Reinhard Griebner

Der lachende Löwe

Eine Albert-Schweitzer-Biografie

Morio Verlag

Reinhard Griebner, geb. 1952. Studium der Kulturwissenschaften und Journalistik. 1975 bis 1981 Redakteur und Moderator der Sendung „Kulturmagazin“ im DDR-Fernsehen. Bis 1990 schriftstellerische Tätigkeit, anschließend als stellvertretender Chefredakteur an der demokratischen Erneuerung des Deutschen Fernsehfunks beteiligt. 1992 bis 2010 für verschiedene ARD-Anstalten tätig, seitdem freier Autor (Prosa, Hörspiel, Feature, Film).

2014

© Morio Verlag, Heidelberg

www.morio-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Gesamtherstellung: Morio Verlag, Heidelberg Umschlaggestaltung: Birte Janzen (www.eindesign.de)

Umschlagabbildung: Albert Schweitzer anlässlich der Aufnahme in den Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste, Bonn 11. November 1955 (© akg-images)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978-3-945424-17-9

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Zum Autor

Impressum

Stromaufwärts

„Das magere Kindchen mit dem gelben Gesichtchen“

„Deutsch ist mir Muttersprache“

„Recht gut!“ oder Die Pleite mit der Hose

„Wenn einer kein Gefühl hat, so kann ich ihm auch keines geben“

Der doppelte Doktor

Am Weh der Welt mittragen

„Eine Orgel ist wie eine Kuh ...“

Freitag der Dreizehnte

Der dreifache Doktor

Das Fräulein treuer Kamerad

Stumm wie ein Fisch

An Bord der „Europa“ nach Afrika

„Ich bin dein Bruder; aber dein älterer Bruder“

Sprechstunde im Hühnerstall

„Der Schmerz ist ein furchtbarerer Herr als der Tod“

Zwischen Wasser und Urwald gefangen

Ehrfurcht vor dem Leben

An Bord der „Afrika“ nach Europa

Der verlorene Groschen

Dr. N’Tschinda-N’Tschinda, Dr. Ogula und der „Sklave der Arbeit“

Im Tal des „Sonnenkönigs“

„Mein Haus hat Goethe mir geschenkt“

„Mit zentralafrikanischem Gruß“

Zwölf Tage – neun Jahre

Amerika

Schwarzer Bruder – weißer Bruder

„Welche Katz hat Junge gemacht?“

Geburtstage, Geschichten, Gedanken, Gedenken

Bomben-Stimmung

„Die Völker sind das Bleibende“

Das letzte Kapitel

Literaturabkürzungen

Verwendete Quellen und Literatur (Auswahl)

Zeittafel

Stromaufwärts

Im August des Jahres 1915 tuckert, von Kap Lopez kommend, ein kleiner Dampfer den Ogowe hinauf. Das Schiff führt einen überladenen Schleppkahn mit sich, der einen prominenten Passagier an Bord hat: den deutschen Urwaldarzt Albert Schweitzer. Da es seiner Frau Helene nicht gut ging, hatten beide ein paar Wochen am Meer verbracht, dort erreichte Schweitzer die Mitteilung, dass in N’Gômô, zweihundert Kilometer flussaufwärts, eine Missionsdame namens Pelot erkrankt sei und dringend seiner Hilfe bedürfe.

Mühsam kämpft sich das Boot auf dem Strom voran. In der trockenen Jahreszeit muss der Schiffsführer all sein Geschick und seine Erfahrung in die Waagschale werfen, um nicht an einer der zahllosen Sandbänke zu stranden.

Ein Sonnenuntergang wie aus dem Malkasten, das Wasser glitzert im Abendlicht, noch geben die Frösche den Ton an, die Vögel stimmen sich auf ihr Nachtkonzert ein, im flachen Wasser sielen sich Flusspferde. Das Dampfschiff nähert sich der Siedlung Igendja.

Schweitzer hat sich an Deck des Schleppkahnes niedergelassen. Den Tropenhelm hat er über sein Knie gestülpt. Er kaut auf den Spitzen seines struppigen Schnurrbartes, die ihm unentbehrliche schwarze Fliege hat sich an seinem Hals selbstständig gemacht, sie baumelt schlaff unter dem Kinn und gibt den Blick auf den obersten Knopf seines kurzärmeligen Hemdes frei.

Seit Tagen denkt Schweitzer nach, über Gott und die Welt.

Er möchte wieder ein Buch schreiben, ein Buch, in dem er dem Publikum seine Vorstellungen von einem sinnerfüllten Dasein auf Erden ausmalt. In dem Dasein als Hiersein verstanden wird, so viel ist schon mal klar. Als Aufforderung zum Denken und zum Handeln. Mit einem deutlichen Ja zu dieser Welt und einem ebenso deutlichen Ja zum Leben. Grundsätzliche Fragen eines gottgefälligen Miteinanders sollen in diesem Buch behandelt werden. Was macht den Menschen zum Menschen? Was ist verboten, was ist ihm erlaubt?

Sein Merkheft ist prall gefüllt mit Notizen. Aber Schweitzers Gedanken drehen sich im Kreis. Er findet die Formel nicht. Ihm fehlt das Zauberwort, das ihm den Zutritt zu diesem Gedankengebäude öffnet. Das erlösende „Sesam, öffne dich!“, mit dessen Hilfe er sich voranarbeiten könnte von Tür zu Tür.

Der Vierzigjährige beugt sich über die Reling und schaut zu, wie die Schiffsräder des Dampfers das Flusswasser quirlen. Es flutet viel Wasser unter dem Erdboden, das nicht als Quelle herausbricht, geht es ihm durch den Kopf. Eine trostvolle Beobachtung. Das meiste ist unsichtbar. Selber aber sollen wir Wasser sein, das den Weg findet, Quelle zu werden, ja sicher, er will eine solche Quelle sein!, an der Menschen den Durst nach Dankbarkeit stillen können. Nicht aus Gefallsucht will Schweitzer Quelle sein, sondern um der Welt einen Dienst zu erweisen. Um der Welt seinen Dienst zu erweisen.

„Bonjour, Docteur.“

Emil Ogouma, ein schwarzer Freund aus Lambarene, klettert aus einer Luke auf das Deck des Schleppkahnes und hält dem „Oganga“, wie die Eingeborenen in Äquatorialafrika ihren Fetischmann nennen, einen dampfenden Kochtopf entgegen. Seine wonnevoll verdrehten Augen signalisieren, dass das Geschirr eine köstliche Speise enthält – gebackene Bananen und Reis. Schweizer winkt ab, höflich aber bestimmt. Er hat keinen Hunger. Nicht mal Appetit. Er hat mit sich zu tun. Er hat das Gefühl, sich mit seinem Nachdenken über Gut und Böse gegen eine eiserne Tür zu stemmen, die einfach nicht nachgeben will.

Ein Moskito hat sich auf seinem Handrücken niedergelassen, neugierig schaut der Mann zu, wie das Insekt sein Stechwerkzeug in Stellung bringt. Belustigt nimmt er zur Kenntnis, dass er, Doktor Albert Schweitzer aus dem Elsass, in diesem Moment vom vernunftbegabten Wesen zum gewöhnlichen Beutetier wird. So funktioniert Natur! Ein Vers von Goethe kommt ihm in den Sinn, ein Vierzeiler aus dem „Westöstlichen Diwan“:

ALS ich einmal eine Spinne erschlagen,

Dacht ich, ob ich das wohl gesollt?

Hat Gott ihr doch wie mir gewollt

Einen Anteil an diesen Tagen!

Schweitzer holt tief Luft und führt die Hand zum Mund, mit einem maßvollen Atemstoß entfernt er die Stechmücke von deren Landeplatz. Unversehrt schwirrt der kleine Vampir davon. Emil Ogouma, der die Szene beobachtet hat, stochert mit seiner Gabel im Reis und zwinkert seinem Gegenüber wissend zu. Wenngleich es ihm unmöglich ist, dessen Gedanken zu ergründen.

Fuchsteufelswild kann er werden, der weiße Medizinmann, wenn jemand in seinem Umfeld einer Kreatur ein Leid tut. Auch wenn es sich dabei nur um eine Kröte, einen Falter, ein armseliges Krabbeltier handelt. Im Spital von Lambarene stehen selbst Ameisen und Käfer unter dem persönlichen Schutz des Chefs.

Albert Schweitzer schließt die Augen und verschränkt die Hände im Nacken. Ich bin Leben, das leben will, … geht es ihm durch den Kopf. – Das gilt auch für den kleinen Blutsauger, dem ich soeben den Appetit verdorben habe. So weit, so gut. – Er öffnet die Lider und nimmt wahr, dass das Schiff durch eine Herde Nilpferde hindurchfährt. Das ist ein Faden, an dem man ziehen kann, ganz behutsam, Millimeter um Millimeter, damit es nicht zerreiße, das zarte Gedankengespinst. … inmitten von Leben, das leben will.

Albert Schweitzer lauscht in die Finsternis.

Fast kommt es ihm vor, als wäre der Dschungel für Sekundenbruchteile verstummt. Kein Zirpen dringt an sein Ohr, kein Fiepen, kein Rascheln, kein Raubtierschrei, kein Vogelsang. Da ist allein dieser eine, dieser alles erfüllende Satz: Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.

Aber das ist es doch!

Ungestüm hämmert das Herz in seiner Brust. Die Eisentür ist aufgesprungen! Schweitzer presst seine Hände so fest gegen die Reling, dass die Knöchel weiß heraustreten, taumelig vor Glück. Das genau ist die Zauberformel, die sich ihm so lange versperrt hat. Als Bube war ihm jenes Ideengefüge hin und wieder in Gestalt einer Ermahnung begegnet: „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg auch keinem andern zu.“ So lange fehlten ihm die Worte, nun hat er ihn dingfest gemacht, jenen Gedanken, der ihn seit Jahren beschäftigt, der sich ihm schemenhaft im Unterbewussten abzeichnete, ohne dass er in der Lage war, ihm einen Namen zu geben. Und der ihm bis ans Ende seiner Tage Richtschnur seines Daseins sein soll: Ehrfurcht vor dem Leben.

„Das magere Kindchen mit dem gelben Gesichtchen“

Am 14. Januar 1875, einem Donnerstag, erblickt Albert Schweitzer als zweites Kind des evangelischen Pfarrers Louis Théophile Schweitzer und dessen Ehefrau Adele, geborene Schillinger, in Kaysersberg das Licht der Welt. Sein Geburtshaus, ein schmucker Fachwerkbau mit Torbogen zum Hof, drei Mansardenfenstern und einem spitzen Türmchen auf dem Dach, steht am oberen Ortsausgang neben dem Festungsturm.

Kaysersberg wird 1227 zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Das mittelalterliche Städtchen liegt im Oberelsass, zehn Kilometer nordwestlich von Colmar, und hat einiges zu bieten: ein ansehnliches Renaissance-Rathaus, die Pfarrkirche Sainte-Croix sowie die Ruine einer Staufernburg, die von den Schweden im Dreißigjährigen Krieg in Schutt und Asche gelegt wurde. Ein besonderes Kleinod ist die Brücke, die über den Fluss Weiss führt – ein Bauwerk aus dem Jahr 1514 mit Brustwehr und Schießscharten.

Lokale Berühmtheit erlangte das Städtchen dadurch, dass in seinen Mauern im fünfzehnten Jahrhundert ein Volksprediger aufwuchs, der später am Straßburger Münster wirkte und aus Dankbarkeit, oder warum auch immer, mit dem Namen der Wahlheimat seinen eigenen komplettierte: Johann Geiler von Kaysersberg. Ob der Lautstärke seiner Unterweisungen von den Kirchgängern respektvoll „Kanzelposaune“ geheißen. Das muss man sich nicht merken, und auch nicht die auf den ersten Blick wenig erhellende Beifügung, dass das Jahr 1875 ein vorzügliches Weinjahr gewesen sein soll. Albert Schweitzer aber, das gibt er unumwunden zu, hat sich als Bube auf beides etwas eingebildet – auf den berühmten Prediger und auf den in der Fachwelt gepriesenen Fünfundsiebzigerwein.

Albert heißt der im Zeichen Steinbock Geborene also, benannt nach dem Halbbruder seiner Mutter, der Pfarrer an der Kirche St. Nicolai zu Straßburg gewesen und im Sommer 1872 unter unglücklichen Umständen ums Leben gekommen war. Der Name Albert hat seine Wurzeln im Althochdeutschen und steht für „edel, von glänzender Abstammung“. Schweitzer bedeutet nichts anderes, als „der aus der Schweiz“. Seit dem siebzehnten Jahrhundert ist die Verwandtschaft in der Gegend um Straßburg ansässig.

Der Beruf des Geistlichen liegt nicht nur bei den Schweitzers in der Familie, auch Johann Jakob Schillinger, der Großvater mütterlicherseits, hatte in Mühlbach im Münstertal als Pfarrer gearbeitet. Seine Kindheit und Jugend, die Albert später als eine einzigartig glückliche Zeit in Erinnerung hat, sollte er mit vier Geschwistern teilen; neben Luise, dem ältesten Spross der Familie, gibt es noch zwei Schwestern und den Bruder Paul. Ein viertes Mädchen, Emma, mussten die Eltern zeitig zu Grabe tragen.

*

Zeit und Raum, in die Albert Schweitzer hineingeboren wird, sollen kurz beleuchtet werden. Das Elsass ist eine Gegend, nach der seit Jahrhunderten sowohl französische als auch deutsche Fürsten und Könige immer wieder begierig ihre Finger ausstreckten. Man kann auch Alsace sagen, je nachdem, welche Seite die Begehrlichkeit artikuliert. Die Folge: ein kriegerisches Hin und Her. Ausgetragen auf dem Rücken der kleinen Leute. Die wahlweise den Blutzoll zahlen, oder als Kanonenfutter herhalten müssen. Hier in den Vogesen wie bei vergleichbaren Streitigkeiten überall in der Welt.

Woher genau die Bezeichnung Elsass stammt, ist umstritten; womöglich kommt jene Version der Wahrheit am nächsten, bei der von den am Fluss Ill Ansässigen die Rede ist. Demzufolge wären die Illsassen Namenspatron für diesen hinreißenden Flecken Erde.

„Welch ein schöner Garten!“, hatte bereits Ludwig XIV., der „Sonnenkönig“, festgestellt und umgehend Interesse geltend gemacht. Doch blieben auch nach seiner Regentschaft deutsche Einflüsse, vor allem im Wirtschaftsleben und in der Kultur, bestehen. Im Zuge der Französischen Revolution ergriffen die Franzosen vom gesamten Landstrich Besitz. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/​71 riss sich im Frankfurter Frieden das Deutsche Reich das Elsass und einen Teil Lothringens unter den Nagel. Und nach dem Ersten Weltkrieg, wir greifen zwar vor, aber damit ist die Sache ein für alle Mal abgearbeitet, fiel Alsace-Lorraine durch den Vertrag von Versailles zurück an Frankreich. Was für Albert Schweitzer den biografischen Nebeneffekt hatte, dass seine Geburtsurkunde deutsch war, und er ab 1919 mit französischem Pass durch die Welt touren sollte. Nach dem Überfall auf Frankreich verleibte sich 1940 Hitler das Elsass ein; seit 1945 ist es wieder Teil der Französischen Republik.

*

Nur wenige Monate nach Albert Schweitzers Geburt zieht die Familie aus Kaysersberg fort, es geht südwärts, der Vater übernimmt die Pfarrstelle im benachbarten Günsbach. Zur feierlichen Amtsübernahme hat die Mama den schwächelnden Säugling fesch herausgeputzt, der Stammhalter steckt in einem weißen Kleidchen, farbige Bänder komplettieren seine Festtagsgarderobe. Aber keine der zur Feier gekommenen Pfarrfrauen der Umgebung wagte, ihr ein Kompliment über das magere Kindchen mit dem gelben Gesichtchen zu machen. Da schnappt sich Adele den zerbrechlichen Knaben, kehrt der Gesellschaft den Rücken und weint in der Schlafstube vor Verzweiflung bittere Tränen.

Doch es sollte noch schlimmer kommen. Einmal, heißt es in Schweitzers Erinnerungen, hielt man mich gar für tot. Die gesunde Günsbacher Luft und die Güte des Nachbarn Leopold, der das Kummerkind mit frischer Kuhmilch versorgt, holen Albert ins Leben zurück. Im Alter von zwei Jahren ist der Junge über den Berg. Zu Recht wird er sich später immer einmal wieder Albert, das Glückspinselchen nennen.

Weil wir gerade von Herrn Leopold reden, könnte man auf eine zweite Guttat zu sprechen kommen, mit der sich dieser dem Schweitzer-Buben auf Lebenszeit in Erinnerung hielt. Es muss Anfang der achtziger Jahre gewesen sein, da reicht der gefällige Nachbar ein paar sonnenrote Früchte über den Zaun, die er im eigenen Garten geerntet hat. Das Geschenk versetzt Adele Schweitzer in gelinde Aufregung, sie weiß nicht recht, wie sie die Teile zubereiten soll. Also bringt sie diese als rote Soße auf den Tisch und füttert mit ihrer Verlegenheitslösung mehr den Abfalleimer als die Familie. Dabei hätte sie als Erfinderin des Ketchups in die Annalen der regionalen Küchengeschichte eingehen können. Die Tomate, denn um sie handelte es sich bei Bauer Leopolds „Sonnenkugeln“, war um 1880 weder in den Rezeptbüchern noch im Bewusstsein der Elsässer angekommen.

Als ich fünf Jahre alt war, begann mein Vater mich auf dem alten, vom Großvater Schillinger stammenden Tafelklavier zu unterrichten. Bevor die Rede auf Alberts Schulzeit kommt, wollen wir dieses Erbteil kurz ansprechen: seine musikalische Begabung. Oder weiter gefasst: die Liebe zur Musik. Da findet sich neben Großvater Schillinger, auf dessen gedeihliche Gene wir später zurückkommen werden, in der Familie noch eine andere Quelle. Philipp Schweitzer, Alberts Großvater väterlicherseits, war in Pfaffenhofen als Schullehrer und Organist tätig gewesen; drei seiner Brüder hatten denselben Beruf ausgeübt. Die Folgen, die sich aus Vater Schweitzers Unterricht am Tafelklavier ergeben, wollen wir später gesondert in Augenschein nehmen.

Im Herbst 1880 beginnt für Albert Schweitzer der sogenannte Ernst des Lebens. Vier Jahre lang wird er in Günsbach die Dorfschulbank drücken. Als mein Vater mir an einem schönen Oktobertage zum ersten Male die Schiefertafel unter den Arm gab und mich zur Lehrerin führte, weinte ich den ganzen Weg lang. Ich ahnte, dass es mit dem Träumen und der herrlichen Freiheit zu Ende sei. Als „Nachschlag“ bekommt er dann ab 1884 noch ein Jahr Realschule in Münster verpasst. Drei Kilometer zu Fuß, morgens hin, abends zurück. Das klingt nach Mühsal, ist es aber nicht. Die einsamen Spaziergänge am Berg entlang werden die Fantasie des Realschülers Schweitzer so sehr beflügeln, dass er sich sogar als Dichter und Zeichner versucht; allerdings muss er sehr bald gemerkt haben, dass beides nicht „sein Ding“ ist.

Albert Schweitzer beschreibt sich selbst als einen stillen und verträumten Schüler. Es bereitet ihm zunächst einige Mühe, in Lesen und Schreiben mithalten zu können. Allerdings liest er schon im Alter von acht Jahren das Neue Testament. Hier lernte er einen Mann kennen, der ihm zeitlebens zum verlässlichen Wegbegleiter werden sollte: Jesus von Nazareth. Und Albert fragt sich bei der Lektüre, was Joseph und Maria wohl mit dem Gold und den Schätzen angestellt haben könnten, die ihnen von den drei Weisen aus dem Morgenland übereignet worden waren? Wo sind all die Reichtümer geblieben?

Zu einem unvergesslichen Erlebnis wird Albert der Besuch des Schulinspektors Steinert. Und das nicht etwa, weil dem Fräulein Lehrerin vor Aufregung die Finger zittern. Auch ist seine Ehrerbietung nicht der äußeren Erscheinung des Mannes geschuldet – der Herr Inspektor ist klein, dickbäuchig und hat obendrein einen kahlen Kopf. Aber in seiner Person tritt Albert zum ersten Mal im Leben ein Mensch gegenüber, der ein Buch geschrieben hat. Der Name Steinert steht auf dem grünen Lesebuch der Mittelstufe und auf dem gelben Lesebuch der Oberstufe. Das macht den Mann im mausgrauen Anzug für Albert zur Respektperson.

Sieht man einmal von seinem verschlossenen Wesen und seinem Jähzorn ab, ist Albert ein verträgliches Kind. Man könnte auch sagen: eine Frohnatur – empfänglich für fast jeden Spaß. Von Lehrern und Mitschülern ist er dermaßen leicht zum Lachen zu bringen, dass ihn Pfarrer Schäffer im Religionsunterricht auf den Spitznamen Isaak, das heißt der Lacher tauft. Und im Klassenbuch steht des Öfteren zu lesen: „Schweitzer lacht.“ Da sich in dieser Bemerkung aus Warte des pädagogischen Personals eher Tadel als Lob ausdrückt, dürfte der Bube an solchen Tagen zu Hause wenig zu lachen gehabt haben.

Albert Schweitzer ist kein Raufbold, im Scherz aber lässt er sich hin und wieder schon auf ein Handgemenge ein. Einmal hat er seinen Schulkameraden Georg Nitschelm niedergerungen, da erklärt der Unterlegene seinem Bezwinger zu dessen nicht geringem Entsetzen: „Ja, wenn ich alle Woche zweimal Fleischsuppe zu essen bekäme wie du, da wäre ich auch so stark wie du!“

Der Schock sitzt tief. Und er signalisiert Schweitzer: Albert, du gehörst nicht wirklich dazu. „Herrenbüble“ nennen ihn die Mitschüler manchmal. Was kann es Entsetzlicheres geben? Er wehrt sich gegen das Etikett. Was soll das?! Wo kommt es her? Liegt das womöglich daran, dass er als Einziger mit gestärktem Hemdkragen zum Unterricht erscheint? Er mag nicht wahrhaben, dass die anderen ihn nicht als ihresgleichen akzeptieren. Ihre gemeinen „Pfarrerssöhnle“-Rufe hallen in seinen Ohren. Er will so sein wie sie.

Schon beim nächsten Einkauf in Straßburg bekommt Mama Adele die Folgen zu spüren. Albert verweigert die Annahme der schnittigen Matrosenmütze, die sie ihm, im Bunde mit der geschäftstüchtigen Verkäuferin, aufschwatzen will. Kein Junge in Günsbach trägt eine Matrosenmütze! Eine braune Kappe soll es sein, eine mit herausklappbaren Ohrenschützern. Dazu Fausthandschuhe, nicht solche mit Fingern! Alle Dorfjungen haben Fäustlinge an. Und in gewöhnlichen Holzpantinen geht er jetzt wochentags zur Schule. Die Jungs von nebenan dürfen schließlich auch nur zum sonntäglichen Kirchgang die feinen Lederschuhe tragen.

Aber es gibt da etwas anderes, das ihn früh von seinen Schulfreunden unterscheidet. Und ihm infolgedessen einiges Kopfzerbrechen bereiten wird, ein Leben lang. Solange ich zurückblicken kann, habe ich unter dem vielen Elend, das ich in der Welt sah, gelitten. Albert Schweitzer kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Es gibt für ihn kein fremdes Leid. Schon als Schulbube von noch nicht einmal zehn Jahren hat er „auf dem Schirm“, dass das Wort „Menschlichkeit“ – lateinisch: „Humanität“ – nicht nur als Betragensregel für den Umgang mit Menschen gilt. Insbesondere litt ich darunter, dass die armen Tiere so viel Schmerz und Not auszustehen haben.

*

Der letzte Sonntag vor Karfreitag, bald endet die Passionszeit. Als Albert aus dem Pfarrhaus tritt, lümmelt sein Schulfreund Heinrich Bräsch an Nachbars hölzernem Zaun. Albert späht in den Himmel, kein Wölkchen trübt das Morgenlicht, alles spricht dafür, dass sie einem abenteuerlichen Tag entgegenträumen dürfen. Er reibt sich erwartungsfroh die Hände. Bräschs Heinrich ist berühmt für seine ausgefallenen Ideen, mal hören, was er diesmal ausbaldowert hat.

„Morgen Albert.“

„Grüß Gott, Heini.“

„Hast du deine Schleuder dabei?“

Nachdem sich Albert mit einem Blick über die Schulter vergewissert hat, dass ihn niemand aus den Fenstern beobachtet, zieht er die Waffe aus dem Hosenbund. Vor ein paar Tagen haben sie an der Straße nach Weier Holz geschnitten, zwei Astgabeln mit dem Küchenmesser bearbeitet und danach mit Gummischnüren bespannt. Schlüpfergummi aus Bräschs Nähkasten, feinste Qualität, erst kürzlich von Heinis Mutter beim Hausierer eingekauft. Albert hat die Lederschlaufen beigesteuert. So sind zwei Katapulte entstanden, mit denen man kleine Steine abfeuern kann.

Eigentlich macht sich Albert nicht viel aus Schießübungen, allein das Surren der Geschosse flößt ihm Furcht ein. Wer es allerdings versteht, geschickt mit der Schleuder umzugehen, steht bei den Spielkameraden hoch im Kurs. Und Albert hat schon das Gefühl, dass es mit seiner Anpassung an die Günsbacher Kleiderordnung allein nicht getan ist. Er will und wird es allen beweisen, dass er ein echter Dorfbube ist!

„Mir nach!“, kommandiert Heinrich Bräsch und stiefelt zielstrebig voran. „Wir gehen in den Rebberg und schießen Vögel!“

„Wir tun was?“

Albert steht da wie vom Donner gerührt.

„Hast du’s mit den Ohren?“ Herablassend grinst ihn Heini an. „Wir schießen Vögel! Falls der Herr sich nicht zu fein dazu ist.“

„Nein, nein“, widerspricht Albert eilig, obwohl in seinem Innern alles gegen dieses Ansinnen rebelliert. Er hatte gehofft, sie würden wie gestern auf einen ausrangierten Blechnapf anlegen. Schwerfüßig schlurft er über den sandigen Boden und rauft sich das widerspenstige Strubbelhaar. Hätte er doch bloß gesagt, das Schießgerät sei versehentlich dem Vater in die Hände gefallen und von diesem schnurstracks zu Kleinholz verarbeitet worden. Er hätte auch sagen können – … Hat er aber nicht. Nun zwackt ihn das Gewissen. Ob es vielleicht helfen würde, wenn er Heini Bräsch das fünfte Gebot in Erinnerung ruft? – „Du sollst nicht töten!“

Kaum sind sie auf dem Hügel angekommen, nimmt Bräsch einen Baum ins Visier, auf dessen kahlen Ästen gleich mehrere Dutzend Vögel hocken und von ihrer hohen Warte aus unbefangen in den Tag tirilieren.

„Du sollst nicht …“, hört sich Albert sagen.

„ … schwatzen!“, fällt ihm Heini erzürnt ins Wort. „Sonst fliegen uns die Biester davon.“ Er lässt sich zu Boden gleiten und gibt Albert ein Zeichen, es ihm gleich zu tun. Lautlos wie zwei Indianer schlängeln sich die Knaben durch das dürre Gras.

„Stopp!“, flüstert Heini Bräsch, als sie sich auf Schussweite an die Sänger herangeschlichen haben. „Laden!“ Er zieht einen Kiesel aus der Hosentasche und legt ihn in die Schlaufe seines Katapults ein. Unbeholfen ahmt Albert Heinrich Bräschs Bewegungen nach. Seine Hände sind schweißnass. Er weiß nicht, wie er aus dieser misslichen Lage herauskommen soll, ohne Spott oder Verachtung zu ernten. Aber er kann doch nicht schießen. Mit einem todbringenden Stein. Auf ein lebendiges Tier!

„Wenn ich Feuer sage“, befiehlt Heini, „setzt’s die erste Salve.“

Albert hat sich entschieden: Ich ziele vorbei.

In diesem Moment fangen die Kirchglocken ungestüm zu läuten an. Für mich war es eine Stimme aus dem Himmel. Ich tat die Schleuder weg, scheuchte die Vögel auf, dass sie wegflogen und vor der Schleuder meines Begleiters sicher waren, und floh nach Hause.

„Schisser!“, tönt es ihm hinterdrein. „Das Herrenbüble ist ein elender Schisser!“

Was schert’s mich, was die anderen denken und sagen, pocht es Albert in den Schläfen. Man muss das tun, was man für richtig erkennt! Ganz gleich, ob es den Leuten gefällt oder nicht. Der Herr Jesus hat sich dafür ans Kreuz nageln lassen. Was wiegt das lärmige Lachen des Heini Bräsch gegen all das Weh in der Welt? Und er schließt noch am selben Abend die Vögel vom Rebberg in sein Nachtgebet ein.

*

Das Wort vom Weh in der Welt werden wir noch des Öfteren zu hören bekommen. Albert Schweitzers Kindheitserinnerungen allerdings geben preis, dass ihm seine Tierliebe durchaus nicht angeboren ist. Und wohl auch zum Teil nur anerzogen. Wer in seinen Schriften blättert, wird früher oder später zu dem Schluss gelangen: Schweitzers Barmherzigkeit ist angelebt. Albert sperrt die Augen auf und macht sich auf alles seinen Reim. So sammelt er Geschichten und Erfahrung.

Wochenlang leidet er darunter, dass er tatenlos zuschauen muss, wie ein Mann ein fußlahmes Pferd nach Colmar ins Schlachthaus zerrt, während ein zweiter das Tier mit Stockschlägen antreibt.

Wie andere Altersgenossen auch hat sich Albert als Angler versucht. Dies eigener Auskunft zufolge allerdings nur zweimal. Dann hat er angesichts der Qualen, die er den Regenwürmern wie den Fischen zufügt, von dieser Sorte Zeitvertreib die Nase gestrichen voll.

Und da wäre dann noch die Geschichte mit Phylax, dem gelben Hund. Da Schweitzers grimmiger Köter bereits einmal einen Gendarmen gebissen hat und sich auch sonst gern mit Uniformierten anlegt, fällt Albert die Aufgabe zu, Phylax in Schach zu halten, sobald der Postbote naht. Mit einer Gerte trieb ich ihn in einen Winkel des Hofs und ließ ihn nicht heraus, bis der Briefträger wieder fort war. Will der Hund ausbrechen, setzt es was mit dem Stecken. Nur zu gern spielt Albert den Tierbändiger. Das Gefühl, das beißwütige Monster sicher im Griff zu haben, erfüllt ihn mit Stolz. Aber das stolze Gefühl hielt nicht an. Wenn wir nachher wieder als Freunde beieinandersaßen, klagte ich mich an, dass ich ihn geschlagen hatte. Ich wusste, dass ich ihn vom Briefträger auch abhalten könnte, wenn ich ihn beim Halsband fasste und streichelte.

So gelangt Albert Schweitzer Schritt für Schritt zu dem Schluss: „Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es spürt wie du den Schmerz.“

Aber er lässt auch sich selbst nicht gern schurigeln.

Von einem „Weihnachtsbrauch“ im Hause Schweitzer soll in diesem Zusammenhang die Rede sein, den Albert als so nervend empfand, dass er ihm einmal schon zur Bescherung die Tränen in die Augen trieb und ihn auch sonst Jahr für Jahr die Vorfreude auf das Christfest vergällte. Zwischen Weihnachten und Neujahr werden die Geschwister in das Studierzimmer bestellt, in dem Pfarrer Schweitzer seine Dorfgeschichten für den „Kirchenboten“ zu verfassen pflegt, und der Befehl lautet: „Heute werden die Briefe geschrieben!“

Während draußen die Dorfjugend auf dem Schlitten den Kirchweg hinunterkachelt, müssen sich jene Schweitzer-Kinder, die des Schreibens kundig sind, unter väterlicher Aufsicht auf den Hosenboden setzen und an sämtliche Tanten, Onkel, Taufpaten und übrigen Verwandten, von denen sie mit Liebesgaben bedacht worden sind, Dankesbriefe verfassen.

Alle Briefe hatten naturgemäß drei Teile und denselben Inhalt: 1. Dank für das von dem Betreffenden gespendete Weihnachtsgeschenk nebst Versicherung, dass es von allen Geschenken mir am meisten Freude gemacht habe. 2. Aufzählung der sämtlichen Geschenke. 3. Neujahrswünsche. Bei gleichem Inhalte sollte doch jeder Brief von dem andern verschieden sein! Besonderes Geschick erfordert es, die Überleitung von den Weihnachtsgeschenken zu dem unter Punkt drei geforderten „Viel Glück im neuen Jahr!“ zu finden; denn auch diese sollte möglichst persönlich auf den jeweiligen Adressaten zugeschnitten sein.

Um die Übung nicht allzu gemütlich ausfallen zu lassen, fordert der Vater zunächst eine Schrift ins Unreine. Anschließend sieht er die Manuskripte durch und macht gegebenenfalls – „gegebenenfalls“ scheint ziemlich oft gewesen zu sein – Änderungswünsche geltend. Dann wird der Schriftsatz an den Verfasser rückverwiesen. Nach gründlicher Überarbeitung muss der Text nun ohne Rechtschreibfehler und Tintenkleckse auf feines Schreibpapier übertragen werden. Neidvoll lauscht Albert Jahr für Jahr dem Kratzen, das die Schreibfeder seiner großen Schwester auf dem Papier verursacht. Meine Schwester Luise brachte es fertig, jeden Brief anders zu schreiben und immer neue Übergänge von den Weihnachtsgeschenken zu den Neujahrswünschen zu finden. Nie wieder hat mir jemand durch schriftstellerische Gewandtheit so imponiert wie sie.

Die Folge übrigens ist, dass Albert Schweitzer es sich als erwachsener Mensch nachdrücklich verbeten hat, mit derlei Schriftkram behelligt zu werden. Sofern er als Taufpate, Onkel oder in vergleichbarer Zuständigkeit Weihnachtsgaben verteilte, galt für ausnahmslos alle Beschenkten die Regel: Dankschreiben verboten!

In den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts allerdings liegt für den Schulbuben Albert eine andere Schlussfolgerung auf der Hand. Betäubt vom Büchergeruch der Studierstube und befasst mit der leidigen Korrespondenz, nimmt er sich vor, niemals im Leben ein Ziel zu verfolgen, das ihn als studierenden oder schreibenden Menschen ans Pult fesseln könnte. Und erliegt damit dem wohl schwerwiegendsten, vermutlich zugleich harmlosesten Irrtum seines Lebens.

1885 schließt Albert Schweitzer die Realschule ab, mit Dankbarkeit schaut er auf die Schuljahre in Günsbach und Münster zurück. Und ist heilfroh, dass er nicht gleich ins Gymnasium durchstarten konnte. Es war gut für mich, dass ich mich im Lernen mit den Dorfknaben messen und dabei feststellen musste, dass sie mindestens so viel im Kopf hatten als ich. Das hält Standesdünkel fern. Denn jetzt weiß er: Der eine kann besser lesen, der andere besser rechnen, ein Dritter kennt sich besser in Geschichte aus. In jedem Schulfach gibt es einen, der ihm gegenüber im Vorteil ist. Nicht die Schwächen der Klassenkameraden, ganz im Gegenteil, ihre Stärken sind es, die sich in seiner Erinnerung festhaken. Noch heute sind sie für mich das, worin sie mir damals überlegen waren.

„Deutsch ist mir Muttersprache“

Herr Dr. Schweitzer, da wir beide es ein ganzes Buch lang miteinander zu tun haben werden, möchte ich Sie gern hin und wieder auf wichtige Themen direkt ansprechen. Es geht mir dabei sowohl um ein Urteil aus berufenem Munde als auch um Informationen aus erster Hand. Im heutigen Interview möchte ich gern herauszufinden versuchen, was es Ihnen bedeutet, zweisprachig aufgewachsen zu sein.

Albert Schweitzer: Wohl spreche ich von Kindheit auf Französisch gleicherweise wie Deutsch. Französisch aber empfinde ich nicht als Muttersprache, obwohl ich mich von jeher für meine an meine Eltern gerichteten Briefe ausschließlich des Französischen bediente, weil dies so Brauch in der Familie war. Deutsch ist mir Muttersprache, weil der elsässische Dialekt, in dem ich sprachlich wurzle, deutsch ist.

Offen gestanden, ich beneide Sie. In zwei Muttersprachen zu Hause zu sein, das stelle ich mir fabelhaft vor.

Albert Schweitzer: Nach meiner Erfahrung scheint es mir eine Selbsttäuschung, wenn jemand zwei Sprachen als Muttersprache zu besitzen glaubt. Mag er sie beide in gleicher Weise zu beherrschen vermeinen, so ist es doch immer so, dass er eigentlich nur in einer denkt und nur in dieser wirklich frei und schöpferisch verfährt.

Einspruch, Herr Dr. Schweitzer. Man trifft doch immer wieder Leute, die dank ihrer exzellenten Sprachkenntnisse selbst im Ausland für Einheimische gehalten werden.

Albert Schweitzer: Wenn mir jemand behauptet, dass ihm zwei Sprachen absolut in derselben Weise vertraut seien, komme ich ihm alsbald mit der Frage, in welcher Sprache er zähle und rechne, in welcher er mir das Küchengeschirr und das Handwerkszeug des Schreiners und des Schmiedes am besten hersagen könne und in welcher er träume.

Und wie lautet gewöhnlich die Antwort?

Albert Schweitzer: Ich habe noch keinen gefunden, der bei dieser Probe nicht das Überwiegen der einen Sprache zugeben musste.

Da Sie sich in beiden bestens auskennen, was macht für Sie den Unterschied zwischen dem Deutschen und dem Französischen aus?

Albert Schweitzer: Den Unterschied zwischen den beiden Sprachen empfinde ich in der Art, als ob ich mich in der französischen auf den wohlgepflegten Wegen eines schönen Parkes erginge, in der deutschen aber mich in einem herrlichen Wald herumtriebe. Aus den Dialekten, mit denen sie Fühlung behalten hat, fließt der deutschen Schriftsprache ständig neues Leben zu. Die französische hat diese Bodenständigkeit verloren.

Das müssen Sie meinen Lesern bitte etwas genauer erklären.

Albert Schweitzer: Die Vollkommenheit des Französischen besteht darin, einen Gedanken auf die klarste und kürzeste Weise ausdrücken zu können, die des Deutschen darin, ihn in seiner Vielgestaltigkeit hinzustellen.

Darüber kann man sicher streiten. Letzte Frage mit der Bitte um eine kurze Antwort: Sie sind doch ein belesener Mann. Gibt es für Sie so etwas wie einen „Lieblingstext“?

Albert Schweitzer: Als die großartigste sprachliche Schöpfung in Französisch gilt mir Rousseaus „Contrat Social“. Als das Vollendetste in Deutsch sehe ich Luthers Bibelübersetzung und Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“ an.

Herr Dr. Schweitzer, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

„Recht gut!“ oder Die Pleite mit der Hose

Von 1885 bis 1893 wird Albert Schweitzer das Gymnasium in Mülhausen besuchen. Beziehungsweise in Mulhouse, wie die Franzosen die Stadt nennen. Sie gilt aufgrund ihrer industriellen Entwicklung seit Langem als das „elsässische Manchester“. Gut sechzigtausend Menschen leben hier Mitte der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts. „Do heert mer d’ Räder suse un d’ Webstüel schnurre …“ Je nach Grad der Begeisterung wird Mülhausen auch „Stadt der hundert“ oder „Stadt der tausend Schornsteine“ genannt.

Als nach Beendigung der Realschule die Entscheidung fällt, dass Albert von zu Hause fort nach Mülhausen soll, gibt es wieder Tränen, und das eigenen Angaben zufolge stundenlang. Albert muss ein sensibles Kind gewesen sein, und er hatte, wie man so sagt, wohl dicht am Wasser gebaut. Das Münstertal wird ihm fehlen. Dessen einzigartige Natur! Folglich heult er sich in den Ferien heimlich die Augen aus dem Kopf.

Der ganze Plan wäre ohnehin zum Scheitern verurteilt gewesen, hätte sich nicht in der verästelten Großfamilie Schweitzer ein Sponsor für den angehenden Pennäler gefunden. Während der Vater im heimatlichen Günsbach jenen Leuten zugerechnet werden darf, die mit einem schmalen Einkommen, wenn auch mehr schlecht als recht, letztlich irgendwie über die Runden kommen, hätte er es kaum vermocht, seinem Sohn den Aufenthalt zu finanzieren.

Rettung naht in Gestalt des gütigen Großonkels Louis, Halbbruder des Großvaters und Taufpate Alberts in einer Person. Louis Schweitzer, früher Leiter der deutsch-französischen Schule in Neapel, heute Direktor der Volksschulen von Mülhausen, und Tante Sophie springen für das hoffnungsvolle Patenkind in die Bresche. Beide haben keine leiblichen Kinder. In ihrem Haus, einer Dienstwohnung in der Zentralschule nahe der Mariahilfkirche, erhält Albert Kost und Logis. Der Preis: Er muss sich in das strenge Regime fügen, das Tante Sophie aufzieht. Als ehemalige Lehrerin ist sie die Akkuratesse in Person. Alles ist in ihrem Haushalt bis ins i-Tüpfelchen geregelt. Mit besonderer Vorliebe beordert sie Albert jeden Nachmittag und jeden Abend ans Klavier. Mit, wie sich im Nachhinein herausstellen sollte, schlichten aber weisen Worten, deren Tragkraft er seinerzeit unmöglich ermessen kann: „Du weißt nicht, wozu dir die Musik einst im Leben gut sein wird.“

Also klimpert er wacker vor sich hin und freut sich auf jene ihm häppchenweise zugeteilten Stunden, in denen er sonntags seiner liebsten Beschäftigung nachgehen darf, dem Lesen. Allerdings hält die Tante auch bei dieser Gelegenheit Blickkontakt. Und hantiert beim Lesen mit der Strick- oder Häkelnadel. Was er Lesewut nennt, ist für sie tadelnswertes Betragen. Man „durchschnuppert“ Bücher nicht im Eiltempo, sondern nutzt die Lektüre für stilistische Studien! Während Albert, sobald ihn ein Text anspringt, die ganze Nacht durchschwarten könnte, erlegt sie sich strenge Selbstkontrolle auf: Eine Stunde wird vor dem Abendessen gelesen, zwei danach – Alphonse Daudet, Victor Hugo oder Julius Stindes „Familie Buchholz“. So saßen wir mit unsern verschiedenartigen Leseleidenschaften an demselben Tisch und waren uns gegenseitig ein Rätsel. Pünktlich um 22.30 Uhr lässt Tante Sophie das Buch und die Handarbeit fallen.

Besonderes Misstrauen schlägt Albert von seiner Tante entgegen, wenn er im „Mülhauser Tagblatt“, der „Straßburger Post“ oder der „Neuen Mülhauser Zeitung“ blättert. Vermutlich weiß sie nicht, dass Alberts Mutter, eine begeisterte Zeitungsleserin, in ihrem Sohn schon in jungen Jahren das Interesse für öffentliche Obliegenheiten angestachelt hat. Tante Sophie unterstellt dem Kostgänger, er wolle sich über Mordtaten unterrichten und heimlich „Feuilletonromane“ lesen. Sie rechnet sich mit dieser Begründung gute Chancen aus, ihm die Spaziergänge im Blätterwald ganz zu verbieten. Albert aber macht politisches Interesse geltend. Die Lage in Schweitzers guter Stube spitzt sich zu.

„Das wollen wir gleich sehen, ob der Bub wirklich Politik liest“, verkündet Großonkel Louis eines Tages beim Abendbrot und unterzieht den Elfjährigen über den Bratkartoffelteller hinweg einer Prüfung in Gesellschaftskunde. „Welche Fürsten regieren auf dem Balkan? Nenn’ mir die Namen der Ministerpräsidenten!“ Mit dem Ergebnis, dass sich Louis Schweitzer von nun an mit seinem Mündel regelmäßig über das politische Weltgeschehen austauschen wird und Albert ab sofort ungestört Zeitung lesen darf; er nutzt die Freiheit natürlich jetzt auch, um hin und wieder in den „Feuilletonromanen“ zu schmökern.

Während Albert das Examen bei Onkel Louis mit Auszeichnung bestanden hat, gibt es in der Schule Probleme. Der Junge ist nach wie vor ein Träumerle. Misserfolge können ihm derzeit nicht viel anhaben, er ruht gewissermaßen in sich selbst. In der Sprache der Schulbehörde klingt das weniger poetisch: Der Sohn des Pfarrers Schweitzer aus Günsbach gilt am Gymnasium zu Mülhausen als schlechter Schüler. Seine Zeugnisse sind so miserabel, dass der Vater zum Direktor einbestellt wird und sich mit der Frage konfrontiert sieht, ob es nicht besser wäre, den Filius von der Lehranstalt zu entfernen.

Eine Katastrophe, denn damit wäre die Freistelle, die Albert als Pfarrerssohn besetzen durfte, verloren.

Wieder gibt es Tränen, diesmal aber nicht bei Albert, sondern bei Adele Schweitzer, der ihr Ältester mit seinem Zeugnis die Weihnachtsferien verdirbt. Drei Monate später, als er das Osterzeugnis nach Hause bringt, sieht die Welt schon viel freundlicher aus. Allerdings sind es nicht die von Kummer geplagten Eltern, die den Sohn aus der Krise führen. Dieses Verdienst gebührt dem neuen Klassenlehrer Dr. Wehmann, der Albert kraft jener Tugenden, die er seinen Quartanern vorlebt, aus der Antriebslosigkeit erlöst und zum Vorbild wird. Albert schätzt Dr. Wehmanns Sorgfalt, dessen Verlässlichkeit und seine Selbstdisziplin.

Im Konfirmandenunterricht allerdings, der Albert von einem älteren Herrn namens Wennagel erteilt wird, legt er sich alsbald, noch in Gedanken oder womöglich schon in zaghafter Widerrede?, wir wissen es nicht, mit dem Pfarrer an. Es geht um das Zusammenspiel von Glauben und Denken. Pfarrer Wennagel erklärt seinen Schülern, dass vor dem Glauben alles Nachdenken verstummen müsse. Da steht er bei Schweitzer auf verlorenem Posten. Ich aber war überzeugt, und bin es noch, dass die Wahrheit der Grundgedanken des Christentums sich gerade im Nachdenken zu bewähren habe.

Nach der Konfirmation im Jahre 1890, die Albert als großes Erlebnis in Erinnerung bleiben sollte, trennen sich ihre Wege. Nicht im Zorn, sondern der Natur der Sache folgend. Die Begegnung mit Christian Karl Wennagel aber hat noch auf andere Weise Spuren hinterlassen. Da Albert Schweitzer es zutiefst bedauerte, dass in Pfarrer Wennagels Unterricht die Devise galt: Fragen verboten!, hat er es sich später als Vikar von St. Nicolai zu Straßburg zur Gewohnheit gemacht, zweimal pro Monat einen Teil des Konfirmandenunterrichts für Fragen jeglicher Art freizugeben.

Man sollte indessen nicht dem Irrtum erliegen, im Halbwüchsigen Albert Schweitzer – der Begriff „Teenager“ war damals noch nicht gebräuchlich – einen Menschen zu sehen, der sich in Demut und Stille anschickt, dem Gemeinwohl als dienstbarer Geist gefällig zu sein. Er selbst schiebt derlei Deutungsabsichten einen Riegel vor. Von meinem vierzehnten bis etwa zum sechzehnten Jahr machte ich eine üble Phase durch.

Was man sich darunter vorstellen darf, ist schnell gesagt. Albert Schweitzer ist ein Feuerkopf und ein Störenfried erster Güte. Angetrieben von geradezu rauschhafter Besessenheit, breitet er vor jedem Menschen, der ihm in den Weg tritt, seine Fragen und Ansichten aus. Er provoziert gern, ohne Rücksicht auf Verluste. Wenn es zur Sache geht, kennt er keine Verwandten, davon können nicht nur die Mutter und der Vater ein Lied singen. Nichts ist ihm heilig. Alles stellt er infrage. Auf jede Äußerung gibt es Kontra. Immer wieder inszeniert er sich bei Tischgesprächen als Widerwortrabauke. Tatsächlich war ich so unausstehlich, wie ein halbwegs gut erzogener Mensch nur sein kann. Geschenkt! Das geht vielen so, wenn sie das Elternnest verlassen. Doch der Nachsatz hat es in sich: Aber es war keine einfache Rechthaberei, die mich so werden ließ, sondern ein leidenschaftliches Bedürfnis, zu denken und mit andern Menschen nach dem Wahren und Zweckmäßigen zu suchen.

Augenzwinkernd wird Albert Schweitzer im reifen Mannesalter bekennen, dass er die alte Unausstehlichkeit noch immer in sich trägt. Nur habe er es sich mit den Jahren zur Gewohnheit gemacht, sich im Umgang mit Vertretern widerstreitender Auffassungen ein wenig Zurückhaltung aufzuerlegen, um den Menschen nicht lästig zu fallen.

Zurück ins Gymnasium. Nachdem sich Schweitzer mit Dr. Wehmanns Hilfe nach Münchhausenart am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen hat, ist die Schulwelt für ihn halbwegs in Ordnung. Er ist zwar weit davon entfernt, die Anwartschaft auf den Titel „Klassenprimus“ geltend zu machen, kommt aber in allen Fächern einigermaßen zurecht.

Seine Vorliebe gilt dem Geschichtsunterricht, für dieses Fach hält er sich sogar eine gewisse Begabung zugute. Auch mit den Naturwissenschaften steht er, abgesehen vom Inhalt seiner Lehrbücher, den er als kleinkariert empfindet, auf gutem Fuß. Unerträglich sind ihm hingegen Schulstunden, in denen die Klasse auf Geheiß des Lehrers Verse filetiert. Schweitzer findet – und ich muss ihm in diesem Punkt recht geben –, dass man ein Gedicht zerstört, indem man es in seine einzelnen Bestandteile zerlegt. An einem Gedicht, so meine ich auch heute noch, ist nichts zu erklären.

Unter den Lehrern hat es ihm neben dem bereits erwähnten Dr. Wehmann besonders Direktor Wilhelm Deecke angetan. Der Schulmeister aus Lübeck klebt nicht sklavisch am Thema, sondern ermutigt seine Schüler zum gedanklichen Diskurs. Außerdem hält sich auf den Fluren das Gerücht, Deecke sei nach Mülhausen strafversetzt worden, weil er es gewagt habe, dem kaiserlichen Statthalter Elsass-Lothringens, General Edwin Freiherr von Manteuffel, gegenüber eine „dicke Lippe“ zu riskieren. Für derlei rebellisches Betragen dürfte der Zögling Schweitzer seinem Direktor einen Extra-Bonuspunkt angeschrieben haben.

In den Sprachen und in Mathematik leistete ich nur so viel, als dem von mir darauf verwandten Fleiß entsprach. Immerhin muss Schweitzer im Fach Mathematik so viel auf dem Kasten gehabt haben, dass es genügte, sich aus eigener Anstrengung einen nahezu uneinlösbaren Wunsch zu erfüllen. Auch wenn das Objekt der Begierde seinerzeit nach Meinung der Nachbarschaft für einen Pfarrerssohn als ausgesprochen anstandswidrig galt.

Als Dorfschüler hatte Albert Schweitzer das Hochrad des ersten Geschwindläufers bestaunt, der im Günsbacher Wirtshaus sein Schöppele Wein trank und sich mit seinen kurzen (Radler-)Hosen vor den Bauern zum Leutgespött machte. Mittlerweile hat sich das Fahrradsortiment verändert, die halbhohen „Kängurus“, Mitte der achtziger Jahre in Mode gekommen, sind schon wieder „out“, der Trend geht eindeutig zum Niederrad. Auch wenn sich deren Besitzer die Nachrede gefallen lassen müssen, sie seien zu feige, auf eines der höheren Modelle zu klettern.

Im vorletzten Jahr seiner Schulzeit kann sich Schweitzer ein solches Veloziped leisten, gebraucht – für zweihundertdreißig Mark. Die Mittel dazu hatte ich mir in anderthalb Jahren durch Mathematikstunden verdient, die ich zurückgebliebenen Schülern erteilte.

*

Tante Sophie schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und starrt Albert entgeistert an. Dem Fräulein Anna Schäffer, Pfarrerstochter aus Münster, das mit den Schweitzers unter einem Dach lebt, ergeht es nicht besser. Anna steht da und hält schockstarr Maulaffen feil. Albert möchte die beiden mit einem Scherz versöhnlich stimmen, als er aber vor den Spiegel tritt, gefriert auch ihm das Lächeln zu Eis.

„Oh, mein Gott!“

Die Tante springt behände vor die Stubentür und breitet theatralisch ihre Arme aus.

„Nix da, Junge, so lasse ich dich nicht aus dem Haus!“

Albert wirft einen verzweifelten Blick auf die Uhr. „Ich muss los!“ Der Kalender nennt den Tag: 18. Juni 1893. In einer halben Stunde soll Albert im Gymnasium zur Abgangsprüfung antreten. Er hat allen Grund, sich Sorgen zu machen. Im schriftlichen Teil hat er nicht besonders gut abgeschnitten. Selbst mit dem Aufsatz, einer Disziplin, die ihm eigentlich liegt, ist er nur knapp an einem Unglück vorbeigeschrammt. Das Thema: „Zu seinem Heile ist der Mensch ein Kind der Sorge.“ Allein im mündlichen Teil kann er jetzt noch etwas herausreißen. Und nun diese Pleite!

Warum nur hat er seiner Garderobe nicht mehr Aufmerksamkeit gewidmet?! Der schwarze Gehrock, den er von einem Verwandten der Mutter geerbt hat, wird seinen Zweck erfüllen. Aber die Hose! Wäre er nur nicht so knauserig gewesen, gerade an diesem Detail zu sparen. Welcher Teufel hatte ihn geritten, gestern Abend Onkel Louis ein gebrauchtes Beinkleid aus dem Kreuz zu leiern? Der Großonkel ist viel kleiner als Albert, dafür aber deutlich beleibter, als sein mittlerweile achtzehnjähriger Patensohn. Wenn Albert das Kleidungsstück vor dem Zubettgehen wenigstens anprobiert hätte, womöglich wären per Nadel und Faden ein paar Korrekturen ausführbar gewesen. Zu spät. Jetzt gibt es nur noch eines: Augen zu und durch!

„Tante Sophie, ich brauche einen Bindfaden.“ Damit verlängert er die Hosenträger. Trotzdem enden die Beine so hoch über den Schuhen, dass man getrost von einer „Hochwasserhose“ reden kann. Dafür schaut über dem Bund das Unterhemd hervor. Anna Schäffer hat unterdessen die Rückfront in Augenschein genommen, was sie da zu sehen bekommt, färbt ihre Wangen feuerrot.

„Herrgott, diese Schande!“

Behutsam schiebt Schweitzer die Tante aus dem Weg, haucht ihr einen Kuss auf die Stirn und macht sich zügig auf die Socken.

„Viel Glück!“ Das Fräulein Schäffer winkt ihm aus dem Mansardenfenster ein sorgenerfülltes Adieu. Und denkt im Stillen: Hoffentlich geht das Examen nicht in die Hose.

Schweitzers Erscheinen trifft die Schulfreunde wie ein Blitz aus heiterem Himmel, alle biegen sich vor Lachen. Sie nehmen den unfreiwilligen Spaßvogel in ihre Mitte und drehen ihn wie beim Blindekuhspiel im Kreis.

Schicksalsergeben schließt Albert die Augen.

Als er sie wieder öffnet, steht er vor der versammelten Lehrerschaft. Das mühsam unterdrückte Feixen in den Gesichtern der Pauker verrät ihm, dass auch sie den Grund der allgemeinen Heiterkeit dechiffriert haben. Vergeblich versucht er, die widerspenstige Hose am Rutschen zu hindern.

Nur der Herr Oberschulrat Dr.