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Tinman

 

 

Moni Kaspers

 

 

Tinman

Moni Kaspers

 

© Sieben Verlag 2015, 64354 Reinheim

Covergestaltung © Andrea Gunschera

 

ISBN Taschenbuch: 9783864435157

ISBN Ebook-PDF: 9783864435164

ISBN Ebook-Epub: 9783864435171

 

www.sieben-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Epilog

Die Autorin

Totes Herz …

So sieh doch hin!

Schlägt es noch … hat einen Sinn.

Lass es nicht im Dunkeln schlagen.

Marter nicht mit tausend Fragen.

Spreng die Fesseln,

lass es leben …

hat so viel Gutes noch zu geben.

 


„Du hast wirklich Mut, Sam.“

Sarah bedachte sie mit einem ehrfürchtigen Blick, griff nach einem Apfel in der Obstschale und biss hinein.

„Ich glaube, ich hätte ihn nicht“, murmelte sie mit vollem Mund und schüttelte dabei ihren strohblonden Pagenkopf.

„So mutig ist es gar nicht. Tim hat seine Chance ergriffen und ich folge ihm einfach nur.“ Obwohl Sams Stimme fest klang, fühlte sie sich jedoch nicht recht wohl bei ihren Worten. Sie nahm sich ebenfalls einen Apfel, biss jedoch nicht hinein, sondern ließ ihn von einer Hand in die andere rollen.

„Du hast einen sicheren Job in einer renommierten Kanzlei, hast eine tolle Karriere, ein aufregendes Leben und was tust du? Schmeißt alles hin, verkaufst deine schicke Wohnung und nennst das nicht mutig? Du bist eine erfolgreiche Rechtsanwältin und willst nun in der Einöde Schafe zählen? Was ist, wenn es schiefgeht, Sam? Du stehst dann vor dem Nichts.“

Sarah appellierte, wie schon so oft, an ihre Vernunft.

„Rinder. Es sind Rinder, keine Schafe und so aufregend ist mein Leben hier nun wirklich nicht. Du hast zu viele amerikanische Serien geguckt. Mein Beruf besteht nicht aus den zwölf Geschworenen oder herzzerreißenden Plädoyers, sondern aus staubigen Akten und langen, kalten Gerichtsgängen. Ich tu schon das Richtige, mach dir keine Sorgen. Außerdem habe ich einiges gespart, ich bin also nicht völlig mittellos. Zumal ich auch noch die Erbschaft meiner Eltern habe.“

„Aber, wie hieß das Nest noch gleich? Trempton? Wie auch immer, Wyoming liegt ja nicht gleich um die Ecke, sondern in Amerika, Sammylein, AMERIKA.“ Sie zog das letzte Wort laut und deutlich in die Länge. „Da treffen wir uns nicht mehr einfach mal eben auf einen Kaffee oder um gemütlich zu plaudern. Wir treffen uns nämlich gar nicht mehr und plaudern im Höchstfall übers Internet.“ Sarah schmollte und seufzte tief. Sam wusste, dass Sarah sie liebte und vermissen würde.

„Tim hat dort die Riesenchance, bei seinem Onkel zu arbeiten und er wäre dumm, wenn er sie verstreichen ließe. Als Tierarzt für eine riesige Rinderranch zu arbeiten ist sein Traum, und wenn es für ihn gut läuft, geht sein Onkel bald in Rente und er übernimmt erst einmal seine Praxis. Er kann dort unglaublich viel Erfahrung sammeln, mit der er später, in Deutschland, eine tolle Karriere machen könnte.“

„Ja“, schnaubte Sarah, „wenn es für ihn gut läuft. Und was ist mit dir? Mit deiner Karriere? Willst du das alles wirklich?“

„Wir sind verlobt, natürlich folge ich meinem zukünftigen Mann. Ich liebe ihn und würde ihm bis an den Nordpol folgen. Du würdest genau dasselbe tun!“ Sie klang ein wenig schnippisch, doch Sarah zuckte nur mit einer Schulter.

„Das glaube ich kaum, Sam. Du erinnerst dich, dass du mich bei meiner Scheidung vertreten hast? Mir fällt es schon schwer, einem Mann zu folgen, wenn er eine Uniform trägt, auf seinem Autodach ein Blaulicht wild zuckt und rote Leuchtbuchstaben mir genau das befehlen.“

Sam prustete los und auch Sarah fiel mit ein, doch dann wurden sie wieder ernst.

„Warum hast du dich nicht fürs Erste beurlauben lassen? Erst mal sehen, wie es wird, vielleicht gefällt es dir dort gar nicht und du kommst mit so viel weitem Land nicht klar. Oder Tim mutiert äußerlich zu dem Rindvieh, das er innerlich schon lange ist!

„Sarah!“, tat Sam empört, aber sie musste dennoch lächeln. „Du weißt, dass ich nicht der Typ für faule Kompromisse oder Hintertüren bin. Entweder alles oder nichts.“ Nie war es Sam ernster, nie hatte sie etwas mehr gewollt. Nach Amerika auszuwandern, war nicht allein nur Tims Traum, sondern seit jeher faszinierte sie dieses unglaublich schöne Land mit all seinen Facetten.

„Ich weiß ja, wie gern du nach Amerika willst, aber es fällt mir eben schwer, dich zu verlieren.“

Samanthas Herz wurde tonnenschwer.

„Selbstverständlich weiß ich auch, wie sehr du bei ihm sein möchtest“, redete Sarah weiter, „aber ich bin nun mal egoistisch und kann dich nur schwer loslassen. Du bist doch wie eine große Schwester für mich.“

Sam seufzte jetzt tief und lehnte ihren Kopf an Sarahs Schulter. Seit dem Verlust ihrer Eltern war Sarah für Sam beinah unersetzlich geworden. Sie hatte ihr beigestanden, Tränen getrocknet, Behördengänge erledigt und Sam nach und nach aus der tiefsten Schwärze ihres Verlustes geholt. Sam fühlte sich manchmal etwas undankbar ihr gegenüber. Nun, wo es ihr wieder gut ging und sie in ein aufregendes, neues Leben startete, ließ sie ihre Freundin allein zurück.

„Du verlierst mich doch gar nicht und außerdem werde ich, wenn ich Heimweh bekomme oder mich so gar nicht wohlfühle, sofort wieder zurück nach Deutschland fliegen. Doch was wäre ich für eine Partnerin, wenn ich meinem Verlobten diese großartige Chance in seinem Leben verbaue? Außerdem habe ich enorme Sehnsucht nach ihm. Er ist bereits vier Monate drüben und ich vermisse ihn.“

„Und er? Vermisst er dich auch?“

„Sarah!“

„Was?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich kann einfach nicht verstehen, dass du ihm so sehr vertraust. Ich für meinen Teil würde mit Tim nicht mal mein Busticket teilen, geschweige denn mein Leben.“

Sam wusste, dass Sarah Tim aus unerfindlichen Gründen noch nie besonders gemocht hatte und nun auf seinen vermeintlichen Seitensprung anspielte.

„Das ist lange her und er hat mir damals geschworen, dass nichts zwischen ihnen gelaufen ist, also glaube ich ihm.“

„Und die Erde ist eine Scheibe.“

„Ich weiß, du liebst mich und ich liebe dich, aber mein Entschluss steht fest. In zwei Wochen startet mein Flieger und ich werde auf jeden Fall in ihm sitzen.“

„Keine Chance?“

„Machs mir nicht so schwer“, gab Sam sanft lächelnd zurück, „und außerdem hast du versprochen bald nachzukommen, um mich zu besuchen.“

„Nur wenn ich meine Flugangst überwinde, und sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Was willst du dort überhaupt tun? Es gibt nichts da, nur stinkende Rinder, weites Land, stinkende Cowboys, weites Land, stinkende Pferde, weites Land.“

Wieder musste Sam lachen. Ach, Sarah würde ihr so sehr fehlen. Ihre kläglich liebevollen Versuche sie zurückzuhalten, zerrissen ihr beinah das Herz.

„Tims Onkel wohnt nahe einer größeren Stadt, ich werde also nicht einsam mitten in der Prärie hocken. Außerdem wird es mir guttun, eine Weile, statt in Akten zu kramen und Paragrafen zu reiten, meine eingestaubten Lungen mit frischer Luft zu füllen. Ich werde mich mit Pinseln, Farben und Leinwänden eindecken und endlich meiner Leidenschaft, der Malerei, nachgehen. Außerdem habe ich jede Menge Ideen für ein Kinderbuch oder ich probiere neue Rezepte aus, du weißt, ich liebe es zu kochen. Ach Sarah, was auch immer auf mich zukommt, auf jeden Fall freue ich mich auf ein großes Abenteuer.“

 

*

 

Zwei Wochen später saß sie dann tatsächlich aufgeregt im Flugzeug und hoffte auf eine wunderbare, glückliche Zukunft. Als sie nach achtzehn langen Stunden Reisezeit endlich in Cheyenne landete, bekam ihr Hochgefühl den ersten Dämpfer. Tim war nicht am Flughafen, wie sie noch kurz vor ihrem Abflug verabredet hatten. Vor Aufregung atmete sie immer schneller, bis ihre Fingerkuppen zu kribbeln begannen. Sie rief sich zur Raison, es nutzte nichts, jetzt Panik zu bekommen. Auf Zehenspitzen stehend suchte sie sein Gesicht im Gewühl der Menschen, blieb neben ihrem übervollen Gepäckwagen, knetete ihre Hände und hoffte, er würde jeden Moment lachend in der Menge auftauchen, strahlend auf sie zugehen, sie in seine Arme ziehen

 

‚Miss Samantha Degen, Ankunft Flug 923 aus Boston, bitte melden Sie sich an der Information. Miss Samantha Degen, bitte!’

 

ihr sagen, wie sehr er sie vermisst hatte, sie liebte … Moment mal! Miss Samantha Degen? Aber das war ja sie! Sie reckte den Hals und suchte nach einem Hinweisschild zu einem Informationsschalter. Hoffentlich war ihm nichts zugestoßen. Oder ob er sie verpasst hatte und nun ausrufen ließ? Das leichte Zittern aufgrund von Übermüdung und Aufregung versuchte sie zu verbergen und schob den schwer beladenen Wagen mühsam in die Richtung, in der sie den Schalter erspäht hatte. Tim war leider nicht dort, um sie zu erwarten. Nun stand sie mit fragendem Blick an der Theke, hinter der sich drei sehr gepflegte, hübsche Damen emsig um die Belange der Reisenden kümmerten. Sie wartete, bis sie an der Reihe war.

„Miss Degen?“, vernahm sie hinter sich eine sanfte, dunkle Männerstimme. Sie drehte sich um und was sie sah, schien geradezu aus einem alten Western entsprungen zu sein.

Der Mann war groß, schlank und sehr durchtrainiert. In seiner Hand trug er einen schmuddeligen Cowboyhut und auch der Rest seiner Kleidung ließ vermuten, dass vor dem Gebäude nicht sein Auto, sondern eher sein Planwagen stand. Er roch sogar nach Pferd.

„Ja, äh … yes?“, stotterte sie überrascht.

„Mister Weinert wurde aufgehalten. Folgen Sie mir bitte.“

Schon machte er Anstalten, nach ihrem Gepäckwagen zu greifen, doch Sam hinderte ihn daran, indem sie nach ihm griff und ihn entschlossen festhielt. Sein Blick senkte sich überrascht auf die Hand auf seinem Unterarm.

„Moment mal. Aufgehalten? Aber … was hat das zu bedeuten? Natürlich komme ich nicht einfach so mit Ihnen, was denken Sie denn? Wo ist Tim?“

„Es ist alles in Ordnung, er ist nur verhindert. Sie haben jetzt die Wahl, Miss. Entweder kommen Sie mit oder Sie bleiben. Entscheiden Sie, ich habe nicht viel Zeit.“ Er war sichtlich genervt und entzog ihr seinen Arm.

„Wie bitte?“ Das war ja wohl die Höhe. „Und wohin gedenken Sie, mich zu bringen?“

„Auf die Brookstone Ranch. Wohin sonst?“

Nun, das stimmte schon mal. Er mochte nach Pferd stinken und seine Klamotten stammten vielleicht aus dem Nachlass von John Wayne, aber er sah nicht aus wie ein Mörder, der auf Flughäfen auf jemanden wartete, um ihn dann in der Prärie zu vergraben. Im Grunde sah er sogar ganz gut aus, sofern man sich unter all seinen Haaren sein Gesicht vorstellen konnte. Sein Vollbart wucherte wild und sein karamellfarbenes, beinah blondes langes Haar fiel ihm immer wieder ins Gesicht. Er strich es achtlos zurück und setzte sich den Hut wieder auf, wodurch sie zum ersten Mal freie Sicht in seine Augen hatte. Sanft schimmernde bernsteinfarbene Augen, deren Ausdruck sie kurz bis ins Innerste traf. Musste wohl am Jetlag liegen.

„Moment!“ Sie riss sich von seinem Blick los und kramte in ihrer Tasche. „So einfach geht das nicht. Ich werde versuchen ihn anzurufen, das verstehen Sie doch sicher.“

Ohne ihr zu antworten, schnappte er sich ihren Gepäckwagen, schob ihn Richtung Ausgang und Sam stöckelte mit dem Handy am Ohr hinter ihm her.

„Heutzutage passiert nun wirklich genug“, murmelte sie vor sich hin, während sie Tims Nummer wählte.

„Und warum ist er verhindert, Mister ähm …?“

Es läutete die ganze Zeit, doch niemand hob ab.

„Das fragen Sie ihn am besten selbst“, sagte Cowboy Namenlos und stapfte ungerührt weiter, ohne sich bei ihr vorzustellen. Nun zog sie ihn heftig am Ärmel und er stoppte, sichtlich überrascht.

„Würden Sie mir freundlicherweise Ihren Namen verraten?“

„Luke Brannigan.“ Mit einer Geste deutete er ungeduldig an, dass sie weitergehen sollten. Dabei blickte er abschätzig auf ihre Hand hinunter, die ihn noch immer an der Jacke festhielt. Sam ließ ihn so schnell los, als hätte sie sich verbrannt und packte ihr Handy wieder weg. Sie war verwirrt und das nicht nur über Tims Abwesenheit, sondern auch durch diese Honigaugen.

Er nickte kurz, etwas verärgert sogar, schob den Wagen wieder an und Sam hatte Mühe, seinen großen Schritten zu folgen. In ihrem Kopf fuhr alles Karussell. Warum war Tim verhindert und warum sagte ihr dieser Kerl nicht den Grund? Und sollte sie tatsächlich mit ihm fahren?

Die großen Doppelschwingtüren öffneten sich knapp vor dem Gepäckwagen und Sam blies in der Schleuse ein scharfer Wind, vermischt mit Heizluftgebläse, entgegen.

Ein Blick nach draußen und ihre Laune sank noch weiter in den Keller.

Schnee. Schnee! Und es war kalt. Lausig kalt!

Sie wagte noch einen kurzen Blick auf ihre neuen, sündhaft teuren, hochhackigen Wildlederstiefel.

„Verdammt!“, entfuhr es ihr, wodurch der grimmige Cowboy mitten im Durchgang abrupt stoppte und sie verdutzt ansah. Sie gab dem Gefühl nach, sich erklären zu müssen.

„Ganz schön viel Schnee.“ Er starrte sie nur ratlos an.

„Na, wegen meiner neuen Stiefel.“

Ohne eine Miene zu verziehen, sah er auf ihr Schuhwerk, hob den Blick wieder und ging wortlos weiter. Ihre Ankunft hatte sie sich in der Tat ganz anders vorgestellt. Sollte Tim etwas Furchtbares zugestoßen sein, war der Empfang durch Cowboy Griesgram zu entschuldigen, aber wenn nicht, dann konnte er sich auf etwas gefasst machen. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass sie nicht zu diesem Typ ins Auto steigen sollte und es wurde immer intensiver, je länger sie darüber nachdachte.

„Hören Sie, Mister Brannigan. Ich denke, ich warte doch lieber hier, bis Tim mich abholt oder er sich meldet.“

Sie blieb etwas aus der Puste gekommen stehen, nickte bekräftigend zu ihren Worten und auch der Cowboy stoppte erneut. Anstatt ihr jedoch zu antworten, schob er mit durchgestreckten Armen seine Hände tief in die Taschen seiner Jeans und sah lange vor sich auf den Boden, als müsste er über ihre Worte nachdenken. Viel zu lange, denn langsam kroch der eisige Wind durch ihre Kleidung. Sie zog ihre dünne Jacke fester um sich und fing an zu zittern. Sie hätte sich besser vorher mal über das Klima in Wyoming informieren sollen.

Er schwieg.

Sie zitterte.

Er schwieg.

„Haben Sie mich verstanden? Ich denke, ich bleibe lieber hier.“

Mit erklärenden, ausufernden Gesten, als versuchte sie sich in Gebärdensprache, machte sie einen kleinen, fast zaghaften Schritt auf ihre Koffer zu. Die Kälte ließ sie jetzt heftig frösteln. Endlich hob er den Blick und sie befürchtete, dass dieser emotionslose Kerl nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Auch wenn er wirklich schöne Augen besaß. Er lehnte sich lässig an ihren Gepäckwagen, verschränkte die Arme und betrachtete sie von oben bis unten. Schweigend. Mittlerweile schlackerten ihr schon die Knie vor Kälte. Völlig blödsinnige Idee, sich einen Rock anzuziehen.

„Also …“, klapperte sie mit den Zähnen, „ich danke Ihnen, doch jetzt schiebe ich mein Gepäck wieder zurück in die Halle und warte dort auf …“

„Kalt?“, erkundigte er sich plötzlich. Seine Stimme war sanft, stand völlig im Gegensatz zu seiner Erscheinung.

„Und wie!“, gestand sie, ein wenig verwirrt über den schmeichelnden Klang seiner Frage. „Ich spüre meine Füße bald nicht mehr.“

„Wenn Sie nicht mit mir kommen, sollten Sie sich daran gewöhnen, denn der Terminal wird nachts geschlossen.“

Er schien nicht viele Worte um etwas zu machen. Indem er sie hatte zittern lassen, hatte er sein Ziel einfacher und schneller erreicht als mit langen Diskussionen. Welch kluger Schachzug.

„Also gut!“ Sie holte tief Luft und deutete ihm an, dass er weitergehen sollte.

Wenig später stoppte er den überladenen Gepäckwagen neben einem riesigen Pick-up, auf dessen Türen das Werbebanner der Brookstone Ranch prangte.

„Immerhin ist es keine Kutsche“, stellte sie fest und erntete von ihm nur ein leichtes Kopfschütteln. Sie beobachtete ihn dabei, wie er ihr Gepäck auf den Rücksitzen verstaute und ihr gefiel, wie geschmeidig er sich bewegte. Mühelos wuchtete er ihre schweren Koffer in den Wagen. Als er ihr einen kurzen Seitenblick zuwarf, sah sie schnell zur Seite und fühlte sich ertappt.

Augenblicke später nahm sie neben ihm in dem Monstrum Platz und schnallte sich an. Ihre Hände zitterten dabei leicht, sie war beinah durchgefroren. Mit einem spöttischen Seitenblick auf ihre Beine, die lediglich in dünnen Nylonstrumpfhosen steckten, drehte er die Heizung höher. Sie bedachte es mit leisem Dank.

„Wie lange wird die Fahrt dauern, Mister Brannigan?“

„Vielleicht eine Stunde.“

Er schien im Allgemeinen nicht sehr redefreudig zu sein.

„Vielleicht?“, hakte Samantha nach, in der Hoffnung ein Gespräch beginnen zu können, doch er nickte nur verhalten. Als sie erneut tief einatmete, fiel ihr dieser strenge Geruch wieder auf. Es roch in dem Auto leider noch intensiver nach Pferd. Mit diesen großen, schönen Tieren hatte sie nicht mehr viel im Sinn. Ja früher, als kleines Mädchen, da war sie immer zur Kirmes gerannt, um auf einem der Ponys im Kreis zu reiten. Später jedoch empfand sie das als fürchterliche Tierquälerei und das war es ja leider auch. Sam konnte nicht begreifen, dass es das sogar heutzutage noch gab. Als Teenager hatten sie und Sarah dann sogar ein eigenes Pferd besessen, doch später waren Schule und Studium wichtiger geworden und das Interesse an Pferden beinah völlig versiegt. Die Leidenschaft für diese schönen Tiere war vielleicht doch nur etwas für pubertierende Mädchen.

Seltsam. Früher hatte sie den Geruch von Pferden geliebt.

„Haben Sie etwas dagegen, wenn ich das Fenster etwas öffne? Es duftet hier ziemlich nach Pferd.“

Sie sagte es lächelnd, es sollte vertraulich wirken, doch weil er nicht die winzigste Regung zeigte, war ihr danach, ihn zu provozieren. „Und auch ein wenig nach Cowboy.“ Sie lächelte ihn an, in der Erwartung, dass er sie ansah, vielleicht sogar zurücklächelte. Sie würde zu gern einmal sehen, wie sein Gesicht aussah, wenn er lächelte.

„Sie befinden sich im Bundesstaat Wyoming, Miss. Auch Cowboy Country genannt. Es dürfte Ihnen demnach schwerfallen, Ihrer Nase zuliebe, beiden aus dem Weg zu gehen.“ Dann eben nicht.

Sie ließ das Fenster geschlossen, entschied sich ebenfalls zu schweigen und betrachtete ihre Umgebung im Dämmerlicht des Abends. Bald würde das letzte, diesige Tageslicht von der Nacht verschluckt, doch der Anblick der grandiosen, winterlichen Landschaft ließ sie kurz die Luft anhalten. Entfernte, schneebedeckte Berggipfel, deren Spitzen, angestrahlt von der untergehenden Sonne, feuerrot und beeindruckend aus dem Kranz der Wolken ragten. Der klare Himmel darüber zeigte sich von einem hellen Blau bis hin zu tiefem Dunkelviolett. Der Nebel im Tal vermochte das königliche Gebirgsmassiv nicht zu verschlucken. Stolz thronte es über den Wolken. Während sie schweigend Meile um Meile fuhren, verdichtete sich der Nebel immer mehr und sie konnte irgendwann kaum mehr die Straße ausmachen. Es war unheimlich und sie verstand, warum er es vorhin wohl so eilig gehabt hatte.

„Wissen Sie den Grund, warum Tim mich nicht abholen konnte? Es geht ihm doch gut, oder?“

„Ja, es geht ihm gut.“

Das war’s.

Sie hätte erneut bohren müssen, doch sie war viel zu gerädert und müde, als dass sie Lust gehabt hätte, Mister Zugeknöpft die Würmer aus der Nase zu ziehen. Es ging Tim gut. Fertig. Der Rest würde sich sicher klären. Vielleicht hatte er zu einem Patienten gemusst und konnte nicht rechtzeitig zurück sein. Das war sicher der Grund. Über all diese Gedanken entspannte sie sich langsam und genoss es, dass ihr Chauffeur so ruhig dahinfuhr. Sie spürte die Wärme aus dem Fußraum, die an ihr hochkroch, sie sanft umhüllte und schnell müde werden ließ. Sam sank immer tiefer in den Sitz und konnte kaum noch verhindern, dass ihre Augenlider schwer wie Blei wurden.

Sie musste eingeschlafen sein, denn irgendwann wurde sie sachte geweckt. Brannigans Hand lag leicht auf ihrem Unterarm und er bewegte sie behutsam hin und her.

„Miss?“

Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. „Oh, Verzeihung, ich war wohl etwas übermüdet. Sind wir angekommen?“

Natürlich antwortete er nicht, sondern wies Richtung Frontscheibe. Sam folgte seinem Fingerzeig. Sie standen vor einem riesigen Eingangstor, auf dem groß der Schriftzug der Brookstone Ranch prangte. Weit und breit war in der Dunkelheit sonst nichts zu sehen.

Fassungslos sah Sam auf die kümmerliche Gestalt, die vor ihr auf dem Sofa hockte, sich den schweren Kopf hielt und jammerte, während Brannigan ihre Koffer in die Hütte trug. Einmal noch hatte er flüchtig zu ihr hinübergesehen, als er eines ihrer Gepäckstücke absetzte und sie konnte in seinem Gesicht lesen, dass er den Grund für Tims Abwesenheit gewusst hatte. Und mehr noch, es sah so aus, als täte sie ihm leid.

„Du hast getrunken?“

„Nun mach kein Drama daraus. Es ist doch alles in Ordnung, Liebes. Du bist hier. Ob ich nun am Flughafen stehe oder der da.“ Er wies mit der Hand in Brannigans Richtung und es hatte etwas Abfälliges. „Was macht das schon? Ich …“

Er stockte, weil der Cowboy wieder die Hütte betrat und das letzte Teil ihrer Kofferansammlung hereinschleppte. Beim Hinausgehen tippte er sich zum Gruß an seine Hutkrempe, vermied allerdings jetzt den Blickkontakt mit ihr.

„Vielen Dank, Mister Bran…“, rief sie ihm noch hinterher, doch er war viel zu schnell aus der Tür verschwunden.

„Tinman ist sicher nicht das beste Empfangskomitee, das gebe ich zu und du hast recht, ich hätte da sein sollen.“ Er stand umständlich auf und griff nach ihrer Hand. „Es tut mir wirklich leid, Sam, aber wenn man hier dazugehören will … Es war eine komplizierte Fohlengeburt, und nachdem alles gut gegangen war, folgte ein Glas dem anderen. Wie das manchmal so ist, Sam. Ich konnte doch nicht dauernd ablehnen, wenn sie es wieder füllten. Wie ich schon sagte, wenn man dazugehören will, dann …“

„Du nennst ihn Tinman?“

Tim blickte etwas irritiert. „Alle nennen ihn so.“

„Aber Tinman war doch dieser Gießkannenkerl ohne Herz, oder? Der aus dem Film, na, wie hieß er noch …?“ Tatsächlich fand sie den Spottnamen für ihn irgendwie unpassend. Brannigan mochte schweigsam sein, vielleicht auch teilnahmslos, aber herzlos, nein, sonst hätte er sie am Flughafen erfrieren lassen.

„Wie auch immer, mein Schatz, ich bin froh, dass du nun hier bist. Du legst dich am besten etwas hin, und sobald du ausgeruht bist, fahren wir rüber zum Haupthaus. Die Hartwells erwarten uns zum Abendessen und ich weiß, du wirst sie lieben. Sie sind Sam?“ Draußen startete gerade der Pick-up und entfernte sich mit blubberndem Motorengeräusch. Tim stellte sich jetzt nah vor sie, nahm ihre Hände in seine und brachte sie dazu ihn anzusehen.

„Und sie werden dich lieben, ganz sicher.“

Seine warmen Hände holten sie aus ihren Gedanken und beim Blick in seine bittenden Augen vergaß sie, dass sie eigentlich sehr sauer auf ihn war.

„Ich bin überglücklich, dass du endlich wieder bei mir bist, mein Schatz. Ich habe dich wahnsinnig vermisst.“ Er beugte sich nach vorn und küsste sie. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie sich noch gar nicht richtig begrüßt hatten.

Wenig später saß sie im Kreise wildfremder Menschen und fühlte sich so wohl wie lange nicht mehr. Tim hatte nicht übertrieben, die Hartwells waren wunderbare Menschen.

Das Oberhaupt der Familie war Matthew Hartwell. Ein großer, kantiger Mann mit riesigem Schnauzbart und schwarzem Haar, das bereits an der einen oder anderen Stelle von silbernen Fäden durchzogen wurde. Seine Hände wirkten auf Samantha wie riesige Schaufeln und sein mitreißendes Lachen dröhnte erfrischend oft durch die Räume.

Rachel, seine Frau, war schätzungsweise Mitte fünfzig, noch immer sehr attraktiv und von einer überwältigenden Warmherzigkeit. Sie half Samantha so einige Male, wenn es sprachliche Barrieren oder Missverständnisse gab.

Darren Hartwell, der Sohn der Familie, schien ein Heißsporn zu sein. Er war groß und schlank, beinah schlaksig, recht attraktiv, von sich überzeugt und manchmal ein wenig zu laut. Dennoch auf eine derart sympathische und witzige Art, dass Sam oft über ihn lachen musste und er es genoss, wenn seine Späße Anklang fanden. Samantha schätzte, dass sie ungefähr im selben Alter waren. Tim und er verstanden sich zweifelsohne prächtig.

Laury, seine jüngere Schwester, war einer zarten Elfe gleich. Um einiges stiller als ihr Bruder und sehr viel aufmerksamer für die Situationen um sie herum. Sie wirkte auf Sam etwas verträumt und dennoch hellwach. Ihr gewelltes blondes Haar umschmeichelte ihr wunderschönes Puppengesicht und ihre großen braunen Augen kreuzten oft Samanthas Blicke. Sam hoffte sehr, dass sie sich anfreunden würden.

„Nun, Samantha“, begann sie und beugte sich leicht zu ihr herüber, „weißt du denn schon von dem Scheunenfest, das wir dir zu Ehren geben?“

„Ein Fest? Für mich?“ Überrascht und erstaunt blickte sie in die Runde.

„Ja“, bestätigte jetzt Matthew, „wir dachten, es ist eine gute Gelegenheit für dich, alle kennenzulernen, die diese Ranch ausmachen. Und umgekehrt natürlich. Sie sind alle sehr neugierig, wer die zukünftige Frau des Tierarztes ist.“

„Oh … das ist …“ Solch eine Aufmerksamkeit war sie nicht gewohnt. Verlegen fuhr sie sich durchs Haar. Rachel schien ihre Unsicherheit sofort zu bemerken.

„Glaub mir, Sam. Sie nehmen jede Gelegenheit wahr, um ein Scheunenfest zu feiern“, aufmunternd lächelte sie Samantha an, „und es ist schier unmöglich, keinen Anlass zu finden. Es gab hier bereits die kuriosesten Feiern, wie zum Beispiel das Glühwürmchenfest oder der Schlangengrubenabend. Denk dir also nicht zu viel dabei.“ Sie lächelte noch immer, während Matthew und sein Sohn ihnen gut gelaunt zuhörten.

„Wer wird zu dem Fest kommen und wann wird es stattfinden?“

Sam war nach Rachels Worten zwar gelöster, dennoch war ihr noch etwas unbehaglich zumute. Sie fühlte sich, als müsste sie vorgeführt oder einer Prüfung unterzogen werden.

„Gleich nächsten Samstag. Das lassen sich unsere Cowboys nicht entgehen. Es gibt wie immer ein umfangreiches Barbecue und selbstverständlich viel zu trinken.“ Darren frohlockte bereits.

„Cowboys?“ Bereits als Sam es aussprach, fand sie es selbst etwas einfältig. Man könnte glatt annehmen, sie hätte noch nie von ihnen gehört. Tatsächlich musste sie innerlich zugeben, dass sie nicht angenommen hatte, dass es heutzutage noch welche gab. Höchstens im Film oder für Touristen. Cowboys und Indianer, wer denkt denn auch an so was?

„Nun, du brauchst keine Angst vor ihnen zu haben. Sie mögen ab und an eine ruppige Art an den Tag legen, ihre Späße sind bisweilen sehr gewöhnungsbedürftig und ihre Witze eher derb, aber sie haben alle das Herz auf dem rechten Fleck“, bemühte sich Matthew, sie zu beruhigen.

„So wie dieser Tinman?“

Überrascht ruhten plötzlich alle Blicke auf ihr. Sam bereute ihre vorschnelle Plapperei sofort.

„Du kennst unseren Tinman?“

„Ja … also … Tim …“, stotterte Sam.

Tim unterbrach sie sofort. „Ich bin unvorhergesehen aufgehalten worden. Tinman war so freundlich, statt meiner zum Flughafen zu fahren.“

Darren hustete leicht, doch Matthew reichte das als Antwort. Er nahm das Gespräch über das Fest wieder auf, indem er mit Rachel einige organisatorische Dinge klärte. Laury jedoch war neugierig und hakte nach.

„Und, was hältst du von ihm?“, erkundigte sie sich, bevor Sam über Darrens seltsame Reaktion nachdenken konnte.

„Das kann ich kaum sagen, da er nur wenig mit mir gesprochen hat.“ Wobei sie zugeben musste, dass sie schon den ganzen Abend öfters an seine sanfte Stimme und die schönen Augen denken musste.

„Ja, das hört sich tatsächlich ganz nach unserem Tinman an.Die junge Frau lächelte in sich hinein.

„Warum nennt man ihn so?“ Es ließ ihr irgendwie keine Ruhe.

„Ich weiß es gar nicht mehr genau, muss ich gestehen. Irgendwer hat ihn irgendwann mal so genannt und von da an taten es alle“, erklärte Laury bereitwillig.

„Stört es ihn denn nicht? Es ist nicht wirklich schmeichelhaft, oder?“

Laury sah vor sich auf die Tischkante und schien über Sams Frage nachzudenken.

„Nun“, fuhr sie nach einem Moment fort, „das Dumme ist, selbst wenn es ihn stört, er würde es nie sagen, denn er ist eben Tinman. Er spricht so gut wie nie, mit niemandem und es scheint, als wäre ihm alles egal. Darum wohl auch der Name. Es kennt ihn leider auch niemand so wirklich, denn er tauchte eines Tages auf, fragte Dad nach Arbeit und seitdem ist er hier.“

„Er ist ein erstklassiger Arbeiter. Sehr zuverlässig und pflichtbewusst. Der beste, den ich je hatte“, warf Matthew dazwischen, wandte sich aber gleich wieder Rachel und ihrem eigenen Gespräch zu.

Sam nutzte die Sekunden, um einen Blick zu Tim zu werfen. Der war mit Darren aufgestanden und sie hatten sich in eine Unterhaltung vertieft in den weichen Sesseln vor dem Kamin niedergelassen. Tim hielt einen Drink in der Hand und Sam fragte sich, wann er angefangen hatte, zu trinken. Das hatte er früher nicht getan.

„Wird er auch zum Fest kommen?“

Sam wusste, dass sie ihre Neugier zügeln musste, denn sonst würde man noch etwas interpretieren, was so gar nicht stimmte, aber diese eine Frage musste noch sein.

„Tinman? Nein, ich denke nicht. Er meidet die Menschen wie die Pest. Darum wundert es mich ehrlich gesagt auch, dass ausgerechnet er dich vom Flughafen abgeholt hat.“

Mit den Fingern zeichnete Sam die Holzmaserung auf dem Tisch nach. Dieser Cowboy beschäftigte sie mehr, als sie es zulassen sollte.

„Wohnt er denn auch hier auf der Ranch?“

Ja, das war eine weitere Frage, aber Matthew und Rachel waren, wie auch Tim und Darren, in ihre eigenen Unterhaltungen verwickelt und Laury schien gern und bereitwillig über Mister Zugeknöpft reden zu wollen.

„Die meisten wohnen hier auf der Ranch, manche aber auch drüben, in der Stadt. Wenn der Frühling beginnt, kommen auch die Saisonarbeiter zurück. Tinman gehört zur Stammmannschaft und wohnt in einer kleinen Hütte am Rabbit Creek, knappe zwanzig Minuten von hier. Wenn du möchtest, können wir beide ja mal zusammen in die Stadt fahren. Gemeinsam shoppen. Du gehst doch gern einkaufen, Sam?“

Trügerische Nähe …

die Liebe nur erkauft.

Selbst wenn du Wärme säst,

kriecht Kälte nur herauf.

Die Mauern viel zu hoch,

beim Klettern ungeschickt.

Stets wartet überall der Tod,

der Himmel keinen Engel schickt.

 

 

Und wieder dieser ekelerregende Geschmack im Mund. Luke ließ die Augen fest geschlossen und schluckte einige Male trocken. Es war Zeit genug, er brauchte sich nicht zu hetzen. Sein Arm bewegte sich kaum und strich geräuschlos neben sich über das kühle Bettlaken. Grenzenlos erleichtert stieß er die angehaltene Luft aus.