ist die Wohnung ja nicht gerade.«

»Das nicht, aber dafür sehr preiswert. Und für mich allein brauche ich nicht mehr.«

Silvie wollte jetzt einfach keine abfälligen Bemerkungen über ihr neues Zuhause hören, deshalb griff sie kurz entschlossen zum Geldbeutel und grinste:

»Ich besorg’ uns schnell was zu essen und zu trinken. Bleibst du bitte hier, falls die Möbel kommen?«

Paul nickte und hockte sich kurzerhand im Wohnzimmer auf den Fußboden. Die Wohnung war komplett mit Laminat ausgelegt, sodass Silvie sich um Teppiche erst einmal keine Gedanken machen musste. Als sie nach zehn Minuten mit Brötchen, Fleischwurst und Kakao in Flaschen zurückkam, fuhr gerade der Möbelwagen vor.

»Tach, junge Frau. Wo sollen die Sachen denn hin?«

Silvie lächelte.

»Ins Dachgeschoss und die Treppe ist ziemlich eng und steil.«

Der Möbelpacker grinste seinen Kollegen an.

»Das ist nun mal so, wenn man in so ein altes Haus einzieht. Na, denn woll’n wir mal.«

Die beiden mussten sich ganz schön quälen, aber sie hatten genug Erfahrung und so füllten sich die beiden Räume langsam. Silvie hatte sich für das Schlafzimmer weiße Möbel ausgesucht. Das Wohnzimmer bekam ein Sideboard aus Kiefernholz, eine kleine Couch und einen Sessel und einen runden Glastisch. Fernseher und Stereoanlage wollte Silvie sich in den nächsten Tagen neu kaufen.

Paul trat auf sie zu.

»Ich habe eben mit Margrit telefoniert und ihr gesagt, dass wir heil angekommen sind. Sie hat für heute Abend eine Einladung angenommen und deshalb sollte ich wohl besser gleich zurückfahren.«

Er zog Silvie in seine Arme, die jetzt zum ersten Mal richtig traurig wurde. Paul was das letzte Stückchen vertrauter Erinnerung gewesen und nun fuhr er zurück nach Hamburg und dann war sie wirklich ganz alleine hier.

Energisch schob sie die wehmütigen Gedanken beiseite.

»Danke, Paul, für deine Hilfe. Fahr vorsichtig und ruf mich nachher doch bitte noch kurz an, damit ich weiß, dass du gut zurückgekommen bist.«

Sie umarmte ihn, küsste ihn auf beide Wangen und schob ihn zur Tür hinaus. Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach 15.00 Uhr. Ihr Zeitplan war perfekt. Sie hatte die Küchenfirma gebeten, die Küche um 16.00 Uhr zu liefern und aufzubauen. Mit etwas Glück konnte sie sich heute Abend schon ihr erstes Essen kochen.


Unbenannt


An diesem Abend war Silvie schnell eingeschlafen. Sie war völlig erschöpft. Als sie am nächsten Morgen erwachte, sah sie sich in ihrem Schlafzimmer um. Ein wenig Dekoration noch und dieser Raum würde genau die Oase der Ruhe sein, die sie sich vorgestellt hatte. Sie stand auf und ging in die Küche. Ihr Geschirr hatte sie gestern Abend noch eingeräumt. Dann war ihr aufgefallen, dass sie ihre Kaffeemaschine in Hamburg vergessen hatte. Gestern Abend war das nicht so tragisch, aber ein Frühstück ohne Kaffee? Unmöglich.

Silvie zog sich an, nahm die Hausschlüssel und beschloss, auswärts zu frühstücken. Sie schlenderte vom Roggenmarkt auf den Kirchplatz und dann durch eine kleine Gasse direkt in die Fußgängerzone. Hier kannte sie sich schon ein wenig aus. Genau um die Ecke war das Fotostudio, in dem sie ab der nächsten Woche arbeiten würde. Sie sah sich aufmerksam um. Die Sonne schien und viele Menschen waren unterwegs. Aber es war nichts zu spüren von der Hektik, die in Hamburgs Innenstadt ständig herrschte. Hier schien jeder genug Zeit zu haben für ein Gespräch. Entschlossen ging Silvie auf eine Bäckerei zu. Sie hatten Tische und Stühle nach draußen gestellt. Silvie holte sich eine große Tasse Kaffee und zwei Brötchen. Damit machte sie es sich in der Sonne gemütlich und begann in Gedanken, ihren ersten Tag in Werne zu planen.

Zunächst einmal brauche ich ein Elektrogeschäft, dachte sie. Sie sah sich um, aber in der Fußgängerzone konnte sie nichts dergleichen entdecken. Also brachte sie ihre Kaffeetasse zurück in die Bäckerei und fragte einfach eine der Mitarbeiterinnen. Man erklärte ihr, dass sie nur um die nächste Ecke gehen müsse, da sei ein Elektrofachgeschäft, wo sie alles bekommen könnte, was sie brauchte.

Und richtig, schräg gegenüber vom Fotostudio Bockmann war das Geschäft. Die Bedienung war sehr freundlich und schon nach weniger als einer halben Stunde hatte Silvie alles gekauft, was ihr noch fehlte. Ein Mitarbeiter der Firma würde am Nachmittag den Fernseher und die Stereoanlage bringen und auch sofort anschließen. Die Kaffeemaschine nahm Silvie gleich mit. Den Rest des Vormittages verbrachte sie damit, die letzten Kartons auszupacken und ihre Wohnung zu dekorieren. Silvie sah sich in ihrer Wohnung um. Jetzt fehlen eigentlich nur noch ein paar Blumen, dachte sie. Sie sah aus dem Fenster. Das Wetter war noch immer schön. Sie würde jetzt erst einmal einen kleinen Rundgang durch ihre neue Heimatstadt machen und auf dem Rückweg einkaufen und ein paar Topfblumen besorgen. Und sie musste sich um ein Auto kümmern. Nicht, dass sie es hier unbedingt brauchte. Zur Arbeit konnte sie gut zu Fuß gehen, aber Silvie war gerne mobil und sie hatte in den letzten vier Jahren eine Menge sparen können. Vielleicht gab es in Werne ja sogar ein Autohaus, wo sie sich einen Wagen kaufen konnte. Von einer Nachbarin erfuhr sie, dass es am Stadtrand Richtung Lünen, kurz vor dem Gewerbegebiet einen Händler gab, der auch Kleinwagen im Angebot hatte. Silvie ließ sich den Weg erklären, verschob das Blumenkaufen kurz entschlossen auf später und machte sich auf den Weg. Nach ungefähr 20 Minuten hatte sie ihr Ziel erreicht und bereits nach einer weiteren halben Stunde war sie im Besitz eines kleinen roten Autos, dass sie schon am nächsten Tag abholen konnte. Manchmal war das Leben wirklich einfach.

Am nächsten Tag hatte sich Silvie mit Frau Bockmann verabredet. Sie trafen sich im Fotostudio.

»Herzlich willkommen, Frau Markbohm. Ich bin froh, dass Sie da sind. Die Neueröffnung des Geschäftes habe ich auf den kommenden Montag gelegt. Die örtliche Presse wird da sein und einen Artikel über Sie schreiben.«

Silvie lächelte. Sie mochte Frau Bockmann gern und sie wusste, dass sie weitgehend freie Hand hatte, was ihre Arbeit anbelangte.

»Presse?«, fragte sie trotzdem etwas irritiert.

»Eine Geschäftseröffnung oder eine Neueröffnung ist in Werne immer ein Ereignis. Sie werden noch feststellen, dass die Uhren hier bei uns ein wenig anders gehen als in der Großstadt, aus der Sie kommen.«

Dann führte Frau Bockmann Silvie herum, zeigte ihr die verschiedenen Ausrüstungen, die sie für ihre Arbeit benutzen konnte und das Sortiment an Waren, die zum Verkauf gedacht waren.

»Ich habe mir überlegt, dass ich zu Ihrer Unterstützung noch eine Halbtagskraft einstellen werde, die sich weitgehend um den Laden kümmern kann. Dann haben Sie ein wenig mehr freie Hand für kreative Dinge. Wissen Sie, mein Mann war immer viel mit der Kamera in und um Werne unterwegs. Sie sollen sich in dieser Hinsicht auch nicht eingeschränkt fühlen.«

Die Stimme von Frau Bockmann klang traurig und Silvie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Aber die Aussicht, sich nicht auch noch allein um den Verkauf im Laden kümmern zu müssen, war verlockend. Sie wollte gerade fragen, ob sie denn ein Mitspracherecht haben würde, da lächelte Frau Bockmann sie an.

»Natürlich werden Sie die Vorstellungsgespräche führen, damit möchte ich eigentlich nichts zu tun haben. Suchen Sie sich jemanden aus, mit dem sie gern arbeiten würden. Ich habe für Montag und Dienstag Termine gemacht, die stehen dort im Kalender. Wenn Sie sich entschieden haben, wen wir einstellen sollen, sagen Sie mir Bescheid, dann bereite ich den Arbeitsvertrag vor und komme ins Geschäft.«

Sie besprachen noch die Einzelheiten wie zum Beispiel das Gehalt für die Aushilfskraft und die Arbeitszeiten, dann überreichte Frau Bockmann Silvie einen Satz Ladenschlüssel.

»Dann können Sie sich in den nächsten Tagen hier schon einmal so einrichten, wie Sie es für richtig halten. Wenn etwas fehlt, besorgen Sie es. Man kennt mich hier in Werne, Sie werden alles auf Rechnung bekommen. Die Rechnungen bringen Sie mir dann einfach vorbei.« Silvie sah sie erstaunt an. Das war aber ein gehöriger Vertrauensbeweis, den ihre neue Arbeitgeberin ihr da entgegenbrachte.

Frau Bockmann lächelte.

»Ich denke, wir wissen beide, was wir voneinander zu halten haben. Die technische Ausrüstung dürfte perfekt sein, darauf hat mein Mann immer größten Wert gelegt. Aber was die Dekorationsartikel und Ähnliches anbelangt und auch das Sortiment, da war er eher unbeholfen. Und damit Sie sich besser fühlen, setze ich Ihnen ein Limit von fünftausend Euro. Einverstanden?«

Silvie war sprachlos und konnte nur nicken. Die Frau konnte offensichtlich Gedanken lesen. Und dann war sie allein in ihrem Fotostudio. Sie sah sich um. Etwas kahl und karg wirkte es ja schon, aber das würde sie mit der Zeit ändern. Nur nichts überstürzen. Für die Neueröffnung am Montag hatte sie sich schon etwas ausgedacht. Bereits in Hamburg hatte sie überlegt, wie sie Kunden bekommen könnte. Am Montag würde sie kostenlose Fotos anbieten, und zwar in Theaterkostümen. Aus einem Fundus in Hamburg hatte sie sich einige Kostüme mitgenommen. Jetzt fehlte nur eine passende Hintergrunddekoration. Silvie überlegte. Bis Montag, das war ja noch beinahe eine ganze Woche. Wenn sie ein paar schöne Fotos aus dem historischen Ortskern schießen würde und diese dann als Poster gestaltete, dann hätte sie ein prima Kulisse für ihre Fotoaktion.

Kurz entschlossen packte sie eine Kameratasche mit den notwendigen Utensilien und machte sich auf den Weg.

Die junge Fotografin war in ihrem Element. Sie fotografierte den Markplatz, das alte Rathaus, die Kirche und den Kirchplatz und den kleinen Park am Steintor. Als sie durch den Park ging, sah sie auf der anderen Seite einige wunderschöne Häuser. Aus der Entfernung machte sie einige Aufnahmen. Eines der Häuser, eine weiß geklinkerte Villa mit einem außergewöhnlich schönen, schmiedeeisernen Eingangstor fiel ihr besonders ins Auge. Vielleicht, dachte sie, wenn ich dem Eigentümer ein paar kostenlose Fotos anbiete, darf ich ein paar Aufnahmen aus der Nähe machen. Und da sie keineswegs schüchtern war, steuerte sie sofort auf das Eingangstor zu, die Kamera noch in der Hand. Sie sah sich suchend um und legte dabei die Hand mit der Kamera auf das Tor.

»Was zum Teufel haben Sie hier zu suchen? Nehmen Sie sofort die Kamera weg.«

Silvie zuckte vor Schreck zusammen. Wie aus dem Nichts war ein Mann vor ihr aufgetaucht, der sich jetzt drohend vor ihr aufbaute. Hastig trat sie einen Schritt zurück. Es hatte auf sie gewirkt, als wollte er ihr die Kamera aus der Hand reißen. Das war ja noch schöner. Was für ein ungehobelter Kerl.

»Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe doch noch gar nicht fotografiert. Ich wollte eben klingeln und fragen, ob ich ein paar Bilder von Ihrem Haus machen darf.«

Ihre Stimme klang schärfer als sie es wollte, aber der Schrecken saß ihr wirklich noch in allen Gliedern.

»Hier werden keine Fotos gemacht. Scheren Sie sich weg hier. Sie stören meine Privatsphäre.«

Und dann, genauso plötzlich, wie er aufgetaucht war, verschwand der Besitzer der Villa wieder. Silvie riskierte noch einen Blick auf das Namensschild. Peter von Grün stand da. Ein unangenehmer Zeitgenosse, dachte Silvie. Dann drehte sie sich um und ging die Strasse hinunter. Beim Nachbarhaus stand ein Mann am Zaun, der sie jetzt freundlich anlächelte.

»Ein unhöflicher Mensch, unser Nachbar, nicht wahr, junge Frau?«

Neugierig sah er Silvie an.

»Was wollten Sie denn von dem? Oh, Entschuldigung, darf ich mich vorstellen: Mein Name ist Pit Schreiber.«

Silvie lächelte. Sie reichte ihm die Hand.

»Silvia Markbohm, angenehm. Ich wollte eigentlich nur ein paar Fotos von dieser schönen Villa machen, aber der Herr scheint kamerascheu zu sein und unfreundlich ist er auch.«

»Der ist nicht nur Kamerascheu, der ist Menschenscheu«, entgegnete Schreiber.

Silvie zuckte mit den Schultern. Lächelnd verabschiedete sie sich von Pit Schreiber. Der war zwar freundlich zu ihr gewesen, aber ganz offensichtlich auch sehr neugierig. Und neugierige Menschen waren Silvie immer etwas suspekt. Die musste man mit Vorsicht behandeln. Sie packte ihre Kamera ein und ging zurück zum Fotostudio. Sie wollte die Bilder noch am PC bearbeiten und sich dann nach einer geeigneten Druckmöglichkeit umsehen.


Unbenannt


Die Plakate für den Hintergrund ihrer Fotoaktion waren passend noch vor dem Wochenende fertig gewesen. Und nun stand Silvie hier mit Frau Bockmann in ihrem neuen Fotostudio. Die Aktion, die Besucher kostenlos in Theaterkostümen vor der historischen Kulisse von Werne zu fotografieren, war ein voller Erfolg. Bis zum Nachmittag war das Studio durchgehend voll gewesen. Vertreter der örtlichen Presse hatten sie interviewt und Fotos gemacht und Silvie hoffte, dass die Kunden nicht nur kommen würden, um die fertigen Bilder abzuholen, sondern dass sie auch in naher Zukunft mit Aufträgen rechnen könnte. Sie sah sich um. Frau Bockmann war in ein Gespräch mit einem etwa vierzigjährigen Mann vertieft, einige Kunden standen noch mit einem Sektglas in der Hand im Laden, aber ansonsten schien der größte Ansturm vorbei zu sein. Aufseufzend ließ Silvie sich in einen Stuhl fallen. Sie war jetzt seit sieben Stunden ununterbrochen auf den Beinen gewesen. Sie spürte ihre Füße schon nicht mehr. In diesem Moment winkte Frau Bockmann ihr zu. Resigniert lächelnd erhob Silvie sich wieder und ging zu ihr.

»Frau Markbohm, ich möchte Sie gern mit Herrn Schmitz bekannt machen. Herr Schmitz hat ein Geschäft hier in Werne und war mit meinem Mann befreundet. Er arbeitet ehrenamtlich für unser Krankenhausradio und würde Sie gern in seine Sendung einladen. Das können zwar nur die Patienten im Krankenhaus hören, aber dafür ist es auch Werbung, die nichts kostet.«

Silvie reichte Herrn Schmitz die Hand.

»Hätten Sie dann am Sonntagmorgen Zeit?«, fragte er sie lächelnd.

Innerlich stöhnte Silvie. Sonntags schlief sie immer gern länger. Aber das Geschäft ging nun mal vor. Sie nickte.

»Prima, dann kommen Sie einfach um zehn Uhr zum Krankenhaus. Das Studio ist im Sockelgeschoss, da wo auch die Cafeteria ist. Folgen Sie einfach der Musik.«

Dann reichte er ihr die Hand, küsste Frau Bockmann auf beide Wangen und verschwand.

Die Woche verging wie im Flug. Zuerst kamen die Vorstellungsgespräche. So etwas hatte Silvie noch nie gemacht, aber sie hatte trotzdem schnell eine junge Dame gefunden, die ihr auf Anhieb sympathisch war und die auch gleich in der nächsten Woche mit der Arbeit anfangen konnte. Die Formalitäten waren rasch geklärt und Silvie war froh, dass sie den anderen Bewerberinnen absagen konnte. Wenn ihre Hilfskraft in der nächsten Woche da wäre, hätte sie endlich Zeit, sich mit der Gestaltung des Studios zu beschäftigen. Da gab es schon ein paar Dinge, die Silvie gern ändern wollte und auf diese Arbeit freute sie sich.

Sie hatte auch ein paar Mal mit Margrit telefoniert, aber die Gespräche verliefen immer gleich. Margrit wollte gar nicht hören, womit Silvie sich beschäftigte. Sie erzählte ihr die neuesten Klatschgeschichten aus Hamburg und bedauerte Silvie jedes Mal, weil sie jetzt in diesem Provinznest versauern musste. Und so verlor Silvie den Spaß daran, Margrit anzurufen. Paul hatte sich nur einmal kurz bei ihr gemeldet. Er musste Sonderschichten schieben, es gab eine Menge Probleme im Rotlichtbereich der Hansestadt.

Am Sonntagmorgen räkelte Silvie sich in ihrem Bett. Als ihr Blick auf die Uhr fiel, sprang sie erschrocken auf. Sie sollte doch um zehn Uhr im Krankenhaus sein und es war schon nach neun. Da musste sie sich jetzt aber richtig beeilen. Duschen, Haarewaschen, Frühstücken und dann lief sie die Treppen hinunter zur Tiefgarage, in der ihr Auto stand. Eigentlich hatte sie laufen wollen, aber das würde sie jetzt nicht mehr schaffen. Mit dem Auto waren es gerade einmal fünf Minuten. Sie fragte an der Pforte vorsichtshalber noch einmal nach und ließ sich den Weg zum Studio erklären. Als sie dann an der Studiotür angelangt war, war sie doch ein wenig enttäuscht. Der Raum war sehr klein, die Wände vollgestellt mit Regalen voller Schallplatten, aber Herbert Schmitz winkte ihr fröhlich zu.

»Immer rein in die gute Stube.«

Er wies auf einen Stuhl.

»Nehmen Sie den da und der Kopfhörer hängt vor Ihnen. Wir könnten dann ja mal gleich einen Mikrofontest machen. Sagen Sie doch mal was.«

Silvie blieb die Spucke weg. Der legte ja ein Tempo an den Tag. Und diese gute Laune. Silvie war eher ein Morgenmuffel. Sie räusperte sich und fragte dann:

»Ja, aber was soll ich denn sagen?«

»Reicht schon«, winkte Herbert Schmitz ab.

»Ich wollte doch nur prüfen, wie Ihre Stimme klingt und ob wir an den Mikro-Einstellungen noch was ändern müssen, aber ist alles in Ordnung so.«

Er sah auf die Uhr. »In fünf Minuten gehen wir auf Sendung. Wir begrüßen die Patienten, dann gibt es etwas Musik und dann stelle ich Ihnen einfach ein paar Fragen. Sie werden sehen, alles ganz einfach. Kein Grund, nervös zu werden.«

Dieser Mann schien unaufhörlich zu reden. Silvie schwitzte. Es war ziemlich warm hier unten und sie war nervös. Dabei war es doch nur ein Krankenhaussender. Nur die Patienten würden sie hören können. Gar kein Grund zur Panik, aber sie wünschte sich, es wäre schon vorbei. Wie war sie nur auf die blöde Idee gekommen, sich auf so etwas einzulassen? Sie setzte die Kopfhörer auf. Die Musik zumindest war gut. Sie lächelte Schmitz über den Tisch hinweg zu. Und es lief genauso ab, wie er es ihr gesagt hatte. Silvie hätte es sich nie vorstellen können, aber es war irgendwie wie eine ganz normale Unterhaltung. Sie lachten viel, Herbert fragte sie, wie sie das Fotostudio betreiben wollte und nach einer guten halben Stunde waren sie schon beim „du“.

Als sie sich von Herbert Schmitz verabschiedete, lächelte er ihr zu.

»Also, wenn du Lust hast, kannst du jederzeit kommen und mitmachen. In meiner Sendung am Sonntag oder auch bei Mark Wasser. Der macht die modernere Musik und ist immer am Freitag Nachmittag hier. Du bist jedenfalls herzlich willkommen und schau dir mal unsere Internet-Seite an.«

Dann winkte er, setzte seinen Helm auf und schwang sich auf sein Motorrad. Silvie schlenderte über den Parkplatz zurück zu ihrem Auto. Es war ein schöner Vormittag gewesen und sie nahm sich vor, gelegentlich wieder hierher zu kommen. Wenn Mark Wasser nur halb so nett und umkompliziert wäre wie Herbert, würde sie sicher eine Menge Spaß haben.


Unbenannt


Herbert hatte ihr ein Ausflugsrestaurant empfohlen, wo man Sonntag mittags gut essen konnte. Also setzte sich Silvie in ihr Auto und verließ Werne in Richtung Lünen. Das Lokal hatte sie schnell gefunden, der Biergarten war geöffnet und so beschloss Silvie, draußen zu bleiben. Es gab Gerichte aus der westfälischen Küche hier und Silvie war ziemlich unschlüssig, was sie essen sollte. Sicher, auf der Speisekarte standen auch Schnitzel, aber sie wollte gern etwas Typisches aus der Region haben. So entschied sie sich für Pfefferpotthast, auch wenn sie sich nichts Genaues darunter vorstellen konnte. Das Ragout, das man ihr servierte, schmeckte ausgezeichnet. Weil sie mit dem Auto da war, verkniff sie sich ein Bier und trank Wasser. Am Nebentisch saß ein junger Mann. Silvie hatte ihn aus den Augenwinkeln beobachtet. Er schien ganz in Gedanken versunken zu sein. Dann stand er auf und schob seinen Stuhl so hastig zurück, dass Silvies Handtasche von der Lehne ihres Stuhls rutschte.

Sofort bückte er sich, gab ihr die Tasche und murmelte:

»Entschuldigen Sie bitte, das war unachtsam von mir. Ich hoffe, es ist nichts Zerbrechliches drin.«

Dann verbeugte er sich kurz.

»Ich heiße Marius Müller. Sind Sie hier aus der Gegend?«

Silvie lächelte ihn an.

»Ich bin Silvie Markbohm. Na ja, eigentlich Silvia, aber meine Freunde nennen mich alle Silvie. Ich wohne in Werne, aber erst seit einer Woche..«

Der junge Mann gefiel ihr. Er schien Manieren zu haben.

»Wollen Sie sich nicht noch einen Moment zu mir setzen? Ich kenne hier eigentlich noch niemanden und ....«

»Und dieser Sonntag ist viel zu schön, um irgendwo stumm in der Gegend herumzusitzen«, vollendete er.

Sie lachten beide und waren kurz darauf in ein Gespräch vertieft. Silvie erzählte ihm von ihrem Fotostudio und von ihrer Zeit aus Hamburg. Plötzlich schlug sie sich mit der Hand vor den Mund.

»Ich rede und rede, wahrscheinlich interessiert es Sie gar nicht und Sie sind nur zu höflich, um mich zu unterbrechen..«

»Ganz und gar nicht, Silvie. Ich darf doch Silvie sagen?«, fragte er mit treuherzigem Augenaufschlag.

Silvie nickte.

»Ich finde es sehr mutig von Ihnen, sich so Hals über Kopf in dieses Abenteuer zu stürzen. Es ist schön, wenn man ein Ziel vor Augen hat.«

Das klang ein wenig wehmütig. Silvie sah ihn an.

»Und Sie? Was machen Sie denn so und was treibt Sie hier in diese Gegend? Sie scheinen hier doch auch noch fremd zu sein, genau wie ich.«

Das eben noch so offene Gesicht von Marius Müller verschloss sich augenblicklich.

»Ich suche jemanden. Jemanden, den ich von früher kenne. Wenn ich ihn gefunden habe, werde ich wissen, wie es weitergeht..«

Das klang ziemlich düster und undurchsichtig, aber offensichtlich wollte Marius Müller nicht mehr dazu sagen. Er stand auf.

»Es tut mir leid, aber ich muss los. Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen. Aber die Unterhaltung mit Ihnen war sehr angenehm. Wir sollten das unbedingt wiederholen.«

Dann drehte er sich um und ging.