Titelbild
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www.piper.de

ISBN 978-3-492-96966-6

November 2015

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Covermotiv: Lennart Preiss/Getty Images

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Der kategorische Imperativ des Vollhorst

»Handle immer so, dass du von allen,
denen du Schaden zufügst,
Anerkennung bekommst.«

Einweisung

Als mein Verleger das Angebot an mich herantrug (das nenne ich mal gutes Deutsch!), ein Buch zum Vollhorst zu verfassen, musste ich länger überlegen, als ich dachte (? – Darüber muss ich noch einmal nachdenken!) – und sagte schließlich zu, nachdem er mir einen erklecklichen Vorschuss in Aussicht stellte. Ich habe mich natürlich schon gefragt, ob ich jetzt komplett übergeschnappt bin? Wieso will ich über den Vollhorst schreiben? Warum kein sinnvolles Buch? Warum suche ich mir nicht ein Thema, das die Menschheit braucht und in ihrer Entwicklung vorwärtsbringt? Freigabe von Haschisch für grüne Mandatsträger, Drogenkonsum im Bundestag? Oder: Atomkraft – sollten wir nicht wieder einsteigen? Können wir auf die SPD verzichten? Darf dem Veganer etwas wurst sein? Katholische Theologie – links und rechts der Donau. Thunfisch essen, bevor er ausstirbt: Das alternative Kochbuch für Artenschützer. Schadet tief Luft holen? Pulmologie im Alltag. Oder: Ich weiß, was ich hab: Hautausschlag selbst gemacht. Korbflechten – eine Alternative zur Laktoseunverträglichkeit –, das wären Bücher, die auf Leser warten.

Wer ein so gewaltiges Vorhaben wie die Erkundung des Vollhorsts in all seinen Dimensionen angeht, muss sich als Kenner der Materie ausweisen können. Ich kann mich ausweisen, aber warum sollte ich das tun, mir gefällt es hier sehr gut. – Übrigens: Die freiwillige Ausweisung aus Bayern ist möglich, aber wer ist schon so blöd und weist sich selber aus Bayern aus?

Auch eine Einweisung, sei es nun nach Bayern oder, was wesentlich wahrscheinlicher ist, in eine der zahlreichen Anstalten in Bayern ist immer möglich. Ich selbst kann mehrere freiwillige Einweisungen in eine öffentlich rechtliche Anstalt am Rande Münchens in Freimann ohne große gesundheitliche Schäden vorweisen. Ohne viel Aufhebens davon zu machen, hat mich der Bayerische Rundfunk trotzdem immer wieder entlassen, nachdem hochqualifizierte und selbstverständlich auch unabhängige Gutachter zu dem Schluss kamen, ich sei nicht gemeingefährlich. Am Tag der Entlassung wurde mir versichert, ich könnte mich jederzeit wieder melden, »wenn was wär«.

Und weil in letzter Zeit nichts mehr war, brauche ich mich jetzt auch nicht mehr so oft zu melden. Einmal die Woche muss ich mich im Hörfunk einfinden. Das ist aber nicht so wild. Ich werde nur kurz in einen schallgedämpften Raum gebeten, um abgehört zu werden. Ich mache ein paar tiefe Lungenzüge, sage ein paar Sätze, die sofort begutachtet werden, und meistens darf ich dann wieder gehen. Das ist alles. Ich leide zwar ab und zu noch ein bisschen an der Bildschirmkrankheit, aber es ist nicht mehr so schlimm, wie es schon einmal war. Es befällt mich manchmal noch eine kleine Übelkeit, und dann habe ich das Gefühl, ich muss kotzen, aber das vergeht so schnell, wie es kommt.

Und ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als es mir gesundheitlich wieder besser ging und ich mich stark genug fühlte, um neue Herausforderungen zu meistern, kam dieses Angebot ins Haus, in einem Buch den Vollhorst zu würdigen. Der Verleger Marcel Hartges lud mich zum Essen ein. Das ist so üblich in Verlagskreisen, dass man mit den Autoren zum Essen geht. Wahrscheinlich stammt diese Gepflogenheit aus einer Zeit, als die Autoren noch am Hungertuch nagten. Immer wird in Verlagskreisen zum Essen gegangen. Mittags, abends, wahrscheinlich auch schon morgens.

Wir haben also auch gegessen und noch mehr getrunken. Flaschenweise Wein. Ich kann mich nur nicht mehr daran erinnern, welchen Wein wir zu unserem Nachteil getrunken haben. Dabei wurde mein Widerstand gegen das Buch immer schwächer, bis ich schließlich aufgab. Danach jedenfalls war klar, dass ich ein Buch schreiben würde. Die Verträge wurden mir zugeschickt und seitdem hat mich der Vollhorst fest im Griff.

Die neue Küche

Am Tag, nachdem ich zugesagt hatte, den Vollhorst zu schreiben, fragte ich Rosi, wer denn so ganz spontan, ohne langes Überlegen, für sie ein typischer Vollhorst sei. Da muss ich gar nicht lange überlegen, du bist einer, sagte sie. Ich muss gestehen, diese Antwort überraschte mich dann doch ein wenig. Ich hatte spontan mit Seehofer gerechnet. Wieso ich?, fragte ich nach. Sie darauf: Ich sag bloß: neue Küche!

Zur Erklärung: Wir kriegen eine neue Küche und freuen uns schon sehr darauf. Es gibt auch schon einen Liefertermin, den wir aber noch nicht kennen. Ich vermute, dass sie im Frühjahr 2025 geliefert wird. Wenn alles nach Plan läuft, was nach den bisherigen Erfahrungen eher nicht der Fall sein wird. Es handelt sich nämlich um ein exklusives Küchenmodell, das sehr selten bestellt wird. Es ist das Modell Jonas, benannt nach dem großen Propheten Jonas, seinerzeit ein berühmter Koch. Er betrieb ein kleines Restaurant in Ninive, das er »Zum Wal« nannte. Angeblich war er einmal von einem Wal verschluckt worden und seitdem galt er als ausgewiesener Walkenner. Keiner bereitete Wal besser zu als er. Und weil ich denselben Namen trage wie der biblische Jonas, zog mich das Küchenmodell Jonas schon beim ersten Anblick in den Bann. Es musste einfach eine Jonas-Küche sein. Was anderes kommt mir nicht ins Haus! Es ist eine Küche, wie sie schöner und besser nicht sein könnte. Es fehlt an nichts. Es gibt eine Küchenzeile, Oberschränke, Unterschränke und einen freistehenden Herdblock. Der ist mir persönlich sehr wichtig. Ich bin ein ausgesprochener Herdblockfan. Egal, ob Gas oder Induktion, in jedem Fall muss der Herd freistehen. Ich fordere schon seit Jahren: Freiheit für den Herd.

Um ehrlich zu sein, haben wir diese Küche noch nicht bestellt. Die Frage, die wir noch klären müssen, ist, ob diese Küche in unsere Wohnung passt. Es gibt bei ihr einen Herdblock, der uns sehr gut gefällt, aber von den Ausmaßen her nicht ganz passt. Ich möchte auf ihn aber nicht verzichten, weil es nicht nur sehr modern ist, einen Herdblock in der Mitte einer Küche zu platzieren, sondern obendrein auch sehr schön und sehr praktisch. Ästhetisch ist der freistehende Herdblock eine Augenweide. Meine Frau hat dazu eine andere Meinung. Sie glaubt, der Platz dafür würde nicht ausreichen. Sie will sich eher den Gegebenheiten fügen als ich. Sie nennt es Realismus. Ich nenne es Opportunismus! Und Feigheit! Kapitulation vor den Umständen! Das kann es doch nicht sein. Man muss auch mal den eigenen Horizont überschreiten und über sich hinauswachsen. Über sich vielleicht, räumt meine Frau ein. Aber nicht über die vorgegebenen Raumgrenzen. Ich füge mich ungern. Habe mich immer nur schwer mit etwas abfinden können. Meine Frau hält mich für stur. Sie mag diese Unbeugsamkeit stur nennen, ich sage, man muss das Unmögliche fordern, sonst bleibt alles beim Alten.

Die Idee zu einer neuen Küche kam von ihr. Sie äußerte ihre Unzufriedenheit mit der alten. Sie könne sie nicht mehr sehen. Seit 23 Jahren bewege sie sich nun in dieser Leichtküche, die nun allmählich aus dem Leim gehe. Ich war sofort einverstanden, eine neue Küche anzuschaffen. Aber welche?

Ich habe neben dem Herdblock weitere Wünsche: Zum Beispiel möchte ich nicht auf einen Dampfgarer verzichten. Außerdem bestehe ich auf einer Wärmeschublade. Meine Frau behauptet, sie brauche gar keinen Dampfgarer. Ein Leben ohne Dampfgarer kann ich mir nicht mehr vorstellen. Sie habe bisher ohne Dampfgarer überlebt und glaube, auch in Zukunft ohne Dampfgarer glücklich und zufrieden leben zu können. Ich habe meiner Frau mehrmals versichert, dass ich eine Küche ohne Dampfgarer und Wärmeschublade nicht akzeptiere. Du kochst doch sowieso kaum, behauptet meine Frau, warum bestehst du dann auf dem Dampfgarer? Ich werde täglich kochen, wenn Wärmeschublade und Dampfgarer vorhanden sind. Das könne sie nicht glauben, sagt meine Frau. Sie gibt zu, dass ich den Beweis nur antreten kann, wenn Dampfgarer und Wärmeschublade in unserer Küche installiert sind.

Die Küche passt nicht, meint Rosi. Ich sage, wir können auch mal eine Wand versetzen. Neben der Küche befindet sich unser Schlafzimmer. Ich meine, wir sollten einen Trend setzen und eine kombinierte Schlafküche anstreben mit Dampfgarer und Wärmeschublade. Ich schlafe nicht im Küchendunst!, ruft meine Frau. Wieso?, kontere ich. Der Dunstabzug befindet sich in meiner Schlafküche direkt über dem Bett, so dass immer eine leichte frische Brise weht. Das fördert den Schlaf.

Meine Frau darauf kühn: Wenn wir schon Wände einreißen, dann könnten wir auch gleich die Mauer zum Bad rausnehmen, da du sowieso immer öfter nachts mal raus musst. Gute Idee, stimme ich ihr zu. Das ist wirklich innovativ. Kochen, Schlafen und Entsorgen in einer Wohnlandschaft zu integrieren, das ist der Trend der Zukunft. Meine Frau schüttelt den Kopf. Es geht nicht, sagt sie. Alles geht, wenn man will. Nein, die Räume passen nicht zu unseren Vorstellungen. – Dann gibt es nur eines, wir ziehen aus und suchen uns eine Wohnung, die unseren Vorstellungen von Kochen und Schlafen entspricht. Sie schaut mich an, als wäre ich grade zum Islam übergetreten. Du willst ausziehen, weil die Küche, die du dir vorstellst, nicht in die Wohnung passt? – Ja, ich wollte eh schon ausziehen, weil ich mit unseren Wohnverhältnissen schon lange hadere.

Stimmt! Jetzt erinnere mich, was sie darauf gesagt hatte: Du hast sie doch nicht mehr alle. Umziehen wegen Herdblock, Wärmeschublade und Dampfgarer. Dunstabzugshaube über dem Bett! Ich glaub, ich spinn. Du machst dich grad komplett zum Vollhorst!

Der Vollhorst

Ich soll der Prototyp eines Vollhorstes sein? Meine Frau hält mich für einen Vollhorst? Jahrelang habe ich gerätselt, was sie wohl bewogen hat, mir das Jawort zu geben. Jetzt weiß ich es. Na ja, sie hat da ein wenig überreagiert. Das war zu spontan, ein bisschen nachdenken würde ihr auch mal guttun, ich glaube nicht, dass ich mir jetzt deshalb wirklich Sorgen machen muss. Nein, das war unüberlegt. Ich werde sie bei der nächsten Gelegenheit höflich auffordern, diese Äußerung zurückzunehmen. Ich und ein Vollhorst! Sie müsste mich eigentlich besser kennen.

Ihre Definition war eindeutig ungenau, und der naheliegende Vollhorst Seehofer alleine, das war mir schnell klar, wird keine 200 Seiten füllen, mit dem bin ich spätestens nach 20 Seiten fertig. Selbst wenn er einen sehr vielschichtigen Charakter hätte, was wir zu seinen Gunsten ja mal annehmen können, dann wäre nach 30 Seiten, höchstens nach 33 Seiten mit Grußwort, mit Pro- und Epilog, Danksagung und Würdigung in einem 20 Verserl umfassenden Hymnus alles über ihn zu Papier gebracht. Freilich wäre es möglich, den Seehofer zu einem 500 Seiten Heldenepos aufzublasen, zu einer Horstysee, in der sein gesamtes Wirken in Bayern, Deutschland, Europa und der Welt besungen wird. Ich vermute, dass an diesem epochalen Meisterwerk eh schon einer dransitzt, damit für alle Zeiten festgehalten ist, was für ein großartiger Mensch, Politiker und Horst er war.

Nein, mein Ansatz musste ein anderer sein. Ich wollte dem Horst auf keinen Fall gerecht werden. Das kann sowieso niemand. Ich wollte ihn ernst nehmen. Das schon. Aber nicht nur. Wer sich dem Horst nur mit Ernst nähert, wird ihm sicher nicht gerecht. Einem Horst sollte man immer auch mit einer gewissen Portion Humor entgegentreten. Andernfalls ist er schwer auszuhalten. Ich wollte auch die Chance nutzen, ihn in die Pfanne zu hauen.

Ich hatte nicht die Absicht, eine staubtrockene Abhandlung zu schreiben. Die Gefahr ist bei mir ohnehin gering, weil ich polemische Gedankengänge immer einer sauberen Logik vorziehe. Dieses »Gescheit-Daherreden« löst bei mir immer Unbehagen aus, weil man nichts dagegen sagen kann. Das schlüssige Aneinanderreihen von Argumenten erstickt jede Debatte im Keim. Außer, man ist in der Lage, den Argumenten nicht zu folgen. Das verlangt höchste Konzentration. Und wer will sich das heutzutage noch antun? Dagegen bietet das »Dumm-Daherreden« immer die Möglichkeit für ein weiterführendes Gespräch. Mir war eigentlich von Anfang an klar, dass wir mit Horst Seehofer einen Idealtypus des modernen Politikers vor uns haben, der in dieser Reinheit in freier Wildbahn selten anzutreffen ist, aber sich gerade deshalb hervorragend eignet, um politisches Handeln in der Postdemokratie zu beschreiben. Dabei geht es mir nicht um eine objektive Beschreibung des Vollhorsts in Kultur, Politik und Gesellschaft. Es gibt ja nichts Langweiligeres als Objektivität. Darum werde ich in verzerrender Überzeichnung jeden Anschein von Objektivität nach Möglichkeit vermeiden. Ich habe den festen Vorsatz, höchst subjektiv vorzugehen. Falls der Leser an Objektivität interessiert sein sollte, so wird er bei mir nicht fündig werden. Er kann sich diese, wenn er sie unbedingt braucht, gern bei anderen Autoren besorgen, beziehungsweise versuchen, aus meinen Übertreibungen eine Wahrheit herauszufiltern. Um es kurz zu machen. Wahrheit gibt es bei mir nicht. Manchmal biete ich eine an, aber das ist dann auch nur eine von vielen. Wahrheit kann nur vom richtigen Standpunkt aus erkannt werden, welches aber der richtige ist, erkennt nur der, der die Wahrheit hat. Ich habe sie nicht.

Im Gegensatz zum Vollhorst, der immer den richtigen Standpunkt einnimmt und deshalb glaubt, im Besitz der Wahrheit zu sein. Da er in der Lage ist, den Standpunkt zu wechseln, wie es ihm in den Kram passt, ändert sich damit auch immer die Wahrheit. Dafür ist der Vollhorst bekannt, und dafür wird er geliebt. Der Wahrheitsendverbraucher wird von ihm ständig mit neuen Wahrheitsangeboten versorgt. (Konzertsaal in München? Ja. Versprochen! Dazu stehe ich! Und einen Tag später: Konzertsaal? Nein. Hab ich auch immer gesagt.) Ein Forscher, der es mit einem solch wendigen Untersuchungsgegenstand zu tun hat, muss flexibel und anpassungsfreudig reagieren können. Das ist für mich kein Problem. Auch ich bin in der Lage, meine Meinung von einer Minute auf die andere komplett zu ändern.

Ich bin ein überzeugter Vertreter der kritischen Theorie. Ich komme gern vom Allgemeinen zum Besonderen und schließe von der Conclusio auf die Prämissen. Wundern Sie sich jetzt bitte nicht! Mir ist auch nicht ganz klar, was damit gemeint ist. Ich weiß nur, das Besondere im Allgemeinen aufzuspüren und umgekehrt, das Allgemeine im Besonderen festzumachen, dafür bietet der Vollhorst alle Möglichkeiten. Sie merken schon, ich bin gerade dabei, vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen. Allerdings sollte man nie vom Tausendsten aus Rückschlüsse auf das Hundertste ziehen. Ich allerdings mache das schon, um zu überprüfen, ob ich wirklich falsch liege. Ich strebe nach Gewissheit. Denn auch das Falsche ist wahr. Diese Wahrheit gilt nicht nur in Bayern.

Nach reiflicher Überlegung entschloss ich mich zu einer induktiven Vorgehensweise, das heißt, ich wollte von typischen Einzelfällen zu einer übergreifenden Definition des Vollhorsts gelangen, die ich immer in enger Abgleichung mit dem politischen Ideal-Horst halten wollte. Freilich würde ich auch Abweichungen von dieser Methode akzeptieren, um die Forschungsperspektive nicht zu verengen und um nicht der Gefahr zu erliegen, wichtige Aspekte am Wegesrand liegen zu lassen.

Ich begab mich daher im Internet zunächst auf die Suche nach Herkunft und Bedeutung des Namens Horst. Über Google stieß ich auf Wikipedia, und dort teilte man mir mit, dass Horst hergeleitet wird von Hengst oder Gestrüpp. Gut, der Zusammenhang erschloss sich mir nicht auf Anhieb, aber okay. Ich nahm den Hinweis zur Kenntnis. Der Horst ist also ein Hengst. Aha. Doch nicht jeder Hengst ist ein Horst. Die Frage, ob Seehofer ein Hengst ist, verbietet sich. Beim Hengst denken wir vielleicht an Pegasus und Fury, oder auch nicht, vielleicht denken wir an Winnetous Iltschi, auf dem der edle Wilde mit seinem Blutsbruder in den Weiten der Prärie für Frieden und Gerechtigkeit kämpft. Mitunter denken wir auch an Rennpferde von edlem Geblüt oder an Springer, die vor keinem Oxer scheuen. Und wir denken an stolze reinrassige Pferde, die Rittern, Königen und Kaisern dienten: an Ben Hur und seine stolzen Hengste Altair, Antares, Rigel und Aldebaran, die im Circus Maximus in Jerusalem den Tribun Messala – auch ein Vollhorst, wie er im Buche steht – das Fürchten lehrten. Welche Verbindung der Hengst mit dem Gestrüpp eingeht, weiß ich nicht, aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass ein Hengst/Horst auch mal im Gestrüpp/Wald steht und nicht weiterweiß.

Es gibt berühmte Horste, die mit Fug und Recht von sich behaupten, ein echter Horst zu sein: Horst Schimanski, Horst Heldt, Horst Lichter, Horst Köhler, da ist erst mal nichts dran auszusetzen, die heißen einfach so. Jetzt könnte einer fragen: Horst! Wie kommst du denn zu diesem Namen? Was haben sich deine Eltern dabei gedacht? Mit dem gleichen Recht könnte ich allerdings fragen, wer gibt seinem Kind den Vornamen Bruno? Bären heißen Bruno. Und die leben gefährlich. Vor allem wenn es sich um »gemeine Schadbären« handelt, die sich aus Italien kommend im bayerischen Voralpenland herumtreiben, und nachdem sie unschädlich gemacht wurden, ausgestopft im bayerischen Naturkundemuseum landen. Aber niemand tauft sein Kind Bruno, um an den Schadbären Bruno zu erinnern. Obwohl man auch das nicht ausschließen kann. Und der Horst treibt sich auch in Bayern herum und richtet mitunter auch Schaden an, und trotzdem kommt niemand auf die Idee, ihn abzuknallen und ausstopfen zu lassen.

Der Horst ist auch kein Gestrüpp. Wer würde seinen Sohn »Gestrüpp« nennen oder »undurchdringliches Gebüsch«? Unsinn! Der Horst ist ein Hengst. Er steht für Zeugungskraft, für Potenz, für Wildheit, ein Horst lässt sich nur widerwillig Zügel anlegen. Er ist immer schwer zu zähmen, und ganz zahm wird er nie sein können, der Horst. So dachte man in alten Zeiten vom Horst.

Dieser kraftstrotzenden Natur, die man ursprünglich mit dem Horst verband, steht heute im alltäglichen Sprachgebrauch eine beinah entgegengesetzte Bedeutung gegenüber. Der »semantische Hof«, der sich auftut, wenn wir es mit einem Horst zu tun bekommen, wurde um einige Bedeutungskomponenten erweitert. Mit einem Horst verbinden wir heute selten nur unbezähmbare Wildheit und kämpferische Kraft, sondern immer öfter unbeschränkte Einfalt und Dummheit. Wir nennen heute einen Horst, wenn wir ihn nicht gleich Vollpfosten nennen wollen, vor allem, wenn er sich aufführt wie einer.

Aber nicht jeder Horst nutzt alle seine Möglichkeiten. Wann also wird aus einem stinknormalen Horst ein Horst? Seehofer zum Beispiel hat den Horst von seinen Eltern verpasst bekommen, das können wir ihm schwer vorwerfen, da war er machtlos, aber dass er sich schon des Öfteren zum Horst gemacht hat, darauf kann nur er allein stolz sein.

Oder, anderes Beispiel, Horst Schröder, der lange den Tarnnamen Gerhard trug, er hat sich nach seiner Zeit als Bundeskanzler als Horst geoutet.

Vielleicht erinnert sich auch noch jemand an die große Führungspersönlichkeit Georg Schmid, der als Schüttelschorsch in die Annalen der bayerischen Geschichte eingegangen ist. Er ist so was von eingegangen, wie sonst nur wollene Pullover, die den 90-Grad-Waschgang durchlaufen haben. Man hat ihn auf ein Format reduziert, das für CSU-Größen gar nicht vorgesehen ist. Er hat seine Frau als Mitarbeiterin in seinem Wirkungsbereich angestellt, auf Staatskosten. Ein Vorgang, der mit den bayerischen Gesetzen in Einklang stand, moralisch aber dem Wähler nicht zu vermitteln war. Als es rauskam, hat er zwar sofort versucht, alles wiedergutzumachen, und das Geld zurückbezahlt, gleichzeitig aber dokumentiert, dass er sich sehr wohl darüber im Klaren war, dass sein Vorgehen ein »Gschmackl« hatte und ein Vergehen war. Er handelte also wider besseres Wissen, nur zu seinem eigenen Vorteil. Solange das niemand wusste, hatte er kein Problem damit, erst als es öffentlich wurde, machte er sich zum Horst.

Und da haben wir ihn, den kleinen, aber feinen Unterschied: Horst heißt man, zum Horst macht man sich.

Und wie wird der Horst zum Vollhorst? Bei einem normalen Bundesbürger, der sich zum Horst macht, würden wir sagen, er hat sich dumm benommen, vielleicht auch nur ungeschickt verhalten, ist blöd gelaufen. Das passiert, das ist normal. Vom Betroffenen wird dann erwartet, dass er sich für sein Benehmen schämt und Einsicht zeigt. Das sind die Horste. Und der Vollhorst? Der Vollhorst ist davon überzeugt, das Richtige zu tun, selbst wenn er sich zum Deppen macht.

Es gibt Deppen, die können einfach nicht gescheit werden, weil sie glauben, von Haus aus gescheit zu sein. Die eigene Klugheit verhindert die Erleuchtung. Der gescheite Depp ist dabei noch ärmer dran als der depperte Depp. Der depperte Depp merkt ja nicht, wie blöd er ist. Der gescheite Depp aber glaubt, er sei klug. Und das ist die eigentliche Tragik, mit der ein Vollhorst leben muss.

Was also muss ein Vollhorst vollbringen, um sich dieses Titels würdig zu erweisen? Welche Eigenschaften und Verhaltensweisen zeichnen ihn aus? Vielleicht hilft hier einer unserer berühmtesten Philosophen weiter. Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Hegel könnte einen Vollhorst vor Augen gehabt haben, als er die Negation der Negation dachte. Denn der Vollhorst ist immer auch bereit, für das Gegenteil zu stehen.

Nehmen wir unseren großen Vorsitzenden Horst Seehofer. Beispiel Energiewende. Er war selbstverständlich ein glühender Vertreter erneuerbarer Energien. Nach dem sofortigen Atomausstieg – da aufgrund ständig drohender Erdbeben ein zweites Fukushima in Bayern offenbar unmittelbar bevorstand – stellte er sich an die Spitze der Windenergiebefürworter. Als allerdings der Widerstand der bayerischen Bevölkerung gegen die Stromtrassenführung wuchs, stellte sich Seehofer an die Spitze des Widerstands und versprach, dass es keine neuen Trassen in Bayern geben werde. Bei den letzten Umfragen stand die CSU dann nahe bei 50 % der Stimmen.

»Heute hier morgen dort, bin kaum da, muss ich fort«, sang einst der Barde Hannes Wader. Dem Vollhorst geht es genauso. Im Kopf ist er kaum da, muss er schon wieder fort zum nächsten geistigen Ort. Der Vollhorst ist beweglich und steht für Flexibilität. Er lebt im Sowohl-als-auch. Er ist auf allen Seiten zu Hause. Er versteht einfach alles. Vor allem sich selber. Es kann auch vorkommen, dass er sich nicht versteht, das versteht er dann aber auch wieder. Moment, meine Frau fragt dazwischen: Macht ihn das zum Vollhorst? Ist er nicht vielmehr ein ganz normaler Opportunist? Darüber muss ich noch mal nachdenken!

Okay, vielleicht ist Christian Wulff ein besseres Beispiel. Er hat sich in Bettina verliebt und dem Chefredakteur der Bildzeitung mitgeteilt, dass der Rubikon überschritten sei. Mit ihm wird man immer die totale Selbstdemontage eines Mannes verbinden, der vom Ministerpräsidenten zum Bundespräsidenten aufstieg und kläglich an einer Spesenrechnung von 780 Euro scheiterte. Ob schuldhaft oder nicht, spielt dabei keine Rolle, er hat sich in den Augen der Öffentlichkeit zum Deppen gemacht. Er entspricht somit voll und ganz meiner Vorstellung von einem Vollhorst.

Horstln

In der Fußballersprache schreibt man einem besonders talentierten Spieler die Eigenschaft zu, ein Spiel lesen zu können, was so viel heißt wie: Er ist in der Lage, ein System analytisch zu erfassen und damit sich und die Mannschaft unter den gegebenen Bedingungen darauf einzustellen. Lothar Matthäus ist hier zu nennen, der übrigens auf ein beachtliches Vollhorstpotenzial zurückgreifen kann.

Man könnte sagen: Was der Matthäus für den Fußball ist, das ist der Vollhorst in der Politik.

Ob auf oder neben dem Platz: Ein Spiel nur zu lesen, reicht nicht aus, erfolgreiche Kommunikation ist das A und O. Der Vollhorst ist ein Kommunikationsgenie. Ein spiegelneuronaler Tangotänzer, der immer zum Wiegeschritt mit dem anderen bereit ist.

Um sich einen nachhaltigen Ruf als echter Vollhorst zu erwerben, sind neben Anpassungsfähigkeit und Flexibilität auch Charisma, Ausstrahlung und Charme wichtig. Doch zum perfekten Vollhorst fehlt noch etwas Entscheidendes. Etwas, das ihn zutiefst menschlich erscheinen lässt, irgendwie normal, der Wähler soll denken, schau, er ist privilegiert, das schon, aber er ist doch einer von uns geblieben. Er macht auch seine Fehler. Er ist ein Vollhorst wie du und ich.

Der Vollhorst will keinesfalls abgehoben erscheinen. Er strebt nach Authentizität. Er strickt an seiner beeindruckenden Biografie. Sehr gern hört der Wähler, wenn er aus einfachen Verhältnissen kommt. Von ganz unten! Die Mutter musste putzen gehen, das macht sich immer gut. Und: Immer hat es am Geld gefehlt. Das wird der Öffentlichkeit gerne unter die Nase gerieben.

Nehmen wir unseren Ex-Kanzler Schröder: Bei Wetten dass …? fährt der nach verlorener Wette eine alte Dame persönlich mit dem Auto nach Hause. Mensch, wer hätte das gedacht, der Kanzler, boahhh, der Schröder im Brioni-Anzug bringt eine alte Frau im VW nach Hause, ein Kavalier der alten Schule! Privat fährt der auch nur Golf! Und in einem Reiheneckhaus wohnt er. Soo bescheiden!

Und Tiere sollten eine Rolle spielen. Der Vollhorst liebt Tiere. Tiere sind ihm ein Anliegen. Er streichelt jeden Hund, der ihn anschnuppert. So etwas sieht der Wähler gern. Deshalb lässt sich der Vollhorst gern mit Tieren sehen und bestellt den Fotografen in den Zoo. Politiker mit Eisbärbaby. Ach guck, der Wowi mit Eisbärchen. Süüüüß! Schau, der ist tierlieb.

Politiker spielen gern den Normalo, was nicht leicht ist, weil kein Politiker normal ist, sonst wäre er nämlich nicht Politiker. Übergewicht zum Beispiel ist normal in Deutschland. Gabriel bringt diesbezüglich einiges auf die Waage. Hier überzeugt er auf der ganzen Linie. Er repräsentiert die Normalität des Übergewichtigen optimal. Gabriel hat Gewicht, aber es nutzt ihm und seiner Partei nicht viel. Offensichtlich hat eine Mehrheit der Deutschen mit Übergewicht zu kämpfen, und doch finden den Sigmar viele nicht so toll. Warum bloß? Vielleicht liegt es auch daran, dass er nicht authentisch rüberkommt? Ich erinnere mich an eine ziemlich dumme Geschichte, die durch die Medien geisterte. Gabriel war Umweltminister der Regierung Schröder und wollte seinen Wählern demonstrieren, wie moderne Mobilität in diesem Lande unter Rot-Grün funktioniert. Der Umweltminister Gabriel reiste mit der Bahn und ließ seinen Dienstwagen neben der Bahnlinie herfahren. Und einige Bürger schüttelten darüber den Kopf und fragten sich, was der Gabriel wohl für ein Horst ist. Und hat’s ihm geschadet? Er ist dann noch weiter nach oben gefallen und SPD-Vorsitzender und Wirtschaftsminister geworden.

In den USA gibt es auch sehr viel Übergewicht, aber im Amt des Präsidenten kann man sich einen fetten, übergewichtigen Ami nicht vorstellen. Der Präsident muss immer topfit erscheinen. Darum joggt der Obama jede Gangway rauf und runter, wie ein Dauerläufer.

In Bayern wird zwar auch viel gelaufen, noch beliebter ist allerdings das Laufenlassen. Bayerische Politiker müssen in erster Linie »was vertragen«, weil »sonst sogn die Leut am Ende noch, der trinkt ja nix. Mag der koa Bier?«

Für einen bayerischen Politiker ist es deshalb enorm wichtig, ein paar Bilder in Bierzelten zu produzieren, auf denen er eine Maß stemmt. Der bayerische Ministerpräsident Beckstein verkündete, dass er sich nach einem Oktoberfestbesuch mit zwei Maß intus noch selbst hinters Steuer setzen würde. Dafür gab es Applaus. Vom Verband der Brauereiwirtschaft. Typisch bayerische Authentizität!

Der Vollhorst ist außerdem immer vor Ort, wenn die Medien da sind. Er lässt sich gern ablichten bei Spatenstichen, wo sich Politiker als Bauarbeiter mit Schutzhelm inszenieren. Das mag der Wähler. Es fehlt dann nur noch die Überschrift »Held der Arbeit«. Und noch überzeugender wirkt der Horst beim Durchschneiden von bunten Bändern bei der Freigabe eines eben fertiggestellten Autobahnabschnitts.

Da er nicht alles selber erledigen kann, schickt er auch mal einen Minister raus, der etwas freigibt. Es gibt sogar Innenminister, die sich nicht entblöden, im Beisein der Medien eine öffentliche Toilettenanlage freizugeben. Das Bild, wo führende Vertreter des Volkes in einer Reihe nebeneinander stehend Wasser lassen, vermisse ich allerdings noch. Dabei würde das wirklich Normalität demonstrieren.

Der Kanzlerkandidat Steinbrück, den sie in seiner Partei auch »Schmidt-Schnäuzchen« nennen, wollte als witziger, ironiebegabter Politiker punkten. Er zeigte den Stinkefinger im Magazin der SZ und wurde falsch verstanden. Ironie setzt sprachliche Fähigkeiten voraus, über die nicht jeder in diesem Land verfügt. Wir haben es gern direkt. Da hat Schmidt-Schäuzchen nicht aufgepasst. Manches hätte er besser für sich behalten. Seine Vortragshonorare zum Beispiel. Er war auf einem wirklich guten Weg zum Vollhorst, allerdings hat er sich nicht konsequent genug vervollhorsten lassen. Als er auf dem Bundesparteitag der SPD einen letzten Versuch startete und gut sichtbar weinte, in der Hoffnung, sich doch noch einen Ruf als kompletter Vollhorst zu erarbeiten, hat das aber nichts mehr gebracht. Da haben viele ganz kühl darauf reagiert und gesagt, wir wollen keine Heulsuse im Kanzleramt. Wie du’s machst, ist es falsch.

Und weil der Trend zum sensiblen Mann geht, inszeniert sich mancher auch in der Heldenpose des Alltags – als Babysitter. Wieder war es Gabriel, der mitteilen ließ, dass er bei seinem Töchterchen persönlich die Windeln wechselt. Und eine Babypause hat er auch verkündet. Von einem ganzen Monat. Da hat das Wahlvolk gelächelt. Ein Bild dazu wurde leider nicht veröffentlicht. Gabriel mit Kinderwagen beim Spazierengehen in Goslar. Schau, der Gabriel schiebt selber den Kinderwagen! Toll!

Politiker wollen gerne normal rüberkommen und machen sich dafür zum Affen. Und warum? Nur wegen uns, den Wählern. Wir sollen glauben, dass sie auch nur Menschen sind, die den Alltag bewältigen müssen, wie wir alle. Von wegen.

Aber viele fallen darauf rein! Weil sie – auch das gibt es – die falsche Rolle spielen. Manchen fehlt einfach das schauspielerische Talent zur überzeugenden Darstellung. Ich erinnere mich, dass Hannelore Kraft im bayerischen Landtagswahlkampf Christian Ude im bayerischen Dirndl unterstützte. Verlogener geht es nicht mehr. Die Kraft der Bilder! Die Hannelore Kraft wollte ins Bild passen. Sie wollte sich auffällig in die bayerische Szenerie einfügen, in der Hoffnung, aus dem Rahmen zu fallen, was ihr mühelos gelang. Sie spekulierte auf Sympathien beim Wähler im bayerischen Identitätskostüm. Sie spielte die Gretl, die den Kasperl Ude trifft. Dazu missbrauchte sie ein Dirndl. Sie gab die Bäuerin im Festtagsgewand, um sich beim bayerischen Wähler ranzuwanzen: »Fesch ist sie, die Kraft, die weiß, was sich gehört, die bekennt sich zu Bayern.« Das war die Idee. Bestimmt hat ihr ein Spindoctor, ein Wahlmanager gesagt, Hannelore, in München musst du die Rumplhanni spielen, oder noch besser die Geierwally, und schon zwängte sich die Frau von Rhein und Ruhr ins Dirndl, die Ärmste.

Ich muss noch mal auf den Kanzlerdarsteller Schröder zurückkommen. Er stattete dem libyschen Diktator Gaddafi einen Staatsbesuch ab und saß Zigarre rauchend mit ihm im Beduinenzelt. Die Botschaft für uns: Unser deutscher Kanzler hat keine Angst vor bösen Menschen. Er ist mutig und selbstbewusst und bietet auch dem schlimmsten Teufel die Stirn. Danach, als Schröder Gaddafi die Meinung gegeigt hatte, vermute ich, durften wir daheim am Fernseher dabei sein, wie unser Kanzler Schröder eine Ölquelle in der Wüste aufdrehte. Schröder, der Aufdreher. Die Botschaft: Gerd dreht am ganz großen Rad. Für uns, für Deutschland! Während seiner ganzen Kanzlerschaft hat er gern was gedreht.

Unser bayerischer Vollhorst, der Seehofer, lässt ebenfalls keine Wünsche offen. Er kommt dem Ideal schon sehr nahe. Man gab ihm schon den Beinamen »the Bavarian Kennedy«, wegen seines unwiderstehlichen Charmes. Die Frauen mögen ihn, er wirkt sehr anziehend. Viele Frauen erblicken ihn und sind hingerissen. Er spielt immer ein bisschen den Spitzbuben, den kleinen Jungen, der am liebsten im Keller mit seiner elektrischen Eisenbahn spielt. Er ist ein Spieler. Er weiß, was sich gehört.

Er lässt sich auch einmal mit einer Herde Schafe fotografieren. Hut mit breiter Krempe auf dem Kopf, den weiten Lodenumhang schützend um die Schultern gelegt, den Hirtenstab in der Rechten, steht er auf der Weide. Horst, der gute Hirte! Ein Bild, wie geschaffen für einen Heiligen, den man sich im Schlafzimmer übers Bett hängt. Das Bild soll uns in Bayern sagen, der Horst hat seine Herde im Blick und er wird alles in seiner Macht Stehende tun, um weiterhin unser Hirte bleiben zu können. Die Botschaft ist eindeutig. Die Schafe – also wir – können ruhig weitergrasen auf der saftigen Weide, er passt auf uns auf und sorgt für jedes einzelne Schaf. Und einmal im Jahr werden wir kräftig geschoren. Alles, was wir tun müssen: für uns und für ihn und für Bayern beten, dass es so bleibt, wie es ist: Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden. Auch in der Nacht passt der Horst auf, dass nichts Unrechtes geschieht. Wer betrügt, fliegt, Tag und Nacht, Bayern ist das Paradies auf Erden. Ja, der Horst ist, was die politische Ikonografie angeht, ein Meister der Selbstinszenierung.

Vielleicht hat er sich das bei Helmut Kohl abgeschaut, der sich während seines Urlaubs am Wolfgangsee gern auf einer Weide mit Rindviechern ablichten hat lassen. Ich habe mir damals schon immer gedacht, der kommt prima mit Rindviechern zurecht, der muss ein Gespür für den Wähler haben.

Genau wie unser Horst Seehofer. Er agiert oft aus dem Bauch heraus und macht trotzdem vieles richtig. Weil er weiß, was sich gehört in Bayern, und instinktiv das Rrrrrrichtige zum rrrrrrichtigen Zeitpunkt sagt.

Als das Versandhaus Quelle pleiteging, schwang er sich zum Retter auf. Er eilte nach Fürth und sprach mit der betroffenen Belegschaft. Horst hielt die schützende Hand über die ganze Region. Gegen alle Widerstände. Es war ja wieder einmal Wahlkampf in Bayern. In solchen Zeiten reagiert der Horst besonders sensibel. Wie jeder weiß, war seine zugesagte Hilfe nicht wirkungslos. Das bayerische Amt für Daten und Statistik, das in München angesiedelt ist, zieht nach Franken um, »als Ausgleich« für die Quelle-Pleite, um in Fürth den »Kaufkraftverlust« auszugleichen. Kosten für den Steuerzahler: ungefähr 40 Millionen Euro.

Mit dem Geld anderer kann er großzügig umgehen, der bayerische Horst. Da wächst er sich aus zum Vollhorst und alle jubeln ihm zu. Vor allem die Beamten, die von München nach Franken umziehen dürfen, konnten sich über Horsts Coup vor Freude kaum auf den Beinen halten.

Das Richtige ist immer dann besonders richtig, wenn es eine Mehrheit für richtig erachtet. Natürlich kann es deshalb auch mal richtig sein, das Falsche zu tun. Richtig kann auch sein, für eine Minderheit eine Mehrheit zu bekommen, wenn die Minderheit die Menschen so manipulieren kann, dass eine Mehrheit zustande kommt. Konsens muss hergestellt werden.

Der Vollhorst sehnt sich nach Akzeptanz, er will ankommen. Er appelliert an die Vernunft und den gesunden Menschenverstand. Der gesunde Menschenverstand ist sein bevorzugter Denkmodus. Er nimmt die Mehrheitsmeinung in sich auf und stellt sie als Produkt des gesunden Menschenverstandes dar. Der Vollhorst ist ein Meinungsgeber. Ein Meinungsspender, der wie ein öffentlicher Seifenspender fungiert. Jeder darf sich kostenlos bedienen bei der Mainstreamseife, im sicheren Wissen, das Zeug macht einen sauberen Kopf. Das Bad in der Menge, mit dem leicht schäumenden Badezusatz ›gesunder Menschenverstand‹ beruhigt die Nerven und entfaltet seine belebende Wirkung auf den Vollhorst und sein Volk.

Volldoktor

»Was erlaube Jonas?«, kann man frei nach Giovanni Trappatoni, dem italienischen Fußballlehrer und ehemaligen Trainer des FC Bayern München, fragen. Was nimmt der sich raus, dieser Jonas, was glaubt er überhaupt, wer er ist, dass er meint, er könnte sich über den großen Vorsitzenden der CSU erheben und sich irgendwie zum Vollhorst verbreiten? Beziehungsweise: Haben Sie überhaupt Abitur? Fragte einst Franz-Josef Strauß, der große bayerische Staatslenker und ehemalige Ministerpräsident von Bayern, einen frechen Menschen, der glaubte, ihn dumm fragen zu müssen. Zunächst: Ich habe Abitur, und zwar ein bayerisches. Nur, um hier für klare Verhältnisse zu sorgen.

Das ist lange her, die Zeiten haben sich geändert, heute darf jeder dumm fragen, ob mit oder ohne Abitur, und die dumme Frage erfreut sich überall größter Beliebtheit. Warum auch nicht? Übrigens auch eine dumme Frage! Obwohl man auch immer wieder hört, dass es dumme Fragen gar nicht gäbe, sondern nur dumme Antworten. Das ist sicher richtig, zumal man auch auf kluge Fragen dumme Antworten geben kann. Gerade in der Politik ist das eine höchst bedeutende rhetorische Form, die zur kommunikativen Grundausstattung eines jeden Politikers gehört, die man auf dem politischen Parkett beherrschen muss, sonst läuft man Gefahr, als Simpel, Tölpel oder naiver Einfaltspinsel gebrandmarkt zu werden. Freilich braucht man auch solche Leute in der Politik, weil es – ich sag es mal auf Bayerisch – ohne Deppen nicht geht.

Wenn sich einer eines solch bedeutenden, postdemokratischen Phänomens wie dem Vollhorst annimmt, dann muss er sich schon ausweisen können als Kenner der politischen Szene, als qualifizierter Fachmann, besser noch als Experte für das Vollhorstwesen. Sicher kann jeder etwas zum Vollhorst beitragen, klar, jeder kann eine Meinung haben, aber besser ist es schon, wenn einer mit Kompetenz aufwarten kann. Und die ist bei mir, soweit ich das überblicken kann, gegeben. Mir ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass ich nicht promoviert wurde. Weder ehrenhalber noch aus wissenschaftlichen Gründen. Ich gebe zu, kurz mit dem Gedanken gespielt zu haben, mir einen Doktortitel zu kaufen, habe davon aber wieder Abstand genommen, weil sie mir alle zu billig waren. Zum Teil werden diese Doktortitel ja verramscht. Das ist wirklich eine traurige Tatsache. Ich bin aber weit davon entfernt, die Promotion an sich zu verunglimpfen. Es gibt Doktorarbeiten, die es wirklich in sich haben und die ich deshalb auf keinen Fall lesen möchte. Ich habe mir sagen lassen, dass es sehr gehaltvolle Arbeiten gibt, die ein wirklicher Gewinn für die Menschheit sind. Ich greife eine heraus, nicht dass Sie glauben, ich würde hier irgendwie fahrlässig Unsinn erzählen. Da kennen Sie mich aber schlecht. Ich lege auch Wert auf Fakten. Nicht immer, weil Fakten nicht alles sind, sie können auch mal täuschen – wenn wir an die Bilanz der Bayerischen Landesbank denken. Also, vieles ist auch Spekulation, aber das meiste davon ist doch reine Fiktion! Das will ich an dieser Stelle einmal festgehalten haben. Nicht dass mir nachher einer kommt und behauptet, er hätte es nicht gewusst. Jeder, der will, kann es hier schwarz auf weiß lesen.

Ein Beispiel, was Kompetenz auch bedeuten kann, ist die Arbeit von Dr. Markus Söder. Übrigens ein enger Mitarbeiter und Freund von Horst Seehofer. Nicht nur Parteifreund, nein, das möchte ich hier noch einmal betonen, ich habe den Verdacht, so wie die zwei miteinander umgehen, dass es sich bei den beiden um dicke Freunde handeln muss. Sie machen Späße, geben sich witzig und plaudern gern über den jeweils anderen in der Öffentlichkeit Geschichten aus. Das klingt manchmal sogar gehässig, ist aber immer nett gemeint. Und es macht auch nichts, das zeigt nur, dass sie sich mögen und Humor haben. Dr. Söder kam deshalb sogar schon als Seehofers Nachfolger ins Gerede. Seehofer dementierte zwar umgehend, dass der Markus ihn in naher Zukunft ersetzen könnte, aber irgendwas bleibt ja immer hängen. Und selbstverständlich kann der Söder auch Ministerpräsident. Keine Frage. Man traut ihm viel zu. Eigentlich alles. Vielleicht liegt das auch an der Doktorarbeit, die er schon vor einigen Jahren verfasst hat. Der Horst selber ist nicht promoviert, schätzt aber, wie man hört, Leute, die trotz Promotion ein Ministerium leiten können – das ist vielleicht auch interessant.