bhbawinnerseal200

Gewinner des Beverly Hills international Book Awards in 2015 - Kategorie Suspense (Spannungsliteratur)




Für Grandpa, der das Kommando führte

Und für Madison – meine Tochter, meine Schülerin, meine Lehrerin

KAPITEL FÜNF

Im Schatten

Nach meiner Auseinandersetzung mit Mr. Naczalnik wurde ich der Englischklasse von Mr. Mattingly zugewiesen. Mr. Mattingly war das absolute Gegenteil des langweiligen Naczalnik; er war jung und sah mehr wie ein Lacrosse-Spieler als ein Highschool-Lehrer aus. Er sprach mit seinen Schülern, als wäre er einer von ihnen. Es war sein erstes Jahr als Lehrer und sein leichter Südstaatenakzent verlieh ihm etwas genauso Fremdländisches und Interessantes, wie man es sonst nur bei jemandem vom anderen Ende der Welt empfinden würde. Ich mochte ihn sofort.
  An diesem Montag saß ich bereits gut vierzig Minuten in Mr. Mattinglys Unterricht, bevor mir überhaupt auffiel, dass sich Adrian Gardiner ebenfalls im Raum befand und an einem der hinteren Tische saß. Seine Anwesenheit überraschte mich. Er sah hier völlig fehl am Platz aus – wie ein Geist, der gerade vom Friedhof hereinspaziert war. Als sich unsere Blicke trafen, senkte er hastig den Kopf und starrte seine Tischplatte an. Ich drehte mich wieder zurück nach vorne. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund bereitete mir seine Anwesenheit Unbehagen.
  Als es zum Ende der Stunde läutete, rechnete ich damit, dass mir Adrian hinausfolgte, aber er tat es nicht. Er packte seine Bücher zusammen, schulterte seinen lächerlich überdimensionalen Rucksack und eilte rasch vor mir aus dem Klassenzimmer. Auf dem Flur verschwand er inmitten der Schülermenge.
  Am darauffolgenden Tag grüßte ich ihn, als ich auf dem Weg zu meinem Tisch an seiner Reihe vorbeikam. Von seinem Platz aus starrte er mich perplex hinter seinen dicken Brillengläsern hervor an. Als er mich erkannte, zeigte er mir ein angedeutetes Lächeln, hinter dem keinerlei Emotion zu liegen schien.
  Die nächsten fünfundfünfzig Minuten über fragte ich mich, ob Adrian nach der Stunde wohl auf mich zukommen würde. Aber wieder: Sobald es läutete, stand er auf und war auch schon durch die Tür auf und davon. Die Tatsache, dass er mich ignorierte, störte mich seltsamerweise mehr, als wenn er sich mir an die Fersen geklebt hätte und mir wie ein Welpe hinterhergedackelt wäre.
  Eines Nachmittags, bevor der Unterricht anfing, marschierte ein Junge namens George Drexler zu Adrians Platz. Adrian starrte gerade geistesabwesend auf sein Schulbuch. Drexler, ein untersetzter kleiner Arsch mit schlechten Zähnen, zeigte auf etwas, das wie eine Kritzelei am Rand einer Seite aussah und fragte: »Hey, hast du das gezeichnet?«
  Adrian blickte von seinem Buch zu Drexler auf. »Ja.« Dann lächelte er verhalten, als ob er gerade Freundschaft mit jemandem geschlossen hätte, der sein künstlerisches Talent zu schätzen wusste.
  »Cool«, bemerkte Drexler, bevor er wieder zu seinem Platz zurückkehrte. Eine halbe Minute später, als Mr. Mattingly in das Klassenzimmer kam, seine Tasche und einen Becher Kaffee von Dunkin‘ Donuts in der Hand, meldete sich Drexler. Als Mr. Mattingly ihn aufrief, platzte Drexler heraus: »Der Neue hat sein ganzes Schulbuch vollgeschmiert!«
  In der Schulkantine hielt ich immer Ausschau nach Adrian, konnte ihn aber nirgends entdecken. Gegen Ende der Woche ging ich einmal hinaus in den Innenhof. Es war ein kalter Novembertag und nur wenige Schüler waren draußen und trotzten dem Wetter, darunter größtenteils die kaputten Außenseiter, die mit dem Rest der Schülergemeinschaft nicht klarkamen. Hier war Adrian auch nicht.
  Nicht einmal auf dem Nachhauseweg von der Schule trafen meine Freunde und ich auf ihn. Adrian wohnte gleich nebenan, aber ich sah ihn in jenen ersten Wochen nie die Worth Street entlanggehen. Ein paar Mal war ich durchaus versucht, an seine Tür zu klopfen, aber der bloße Gedanke daran, noch einmal einen Fuß in dieses muffige, gruftartige Haus zu setzen, verpasste mir eine Gänsehaut, die Blindenschrift Konkurrenz gemacht hätte.
  »Bist du ihm schon mal begegnet?«, erkundigte sich Peter eines Nachmittags, während wir von der Schule nach Hause gingen.
  »Bin ich. Grandma hat mich an dem Tag, als sie eingezogen sind, mit einem Teller Keksen zu ihnen rübergeschickt. Er sitzt auch mit mir im Englischunterricht.«
  »Wie ist er so?«
  »Irgendwie seltsam. Hat schon ein paar Stunden versäumt.«
  »Dein Dad zwingt aber dich nicht, mit ihm abzuhängen, oder?«
  »Machst du Witze? Nie im Leben werde ich mit dem abhängen. Der Kleine ist ein Spasti.«
  Tatsächlich verlor mein Vater nie ein Wort über die neuen Nachbarn. Er war nicht nur überarbeitet, sondern hatte um die Feiertage herum auch seinen absoluten Tiefpunkt. Dass Charles nicht mehr bei uns war, lastete zu dieser Zeit des Jahres immer am schwersten auf ihm und ich ging davon aus, dass er in dieser Zeit auch viel an meine Mutter dachte.
  Wir hielten die Familientradition aufrecht, zur Butterfield-Farm hinauszufahren, wo wir Äpfel für Kuchen und bunten Mais zum Dekorieren der Haustür kauften. Doch mein Vater wandelte zwischen den Maisstängeln und goldenen Heuballen der Butterfields wie ein Geist mit einem starren, humorlosen Grinsen im Gesicht. Als er die Sachen an der Kasse bezahlte, verwickelte er Henry Butterfield nicht in ihr übliches, heiteres Geplänkel.
  Am Thanksgiving-Morgen, gerade als ich Adrian Gardiner schon völlig vergessen hatte, tauchte er an unserer Türschwelle auf und hielt einen mit Alufolie abgedeckten Teller in der Hand. »Ist Lasagne, glaube ich. Bin mir nicht sicher. Hat meine Mom gemacht.«
  Meine Großmutter nahm den Teller entgegen – es war unser Teller, auf dem ich die Kekse hinübergebracht hatte –, dann bat sie ihn herein. Der Junge stand im Flur und trat von einem Fuß auf den anderen. Sein Ski-Parka war ihm um die Schultern viel zu eng, während die Brille für sein Gesicht viel zu groß aussah.
  »Wie kommst du in der Schule zurecht?«, erkundigte ich mich bei ihm.
  »Ganz okay.«
  »Gefällt’s dir?«
  »Sicher.«
  »Ist es recht viel anders als Chicago?«
  »Denke schon.«
  »Was ist mit der Stadt? Ich wette, das ist total anders als in einer Metropole zu leben.«
  »Ja.«
  »Vermisst du deine Freunde?«
  »Weiß nicht.«
  Unser Gespräch war bis zum Zerreißen gespannt, also wünschte ich ihm ein fröhliches Thanksgiving und begleitete ihn hinaus auf die Veranda. Er erwiderte nichts und schien erleichtert zu sein, dass er wieder draußen war. Von den Erkerfenstern im Wohnzimmer aus sah ich ihm hinterher, wie er über den Rasen nach Hause ging. Er schlurfte und hatte die Schultern angezogen, sodass er aussah wie jemand, der sich seiner bloßen Existenz wegen nicht wohlfühlte.
  Am Sonntag darauf, als meine Familie und ich von der Kirche zurückkamen, sichtete ich Adrians schmale, kleine Erscheinung, eingezwängt in den gleichen viel zu kleinen Parka, die Haven Street hinaufmarschieren. Er hatte seinen sperrigen Rucksack auf dem Rücken und ging mit gesenktem Kopf, als zehrte die Anstrengung so sehr an ihm.
  Als unser Wagen an ihm vorüberfuhr, blickte ich ihn direkt an. Es sah aus, als suchte er etwas auf dem bräunlichen Grasstreifen, der sich am Straßenrand erstreckte. Er bemerkte mich nicht.

***

Natürlich musste ich mir über wichtigere Dinge als Adrian Gardiner Gedanken machen. In den Wochen nach meinem Zusammenstoß mit Keener und seiner Gang in der Teufelsnacht hatte ich zu den seltsamsten Tageszeiten und manchmal auch am frühen Abend seinen Wagen durch mein Viertel kreuzen sehen. Es bestand nur wenig Zweifel daran, dass er mich suchte.
  Für den Rest des Monats konnte man Keener mit einer Handvoll seiner Freunde jeden Tag beim Generous Superstore antreffen, wo sie die Obszönitäten, die sie an die Wände gesprüht hatten, mit weißer Farbe übertünchten. Ich sah sie dort, als meine Freunde und ich von der Schule nach Hause gingen, und wir gaben sorgsam acht, nicht von ihnen entdeckt zu werden. Einmal konnte ich auch Carl Nance unter ihnen ausmachen. Er saß auf der Motorhaube seines Aries K, trug eine Beinschiene und balancierte ein Paar Krücken auf seinem Schoß – was mir eine unglaubliche, finstere Genugtuung verschaffte.
  Ich musste vorsichtig sein und erwartete hinter jeder Ecke einen Hinterhalt. Wie ein entflohener Sträfling bewegte ich mich immer in den Schatten, hielt mich im Verborgenen.
  Eines Samstagnachmittags, als ich mir im Toddy Surplus ein paar Taschenmesser in einer Auslage ansah, erblickte ich Keener, Denny Sallis und Kenneth Ottawa, wie sie an den Fenstern der Vorderseite des Geschäfts vorbeigingen. Ich betete, dass sie nicht hereinkämen. Sie blieben genau vor dem Laden stehen und zündeten sich Zigaretten an. Es herrschte leichter Schneefall und der Himmel jenseits des Parkplatzes war grau und bedrohlich wolkenverhangen.
  Ohne die Fenster aus den Augen zu lassen, trat ich einen Schritt seitwärts zu einem Regal mit Jagdausrüstung. Als sie ihre Zigarettenkippen auf den Gehweg schnippten und das Geschäft betraten, fühlte ich einen gehörigen Hitzeschwall aus meiner Jacke aufsteigen. Unauffällig zog ich mich in den hinteren Bereich des Ladens zurück, als Mr. Toddy, der Geschäftsinhaber mit einem Gesicht voller Aknenarben, von der Ladentheke aufsah und sich räusperte.
  »Kann ich euch irgendwie behilflich sein?«, fragte er Keener und seine Kumpels.
  »Sehn uns nur ein wenig um«, erwiderte Ottawa, der gemächlich an einem Drahtständer voll Postkarten, Motivmagneten und Kreuzworträtselheften herumdrehte. Er trug eine Armeejacke voller Fettflecken und verwaschene Jeans. Seine Militärstiefel hinterließen nasse Fußspuren auf dem Linoleumboden.
  Ich schlüpfte in einen Gang und versteckte mich zwischen zwei Regalen mit alten Jagdjacken. Vorne im Laden amüsierten sich Kenner und Sallis über etwas neben einer Vitrine mit Elektronikartikeln. Wie ein rastloser Bär strich Ottawa weiter durch das Geschäft, nahm dabei hier und da geistesabwesend Artikel aus den Regalen und legte sie kurz darauf wieder zurück.
  Als Ottawa auf der anderen Seite des Gangs stehenblieb, in dem ich mich versteckte, blickte ich hinauf zum Überwachungsspiegel über der Ladentür und sah, dass Keener und Sallis mit den Rücken zur Tür über ein paar Auslagen gebeugt waren. Wenn Ottawa in meinen Gang herüberkäme, würde ich in die entgegengesetzte Richtung und zur Tür laufen. Mit viel Glück würde ich es hinausschaffen, bevor Ottawa die anderen beiden alarmieren konnte.
  Aber Ottawa schlenderte zu seinen Freunden zurück. Seine Stiefel hinterließen immer noch nasse Spuren. Die Drei unterhielten sich leise und einer von ihnen – ich glaube, es war Sallis – gab ein kicherndes Lachen wie eine Hyäne von sich.
  »Seid ihr Burschen auf der Suche nach etwas Bestimmtem?«, meldete sich Mr. Toddy erneut.
  Zwar konnte ich ihn von meinem Standort aus nicht sehen, doch konnte ich einen Anflug von Besorgnis in seiner Stimme ausmachen.
  »Nö«, antwortete Keener. Er steckte die Hände in die Taschen. »Lasst uns abhauen.«
  Sie verließen den Laden. Bevor die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, hörte ich noch, wie einer von ihnen Mr. Toddy mit einer grellen Papageienstimme nachäffte: »Seid ihr Burschen auf der Suche nach etwas Bestimmtem?« Darauf folgte kehliges Gelächter.
  Ich verfolgte, wie sie den Parkplatz überquerten und dann den Gehsteig in Richtung Highway entlanggingen. Es schneite jetzt stärker und ich verlor sie bald zwischen der Menschenmenge, die für die Feiertage einkaufte, aus dem Blickfeld.
  »Sind die Jungs Freunde von dir?«, fragte Mr. Toddy, als ich hinter dem Regal mit den Jagdjacken wieder hervorkam.
  »Nein, Sir.«
  »Ich will nicht, dass sie hier hereinkommen. Richte ihnen das von mir aus.«
  »Das sind nicht meine Freunde.«
  »Wenn die wiederkommen, rufe ich die Polizei.«
  Ich nickte, dann eilte ich aus dem Laden.

***

Am Weihnachtsabend feierten wir das Festa dei sette pesci, oder Fest der Sieben Fische. Das ganze Haus roch intensiv nach Wellhornschnecken und gebratenem Kabeljau, während meine Großmutter in der Küchenspüle Aale schlachtete. Mein Dad und mein Großvater saßen gemeinsam im Wohnzimmer und tranken Chianti, während Dean Martin und Perry Como abwechselnd Weihnachtsklassiker auf dem alten Plattenspieler meines Vaters trällerten.
  Ich verpasste dem Weihnachtsbaum noch den letzten Schliff und betrachtete den Schnee, der an den Erkerfenstern vorbeitanzte. In Adrians Haus nebenan war es stockfinster. Ich fragte mich, ob er und seine Mutter über die Feiertage wohl zurück nach Chicago gereist waren.
  Am darauffolgenden Morgen jedoch, als meine Familie und ich in das Auto meines Vaters stiegen, um zur Weihnachtsmesse zu fahren, bemerkte ich Adrian auf der Treppe vor seinem Haus sitzen. Er trug einen recht dünn aussehenden Pyjama und blaue Plüschpantoffeln.
  Meine Großmutter meinte, dass sich der Junge noch eine Lungenentzündung holen würde, wenn er so angezogen dort draußen saß und ob seine Mutter denn überhaupt nicht aufpasste? Ich dachte an Doreen Gardiners medikamentenbetäubten, starren Blick und zombiegleiche Gangart und kam zu dem Schluss, dass Aufpassen wahrscheinlich jenseits ihrer Fähigkeiten lag.
  Am Abend hatten wir zum Weihnachtsessen die Mathersons zu Besuch. Sie waren ein kinderloses Ehepaar mittleren Alters, einfache und herzensgute Leute. Mr. Matherson erzählte die Geschichte, wie sich einmal ein Rehbock in seiner Außenweihnachtsbeleuchtung verfangen hatte und wie er, mein Vater und Charles das Reh die Straße rauf und runter gejagt hatten, um es von den Kabeln befreien zu können. Mich hatten sie mit einem Besen auf dem Rasen unseres Vorgartens Stellung nehmen lassen; mein Dad hatte mich instruiert, dem Bock eins mit dem Besenstiel überzuziehen, falls er zu nahe kommen sollte. Mr. Matherson gab die Geschichte jedes Weihnachten zum Besten, als ob wir sie noch nie gehört hätten, geschweige denn dabei gewesen wären, als es sich zutrug.
  »Schließlich«, lächelte Mr. Matherson reumütig, wenn nicht sogar leicht angetrunken, »floh das Ding in den Wald und schleifte eine ungefähr dreißig Meter lange Kette aus bunten Lichtern hinter sich her. Wahrscheinlich ist der Bock immer noch da draußen und sein Geweih mit den Lichtern umwickelt.«
  Als der Kaffee serviert wurde, bugsierte mich meine Großmutter in die Küche und drückte mir einen Porzellanteller in die Hand. Er war voll mit Struffoli – kleinen Teigkügelchen, die mit Honig glasiert und bunten Zuckerkügelchen bestreut waren.
  »Geh doch rüber und wünsche den neuen Nachbarn ein frohes Weihnachtsfest«, trug sie mir auf und warf mich förmlich zur Tür hinaus.
  Ich überquerte den verschneiten Garten. Papierlampions erleuchteten das entlegene Ende der Worth Street wie die Lichter einer Flughafenlandebahn. Wie immer war die Sorge um einen schweren Schneesturm dieses Jahr wieder einmal völlig unbegründet gewesen und es waren nur knapp zehn Zentimeter Schnee gefallen, die aber schnell wieder schmolzen. Es war jedoch schrecklich kalt und der kurze Gang von meinem Haus zu den Gardiners reichte aus, dass meine Wangenknochen taub wurden und meine Nase anfing zu laufen.
  Ich stieg die Verandatreppe der Gardiners hinauf und fragte mich wieder einmal, ob jemand zu Hause war. Das Erdgeschoss war völlig dunkel, aber in einem der oberen Fenster brannte ein einzelnes Licht. Ich klopfte an die Tür, dann lugte ich durch das Fenster daneben, um zu sehen, ob es irgendwelche Anzeichen für feierliche Beleuchtung gab. Ich konnte nichts erkennen.
  Doreen Gardiner öffnete die Tür. Ihr Gesicht war bleich und ausgemergelt, ihr Haar streng zurückgekämmt und zu einem strammen Dutt gebunden. Sie trug ein locker sitzendes Baumwollshirt und eine Schlaghose mit tapetenhaftem Paisley-Muster. Der Geruch eines abgestandenen, ungewaschenen Körpers und eine Alkoholfahne strömten zu mir auf die Veranda heraus.
  »Frohe Weihnachten«, wünschte ich und streckte ihr rasch den Teller mit den Struffoli entgegen.
  »Wie nett«, erwiderte sie ausdruckslos und beugte sich hinunter, um die klebrigen Teigbällchen in Augenschein zu nehmen. »Sehr interessant.«
  »Das sind Struffoli«, erklärte ich. »Ich mag sie nicht besonders, aber der Rest meiner Familie schon. Meine Großmutter macht sie jedes Jahr zu Weihnachten.«
  Als sie sich vorbeugte, um den Teller entgegenzunehmen, klaffte der ausgefranste Kragen ihres Shirts auf und ich sah etwas, das wie eine abscheuliche rosa Narbe aussah, die sich um ihren Hals wand. Es war dunkel auf der Veranda und ich dachte, dass mir vielleicht das Licht nur einen Streich spielte. Bevor ich genauer hinsehen konnte, richtete sie sich wieder auf und die Narbe verschwand im Kragen. »Möchtest du reinkommen? Adrian ist oben.«
  Doreen Gardiner lächelte mühsam. Sie sah aus wie eine mit schwarzer Magie zum Leben erweckte Leiche, die dazu verdammt war, herumzuwandeln, und immer noch nach ihrem Grab stank. »Sag deiner Großmutter danke für die … Wie hießen sie nochmal?«
  »Struffoli.«
  »Ja. Sag ihr danke. Und frohe Weihnachten ebenfalls.«

KAPITEL SECHS

Ein Vorfall in der Bessel Avenue

Wie es die Tradition am Silvesterabend wollte, fuhren mein Vater, mein Großvater und ich zum alten Steinbruch am Ende unserer Straße, um einigen Nachbarn dabei zuzusehen, wie sie ein Feuerwerk veranstalteten. Der Steinbruch war eine große Kalksteingrube, umgeben von zwei Reihen Maschendrahtzaun, der oben mit Stacheldraht gesichert war. Er erstreckte sich über mehrere Hektar, angefangen am Ende der Worth Street, wo die Worth von einer Teerstraße in einen schmalen Zufahrtsweg aus weißem Schotter überging, bis hin zu dem schwarzen Vorhang stattlicher Kiefern im Westen. Es war schwierig zu sagen, wie tief die Grube eigentlich war, wobei man wohl aber nicht zu sehr danebenlag, wenn man den Boden in einer Tiefe von gut sechzig Metern schätzte.
  Wir kamen um halb zwölf an, was zwar noch recht früh für das Feuerwerk war, aber selbst um diese Uhrzeit konnte ich bereits beurteilen, dass nicht so viele Menschen außerhalb der Steinbruchumzäunung zusammengekommen waren wie in den Jahren zuvor. Natürlich konnte man die dürftige Teilnahme dem kalten Wetter zuschreiben, trotzdem drängte sich mir die Frage auf, ob viele vielleicht auch wegen des Pipers zu Hause geblieben waren.
  Bislang hatte es nichts Berichtenswertes gegeben, seit die Leiche von Courtney Cole aus dem Wald geborgen worden war. In den Nachrichten hörte man nichts über potentielle Hinweise und es waren auch mit Sicherheit keine Verhaftungen vorgenommen worden. Wenn die Polizei irgendjemanden im Verdacht hatte, dann hielten sie sich ziemlich gut bedeckt, was ihre Vermutungen anging.
  Ich wollte meinen Vater nach dem Stand der Ermittlungen fragen, da er einer der leitenden Beamten in diesem Fall war, aber seiner verdrießlichen Stimmung und seines müden Blickes wegen hielt ich lieber den Mund. Umgekehrt aber, wenn er guter Laune war und ihm leichter ein Lachen über die Lippen kam, wollte ich ihm die Stimmung natürlich auch nicht verderben, indem ich ihm Fragen zu makabren Themen stellte. Also ließ ich es sein und blieb weiterhin im Ungewissen wie alle anderen Einwohner von Harting Farms auch. Obwohl manche im Ort die Hoffnung hegten, dass die für den Tod von Courtney Cole – und nicht zu vergessen, für das Verschwinden von William Demorest, Jeffrey Connor und Bethany Frost – verantwortliche Person weitergezogen war, schien diese Ansicht all die Angst und Besorgnis in keiner Weise zu zerstreuen.
  Mein Dad parkte den Wagen und wir stiegen alle aus. Unter dem Dreiviertelmond schien von dem Kalkstein auf der anderen Seite des Zauns ein übernatürliches Licht auszugehen. Einige Anwesende saßen in Mäntel gepackt in Gartenstühlen und tranken Bier oder Kaffee aus dampfenden Thermoskannen. Sie saßen im groben Halbkreis um eine leichte Bodenvertiefung im Kies, wo bereits jemand ein imposant aussehendes Feuerwerk aufgestellt hatte. Ein batteriebetriebenes Radio auf jemandes Schoß spielte die Musik eines Classic-Rock-Senders.
  Als wir bei der kleinen Gruppe ankamen, wurden wir von allen begrüßt und ein paar der älteren Frauen winkten mir zu. Ich sah mich um und stellte fest, dass ich der einzige Jugendliche war. Fakt war, dass diese kleine Feuerwerksvorführung schon immer mehr etwas für die Erwachsenen als die Jüngeren gewesen war, doch in den vergangenen Jahren waren auch ein paar Teenager und sogar jüngere Kinder mit dabei gewesen. Ihre Abwesenheit war wie ein klaffendes Loch im Mantel der Nacht und ich fühlte mich schlagartig unsicher unter all meinen erwachsenen Nachbarn hier.
  Mr. Matherson schüttelte meinem Dad die Hand. Aus seinem Marlboro-Man-Mantel ragte eine Flasche Schnaps. Er lächelte mich an, wenngleich er auch etwas überrascht wirkte, mich hier zu sehen.
  Ein Mann, der eine karierte Jagdmütze mit Ohrenschützern trug – etwa so eine, wie sie Elmer Fudd in den Bugs-Bunny-Cartoons immer trägt –, kam zu uns herüber und reichte meinem Vater und Großvater jeweils eine Zigarre. Der Mann selbst hatte einen Zigarrenstummel im Mundwinkel stecken, dessen Spitze in rötlichem Orange wie das feurige Auge eines Zyklopen glühte. »Frohe Weihnachten, Sal«, grüßte er meinen Vater und drückte seinen Unterarm.
  »Hallo, Angie.« Es war Mrs. Wilber, die in einem der Gartenstühle saß. Sie lächelte mich an. Der Rottweiler der Wilbers, der mit der Leine an der Armlehne des Gartenstuhls festgebunden war, hob seinen Kopf und bedachte mich mit einem Blick, der unbehaglicherweise nach Verachtung aussah. »Wir haben ein paar richtige Prachtstücke dieses Jahr«, verkündete sie mit einem Nicken in Richtung der Feuerwerkskörper in der Kiesgrube.
  »Ja«, bestätigte ich. »Sehen großartig aus.«
  »Wie läuft es in der Schule?«
  »Ganz okay, würde ich sagen.«
  »Wunderbar, Schätzchen«. Sie schraubte die Kappe ihrer Thermoskanne ab, goss eine dampfende schwarze Flüssigkeit darin ein und reichte sie mir. »Hausgemachte heiße Schokolade – damit du deine Knochen ein wenig aufwärmen kannst.«
  Ich nippte und wusste augenblicklich zwei Dinge – Mrs. Wilber war betrunken und in der heißen Schokolade war Alkohol. Ich zog eine Grimasse, hustete und gab ihr rasch die Verschlusskappe zurück, wobei ich gerade noch so ein »Danke« hervorwürgen konnte.
  Mrs. Wilber lachte und ihr Rottweiler funkelte mich wieder finster an.
  Mein Großvater saß auf einem der großen Kalksteinbrocken, die vom Boden aufragten, und rauchte die Zigarre, die ihm der Mann mit der Elmer-Fudd-Mütze gegeben hatte. Er trug eine Schiebermütze aus Tweed und einen schweren Wildledermantel mit nikotinvergilbten Wollsäumen. Die Spitze seiner Zigarre glühte unter dem Schirm seiner Mütze auf, als ich zu ihm kam und mich neben ihn auf den Stein setzte.
  »Letztes Jahr war hier mehr los«, meinte ich zu ihm. »Da waren auch Jugendliche hier.«
  »Nun, es ist ein ganz besonders kalter Silvesterabend, meinst du nicht?«
  »Stimmt.«
  »Und die Menschen haben ein gutes Gedächtnis. Sie sind größtenteils noch immer … besorgt … wegen bestimmter Dinge.« Er sah mich an. »Du machst dir aber keine Sorgen, oder?«
  »Nein.«
  »Guter Junge.« Er nahm die Zigarre aus dem Mund und hielt sie mir hin. »Möchtest du mal probieren?«
  »Klar!«
  »Man inhaliert aber nicht wie bei Zigaretten.«
  »Ich rauche keine Zigaretten.«
  »Sicher.« Er zwinkerte mir zu.
  Ich steckte mir das feuchte Ende der Zigarre in den Mund und zog daran, bis die glühende Asche in hellem Rot brannte und mein Mund sich mit Rauch füllte, den ich dann durch gespitzte Lippen ausblies. Es schmeckte nach nasser Zeitung.
  »Dad«, sagte mein Vater, der zu uns stieß. Er steckte seine eigene Zigarre in die Innentasche seiner Jacke.
  »Was denn? Der Junge ist fünfzehn! Als ich fünfzehn war, hat mir Uncle Sam ein Gewehr in die Hand gedrückt und mich auf Pauschalurlaub in den Südpazifik geschickt.«
  »Gib deinem Großvater die Zigarre wieder.«
  »Ach, Mann«, murrte ich und gab sie zurück. »Kannst du Rauchringe wie die in den Filmen?«
  »Machst du Witze?« Mein Großvater setzte eines seiner patentierten Filmstarlächeln auf; meiner Großmutter nach war es genau dieses Lächeln, das ihm in der Damenwelt einen gewissen Ruf eingebracht hatte, als er noch jung gewesen war. »Angelo, ich habe die Rauchringe praktisch erfunden.«
  Mein Vater lachte lauter, als ich es für nötig gehalten hätte und ich fragte mich, ob wohl gerade irgendein versteckter Witz an mir vorbeigegangen war.
  Nach ein paar gescheiterten Versuchen, Rauchringe in die Luft zu blasen, schob mein Großvater seine Mütze nach hinten und musterte den halbgerauchten Stumpen prüfend, als ob er kaputt wäre.
  Mein Dad lachte wieder und dieses Mal lachte ich mit ihm.
  Eine Minute vor Mitternacht drehte die Frau mit dem Radio auf dem Schoß die Lautstärke hoch. Mr. Matherson, Mr. Wilber und der Mann mit der Elmer-Fudd-Mütze drängten sich dicht zusammen wie Revolutionäre, die ihre Verschwörung vorbereiteten. Sie holten ihre Feuerzeuge hervor und entzündeten sie, was ihre Gesichter in ein Muster aus orangefarbenem Licht und pechschwarzen Schatten tauchte. Ich vermutete, sie wollten herausfinden, wer das beste Feuerzeug für die Show heute Nacht hatte. Mr. Matherson und Mr. Wilber steckten ihre BIC-Plastikfeuerzeuge zurück in ihre Jackentaschen, während der Mann mit der Elmer-Fudd-Mütze triumphierend grinsend mit seinem langen Stabfeuerzeug auf seine Handfläche patschte.
  »Gleich kommt er! Macht euch fertig!«, rief die Frau mit dem Radio.
  Ein Beatles-Song war gerade zu Ende und der Radiomoderator bereitete sich auf den Countdown zum neuen Jahr vor.
  Der Mann mit der Elmer-Fudd-Mütze spurtete zur Kiesgrube hinüber, wo das Feuerwerk aufgestellt war.
  Jemand rief: »Zünd dich nicht selber an, Fred!«, woraufhin ein lachender Chor einsetzte.
  »Da ist was Wahres dran«, murmelte mein Großvater dicht an mein Ohr herübergebeugt. »Der alte Fred dort sieht aus, als hätte er reinsten hochprozentigen Whiskey in seinen Adern. Der könnte hochgehen wie ne Römische Kerze.«
  »Zehn … neun … acht …«, zählte die Menge zusammen mit dem Radiomoderator im Chor.
  Mein Vater und ich setzten mit ein: »Sieben … sechs … fünf …«
  Mein Großvater nahm seine Schiebermütze ab und wirbelte sie herum.
  »Vier … drei …«
  Fred kniete auf einem Bein in der Kiesgrube und entzündete mit der Flamme aus der Spitze seines Stabfeuerzeugs die Lunte einer besonders fies aussehenden Papprakete.
  »Zwei … eins … gutes neues Jahr!«
  Wir alle jubelten und applaudierten.
  Mein Großvater drapierte mir die Schiebermütze über die Ohren, stand vom Kalksteinblock auf und rief: »Bravo! Bravo!«
  Ein funkensprühender Feuerstern wanderte die Lunte der Rakete entlang und Fred trat zurück in die Zuschauermenge. Einen Moment später hob die Rakete in einer schwarzen Rauchwolke ab und flog hoch in den Nachthimmel hinauf. Ich verlor sie aus den Augen, noch ehe sie über die Baumwipfel hinaus war.
  Als hätte er meine Gedanken gelesen, lehnte mein Großvater seine Schulter gegen meine und zeigte auf eine Gruppe heller Sterne. »Dort!«
  Die Rakete explodierte in einem grellen Blitz rosafarbener, orangener, goldener und silberner Lichter, die in glitzernden Fäden herabregneten. Auf der anderen Seite des Maschendrahtzauns spiegelte sich eine Miniaturversion des Lichtspektakels auf der Oberfläche des trüben schwarzen Wassers unten auf dem Grund des Steinbruchs.
  So ging es die nächste Viertelstunde weiter. Sobald das Feuerwerksfinale den Himmel mit brillanten Farben, die dünne Rauchspuren hinter sich herzogen, erleuchtet hatte, war ich ganz heiser von meinen Beifallsschreien und trotz der Kälte schwitzte ich von dem ganzen Trubel. Die Luft roch nach Schwefel und dem Zigarrenrauch meines Großvaters.
  Mein Dad packte mich im Nacken und zog mich näher zu sich heran. Er küsste mich oben auf den Kopf und sagte: »Frohes neues Jahr, Kumpel.«
  »Frohes neues Jahr. Darf ich los und nach den Raketenresten sehen?«
  »Sei aber vorsichtig. Sie sind immer noch heiß.«
  Ich rutschte vom Kalksteinblock hinunter und rannte hinüber zur Kiesgrube, wo schwelende Überreste über den Boden verstreut lagen. Schwarze Kartonspiralen rauchten im Kies. Kohlefarbene Brandstellen waren auf dem Grund der weiß gepuderten Grube zu sehen. Ich berührte die kuppelförmige Spitze einer Rakete – einen teilweise geschmolzenen Kegel aus rotem Plastik – und sie war immer noch warm.
  Als ich aufstand und mich in Richtung Worth Street umdrehte, fiel mir ein Scheinwerferpaar auf, das die enge Straße zwischen den üppigen Bäumen entlanggerast kam. Schwaden dunstigen Rauchs dämpften das Scheinwerferlicht. Das Auto blieb abrupt stehen. Weniger sah, vielmehr hörte ich, wie eine Tür aufschwang und wieder zugeschlagen wurde. Eine Frau kam auf den Halbkreis aus Gartenstühlen zugerannt und war mit nicht mehr als Jeans und einem Sweatshirt bekleidet, dessen Vorderseite mit glitzernden Strasssteinen besetzt war. Die Frau schrie etwas und sah völlig verängstigt aus. Es dauerte einen Augenblick, bis ich verstand, dass sie den Namen meines Vaters rief.
  Mein Vater kam ihr auf halbem Wege über den Kiesplatz entgegen, um sie abzufangen. Mein Großvater und Mr. Matherson kamen dazu. Mein Dad nahm die Frau bei den Unterarmen und sprach langsam mit ihr, während er ihr direkt in die Augen blickte. Sie wirkte angeschlagen und panisch. Ihre Lippen waren blau.
  Ich eilte hinüber zu ihnen. Ich hatte den Anfang des Gesprächs verpasst und konnte allem nur mit Mühe folgen.
  »Nein, nein«, weinte die Frau, »sie sind noch da. Sie haben die Polizei gerufen, aber ich wusste, dass ich Sie hier finde.«
  »Okay. Fahren Sie zurück nach Hause.« Mein Vater wandte sich an Mr. Matherson. »Kannst du …?«
  »Ja, ich bringe sie heim«, unterbrach Mr. Matherson, der offenbar die Gedanken meines Vaters gelesen hatte. »Geh nur, Sal.«
  »Geh«, wiederholte mein Großvater nachdrücklich.
  Mein Dad hetzte an der verzweifelten Frau vorbei zur Worth Street und – vermutlich – zu seinem Wagen.
  »Dad«, rief ich und rannte ihm hinterher. Sowohl mein Großvater als auch Mr. Matherson riefen meinen Namen, doch ich ignorierte sie. Ich erreichte das Auto meines Vaters, gerade als er einstieg. Ich öffnete die Beifahrertür.
  »Du bleibst bei deinem Großvater!«, herrschte er mich an.
  »Ich komme mit«, widersprach ich entschlossen und stieg ein.
  Er starrte mich für den Bruchteil eines Herzschlags an. Dann ließ er den Motor an und sagte: »Na gut. Dann los.«
  Ich schlug die Tür zu und schnallte mich an.
  Mein Vater rammte den ersten Gang ein, trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch und ruderte das Lenkrad herum. Wir drehten einen engen Kreis auf der schmalen Fahrbahn, dann fuhren wir die Worth Street in überraschend hoher Geschwindigkeit entlang.
  »Was ist los?«
  »Die Ransoms«, begann mein Vater. »Ihr Sohn Aaron ist verschwunden.«
  Ich kannte Aaron Ransom. Er wohnte ein paar Häuserblocks weiter in der Bessel Avenue und ging auch auf die Stanton. Er war ein zierlicher Junge mit blonder Topffrisur, der manchmal auf dem Parkplatz des Superstores mit anderen Jungs aus der Schule Skateboard fahren ging. Ich brauchte eine Minute, bis mir klar wurde, was die Äußerung meines Vaters bedeutete. »Was ist passiert?«
  »Schnall dich an.«
  »Hab ich.«
  Er beschleunigte und die Tachonadel stieg auf über siebzig mitten im Wohnviertel. Über den Baumwipfeln am Horizont erleuchteten noch immer Feuerwerke den Nachthimmel. In der Haven Street fuhr mein Vater wieder langsamer, blieb an der Kreuzung aber nicht komplett stehen. Er bog scharf links ab und raste mehr oder weniger in der Mitte der Straße entlang. Er schaltete das Fernlicht an. Ich sah meinen Dad an und erkannte, dass er nicht nur die Straße im Auge behielt, sondern sein Blick auch die Randstreifen und dunklen Lücken zwischen den Häusern absuchte.
  Als wir in der Bessel Avenue angekommen waren, bremste er leicht ab und rollte den Hügel hinauf, wobei er die dunklen Gärten der Häuser prüfte, an denen wir vorbeikamen.
  »Dad?«, fing ich an.
  »Was ist?«
  Doch mir fiel nichts ein. Meine Kehle wurde trocken.
  Er blickte zu mir herüber, dann fuhr er zurück in die Straße, ohne ein Wort zu sagen.
  In der Einfahrt der Ransoms stand ein einzelner Streifenwagen, dessen Signallichter blinkten. Ein paar Nachbarn in dicken Jacken gingen im Vorgarten herum und blickten verwirrt drein wie Rinder in einem Hagelsturm.
  Mein Vater parkte am Randstein und forderte mich auf, auszusteigen. Ohne eine Sekunde zu zögern, tat ich, was er sagte, und folgte ihm über den Rasen.
  Die Haustür ging auf, noch bevor wir dort ankamen, und ein Mann in einem kitschigen Weihnachtspullover winkte uns hinein.
  Mein Dad schritt durch den Hauseingang und ich folgte dicht hinter ihm mit gesenktem Kopf. Ich sah dem Mann nicht in die Augen.
  Wir gingen durch ein überladenes Familienwohnzimmer, dessen Wände mit hässlichen Holzpaneelen verkleidet waren, und landeten in einer beengten kleinen Küche. Ein jugendlich aussehender Polizeibeamter in voller Uniform stand vor einer Frau, die stocksteif aufrecht auf einem der Stühle am Tisch saß. Ich erkannte sie nur entfernt als Aaron Ransoms Mutter, da ich sie nur bei einigen wenigen Anlässen zu Gesicht bekommen hatte. Nun war sie kaum noch als diese Frau wiederzuerkennen. Dunkle Mascarastreifen liefen von ihren Augen herunter und hinterließen schmutzige Spuren auf ihren Wangen. Ihre Hände rangen miteinander in ihrem Schoß.
  Sie sah meinen Dad scharf an. Als sie ihn erkannte, stand sie auf.
  Der uniformierte Cop drehte sich zu uns um und blickte zuerst meinen Dad an, dann mich.
  »Ist ja gut, Rebecca«, beruhigte mein Vater sie und hielt sie bei den Unterarmen, wie er es auch bei der Frau im strassbesetzten Sweatshirt wenige Augenblicke zuvor im Steinbruch getan hatte. Er wandte sich an den Polizisten. »Sind die Jungs unterwegs?«
  »Ja, Sir.«
  »Geh vorne raus und überprüfe die angrenzenden Gärten. Bitte ein paar der Leute im Vorgarten, dir zu helfen.«
  »Ja, Sir.«
  »Und schicke jemanden hinüber zu den Torinos, um Aussagen aufzunehmen.«
  Der Officer nickte, sah mich noch einmal an – Wer zum Teufel bist du und was hast du hier verloren? – und eilte dann nach draußen.
  »Was ist passiert, Rebecca?«
  Sie fing an zu weinen. Es war herzzerreißend. Ihr Gesicht schien einfach in der Mitte in sich zusammenzufallen und ihre Augen waren verschmiert und verschwommen in den Höhlen.
  Da bemerkte ich erstmals einen kleinen schwarzen Hund unter dem Tisch. Als Rebecca Ransoms Schluchzer ertönten, drehte der Hund durch, rannte um die Tischbeine und wetzte um die Stühle. Er bellte zweimal – eigentlich quiekte er eher – und war wieder ruhig.
  Mein Dad führte Rebecca Ransom zu einem der Stühle und half ihr, sich zu setzen. »Beruhige dich, meine Liebe«, redete er mit unglaublich ruhiger Stimme auf sie ein. »Erzähl mir ganz genau, was passiert ist.«
  Ich entschlüsselte das meiste von dem, was geschehen war, durch Rebeccas sprunghafte Erzählung: Um ungefähr zehn Uhr abends hatte sich Aaron zur einer Silvesterparty bei den Torinos aufgemacht. Sie hatte ihn angewiesen, er solle sofort nach Mitternacht wieder nach Hause kommen. Als er dann aber nicht auftauchte, hatte Rebecca bei Mrs. Torino angerufen, um mit Aaron zu sprechen. Mrs. Torino hatte ihr dann mitgeteilt, dass er gar nicht erst bei ihnen erschienen sei. Daraufhin hatte Rebecca die Polizei verständigt.
  »War er mit dem Fahrrad unterwegs?«, wollte mein Vater wissen.
  »Nein. Er ging zu Fuß, weil er einen Rumkuchen dabei hatte. Oh Gott …«
  »Hast du dem Officer, der hier war, das auch erzählt?«
  »Ja.«
  »Ich schicke jemanden, der bei dir bleibt.« Er wandte sich an mich. »Komm, Angelo.«
  Ich folgte ihm durch das Haus hinaus vor die Tür. Auf der Straße und in den Gärten der Nachbarschaft hatten sich inzwischen mehr Menschen versammelt und einige von ihnen hatten Taschenlampen dabei. Der uniformierte Cop sprach mit einer Gruppe und zeigte in verschiedene Richtungen im Viertel.
  Als mein Vater und ich über den Rasen zu ihnen stießen, kamen zwei weitere Streifenwagen die Bessel Avenue mit blinkenden Lichtern und heulenden Sirenen heraufgestürmt. Mein Vater blieb am Briefkasten der Ransoms stehen und steckte eine Ecke seiner Jacke nach hinten. Er zog seine Pistole aus dem Hosenbund seiner Jeans, zog den Schlitten durch und steckte sie wieder zurück in die Hose. Als sein Blick meinem begegnete, lag darin eine verworrene Mischung aus Mitleid, Kummer und Angst. Nach außen hin blieb er jedoch gelassen.
  Plötzlich und zu meinem großen Entsetzen fiel mir auf, dass ich den Tränen nahe war.
  »Ist schon gut«, meinte mein Vater in beruhigendem Ton. »Bleib dicht bei mir. Direkt auf meinen Fersen.«
  Benommen nickte ich.
  Mein Vater eilte auf die Straße. Er ging auf einen der Streifenwagen zu, der gerade erst geparkt hatte und sprach mit dem Officer hinter dem Lenkrad. Der Beamte reichte ihm etwas, das wie das CB-Handfunkgerät eines Fernfahrers aussah. Mein Vater nahm es vor den Mund und drückte den Knopf. Als er sprach, ertönte seine Stimme über einen Lautsprecher, der zwischen den Signalleuchten auf dem Dach des Fahrzeugs versteckt untergebracht war.
  »Wir suchen nach Aaron Ransom«, erhob er das Wort an die Umstehenden. »Schwärmt alle aus. Durchsucht die Straßen und durchkämmt die Gärten. Wenn ihr irgendwelchen Nachbarn begegnet, bittet sie, jegliche Außenbeleuchtung einzuschalten – Flutlichtstrahler, Verandalichter, einfach alles. Bildet vier Gruppen und macht euch auf die Suche nach Norden, Süden, Osten und Westen. Jede Gruppe wird von einem Officer angeführt. Bleibt bei eurer Gruppe. Niemand geht im Alleingang irgendwohin.«
  Er überblickte die Menge, vielleicht um die verängstigten und aggressiven Gesichter einzuschätzen, dann fügte er hinzu: »Nehmt keine Waffen mit. Wenn ihr eine Pistole habt, lasst sie zu Hause.« Er warf das Handfunkgerät zurück durch das offene Fahrerfenster des Polizeiautos.
  »Was machen wir?«, fragte ich ihn, als er auf mich zukam.
  »Wir gehen die Bessel hoch zum Haus der Torinos«, erklärte mein Vater, der sich dabei schon auf den Weg durch den Block machte. Ich hastete hinterher. Zahlreiche Nachbarn folgten uns und die Strahlen ihrer Taschenlampen zuckten im Zickzack durch die Nacht. Als ein weiteres Feuerwerk explodierte, fuhren alle vor Schreck zusammen.
  Ganz vorne rief eine Frau. Es bildete sich ein Pulk um sie herum und ein paar der Männer winkten uns zu. Einer der Streifenwagen fuhr langsam zu ihnen und mehrere Männer – darunter auch mein Vater – fingen an zu rennen. Ich rannte mit brennendem Gesicht hinterher.
  Mein Dad blieb stehen, als er bei der Menge ankam. Sie standen im Halbkreis um etwas auf der Straße herum. Sobald ich das erkannte, spürte ich, wie meine Beine steif wurden. Mein Herz schlug wie ein Presslufthammer. Schultern rempelten mich im Vorbeilaufen an und schubsten mich herum, als ich immer langsamer wurde und schließlich fast mitten auf der Bessel Avenue stehenblieb. In allen Richtungen des Blocks gingen die Verandalichter an.
  »Oh mein Gott«, wimmerte eine Frau. Sie entfernte sich mit den Händen vor dem Mund und vor Angst weit aufgerissenen Augen von der Menge. »Oh Gott, Rebecca …«
  Ich erreichte die Ansammlung und meinen Dad. Ich konnte etwas Kleines, Dunkles ausmachen, das gegen den Randstein geschoben lag.
  Mein Vater legte mir eine Hand auf die Brust und hielt mich zurück. »Bleib hier«, befahlt er, dann schob er sich durch die Menge. Er beugte sich hinunter und untersuchte das Objekt auf dem Boden.
  Es gelang mir, mich zwischen zwei Männern hindurchzuquetschen und sah, was er betrachtete.
  Es war der Rumkuchen. Ein Porzellanteller lag zerbrochen im Rinnstein. Es sah aus, als hatte jemand versucht, den zerstörten Kuchen und die Scherben des Tellers in die Kanalisation zu treten.
  Mein Dad stand auf, begab sich zum nächsten uniformierten Polizeibeamten und sprach leise und nah an dessen Gesicht gebeugt mit ihm. Als er sich abwandte, richtete der Polizist in Uniform das Wort an die umstehenden Menschen und wies sie an, zurückzutreten. Weiter unten im Block gingen noch mehr Lichter an.
  Mein Dad kehrte die Bessel Avenue zum Haus der Ransoms zurück. Ich rannte hinterher und erreichte ihn gerade, als er zur Fahrerseite seines Wagens herumging. »Beeil dich. Steig ein«, sagte er, ohne mich anzusehen.
  Ich schwang mich auf den Beifahrersitz und schlug die Tür zu. Mein Vater fuhr rückwärts den Block hinunter, wendete den Wagen und raste mit Vollgas in Richtung Haven.
  Ich wollte fragen, wohin wir fuhren, ließ es dann aber bleiben. Ich dachte, es wäre wohl das Beste, wenn ich einfach nur Beifahrer war und meinen Mund hielt. Als wir in der Haven ankamen, erwartete ich, dass er in Richtung Worth Street abbog. Stattdessen lenkte er den Wagen in die entgegengesetzte Richtung. Das Feuerwerk war nun im Rückspiegel zu sehen. Mein Dad griff hinunter zur Mittelkonsole und schaltete den Polizeifunk ein. Statisches Rauschen erfüllte den Wagen. Unverständliche Stimmen sprachen in unheimlichem, ruhigem Ton miteinander.
  Als mein Vater rechts in eine unbenannte Anliegerstraße einbog, die durch den Wald führte, wusste ich, was er vorhatte: die Bessel Avenue hinter dem Wald umkreisen. Die Anliegerstraße war unbefestigt und das Auto wurde durchgerüttelt wie ein Achterbahnwagen, als wir tiefer in den Wald vordrangen. Die Schatten wanderten im Fernlicht und ließen die Bäume lebendig wirken.
  Als sich die Anliegerstraße gabelte, nahm mein Vater die Abzweigung, die tiefer in den Wald führte. Er bremste das Auto fast bis zum Kriechtempo herunter und untersuchte sorgfältig die dunkle Landschaft überall um uns herum. Am Außenspiegel der Fahrerseite war ein zusätzliches Flutlicht angebracht, das er einschaltete. Er richtete den Strahl in die Bäume und lenkte ihn mit einem Hebel, den er innen neben dem Fenster mit dem Daumen steuerte. So fuhren wir eine Weile weiter, bis unser beider Atemwolken die Scheiben beschlugen.
  Das Funkgerät unterhalb des Armaturenbretts meldete sich mit einer amtlich klingenden Männerstimme. »Kreuzung Bessel und Waverly. Möglicher Verdächtiger. Brauche Verstärkung.«
  »Festhalten«, sagte mein Dad zu mir. Er jagte zwischen den Bäumen hindurch und bog in einen anderen Feldweg ein. Die Abfahrt war steil und holprig, da diese Straße nicht für den gewöhnlichen Fahrzeugverkehr gedacht war. Äste kratzten am Dach der Limousine. Am Fuß des Hügels wurde die Nebenstraße breiter und ging in einen geteerten Abschnitt über. Das war die Waverly Street, eine der einspurigen Küstenstraßen hinter dem Wald, der die Bessel Avenue begrenzte. Als die Reifen des Wagens den Asphalt berührten, platzierte mein Vater ein Blaulicht auf dem Armaturenbrett und hämmerte auf einen Knopf, um es einzuschalten. Blaues Licht spiegelte sich in der Windschutzscheibe und leuchtete die finstere Straße vor uns entlang.
  Als wir scharf abbogen, bemerkte ich einen Streifenwagen weiter voraus, dessen Signallichter den angrenzenden Wald rot und blau färbten. Zwei Männer, einer davon in Polizeiuniform, standen vor dem Fahrzeug. Die Waffe des Polizisten steckte noch im Holster, aber er hatte die Hand am Griff, bereit zu ziehen, wenn es darauf ankäme.
  Der andere Mann war dem Aussehen nach ungefähr fünfzig. Er hatte einen sorgfältig gepflegten Bart, trug einen dickgefütterten braunen Parka und eine Baseballkappe der Baltimore Orioles, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Er hielt beide Hände hoch, aber nicht so himmelhoch, wie man es von den Kriminellen im Fernsehen immer kennt, wenn ihnen die Bullen zurufen, dass sie stehenbleiben sollen. Die ganze Sache hatte eine Beiläufigkeit an sich, die auf seltsame Art und Weise irgendwie einstudiert wirkte.
  Mein Vater riss die Tür auf, noch ehe das Auto komplett zum Stehen gekommen war. »Bleib sitzen«, befahl er mir und stieg aus. Er zog seine Waffe, als er sich dem Mann mit dem Orioles-Cap näherte.
  Ich kurbelte das Beifahrerfenster herunter, damit ich hören konnte, was vor sich ging.
  »Chester?«, erkundigte sich mein Vater und ging vorsichtig zwei Schritte auf den Mann zu. Er hielt die Waffe weiter auf ihn gerichtet. »Was zum Teufel treibst du um diese Zeit hier draußen?«
  »Spazieren gehen.« Die Stimme des Mannes klang verärgert. »Wie ich es auch schon deinem Untergebenen hier erzählt habe.«
  »Hast du getrunken?«
  »Ist das neuerdings ein Verbrechen?«
  Mein Vater sprach mit leiser Stimme zu Chester. Ich konnte nur ein paar Worte aufschnappen; auch Aaron Ransoms Name fiel.
  Chesters Ausdruck veränderte sich von Verärgerung zu grenzenloser Fassungslosigkeit, dann zu etwas, das fast Entsetzen gleichkam. Als er die Hände sinken ließ, befahl ihm der uniformierte Beamte, sie oben zu lassen.
  »Dreh dich um, Chester«, wies ihn mein Dad an.
  Als sich der Mann umdrehte, steckte mein Vater seine Waffe wieder ins Holster. Ich hielt den Atem an. Mein Dad klopfte die Seiten von Chesters Parka und seiner Latzhose ab. Sie unterhielten sich immer noch, aber ich konnte kein Wort davon verstehen, bis Chester sich wieder umdrehte und beteuerte: »Das hab ich ihm bereits gesagt.«
  »Komm schon«, appellierte mein Dad. In seiner Stimme lag ein bittender Ton, der sich gemessen an der gegenwärtigen Situation sehr ungezwungen anhörte. »Komm uns etwas entgegen, okay?«
  Chester seufzte, schüttelte seine Hände, als fielen sie gleich von seinen Handgelenken ab, dann legte er sie auf den Rücken.
  Der uniformierte Cop trat heran und legte dem Mann Handschellen an.
  »Ich rede mit keinem außer dir, Sal«, verkündete Chester, als ihn der Cop auf den Rücksitz des Streifenwagens bugsierte.
  »Ich bin direkt hinter euch«, beschwichtigte mein Vater. Er stieg in den Wagen, hauchte sich Wärme in die Fäuste, dann lächelte er mich müde an. Ein Nerv unter seinem linken Auge begann zu zucken.
  »Wer ist der Typ?«, wollte ich wissen.
  »Chester Vaughn. Er arbeitet unten an den Piers.«
  »Er wurde verhaftet?«
  »Nein. Ich habe ihn gebeten zu kooperieren, und er hat eingewilligt.«
  »Wozu dann die Handschellen?«
  »Nur um auf Nummer sicher zu gehen. Man kann niemandem vertrauen.« Mein Vater lenkte vom Randstein weg und fuhr langsam am Streifenwagen vorbei.
  Der Beamte saß auf dem Fahrersitz und sprach in ein Funkgerät. Vom Rücksitz aus starrte uns Chester Vaughn an. Seine Augen waren trübe, rote Höhlen in der teigigen Blässe seines Gesichts. Der Polizeibeamte hatte ihm die Baseballkappe abgenommen, sodass sein drahtiges Haar in ungekämmten Wirbeln hochstand.
  »Es ist eiskalt da draußen«, meinte mein Vater trotz der Schweißperlen, die glänzend auf seiner Stirn standen. »Kurbel dein Fenster hoch.«
  Ich tat, wie mir befohlen, dann drehte ich mich in meinem Sitz um. Durch die Heckscheibe sah ich die blauen und roten Lichter des Streifenwagens abwechselnd zwischen den Bäumen blitzen. Dann gingen die Lichter aus.