cover

Jürgen Gottschlich
Beihilfe zum Völkermord

Jürgen Gottschlich

Beihilfe zum
Völkermord

Deutschlands Rolle
bei der Vernichtung
der Armenier

Ch. Links Verlag, Berlin

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
www.dnb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Vorwort

»Die stinkenden schwarzbärtigen Halbwilden«

Wie sich der deutsche Offizier Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg im Kampf gegen die Armenier bewährt

Der Entdecker, der Kriegstreiber, der Weltmachtstratege und der Eisenbahnbaron

Wie der Traum vom deutschen Orient langsam Gestalt annimmt – Archäologen, Militärs und Bahnbauingenieure erschließen das Osmanische Reich

Die Clique von Neubabelsberg und die Freundschaft mit Enver Pascha

Die Protagonisten des Völkermordes lernen sich kennen

Geheimoperation »Goeben« und »Breslau«

Wie Deutschland die Türkei in den Krieg manövriert

Die osmanische Dolchstoßlegende

Wie deutsche Offiziere die Deportation der armenischen Bevölkerung mitverantworten

»Bösartigen Aktivitäten der Armenier ist vorzubeugen«

Die Spuren deutscher Offiziere in türkischen Archiven

»Nicht in den Arm fallen«

Wie der deutsche Botschafter die Deportationen gutheißt und politisch absichert

»Hart, aber nützlich«

Die Deutschen akzeptieren, dass aus den Deportationen ein Völkermord wird

 

Fakten und Zahlen zu den Deportationen

»Und wenn alle Armenier dabei zugrunde gehen …«

Der vergebliche Versuch, die Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich zu stoppen

Eine Herrenpartie

Der Völkermord wird als orientalische Unzivilisiertheit betrachtet

Die Vertuschung danach

Die Hauptverantwortlichen für den Völkermord fliehen nach Deutschland

»Wir bedauern die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches«

Aktivitäten der deutschen und der türkischen Zivilgesellschaft verändern die Sicht auf die Dinge

Anhang

Dokumente

Deutsch-türkischer Bündnisvertrag vom 2. August 1914

Notverordnung zur Deportation der Armenier im Osmanischen Reich vom 1. Juni 1915

Botschaft des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan zu den Ereignissen von 1915, 23. April 2014

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Abbildungsnachweis

Erläuterungen zur Quellenlage

Dank

Geografisches Register

Personenregister

Vorwort

Den Namen Hans Humann hörte ich in der Türkei das erste Mal während eines Gespräches kurz nach dem Mord an dem armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink 2007. Dieser hatte eine in der Türkei bis dahin nie da gewesene Protestwelle gegen die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich ausgelöst. Wir saßen in einem Café in einer der neuen, mondänen Shoppingmalls. Mein Gesprächspartner war ein bekannter Journalist, der länger in Deutschland gearbeitet hatte. »Wenn es denn ein Völkermord war, was ich nicht glaube«, sagte er, »dann sind doch die Deutschen diejenigen, die den größten Anteil daran haben. Schließlich waren es die Deutschen, die die Deportationen vorgeschlagen und organisiert hatten. Immerhin war der engste Berater von Kriegsminister Enver Pascha damals der deutsche Marineattaché Hans Humann. Und der Generalstabschef des türkischen Heeres war ebenfalls ein Deutscher: General Bronsart von Schellendorf.«

In den folgenden Monaten und Jahren sollte ich noch häufiger hören, man solle in Deutschland doch nicht ständig auf dem Vorwurf herumreiten, die Türkei leugne einen Völkermord an den Armeniern, sondern sich lieber erst einmal mit der eigenen Rolle während des Ersten Weltkrieges befassen.Was mir zunächst wie eine billige Retourkutsche türkischer Nationalisten vorkam, gewann für mich mehr Gewicht, als auch türkische Armenier die Meinung äußerten, gerade die Deutschen trügen ein gerüttelt Maß an Schuld am Massenmord an den Armeniern im Osmanischen Reich. Doch wieso gerade die Deutschen?

Im Gedächtnis der meisten Deutschen beginnen die deutsch-türkischen Beziehungen mit den ersten türkischen Migranten, die in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts als sogenannte Gastarbeiter in die Bundesrepublik einwanderten. Doch das ist weit gefehlt. Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Beziehungen zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem Osmanischen Reich so eng, wie man es sich heute kaum noch vorstellen kann. Die Zäsur des Zweiten Weltkrieges mit der Stunde null danach hat die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg weitgehend verdrängt. Das mag sich inzwischen etwas verändert haben, doch dass neben Österreich die Türkei im Ersten Weltkrieg der wichtigste Verbündete des Deutschen Kaiserreiches war, ist immer noch so etwas wie ein Insidertipp.

Da die Türkei im Zweiten Weltkrieg neutral blieb, ist am Bosporus dagegen der Große Krieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach wie vor der wichtigste historische Bezugspunkt. Viele Türken wissen von der damaligen »deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft«. Lange überwog dabei im Rückblick der sentimentale Aspekt, doch heute sind die meisten türkischen Historiker der Meinung, die Beteiligung am Krieg an der Seite Deutschlands sei ein großer Fehler gewesen, habe dies letztlich doch mit dazu geführt, dem Osmanischen Reich den Todesstoß zu versetzen.

Als ich 1998 als Korrespondent der tageszeitung (taz) nach Istanbul kam, hatte ich in der Frage des Völkermordes an den Armeniern eine klare Meinung: Die Armenier waren während des Ersten Weltkrieges die Opfer eines brutalen Menschheitsverbrechens geworden, für das der damalige türkische Staat verantwortlich war. Ich war in Jerewan gewesen, hatte das Völkermorddenkmal vor den Toren der armenischen Hauptstadt besucht und die Empörung vieler Armenier erlebt, dass die offizielle Türkei sich bis heute weigert, diesen Völkermord anzuerkennen.

Umso überraschter war ich, als ich in der Türkei mitbekam, dass auch viele Freunde, engagierte Linke und Alternative, die mit großem persönlichen Risiko für eine Demokratisierung der Türkei kämpften, sich dagegen wehrten, die damaligen Ereignisse als Völkermord zu klassifizieren. Ich lernte viel über den geschichtlichen Zusammenhang, in dem die »Große Katastrophe« stattfand, und über die Schwierigkeiten einer Gesellschaft, sich mit den dunkelsten Kapiteln ihrer Vergangenheit offen auseinanderzusetzen.

Je mehr ich hörte, umso mehr begann ich zu begreifen, dass ich als Deutscher in dieser Debatte kein neutraler Beobachter von außen sein konnte. Obwohl ich damals wie heute davon überzeugt bin, dass die Berichte, und dabei vor allem auch die Berichte deutscher Diplomaten, keinen Zweifel daran lassen, dass 1915/16 im Osmanischen Reich ein Völkermord an den Armeniern stattfand, bei dem mehr als eine Million Menschen umgebracht wurden, wollte ich dann doch genauer wissen: Was passierte wie, wann und aus welchem Grund, und welche Rolle spielte Deutschland dabei? Wer waren Hans Humann und Friedrich Bronsart von Schellendorf, was hatten deutsche Soldaten und deutsche Diplomaten mit dem Völkermord zu tun?

Warum überhaupt sollte Deutschland Massenmorde an einem kleinen kaukasischen Volk vorgeschlagen haben, mit dem es doch nichts zu tun hatte?

Die Antworten auf diese Fragen sind nicht leicht zu finden. Zeitzeugen gibt es nach hundert Jahren nicht mehr; Auskunft können deshalb nur staatliche Archive und die schriftlichen Nachlässe damals beteiligter Personen geben.

Bislang sind nur sehr wenige deutsche Historiker der Frage nach der deutschen Schuld beim Völkermord an den Armeniern nachgegangen. Die umfangreichsten Arbeiten dazu haben in den 1990er Jahren ein Schweizer und ein US-amerikanischer Historiker armenischer Herkunft vorgelegt. In Deutschland war es vor allem ein Journalistenkollege, Wolfgang Gust, ein früherer Spiegel-Redakteur, der sich mit dem Thema eingehend befasst hat und 2005 gemeinsam mit seiner Frau Sigrid auf knapp 700 Seiten die Dokumente des deutschen Auswärtigen Amtes zur Armenierfrage publizierte, in denen sich auch Spuren der deutschen Verantwortung finden lassen.

Doch so verdienstvoll die Arbeit von Gust ist, es blieben viele Fragen offen. Das hat zum einen mit der Quellenlage zu tun. Die von Wolfgang Gust herausgegebenen Dokumente stammen aus dem Auswärtigen Amt. Aber was ist mit dem deutschen Militär? Ein Teil der Militärakten aus dem Ersten Weltkrieg ging im Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges in Flammen auf. Was noch da ist, lagert im Militärarchiv in Freiburg und teilweise in München.

Doch die Frage lässt sich nicht nur in deutschen Archiven beantworten. Welche Erinnerungen gibt es an den Orten der damaligen Verbrechen in der Türkei? Was verbirgt sich dazu in türkischen Archiven, und wie kann man diese einsehen? Nachdem ich mich entschlossen hatte, mich intensiver mit der deutschen Rolle im damaligen Osmanischen Reich zu befassen, reiste ich zu den Schauplätzen der Tragödie und verbrachte viel Zeit in diversen Archiven und Lesesälen in Istanbul und Ankara.

Dabei wurde nach und nach klar, dass die Gruppe von Politikern, Wirtschaftsleuten, Publizisten, Diplomaten und Militärs, die vor und während des Ersten Weltkrieges die deutsche Türkeipolitik steuerten, relativ klein war. Vor allem während des Krieges verengte sich die Gruppe der Entscheidungsträger noch einmal auf gut ein Dutzend Männer – Frauen waren dabei nicht vertreten – aus Diplomatie und Militär. Diese Männer trafen ihre Entscheidungen jedoch nicht autonom, sondern in enger Absprache mit dem damaligen deutschen Reichskanzler, dem jeweiligen Chef des deutschen Generalstabes und letztlich mit Zustimmung des Kaisers.

Eine der zentralen Figuren auf deutscher Seite war tatsächlich der damalige Marineattaché Hans Humann, der Sohn des berühmten deutschen Archäologen Carl Humann, der Ende des 19. Jahrhunderts an der türkischen Ägäisküste den Pergamonaltar wiederentdeckt und nach Berlin gebracht hatte. Von Hans Humann stammt die verstörende Feststellung, der Massenmord an den Armeniern sei »hart, aber nützlich« gewesen. Warum Humann und andere deutsche Militärs, Diplomaten und Politiker den Massenmord an den Armeniern unterstützten, guthießen oder doch zumindest billigend in Kauf nahmen und damit Beihilfe zu einem Völkermord leisteten, davon handelt dieses Buch.

Es ist damit nicht zuletzt auch ein Rückblick auf das deutsche Verlangen nach einem »Platz an der Sonne«, das Streben Deutschlands, mit allen, auch den verwerflichsten Mitteln, eine Großbritannien ebenbürtige Weltmacht zu werden. Für dieses Ziel wurde im Orient Krieg geführt, und für dieses Ziel ließen die deutschen Verantwortlichen das Morden an den Armeniern nicht nur passiv geschehen, sondern sie deckten es, nahmen die Mörder in Schutz und machten durch die Unterstützung ihrer türkischen Verbündeten den Völkermord letztlich erst möglich.

Nicht nur die Türkei, auch Deutschland hat noch Nachholbedarf bei der Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Geschichte.

image

Europa vor dem Ersten Weltkrieg 1914

»Die stinkenden schwarzbärtigen Halbwilden«

Wie sich der deutsche Offizier Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg im Kampf gegen die Armenier bewährt

Der Mann ist nervös. Unruhig rutscht er hinter dem Steuer des klapprigen Golfs hin und her und kaut unentwegt auf seiner Unterlippe. Dabei ist die Schotterstraße, auf der der Wagen sich dahinquält, nicht dazu angetan, die Lippen zwischen die Zähne zu nehmen. Die Schlaglöcher rütteln das Auto heftig durch, es ist also Vorsicht geboten mit allem, was einem zwischen die Zähne kommt.

Doch Ahmed, so heißt der junge Mann am Steuer, denkt offenbar weniger an die Gefahren der Schotterpiste als vielmehr an das Ziel der Reise. »Warum Süleymanli«, möchte er gern wissen. »Da gibt es doch nichts zu sehen.«

Unser Ziel ist ein abseits gelegenes Bergdorf im Südosten der Türkei. Der Name der Häuseransammlung, die nach einer halben Stunde Fahrt am Berghang auftaucht, Süleymanli, ist ein neuer Name, den kaum einer kennt. Früher hieß der Ort Zeitun, und Zeitun hat in der Türkei einen dunklen, unheilvollen Klang. Offenbar bis heute, wie ich schon früher an diesem Tag erleben konnte.

Auf dem Busbahnhof in Kahramanmaras wurde ich nach der Frage, wo denn der Minibus nach Süleymanli abfahre, misstrauisch gemustert. Erst nach mehreren vergeblichen Anläufen fand sich ein Platzanweiser, der auf einen entfernteren Bahnsteig deutete und unwillig murmelte: »Ja, ja, dort geht der Bus nach Süleymanli, es dauert aber noch ein wenig.«

Wie üblich fuhr der Minibus nicht nach Plan, sondern der Fahrer wartete einfach, bis er voll war. Auch wenn man von Istanbul im Verkehr einiges gewohnt ist, staunt man immer wieder darüber, was in der tiefen Provinz unter einem vollen Bus verstanden wird. Als wir endlich losfuhren, stapelten sich die Leute förmlich – nicht nur auf den Sitzen, sondern auch auf jedem freien Flecken im Gang.

Es war ein wolkenverhangener, regnerischer Tag im Februar. Mühsam quälte sich der überladene Minibus Kilometer um Kilometer immer weiter hinauf in die Berge. Die Sicht war schlecht und durch die verdreckten Scheiben noch weiter eingeschränkt. Als wir dann nach gut zwei Stunden am Endhaltepunkt anlangten, hielten wir auf einem von hässlichen Ferienapartments umstellten Platz, der ganz und gar nicht nach dem historischen Süleymanli / Zeitun aussah.

Wir sind auch nicht in Süleymanli, sondern in Ilica, einem expandierenden Ferienort, in den die Bewohner von Kahramanmaras oder Gaziantep im Sommer vor der Hitze der Ebene fliehen. Wie die meisten Ferienorte außerhalb der Saison macht auch Ilica einen ziemlich trostlosen Eindruck: fast alle Häuser leer, die meisten Cafés geschlossen und wenig Betrieb auf der Straße. »Süleymanli, na ja, das ist noch ein paar Kilometer weiter rauf in die Berge. Bis dahin fährt der Bus aber nicht«, meint der Fahrer mit der Verwunderung des Ortskundigen über den Fremden. »Da ist doch der Weg viel zu schlecht.« »Gibt es ein Taxi?« »Taxi, nein, aber vielleicht einen Bekannten mit einem Auto, der sich ein paar Lira verdienen will.«

Der Fahrer winkt einen Mann herbei, der sich erst einmal nach dem Woher und Wohin erkundigt, dann aber bereit scheint, ein Auto zu besorgen. Doch statt zu seinem Auto gehen wir in einen Laden, dessen Fensterfront mit alten Zeitungen zugeklebt ist. Dahinter verbirgt sich eine Metzgerei. Um einen langen Tisch, auf dem in der Saison wahrscheinlich Lämmer und Schafe zerlegt werden, hocken zehn Männer und trinken Tee. Ein zahnloser Alter erzählt, er sei aus Süleymanli. »Willst du wirklich dahin?«

Während der alte Mann abfällige Bemerkungen über den angeblichen Ort seiner Herkunft vor sich hin murmelt, telefoniert der Gastgeber offenbar mit einem Offiziellen. »Jawohl, Kommandant«, sagt er, »ein Fremder aus Istanbul, aber eigentlich aus Almanya. Will nach Süleymanli.« Es bleibt unklar, was der Kommandant am anderen Ende der Leitung sagt, aber offenbar kann er keine Bedrohung für die nationale Sicherheit erkennen. »Tamam«, sagt der Gastgeber nur noch und grinst etwas verlegen, als er merkt, dass ihn alle anschauen. »Her sey yolunda«, also alles okay.

Wir hocken trotzdem noch weiterhin in der Metzgerei herum, bis endlich ein junger Mann hereinkommt, der sich als Ahmed vorstellt und dann einen Autoschlüssel in die Hand gedrückt bekommt. Es ist der Schlüssel zu dem klapprigen Golf, mit dem wir dann aufbrechen. Ahmed kommt aus einem Dorf ganz in der Nähe von Süleymanli. Sein Vater züchtet Schafe, er hilft dabei, aber im Winter ist nicht viel zu tun. Er hockt deshalb meistens in Ilica und schlägt dort mit anderen jungen Männern die Zeit tot. Das sei immer noch besser, als im Dorf darauf zu warten, dass der Frühling kommt.

Als die ersten Häuser von Süleymanli am Berghang auf der anderen Seite einer Schlucht, in die wir gerade hinunterrutschen, auftauchen, spricht Ahmed dann aus, was ihm wahrscheinlich schon die ganze Zeit im Kopf herumgeht: »Ermeni? Du kommst wegen der Ermeni?« Der fortdauernde Unwille, einen Fremden nach Süleymanli zu befördern, der sich bereits in Kahramanmaras zeigte, sich in Ilica fortsetzte und Ahmed nervös im Auto zappeln ließ, hat seinen Grund genau in diesem Stichwort: »Ermeni«, türkisch für Armenier.

Obwohl unter türkischen Intellektuellen mittlerweile offen über den Genozid am armenischen Volk im Jahr 1915 diskutiert wird, ist das Thema in der einfachen Bevölkerung immer noch tabuisiert oder doch zumindest mit einem erheblichen Unbehagen verbunden. Man wird nicht gern darauf angesprochen, man will nicht daran erinnert werden. Dabei ist den meisten Einwohnern der heutigen Türkei durchaus klar, dass damals etwas schiefgelaufen sein muss. Vor allem in Gegenden, in denen vor hundert Jahren viele Armenier gelebt haben, gibt es ein über die Generationen tradiertes Wissen über Vertreibung, Tod und Verschwinden der früheren Nachbarn.

Auch Ahmed weiß, dass Süleymanli, als es noch Zeitun hieß, einmal ein armenisches Städtchen war und dass hier schwere Auseinandersetzungen stattfanden, die mit der kompletten Vertreibung der armenischen Bevölkerung endeten. Auch wenn er wahrscheinlich nicht genau weiß, dass unterhalb der schroffen Felsen und der Zitadelle von Zeitun mit dem Deportationsbefehl für die Einwohner der Stadt im März 1915 der Völkermord begann, weiß er doch, dass Zeitun ein Ort von »Unruhestiftern« war. Auf der Einfahrt in das Dorf zeigt er auf einen schönen Brunnen, der erst kürzlich restauriert worden ist. »Das«, meint Ahmed, »ist alles, was von den Armeniern in Zeitun übrig geblieben ist.«

Als wir durch die Gassen des Dorfes laufen und vergeblich nach weiteren Hinweisen auf die früheren Bewohner suchen, erklärt Ahmed dann, warum jetzt keine Armenier mehr hier leben. In Zeitun habe es einen Aufruhr gegen den Sultan gegeben, so habe er gehört. Rebellen, die das bis dahin friedliche Zusammenleben von Armeniern und Türken zerstört hätten. Schließlich habe die Armee eingreifen müssen, um die Aufrührer zu vertreiben. Seitdem gebe es in Zeitun keine Armenier mehr, und seitdem heiße das Dorf auch nicht mehr Zeitun, sondern Süleymanli, benannt nach dem damaligen türkischen Kommandanten. Alles okay also?

image

Blick auf das ehemalige Zeitun, heute Süleymanli, Aufnahme von 2013

Der gelangweilte Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg

So ähnlich wie Ahmed es gehört hat, sah vor hundert Jahren auch der deutsche Offizier Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg, der im Ersten Weltkrieg zur Unterstützung der türkischen Verbündeten ins Osmanische Reich abkommandiert war, die Lage in Zeitun. In einem Brief an seinen Vater vom 30. März 1915 schrieb er:

»Mir geht es bis auf einen tüchtigen Schnupfen, den ich mir neulich im Libanon geholt habe, ganz gut. Militärisch ist ja leider so wenig los wie drüben bei der Kavallerie-Division, aber zu tun gibt es genug und Ärger soviel man haben will. Da liegt im Norden meines Bezirks ein Nest namens Zeitun, der Hauptsitz der in der Gegend hausenden Armenier.

Die haben sich nun wieder einmal etwas mausig gemacht. Einige Räuberbanden haben sich auf unseren Etappenstraßen herumgetrieben, ein paar Transporte angegriffen, einige Gendarmen totgeschossen u. s. w.

Als sie verfolgt wurden, haben die Einwohner ihnen Schutz gewährt und hatten die Frechheit, der Regierung zuzumuten, die Kerls zu begnadigen, dann würden sie Ruhe halten, andernfalls würden sie sich einer Verhaftung der Kerls widersetzen. Es hatten sich auch schon in der Umgebung von Zeitun ein paar Tausend angesammelt. Ich wollte nun die Sache mit einem Schlag beenden, um nicht größere Unruhe zu haben, und habe 4 Bataillone, ein paar Schwadronen und eine Batterie hingeschickt, die von verschiedenen Seiten vorgehend Zeitun umschließen und die Bande entwaffnen sollten. Das ist auch so ziemlich gelungen. Es gab nur ein kleines Gefecht um eine Kirche, wo ein Teil sich verschanzt hatte, im Übrigen sahen die Armenier doch, daß es Ernst würde, und gingen gutwillig auseinander, so daß ich hoffen kann, daß die weitere Verfolgung der Räuber ungestört vor sich geht.«1

Die »Hoffnung«, die Major Wolffskeel in dem Brief an seinen Vater zum Ausdruck bringt, erfüllt sich auf dem Schlachtfeld jedoch nicht. Obwohl er gegen die vermeintlichen »Räuber« vier Bataillone, das sind bis zu 4000 Soldaten, nach Zeitun schickt, gelingt es den »Räubern«, sich in einem verlassenen Derwisch-Kloster unweit von Zeitun zu verschanzen und den Soldaten fortdauernden Widerstand zu leisten.

Die Gegend um Zeitun eignet sich allerdings auch besonders gut, um sich Militär und Gendarmerie zu widersetzen. Die Berge sind wild zerklüftet, die Straße, die noch 2013 nicht viel mehr als ein Schotterweg ist, war Anfang des 20. Jahrhunderts sicher nur ein schmaler Trampelpfad. Aufgrund seiner Abgeschiedenheit war Zeitun deshalb schon viele Jahre vor 1915 ein bekannter und berüchtigter Rückzugsort für Deserteure und andere vor der Obrigkeit flüchtende Armenier. Bereits im Jahr 1895, als unter Sultan Abdülhamid das erste große Pogrom gegen die armenische Minderheit im Osmanischen Reich stattfand, konnte sich allein Zeitun den Massakern widersetzen und alle Angriffe von irregulären Einheiten zurückschlagen.

Wolffskeel, der erst wenige Wochen, bevor er den Einsatz in Zeitun anordnete, von der Westfront zur osmanischen Armee nach Syrien versetzt worden war, kannte die Vorgeschichte von Zeitun wahrscheinlich nicht, sonst wäre er wohl vorsichtiger gewesen. Als er den Brief an seinen Vater schrieb, hatte er, als Stabsoffizier in Aleppo, offenbar auch noch keine Nachricht davon, dass sein Expeditionskorps alles andere als erfolgreich war.

Schon zwei Tage zuvor hatte dagegen der Gouverneur der Kreisstadt Maras (des heutigen Karahmanmaras) in einem Telegramm an das Innenministerium in Istanbul berichtet:

»Rund 600 Banditen haben sich in dem großen Kloster verschanzt und feuern ununterbrochen. Sie müssen eine Menge Munition haben. Wir haben sechs Tote und 26 Verwundete. Unter den Toten ist der Kommandeur des Gendarmerie Bataillons von Maras, Major Süleiman Bey.«2

Die Kämpfe um Zeitun dauerten noch bis in den April hinein, bis es der Übermacht von Soldaten endlich gelang, den Widerstand zu brechen. Wie aus einem weiteren Telegramm an das Innenministerium in Istanbul vom 11. April hervorgeht, war am Vortag, dem 10. April 1915, der stellvertretende Kommandeur der IV. Armee Fahri Pascha höchstpersönlich in Zeitun erschienen. Wolffskeel war als sein Stabschef mit vor Ort. Fahri Pascha ordnete dabei die Deportation der gesamten armenischen Bevölkerung von Zeitun und den umgebenden Dörfern an, deren Augenzeuge Wolffskeel anschließend wurde.

In Zeitun wurde ein Exempel statuiert. Den Widerstand einiger Hundert Deserteure nahm man zum Anlass, um die gesamte Bevölkerung des Städtchens und der umliegenden Dörfer zu deportieren. Zeitun wurde so zum Ausgangspunkt für die Tragödie der Armenier im Osmanischen Reich.

Am Ende der Deportationen und Massaker waren über eine Million Armenier tot. Die restlichen knapp eine Million Armenier flüchteten in den Libanon, nach Palästina und nach Russland.

Für den deutschen Offizier aus Bayern, Major Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg, war der Völkermord eine ärgerliche Randerscheinung des Krieges, die ihm, wie er schreibt, wohl lästig war, der er sich aber dennoch mit großem Tatendrang stellte. Wolffskeel, geboren am 17. September 1875, war erst im März 1915 aus den Schützengräben in Frankreich zur IV. Ottomanischen Armee in Syrien versetzt worden. Er war Stabschef des stellvertretenden Kommandeurs der IV. Armee, Fahri Pascha.3

Chef der IV. Armee war Djemal Pascha, eines der drei Mitglieder des Triumvirats (Enver Pascha – Kriegsminister, Talaat Pascha – Innenminister, Djemal Pascha – zunächst Marineminister, dann Kommandeur der IV. Armee, die für die osmanischen Provinzen Syrien und Palästina zuständig war), das de facto während des Ersten Weltkrieges die Regierungsgewalt innehatte.

Der Stellvertreter Djemals, Fahri Pascha, und Stabschef Graf Wolffskeel waren im Gebiet der IV. Armee zuständig für den Schutz der syrischen Küste vor einer möglichen Landung der Entente-Mächte (englische und französische Kriegsschiffe kontrollierten das östliche Mittelmeer) und die Sicherung des Hinterlandes.

Vielleicht war es einfach Pech für die Armenier, dass ausgerechnet Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg im März 1915 Stabschef von Fahri Pascha wurde, denn Wolffskeel widmete sich der Niederschlagung angeblicher armenischer Aufstände mit besonderer Hingabe.

Es gab nur fünf Orte im gesamten Osmanischen Reich, an denen sich Armenier 1915 dem drohenden Genozid ernsthaft widersetzten, und an dreien davon war Wolffskeel entscheidend bei der Niederschlagung des Widerstands beteiligt – entweder indem er die Soldaten schickte oder indem er selbst vor Ort die Widerständler zusammenschießen ließ.

Nach seinem Einsatz im März 1915 in Zeitun agierte er im August / September 1915 am Musa Dagh, dem Mosesberg unweit von Antiochia, und beteiligte sich im Oktober 1915 an der Ausrottung der Armenier in Urfa.

Die ärgerliche Flucht am Musa Dagh

Das Schönste am Musa Dagh sind der völlig ungehinderte, weite Blick aufs Meer und die syrischen Berge und die unglaubliche Ruhe. Avedis Demirci genießt vor allem die Ruhe, denn sehen kann er kaum noch. »Meine Augen taugen nicht mehr viel«, beschwert er sich bei einem Besuch im Frühjahr 2012, »doch sonst bin ich noch ziemlich in Ordnung.« Demirci, den alle hier Dede nennen, ist stolze 98 Jahre alt und noch ziemlich fit. Mit seinem blauen Käppi auf dem Kopf und einer Decke um die Schultern sitzt er an einem relativ kühlen Aprilmorgen auf der Terrasse seines Hauses und kramt vergnügt in seinen Erinnerungen. Mit Vorliebe erzählt er Geschichten wie die folgende: »Als Abdülhamid, der letzte absolut herrschende Sultan des Osmanischen Reiches, noch lebte, ließ er einmal 15 armenische Notabeln in unserem Nachbardorf an den Ästen des großen Mosesbaumes aufhängen. Das war für den normal.«

Der alte Demirci, der eigentlich Demirciyan hieß, starb im Sommer darauf und gilt hier als historische Figur. Sein Haus steht am Hang des Mosesberges, ebenjenem Berg, dem Franz Werfel mit seinem Roman über den 40 Tage andauernden Überlebenskampf der Armenier vom Musa Dagh ein weltweit bekanntes Denkmal gesetzt hat. Als die Deportationen und Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich im März 1915 in Zeitun begannen, war Avedis Demirciyan noch ein Baby. Seine Eltern trugen ihn im August 1915 mit auf das Plateau des Berges, wo sich aus den sechs armenischen Dörfern des Musa Dagh rund 4500 Menschen einfanden, eine Verteidigungsstellung aufbauten und sich mit dem Mut der Verzweiflung gegen ihre Verschleppung und den sicheren Tod wehrten. Was der Aufstand im Warschauer Ghetto heute für die Selbstachtung der Juden in aller Welt bedeutet, ist der Widerstand auf dem Musa Dagh für die Armenier. Der Prager Jude Franz Werfel, der gemeinsam mit seiner Frau Alma Mahler 1930 Palästina und Syrien bereiste und angeregt durch Treffen mit Überlebenden des Genozids seinen Weltbestseller »Die vierzig Tage des Musa Dagh« schrieb, hat trotz der fiktionalen Form ein erstaunlich präzises Bild hinterlassen.

Werfel beschreibt, wie die Kunde von den Verschleppungen der Armenier zunächst aus Zeitun, dann aber auch aus Aleppo zu den Dörfern des Musa Dagh gelangte, wie sich die Menschen in der Abgeschiedenheit der Bergdörfer – als nach den Ereignissen von Zeitun nichts weiter passierte – eine Zeit lang der Hoffnung hingaben, die für die Deportationen zuständigen Behörden könnten sie vergessen haben, bis dann klar wurde, dass auch sie verschleppt werden sollten. Während ein kleinerer Teil der Bewohner des Mosesberges sich dem Deportationsbefehl fügte, entschied sich die Mehrheit dafür, die Dörfer zu verlassen und sich auf der Bergkuppe zu verschanzen, in der Hoffnung, entweder bis zum Ende des Krieges auszuhalten oder aber eines der alliierten Kriegsschiffe, die vor der Küste kreuzten, auf ihre Notlage aufmerksam machen zu können und womöglich gerettet zu werden. Beides waren wenig realistische Optionen, denn mittlerweile war die Deportationsmaschinerie der türkischen Behörden bereits in vollem Gang.

»Ich kann mich selbst natürlich nicht daran erinnern«, sagt Avedis Dede kurz vor seinem Tod, aber er hält Werfels Buch, verglichen mit den Erzählungen seiner Angehörigen, im Kern für richtig. Es ist die Aussage des letzten Armeniers am Musa Dagh, der den Widerstand 1915 selbst miterlebt hat. Bis zu seinem Tod lebte er in Vakifli, dem heute einzigen noch komplett armenischen Dorf in der Türkei. Vakifli Köyu, das früher Wakef hieß, ist eines jener sechs armenischen Dörfer (aus dramaturgischen Gründen machte Werfel daraus sieben Dörfer und schrieb von 40 Tagen, obgleich es tatsächlich 53 Tage gedauert hatte), die sich damals zur Wehr gesetzt hatten und deren Bewohner dann größtenteils tatsächlich von französischen Kriegsschiffen gerettet wurden.

image

Avedis Demirciyan vor seinem Haus am Musa Dagh, 2012

Graf Wolffskeel berichtet seinem Vater in einem Brief im September 1915 in seiner unnachahmlich lakonischen Art, wie er versuchte, genau diese Flucht der Armenier zu verhindern:

»Morgen geht es wieder los, diesmal nach Antiochia [heute Antakya] und von da an die Küste. Dort brennt es ein bißchen. Es sitzen dort eine Menge Armenier, die dem freundlichen Angebot der Regierung, sie anderweitig anzusiedeln, nur mangelhaftes Verständnis entgegenbringen und sich mit Kind und Kegel und leider auch mit zahlreichen Gewehren und Munition in den Bergen zwischen Antiochia und dem Meer festgesetzt haben, in der ausgesprochenen Absicht, sich da nicht vertreiben zu lassen. Über die Berechtigung und den Wert der ursprünglichen Maßregeln der Türken gegen die Armenier kann man verschiedener Ansicht sein. Wo sie jetzt stecken, kann man sie aber keinesfalls brauchen. Denn eine starke bewaffnete Bande, natürlich feindlich gesinnt dort, würde die Verteidigung von Alexandrette [heute Iskenderun] im Rücken bedrohen. Nun ist die Schwierigkeit sie [die Armenier] zu fangen nur die, daß man sie von der Meerseite aus angreifen muß. Dort liegen aber seit 8 Tagen sechs französische Kreuzer, die mit den Aufständischen in Signalverbindung stehen und unsere Truppen, sobald sie sich auf den meerwärts gelegenen Hängen zeigen, unter ausgiebiges Granatfeuer nehmen, gegen das unsere Feldgeschütze natürlich nicht ankommen können. Der Kommandeur der dortigen Division ist auch nicht gerade der schlaueste und hat außerdem ausgerechnet sein schlechtestes Regiment, ein ganz neu zusammengestellter Haufen, zunächst eingesetzt. Infolgedessen ist ihm die ganze Bande auseinandergelaufen, wie sie ins Granatfeuer kam.

Jetzt wollen wir uns die Sache einmal selbst ansehen.

Zwei Schiffe voll haben die Franzosen schon neulich nach dem Mißerfolg des 131 Regiments weggefahren. Wenns nach mir ging, könnten sie ja die ganze Gesellschaft haben. Ich fände es eine glänzende Lösung, wenn so viele Armenier wie irgend möglich das Land verließen unter der Bedingung niemals wiederzukommen.

Vorteil hat die Türkei doch nicht von ihnen, sondern nur Schererei.

Den Türken geht es aber doch gegen den Strich, sie sich so unter der Nase weg fortführen zu lassen, also soll es verhindert werden. Meinetwegen verhindern wirs, immer vorausgesetzt, daß bis wir hinkommen nicht der Rest auch schon weg ist.«4

Doch Wolffskeel hat Pech. Als er mit seiner Verstärkung den Musa Dagh erreicht, sind die Armenier tatsächlich weg. 53 Tage lang haben sie sich auf dem Berg gegen die Belagerung der türkischen Armee gewehrt, haben bei schwindenden Vorräten und immer weniger Munition mit dem Mut der Verzweiflung weitergekämpft und konnten zuletzt, wie durch ein Wunder, über die steile Flanke des westlichen Musa Dagh, die direkt zum Meer hin abfällt, in die Rettungsboote französischer Kriegsschiffe steigen und so dem drohenden Untergang entkommen. Es war zunächst der französische Kreuzer »Guichen«, der auf eine große Rotkreuz-Fahne, die die Armenier zum Meer hin gehisst hatten, reagierte. Der Kreuzer setzte ein Boot aus, und ein Armenier schwamm ihm entgegen. Der Kapitän der »Guichen«, Joseph Brisson, telegrafierte daraufhin mit seinem Admiral auf dem Flaggschiff »Jeanne d’Arc«, das innerhalb eines Tages ebenfalls an der Küste war. Auf Befehl des Admirals kamen noch drei weitere französische und ein britischer Kreuzer dazu. Eineinhalb Tage lang beschoss die alliierte Flotte dann die türkischen Stellungen auf dem Musa Dagh, um es den Armeniern zu ermöglichen, sich über die Rettungsboote einzuschiffen. 4058 Menschen wurden gerettet.5

Avedis Demirci lebt 2012 allein mit seiner 20 Jahre jüngeren, aber immerhin auch schon 78-jährigen Frau in seinem kleinen Haus in Vakifli. Er gehört zu den Armeniern, die nach dem Krieg 1918, als der Musa Dagh zu dem von Frankreich besetzten Syrien gehörte, aus dem Exil in ihre Heimat zurückkehrten. Seine Söhne haben den Musa Dagh schon lange verlassen, zwei sind bereits gestorben, einer lebt als bekannter Maler in Istanbul. Bei unserem Besuch hängt ein Bild des Sohnes im Wohnzimmer. Es ist ein Porträt des Vaters, wie der, lebenslustig, mit sprühendem Blick, einen Fisch verspeist und dazu einen Raki trinkt. »Der Arzt«, sagt Avedis lächelnd, »hat mir den Raki verboten, aber manchmal trinke ich dennoch einen kleinen Schluck. Danach bin ich aber gleich reif fürs Bett.«

Seit dem Genozid leben fast alle in der Türkei verbliebenen Armenier in Istanbul, rund 65 000 sind es heute noch. Vakifli ist eine Ausnahme, die direkt mit dem damaligen Widerstand auf dem Berg zusammenhängt. Die von den Franzosen geretteten Armenier wurden per Schiff nach Port Said gebracht und dort in einem Flüchtlingslager provisorisch untergebracht. Nach dem Sieg der Entente über die Mittelmächte Deutsches Reich, Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich und Bulgarien kehrten die meisten Armenier in die Dörfer am Musa Dagh zurück, der damals zum französischen Protektorat Syrien gehörte. Die endgültige Vertreibung aus dem Paradies fand dann 1939 statt. Die Provinz Hatay wurde nach einer Volksabstimmung von den Franzosen an die türkische Republik zurückgegeben; die Armenier vom Musa Dagh mussten sich entscheiden, ob sie bleiben oder in den nach wie vor von Frankreich kontrollierten Libanon umsiedeln wollten. »Fast alle sind damals gegangen«, bedauert Avedis Demirci den Weggang vieler Freunde und Nachbarn. »Auch in Vakifli sind nur die Hälfte geblieben.« Während er sich an die Belagerung des Musa Dagh selbst nicht mehr erinnern kann, war der Bruch von 1938/39 der traurigste Einschnitt in seinem Leben: »Wären sie doch hiergeblieben, hier ist doch unser Zuhause.«

Das größte Dorf am Musa Dagh war vor der Vertreibung von 1915 Yogunoluk. Dieser Ort ist auch der Hauptschauplatz in Werfels Roman. Von allen sechs Dörfern hat die Moderne hier die wenigsten Spuren hinterlassen. Statt Armenier leben in Yogunoluk jetzt turkmenische Nomaden, die der Staat zur Sesshaftigkeit drängte.

image

Armenische Flüchtlinge werden in der Nähe des Musa Dagh von französischen Kriegsschiffen aufgenommen, September 1915

Die Gassen des Dorfes sind so eng und steil, dass statt Autos Esel und Pferde die wichtigsten Transportmittel der Menschen geblieben sind. Einige armenische Steinhäuser existieren noch, und heute wie damals endet die Bebauung an der »Steineichenschlucht«. Diese Schlucht, durch die die armenischen Dörfler vor den anrückenden türkischen Truppen auf das Hochplateau des Musa Dagh flüchteten, sieht noch genauso aus wie vor hundert Jahren. Nur, dass jetzt turkmenische statt armenischer Köhler hier ihre Holzkohle in kunstvoll geschichteten Hügeln glimmen lassen.

Im Vergleich zu Yogunoluk hat sich Vakifli sehr verändert. Die Verwandten aus Istanbul oder aus dem Ausland haben in die Häuser ihrer Familien investiert, drei alte Steinhäuser wurden in Gästehäuser umgebaut. Weil von der Landwirtschaft die wenigsten leben können, wird der Tourismus mehr und mehr zur wichtigsten Einnahmequelle. Gerade wird das Dorfcafé zu einem Restaurant ausgebaut. »Im Sommer ist es hier bereits ziemlich überlaufen«, berichtet Frau Demirci. Verwandte aus aller Welt kommen dann zurück, aber auch immer mehr Besucher, die das letzte armenische Dorf in der Türkei kennenlernen wollen. Der Höhepunkt des Jahres ist das »Surp Asdvandzadzin Festival« in der zweiten Augustwoche. Es dauert mehrere Tage. Traditionelle armenische Gerichte werden gemeinsam hergestellt und verspeist, die Nächte bei klassischer Folklore durchgetanzt.

Avedis Demirci ist die Verwandlung von Vakifli kurz vor seinem Tod bereits ein bisschen zu viel. Dauernd fahren lärmende Autos an seinem Haus vorbei, auch die Besucher werden ihm schon manchmal lästig. »Früher«, erzählt er, »brauchten wir mit unseren Pferden sechs Stunden über die Berge bis Antakya. Danach ging es dann mühsam weiter bis Aleppo. Hier war das Ende der Welt.« Nur diese Abgeschiedenheit des Musa Dagh hat den Widerstand vor knapp hundert Jahren möglich gemacht. Von Major Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenbach hat Avedis Demirci in seinem langen Leben nie etwas gehört.

»Das Ziel der Verschickung ist das Nichts«

Als Wolffskeel im Sommer 1915 seinem Vater ankündigt, dass er auf dem Weg zu den aufrührerischen Armeniern am Musa Dagh ist, weiß er, anders als noch im März in Zeitun, was mit den Armeniern, »die das freundliche Angebot zur Umsiedlung durch die Regierung« angenommen haben, tatsächlich geschieht. Es interessiert ihn aber nicht.

Am 24. April 1915, dem Tag, der heute als der Jahrestag des Völkermordes begangen wird, hatte Innenminister Talaat, der innerhalb des Triumvirats von Talaat, Enver und Djemal Pascha für die Vertreibung und Massakrierung der Armenier zuständig war, die Order gegeben, die wichtigsten Honoratioren der armenischen Gemeinde in Istanbul (knapp 300 Personen) festzunehmen und in ein Konzentrationslager in Zentralanatolien zu bringen. Unter ihnen waren Abgeordnete, Intellektuelle, Künstler und Geschäftsleute, die Elite der armenischen Gesellschaft.

Ende Mai verabschiedete die osmanische Regierung ein Gesetz, mit dem die Vertreibung der Armenier legitimiert werden sollte. Schon davor hatten die Deportationen aus Maras, Adana, Tarsus, Mersin und den anderen Küstenstädten an der Südküste begonnen, zunächst nach Aleppo und von dort weiter in die Todescamps in der syrischen Wüste bei Deir es-Zor jenseits des Euphrat.

Während der Weg von der Südküste nach Aleppo relativ kurz war und viele Vertriebene den Fußmarsch bis dorthin noch einigermaßen wohlbehalten überstanden, begann ab Mai 1915 für die Mehrheit der Armenier, die aus ihren angestammten Siedlungsgebieten im Nord- und Südosten des Osmanischen Reiches vertrieben wurden, das Martyrium auf dem langen Weg in Richtung Syrien. Die Armenier aus dem Westen der Türkei fuhren zumindest streckenweise mit der Bagdadbahn nach Syrien in den Tod; die Mehrheit der armenischen Deportationsopfer aus dem Nordosten, aus Erzurum, Harput und aus Diyarbakir im Südosten musste zu Fuß marschieren.

Viele armenische Männer waren eingezogen, wurden aber nicht in den regulären Truppen, sondern nur als Bausoldaten eingesetzt, weil man ihnen keine Waffen geben wollte. Die meisten von ihnen wurden später von ihren Kameraden auf Befehl von oben als vermeintliche Verräter massakriert. Die Deportationszüge aus den Städten und Dörfern des Ostens bestanden deshalb überwiegend aus Frauen, Kindern und alten Männern, die nicht mehr eingezogen werden konnten. Schon nach wenigen Tagen hatten sie nichts mehr zu essen, wurden von sogenannten Spezialtruppen überfallen und ausgeraubt, viele von ihnen in abgelegenen Tälern und Schluchten auch gleich getötet.

Einer der wenigen deutschen Soldaten, die das Martyrium der Armenier damals anprangerten, war der Sanitätsoffizier und spätere Schriftsteller Armin Theophil Wegner, dessen Fotos auch zu den spärlichen visuellen Belegen für den Genozid zählen.

Über die Deportationszüge schrieb er: »Die Armenier wurden auf dem Weg in die Wüste von Kurden erschlagen, von Gendarmen beraubt, erschossen, erhängt, vergiftet, erdolcht, erdrosselt, von Seuchen verzehrt, ertränkt, sie erfroren, verdursteten, verhungerten, verfaulten, wurden von Schakalen angefressen. Kinder weinten sich in den Tod, Männer zerschmetterten sich an den Felsen, Mütter warfen ihre Kleinen in die Brunnen, Schwangere stürzten sich mit Gesang in den Euphrat. Alle Tode der Erde, die Tode aller Jahrhunderte starben sie.«6

Wegner gehörte 1915 zum Stab des berühmtesten deutschen Soldaten in der Türkei, Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz. Colmar von der Goltz, der Ende des 19. Jahrhunderts im Auftrag des Sultans Abdülhamid eine Heeresreform der osmanischen Armee initiiert und die wichtigste Kriegsschule des Reiches gegründet und geleitet hatte, war im Dezember 1914 erneut als militärischer Berater des Sultans von Berlin nach Konstantinopel geschickt worden. Im Schatten von Kriegsminister Enver Pascha konnte er aber nicht viel ausrichten, weswegen er, wiewohl bereits über 70 Jahre alt, um ein aktives Kommando bat. Feldmarschall von der Goltz wurde daraufhin zum Befehlshaber der VI. Armee in Bagdad ernannt, die unter seiner Führung einen entscheidenden Sieg über die Briten erfocht. Er starb noch während der Kämpfe im April 1916 an Typhus.

Auf dem Weg von Konstantinopel nach Bagdad, im Herbst 1915, durchquerte der Konvoi des Feldmarschalls auch die Gebiete, in denen die deportierten Armenier interniert waren.

Wegner schrieb darüber: »Es war so, daß Feldmarschall von der Goltz zusammen mit türkischen Offizieren in einem Auto auf dem schnellsten Weg durch die Wüste nach Bagdad fuhr, während der übrige Stab viel langsamer dorthin unterwegs war. Dabei kamen wir, wenn wir abends oder nachts unser Lager aufschlugen, oft an den Todeslagern vorbei, in denen die Armenier, hilflos in die Wüste getrieben, ihrem allmählichen Untergang entgegensahen. Die Türken mieden und leugneten diese Lager. Die Deutschen gingen nicht hin und taten, als wenn sie sie nicht sähen. Sie wollten erstens das Ganze nicht sehen, weil sie mit der Türkei verbündet waren, und zweitens wollten sie den Krankheiten und den Ansteckungen aus dem Weg gehen.

Ich bin aber in diese Lager hineingegangen – immer wieder – und habe Dutzende von Photographien von den Verfolgten aufgenommen, und sie haben mir eine dauerhafte Freundschaft dafür geschenkt, daß ich mich ihrer angenommen habe. Denn ich bin damals auch in einem Urlaub nach Berlin gefahren, ging auf das Auswärtige Amt, wo man alles wußte, aber sagte, daß man nichts tun könnte. Ich versuchte, mehrere berühmte Leute aufzusuchen, die mich zum Teil nicht empfingen, als ich ihnen geschrieben hatte, weswegen ich käme.

Aber aus all dem ist nichts geworden und ich kehrte wieder zurück und mußte ohnmächtig diesen furchtbaren Untergang dieses Volkes mitansehen. Sie kamen in Scharen an den Rand der Wüste, und der damalige Bürgermeister von Aleppo, der ein menschlich fühlender Bürgermeister war, telegraphierte an Talaat, an den Minister des Innern: Es sind hier Scharen von Tausenden von Armeniern angekommen. Was soll mit ihnen geschehen? Und Talaat, der große Feind der Armenier, telegraphierte zurück: ›Das Ziel der Verschickung ist das Nichts.‹«7

»Meine Infanterie ist sehr schneidig vorgegangen«

Urfa gehört zu den ältesten Städten der Welt. Die meisten Archäologen gehen davon aus, dass in den mesopotamischen Ebenen rund um Urfa der Übergang der menschlichen Kultur vom jagenden Nomaden zum sesshaften Bauern stattgefunden hat. Die Landschaft zwischen Euphrat und Tigris war fruchtbar und klimatisch begünstigt. Noch heute findet sich auf den Hügeln rund um die Stadt ein Wildgetreide, das vermutlich zu den ersten Pflanzen gehörte, die Menschen kultivierten.

Einer dieser Hügel, nur zehn Kilometer vom Stadtzentrum Urfas entfernt, Göbekli Tepe, hat erst vor wenigen Jahren ein Geheimnis preisgegeben, das die Annahme erster menschlicher Siedlungen in diesem Raum entscheidend stützt. Der deutsche Archäologe Klaus Schmidt stieß hier 1994 auf eine von Menschen erbaute Tempelanlage. Noch in der Jäger-und-Sammler-Phase des Menschen vor 11 000 Jahren war hier die bislang älteste heute bekannte religiöse Stätte der Menschheit entstanden, eine Art neolithisches Stonehenge.

Von der Spitze des Göbekli Tepe aus flimmert in der Sommerhitze die Silhouette des heutigen, modernen Urfa über der Ebene. Die Stadt ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Begünstigt durch das Wasser aus dem nahe gelegenen Atatürk-Staudamm am Euphrat, hat die Landwirtschaft zwischen Urfa und der syrischen Grenze einen enormen Aufschwung erlebt. Im Großraum Urfa leben heute rund eine Million Menschen.

Nach islamischer Überlieferung ist Urfa die Geburtsstätte von Abraham. Im Zentrum der Stadt, rund um die ehemalige Zitadelle, haben die Stadtväter einen großen Park anlegen lassen, dessen Hauptattraktion die sogenannte Abrahamsgrotte ist, eine Felshöhle, in der der Stammvater der drei monotheistischen Religionen geboren worden sein soll.

Urfa zählt deshalb zu den wichtigsten islamischen Pilgerstätten der Türkei. Ein nie versiegender Strom frommer Muslime kommt jeden Tag zur Abrahamsgrotte und an den Abrahamsteich, einen Wassergraben, der die zentrale Halil-Rahman-Moschee umgibt und in dem Gott Abraham vor dem Feuertod gerettet haben soll.

Dass Urfa noch vor hundert Jahren auch ein wichtiges christliches Zentrum war, ist heute dagegen nicht mehr zu erkennen. Als Edessa war das heutige Urfa die Hauptstadt einer Kreuzritter-Grafschaft, und schon davor gehörte Urfa zu einem armenischen Königreich. Noch um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war die Bevölkerung nahezu zur Hälfte christlich, entweder syrisch-orthodoxe Araber oder Armenier. Die armenische Bevölkerung von Urfa hatte bereits vor den Deportationen 1915 unter den Massakern von 1895/96 sehr gelitten. Damals waren fast 3000 Armenier, die sich in ihre Kathedrale geflüchtet hatten, mitsamt dem Gotteshaus bei lebendigem Leib verbrannt worden. Insgesamt starben rund 10 000 Armenier in Urfa. Die Kathedrale wurde dann bis 1900 wieder aufgebaut, und 15 Jahre später waren die Armenier wieder die dynamischste Bevölkerungsgruppe, die praktisch das gesamte Manufakturwesen, den Handel und das Handwerk in der Stadt dominierte.

Nach den Pogromen von 1895/96 bauten amerikanische, deutsche und schweizerische Missionsgesellschaften in Urfa Waisenhäuser und andere karitative Einrichtungen für die Hinterbliebenen auf. Einige dieser Einrichtungen gehörten zum Armenischen Hilfswerk, das der deutsche Pfarrer und Missionar Johannes Lepsius 1896 als Reaktion auf die Massaker gegründet hatte. Zu ihnen zählten eine Teppichknüpferei, in der armenische Witwen und Waisen arbeiten konnten, und ein Spital.

Im Auftrag des Armenischen Hilfswerks arbeiteten die Brüder Franz und Bruno Eckart, die dänische Pädagogin Karen Jeppe und der Schweizer Diakon und Krankenpfleger Jakob Künzler in Urfa. Sie alle wurden im Herbst 1915 zu Zeugen der Vernichtung der armenischen Gemeinde, und alle haben darüber berichtet. Künzler, der noch über das Kriegsende hinaus bis 1922 in Urfa blieb, hat später in dem Buch »Im Land des Blutes und der Tränen. Erlebnisse in Mesopotamien während des Weltkrieges (1914 – 1918)« Zeugnis über die Gräueltaten abgelegt.