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Buchinfo

Hätte man die 313 Einwohner von Paradise Beach gefragt, wer an einem sonnigen, wolkenlosen Tag vom Blitz getroffen wird, sie alle hätten gesagt: Nate, der größte Pechvogel auf Erden. Und tatsächlich geschieht es. Doch Nate überlebt, und noch erstaunlicher ist: Fortan gelingt ihm einfach alles, und er, der absolute Loser, wird zu jedermanns Liebling. Nate genießt es, bis Zweifel an ihm nagen: Reißen sie sich nur um ihn, weil er ihnen Glück bringt? Als er sich dann auch noch mit seiner besten Freundin Gen verkracht, möchte er das Ganze am liebsten rückgängig machen. Aber wie?

Autorenvita

Bobbie Pyron

© Todd Blackley

Bobbie Pyron studierte Psychologie und Anthropologie und ist Diplom-Bibliothekarin. Sie engagiert sich als Bibliothekarin in verschiedenen Verbänden und mochte schon immer alle Arten von Kinderbüchern. Sie lebt mit ihrem Mann in Park City, Utah.

   Bobbie Pyron– Plot lich GLUCKS-PILZ– Aus dem Englischen von Gerda Bean– Thienemann

Für Miss Bettis,
die immer an mich geglaubt hat.

»Es gibt zwei Arten, sein Leben zu leben:
Entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder
so, als wäre alles eines.«
Albert Einstein

Kapitel 1

Jeder in Paradise Beach würde dir sagen, wenn einer der 313 Einwohner jemals vom Blitz getroffen würde – von einem klaren blauen Himmel herab an seinem Geburtstag –, dann wäre diese Person Nathaniel Harlow.

Denn war es nicht Nate passiert, dass sein Jagdhund samt Hundehütte und allem von einem Tornado mitgerissen und nie wieder gesehen wurde? Und war es nicht Nate, der in seinem ganzen elfjährigen Leben auf Gottes grüner Erde noch nie beim Münzenwerfen und Raten von Kopf oder Zahl gewonnen oder in einer Popcorn-Schachtel eine Überraschung gefunden hatte?

Pech schien Nate Harlow an den Fersen zu kleben wie früher sein Hund, der verloren gegangen war. Magerer als die meisten Jungen und mit hochgezogenen Schultern gegen das Pech, das auf ihn niederprasselte, hatte dieser Junge einfach kein Glück.

Nate erwachte an dem Frühlingsmorgen seines elften Geburtstags mit einem unerklärlich leichten und kribbeligen Gefühl in der Brust. Er lag unter seiner Decke und lauschte. Er hörte seinen Großvater auf dem Sofa ihres Wohnwagens schnarchen. Er hörte, wie sich die Spottdrossel in der Magnolie vor seinem Schlafzimmerfenster die Seele aus dem Leib sang. Er hörte das Summen des Kühlschranks und das gleichmäßige Pochpochpoch in seiner Brust. Er hörte jedoch nichts, was ein Grund für den winzigen Hoffnungsfunken gewesen wäre, der wie eine Motte in seinem Herzen herumschwirrte.

»Aber es ist doch mein elfter Geburtstag!«, erklärte er der Drossel. »Es ist mein elfter Geburtstag am elften April. Das hat doch was zu bedeuten!«

Nate tat jeden Morgen, nachdem er der Spottdrossel gelauscht hatte, drei Dinge.

Als Erstes zog er seinen Glücksbringer, die Kaninchenpfote, unter dem Kopfkissen hervor. Sein Großvater hatte sie ihm an seinem fünften Geburtstag geschenkt. Nate war kurz davor zu ihm gezogen. Die Pfote, die einmal blau wie der Himmel und ganz mit Fell überzogen war, hatte sich inzwischen braun verfärbt und war vom vielen Rubbeln fast kahl geworden.

Als Nächstes berührte er das Foto seiner Eltern auf dem Nachttisch und sagte: »Guten Morgen. Ich vermisse euch immer noch.« Als Nate vier war, wurden seine Mutter und sein Vater, die in ihrem ganzen Leben keinen Tropfen Alkohol angerührt hatten, bei einem Frontalzusammenstoß von einem betrunkenen Fahrer getötet. Da war Nathaniel Harlow zum ersten Mal bewusst geworden, dass sich das Leben blitzschnell verändern kann.

Und als Letztes steckte Nate die Kamera, die ihm sein Großvater zum neunten Geburtstag geschenkt hatte, in seine Tasche.

War der größte Pechvogel von Paradise Beach ein zukünftiger Fotograf, der einmal berühmt und erfolgreich sein würde? Nicht ganz. Nate machte Fotos – viele, viele Fotos –, aber nur von einzelnen Schuhen, die sich auf geheimnisvolle Weise von ihren Partnern getrennt hatten. Ein Flipflop mitten auf der Landstraße 102, ein Arbeitsstiefel, der einsam und verloren am Rand des Highway 98 lag, ein Tennisschuh, der unter dem Henderson-Pier angespült worden war. Früher hatte er diese verwaisten Schuhe aufgehoben und mit nach Hause genommen, weil er hoffte, dass irgendwann der glückliche Tag käme, an dem er auf wundersame Weise den anderen Schuh finden und das Paar wiedervereinen könnte. Das ging so lange, bis der kleine Wohnwagen von Schuhen überschwemmt war.

Nate zog seine Shorts an und stapfte ins Wohnzimmer. Sein Großvater seufzte und prustete im Schlaf.

Nate setzte Wasser auf für den Kaffee des Großvaters, machte Toast und schenkte sich ein Glas Milch ein. Das leichte, kribbelige Gefühl blieb in seiner Brust, obwohl die Milch sauer geworden war und der Toaster die Brotscheibe verbrannt hatte. Wieder einmal.

War es nicht im Grunde Glück, dass sein Geburtstag – sein elfter Geburtstag – zum allerersten Mal auf einen Samstag fiel? Und war es nicht ein Glück, dass niemand mit dem Großvater und seinem Boot, der Süßen Jodie, zum Hochseefischen hinausfahren wollte? Dass er stattdessen versprochen hatte, Nate und seine beste (und einzige) Freundin Genesis Beam zum Minigolfplatz zu bringen?

»Vielleicht habe ich plötzlich Glück«, hatte Nate abends zu Gen gesagt. »Mein Geburtstag war noch nie an einem Samstag und es ist mein elfter Geburtstag am elften Tag des Monats.«

»Das hat mit den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu tun«, hatte Gen geantwortet, als das erste Glühwürmchen des Abends blinkte und wieder verschwand. Genesis Beam glaubte nicht an Glück oder Pech. Sie glaubte an die Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung und verließ sich auf die höhere Macht der Logik.

»Ja, aber bei Opa hat niemand eine Angelfahrt gebucht«, sagte Nate.

»Niemand bucht samstags eine Angelfahrt. Schon seit ewigen Zeiten nicht mehr. Das weißt du.«

Es stimmte: Eine Pechsträhne ließ die Charterboote und ihre Mannschaften auf dem Trockenen sitzen.

»Wenn wir mit einem Durchschnitt von zweiundfünfzig Samstagen im Jahr rechnen und sie mit den elf Jahren, die du am Leben bist, multiplizieren, kommen wir auf 572 Samstage. Die Chancen, dass einer deiner Geburtstage auf einen Samstag fällt, stehen also ziemlich gut.«

»Aber –«

»Auf die Chancen kommt es an, Nathaniel, nicht auf das Glück. Bei allem. Hier«, sagte Gen, »ich beweis es dir.« Sie warf eine Münze in die Luft und klatschte sie dann auf ihren Handrücken. Und wie schon tausendmal zuvor, fragte sie: »Kopf oder Zahl?«

Nate seufzte. »Kopf.«

Sie zog die Hand zurück. »Zahl«, verkündete sie und warf die Münze wieder hoch. »Kopf oder Zahl?«

»Muss ich?«, fragte er. Gen funkelte ihn durch ihre dicken Brillengläser an. »Zahl«, sagte er.

»Es ist Kopf. Hat aber nichts zu bedeuten.«

Nate schlug nach einer Mücke.

Eine ganze Stunde lang warf Gen die Münze in die Höhe und fragte: »Kopf oder Zahl?« Und Nate gab Antwort.

Er lag ununterbrochen daneben. Dreiundfünfzigmal.

Und wie immer sagte sie: »Mit der Münze kann irgendwas nicht stimmen. Wenn man eine Münze hundertmal in die Luft wirft, besteht die Chance, dass man so zwischen vierzig- und sechzigmal Kopf kriegt. Wenn man eine Münze zweimal hochwirft, ist die Chance, beide Male Kopf zu bekommen, gleich ein halbes Mal mal ein halbes Mal gleich ein Viertel. Und die Chance, dreimal hintereinander Kopf zu kriegen, ist gleich –«

»Aber ich hab dreiundfünfzigmal falsch geraten!«

»Das ist praktisch unmöglich«, sagte Gen und wühlte in ihrer Tasche. »Laut Wahrscheinlichkeitsrechnung –«

Er seufzte. Manchmal war es schwer, das klügste Mädchen in ganz Franklin County zur besten Freundin zu haben.

»Lauf schon mal runter zu Gen!«, sagte der Großvater, nachdem er die zweite Tasse Kaffee ausgetrunken hatte. »Ich packe inzwischen die Kühltasche mit Limonade und anderen Dingen voll.«

Nate ließ die Fliegengittertür zuschlagen. »Oh, und sag Mrs Beam, dass ich eine Menge Fische für sie habe«, rief der Großvater ihm hinterher.

Nate ging die Straße der Wohnwagensiedlung Magnolie entlang. Der liebliche Duft der Bäume folgte ihm. Die Scherben der Austernschalen auf der Straße schimmerten weiß in der Morgensonne und knirschten unter seinen roten Basketballschuhen.

»Guten Morgen, Nate!«, rief Miss Trundle von der Holztreppe ihres Wohnwagens aus. Sie winkte. Auch das Fleisch unter ihrem Arm winkte.

Nate blieb stehen, um eine ihrer fünfzig Millionen Katzen zu streicheln. »Hi, Miss Trundle. Ich hab heute Geburtstag!«

»Ich weiß.« Sie strahlte. »Du bist elf geworden. So ein großer Junge! Es kommt mir vor wie gestern, als du hergezogen bist, um bei deinem Großvater zu leben, nachdem deine Eltern gestorben waren. Gott hab sie selig!«

»Ja, Miss Trundle«, sagte Nate. Und bevor sie aufzählen konnte, was ihr sonst noch alles wie gestern vorkam, rannte er weiter.

Am Ende der Siedlung rief Mr Wood von seiner Veranda aus: »Alles Gute zum Geburtstag, Nate!«

Er kam auf den Austernschalen schlitternd zum Stehen. »Danke. Wie geht es Ihnen heute?« Mr Woods uralte Chihuahuas Toots und Monk bellten hinter der Fliegengittertür.

Der alte Mann rieb sich das Bein. »Mein eines Knie macht mir wieder mal Kummer. Wahrscheinlich ändert sich das Wetter.«

Eine salzige, nach Fisch riechende Bö aus dem Golf von Mexiko ließ das Windspiel im Baum von Mr Wood klirren. Mr Wood hatte Windspiele aus vielen verschiedenen Dingen – aus Flaschen, Muscheln, Blechtassen, alten Gabeln und Messern. Und alles hing an Treibholz.

Nate schaute in den Himmel. Er war so blau und wolkenlos, wie er nur sein konnte. »Ich weiß nicht. Das Wetter sieht doch ziemlich gut aus.«

Mr Wood winkte ab. »Dann lauf jetzt weiter und feiere deinen Geburtstag schön!«

Und Nate lief los. Er verließ den Austernschalenweg und rannte durch das Kiefernwäldchen, bis er die rote Lehmstraße erreichte, die zur Kirche des Einen Wahren Erlösers und Ewigen Lichts führte. Die Doppeltür der weißen Holzkirche stand offen und Kinderstimmen sprudelten aus dem Innern. Er nahm zwei Stufen auf einmal. »Hey, Gen!«, rief er in das Gewusel hinein.

»Nate!« Zwei genau gleich aussehende kleine Mädchen in genau gleich aussehenden Sommerkleidern quietschten im Duett. Sie rannten um die Wette, den langen Gang von der Kanzel bis zum Eingang entlang. Sie warfen sich auf ihn, die dunkelbraunen Hände zupften an seinen Haaren und drückten seinen Hals. »Alles Gute zum Geburtstag, Nate!«

Er legte einen Arm um jede Schulter und grinste. »Danke, Ruth. Danke, Rebecca.« Alle fanden Nate ein bisschen zu klein und mager, aber wenn er mit Ruth und Rebecca zusammen war, fühlte er sich zwei Meter groß.

Die Mädchen packten seine Hände. »Wir haben den ganzen langen Tag auf dich gewartet«, sagte Ruth und hüpfte auf den Zehenspitzen.

»Wir haben dir eine Karte gebastelt, und Mama hat auch was Besonderes gemacht«, sagte Rebecca.

Die Zwillinge zogen ihn an den abgenutzten Kirchenbänken vorbei, hinter die Kanzel und die steile Treppe zu den Wohnräumen der Familie Beam hinauf. Es duftete nach Vanille und Schokolade.

»Nate ist da, Mama!«, verkündete Ruth. »Können wir jetzt die Törtchen essen?«

»Bitte!«, sagte Rebecca.

Mrs Beam lächelte. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Nate.« Dann sah sie die beiden sechsjährigen Mädchen, die von einem Fuß auf den anderen hüpften, streng an. »Nein, ihr könnt die Törtchen jetzt nicht essen!« Die braunen Augen der Zwillinge wurden traurig.

»Es ist Nates Geburtstag!«, rief Gen vom Sofa aus. »Er kriegt das erste.«

Ruth, das künstlerisch begabte Zwillingsmädchen, reichte dem Jungen eine riesige Karte aus braunem Papier, die sie mit Herzen und Kätzchen geschmückt hatte. »Ich hab dir zum Geburtstag ein Meisterwerk gemalt, Nate! Gefällt’s dir?« Bevor er antworten konnte, wirbelte Ruth aus dem Raum.

Rebecca zog an seiner Hand. »Ich hab dir zum Geburtstag was gedichtet«, flüsterte sie schüchtern.

Nate schlug die Karte auf und las:

Rosen sind rot, am Himmel sind Raben.

Was für ein Glück,
dass wir dich haben!

Nate grinste. »Danke, Rebecca. Das ist das schönste Gedicht, das mir je einer geschrieben hat.«

»Eine«, verbesserte ihn Gen, die in die Küche kam. Sie reichte Nate eine Tüte. »Alles Gute zum Geburtstag!«

Nate zog ein Buch mit dem Titel Die Geheimnisse der Unechten Karettschildkröten Floridas heraus. Er grinste und strich über den Einband des Buches. »Das ist toll, Gen. Wir können es zusammen lesen, weil die Schildkröten ja bald kommen werden.«

»Ich habe es schon dreimal gelesen und kann es so gut wie auswendig«, sagte Gen und zuckte mit den Schultern. »Aber ich helfe dir dabei.«

Auf der Treppe polterten Schritte. Zwei genau gleich aussehende kleine Jungs, die zwei Jahre jünger waren als die Zwillingsmädchen, stürmten in die Küche. Ja, Mrs Beam hatte zwei Zwillingspärchen hintereinander bekommen. Die Chancen, dass so etwas passierte, standen eins zu zwölf, wie Gen erklärte.

»Ist es Törtchenzeit?«, fragte Joshua.

»Leviticus, Joshua«, sagte Mrs Beam. »Wascht euch erst mal die schmutzigen kleinen Hände, bevor ihr an Essen denkt.«

»Och, Mama«, jammerte Leviticus.

»Hör auf deine liebe Mutter, mein Sohn«, sagte eine Stimme, so laut und kräftig wie die vom lieben Gott. Pfarrer Beam füllte die Küche aus. Er legte eine große Hand auf Nates Schulter. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, junger Mann!«

Nate schaute hoch in das Gesicht des Pfarrers und lächelte. »Danke.« Neben seinem Großvater und Genesis gehörte Pfarrer Beam zu seinen liebsten Menschen auf der Erde.

»Hab dich und deinen Großvater lange nicht in der Kirche gesehen«, sagte Pfarrer Beam wie immer.

»Ja«, erwiderte Nate wie immer. »Aber Opa sagt, wir kommen, sobald wir können. Die Pompano-Fische sind unterwegs und Opa hat eine Menge zu tun.« Was, wie sie beide wussten, reines Wunschdenken war.

Der Pfarrer lachte so saftig wie der Schokoguss auf den Törtchen. »Und anschließend sind die Makrelen unterwegs, und dann die roten Schnapper und …« Er hatte recht. Das Leben der Angler am Golf von Mexiko wurde von den Fischen geregelt, die zu bestimmten Zeiten vorbeizogen.

Nate hatte seinen Großvater einmal gefragt, warum sie im Gegensatz zu den meisten Leuten in Paradise Beach fast nie in die Kirche gingen. Schließlich gab es in ihrem Städtchen ein Gotteshaus für jeden Glauben. Sogar eine nagelneue Synagoge. Der Großvater hatte den letzten Eimer mit Fischköder auf den alten grünen Pritschenwagen geladen. Er hatte in die Sonne geblinzelt und gesagt: »Doch, tun wir, mein Junge. Wir beten mit Mutter Natur in der Heiligen-Makrelen-Kirche.« Nate war trotzdem froh, dass es – wenn sie ab und zu doch einmal in eine richtige Kirche gingen – die Kirche des Einen Wahren Erlösers und Ewigen Lichts war.

Mrs Beam steckte eine gelbe Kerze in die Mitte des größten Törtchens mit Schokoladenguss. Sie zündete sie vorsichtig an. »Wünsch dir was, Nate!«, sagte sie.

Er starrte auf die Kerze.

»Wünsch dir ein Einhorn!«, sagte Ruthie.

»Wünsch dir ein Kätzchen!«, empfahl ihm Rebecca lächelnd.

»Einen Roboter!«, schrie Levi.

»Ein Fahrrad!«, brüllte Joshua.

»Pst!«, machte Mrs Beam. »Es ist Nates Wunsch.«

Gen verdrehte die Augen. Sie glaubte nicht an Geburtstagswünsche, und Nate war sich nicht sicher, ob er selbst daran glaubte. Er hatte es eigentlich aufgegeben, sich beim Anblick einer Sternschnuppe etwas zu wünschen, und er hatte noch nie ein vierblättriges Kleeblatt gefunden. Er besaß allerdings einen Glücksbringer, die Kaninchenpfote, obwohl Gen ihn immer wieder darauf aufmerksam machte, dass dieses Kaninchen kein Glück gehabt hatte. Nate fand, dass ihm das Glück äußerst selten begegnete. Trotzdem meinte er, dass das Wünschen nicht schaden könnte, und holte tief Luft.

Er schloss die Augen und fuhr mit dem Daumen über die kleine Kaninchenpfote. Bitte, bitte lass heute etwas Glückliches passieren! Alle hielten den Atem an und sahen mit großen Augen zu, wie Nate lange und kräftig pustete. In diesem Luftstrom wurde erstens der Wunsch mitgerissen, nur einmal im Leben richtig Glück zu haben, und zweitens die Einsicht, dass seine Geburtstagswünsche sich nie erfüllt hatten und die Flammen der Kerzen nie ausgegangen waren, egal wie kräftig er gepustet hatte.

Aber diesmal, an Nate Harlows elftem Geburtstag am elften April, war von der tanzenden Flamme der Kerze am Ende nur noch ein wellenförmiger dünner Rauchschwaden zu sehen.

Kapitel 2

Nates Großvater parkte sein Auto mit Schwung vor dem Minigolfplatz und wischte sich mit seinem roten Halstuch die Stirn. Die heiße Luft flimmerte über dem Asphalt.

»Uff, ist das heute eine Affenhitze!«, sagte er. »Gut, dass wir die Kühltasche voller Eis und Getränke haben.« Nate stieg aus und blinzelte den riesigen grünen Dinosaurier an, der nur darauf lauerte, jeden Golfspieler zu fressen, der es wagte, ihm zu nah zu kommen. Ein schiefer Vulkan spuckte Rauchschwaden aus und das Maul eines Alligators öffnete sich knarrend und klappte wieder zu.

»Hier ist etwas Geld zum Golf spielen«, sagte der Großvater. »Die Kühltasche steht auf dem Vordersitz. Ich geh über die Straße zu June. Wenn ihr fertig seid, kommt ihr einfach rüber. Ich spendiere uns allen Cheeseburger und Eiscreme.«

Sogar Gen strahlte bei dieser Ankündigung. Im Café Junes Veranda gab es die besten Cheeseburger von ganz Paradise Beach und wahrscheinlich sogar vom ganzen Bezirk.

Nate und Gen stellten sich in die Schlange der anderen Jugendlichen, um sich Golfschläger, Karten zum Aufschreiben der Ergebnisse, Bleistifte und bunte Golfbälle zu leihen.

Ricky Sands, der beliebteste Junge der fünften Klasse, zeigte auf Nate und lachte. »Schaut mal, wer mit seiner Freundin da ist! Kurzer MacFurzer. Er braucht keine Karte, der Loser.« Die beiden Mädchen rechts und links neben Ricky kicherten.

Nate schaute auf das Loch in einem seiner roten Basketballschuhe und zog die Schultern bis zu den Ohren hoch.

Gen reckte das Kinn und funkelte Ricky an. »Ich bin nicht seine Freundin«, sagte sie. »Und Nathaniel kann genauso gut gewinnen wie alle anderen.«

Ricky schüttelte den Kopf. »Klar, dass die irre Pfarrerstochter einen Loser verteidigt.«

Nate schaute Gen von der Seite an und lächelte. »Irre und Loser halten zusammen«, murmelte er.

»Durch dick und dünn, amen«, sagte sie und beendete den Satz, der ihr Motto war.

»Welche Farben für die Golfbälle?«, fragte der Mann in der Bude, als Nate und Gen ans Fenster traten.

»Gibt es grüne?«, wollte Gen wissen.

Nate stöhnte.

Der Mann seufzte. Die lange Asche am Ende seiner Zigarette krümmte sich und fiel auf die Theke. »Ihr wisst, dass es keine grünen gibt«, sagte er. »Das haben wir euch schon beim letzten Mal gesagt. Rote, gelbe, schwarze und blaue. Die gibt’s, die haben wir immer gehabt.«

»Ich nehme rote«, sagte Nate.

Gen zupfte am Pflaster, das ihre Brille zusammenhielt. »Ich mag keine roten.«

»Dann nimm gelbe«, sagte er und versuchte, unheimlich geduldig zu sein.

»Das ist ein unruhiges Gelb«, sagte Gen.

Nate holte tief Luft und zählte bis zehn. »Dann nimm eben schwarz.«

»Aber –«

»Nun macht schon!«, rief jemand in der Schlange, die sich hinter ihnen bildete. »Los, bewegt euch!«

»Gen, bitte!«, flehte Nate sie an. Warum, oh, warum konnte sie sich nicht ein einziges Mal wie ein normaler Mensch verhalten?

Gen packte den schwarzen Golfball und stapfte zum ersten Loch.

»Das erste Loch ist das einfachste«, sagte Nate und legte seinen Ball auf den von Motten zerfressenen grünen Filz. Er schlug ihn über die Piste, die Rampe hoch, über den Graben, der mit schleimigem grünem Wasser gefüllt war, eine zweite Rampe hinunter und in den weit geöffneten Rachen eines grinsenden Alligators. Der Ball verschwand mit einem zufriedenen Klonk.

»Ja!« Nate stieß den Golfschläger in die Luft. »Anscheinend habe ich plötzlich Glück.« Er streckte Gen die Hand zum Abklatschen entgegen. Aber Genesis Beam gab keine Fünf.

»Hmpf.« Sie runzelte die Stirn und fasste die Rampe und den Graben ins Auge. »Dass man plötzlich Glück oder Pech hat, gibt es nicht.« Sie holte mit ihrem Schläger aus. Der Ball fiel in das schleimige, stinkende Wasser.

»Das ist Pech«, sagte Nate. »Jetzt musst du deinen Ball retten.«

Sie weigerte sich. »Das Wasser ist bestimmt mit Malaria-Bakterien verseucht.« Ohne sich noch einmal umzuschauen, marschierte Gen zum nächsten Loch.

Nate seufzte und fischte den Ball aus dem Graben. Am Vulkan, wo sie hinter Ricky warten musste, holte er sie ein.

Ricky Sands musterte den struppigen Hang des Vulkans bis zur verkrusteten Öffnung einer Höhle. Er zwinkerte der kleinen Mädchenschar zu. Dann drückte er seinen mageren Brustkorb heraus und schlug den Ball ab, der den Hang erklomm und in die Höhle rollte, wo er in einen Behälter fiel.

»Ja!«, krähte Ricky. »Eingelocht mit dem ersten Schlag!« Flammen schossen aus dem Vulkan.

Ricky machte Platz für Nate. »Und jetzt passt auf den Loser auf!« Die Mädchen kicherten wieder.

Nate spürte, dass seine Ohren rot wurden. Er schlug den Ball in den einzigen Miniaturbaum neben dem Vulkan. Der Ball prallte vom Baum ab und fiel in die Öffnung. Der Vulkan hustete und rülpste Rauchschwaden.

Gen wischte sich einen Aschefleck von der Latzhose. »Okay, Nathaniel. Als Nächstes kommt die Windmühle dran, und mit der werde ich spielend fertig.«

Ricky Sands und sein weibliches Gefolge wurden überhaupt nicht mit der Windmühle fertig. Er fluchte und schmiss seinen Golfschläger auf den Boden. Der Mann, der die Schläger und Bälle verlieh, brüllte, er solle aufpassen, was er sagt, sonst müsse er den Platz verlassen.

Gen ging zu Ricky und klopfte ihm leicht auf den Arm. »Eine Umdrehung braucht zwölf Sekunden, und die Windmühle hat vier Flügel. Die Zeit zwischen Flügel drei und vier beträgt null Komma achtundfünfzig Sekunden, also –«

»Halt die Klappe!«, schnauzte Ricky sie an.

Sie taumelte rückwärts, stolperte über den Plastikbaum am Vulkan (der sofort Rauchwolken ausstieß) und fiel mit dem Po voran in den schleimigen, stinkenden, malariaverseuchten Graben.

Gen wimmerte und flatterte mit den Händen, als ob sie sich fliegend aus ihrer misslichen Lage befreien wollte.

»Hab ich’s nicht gleich gesagt?«, fragte Ricky. »Eine Irre.«

»Du hättest sie nicht so anzuschreien brauchen«, giftete Nate zurück. »Sie wollte dir doch nur helfen!«

Ricky verdrehte die Augen. »Ich brauche ihre Hilfe so wenig wie einen Kropf.« Die Mädchen lachten, als hätten sie in ihrem ganzen Leben noch nie so etwas Witziges gehört.

Nate warf seinen Golfschläger hin (was ihm eine gebrüllte Warnung vom Mann in der Hütte einbrachte) und empfahl Ricky, die Fliege zu machen.

»Komm, Gen, beruhige dich!«, sagte er und zog sie aus dem Graben.

»Ich hab am ganzen Körper Malaria«, jammerte sie, »und muss noch vor meinem nächsten Geburtstag sterben!«

Nate gab sich alle Mühe, den grünen Schleim von ihrer Jeans zu wischen. »Nein, das glaube ich nicht. Sie tun bestimmt alle möglichen Insektenvernichtungsmittel und solche Sachen ins Wasser, um die Bazillen abzutöten.«

Ihre Augen wurden groß. »Insektenvernichtungsmittel? Hast du eben Insektenvernichtungsmittel gesagt? Das ist ja noch schlimmer! Dann krieg ich Krebs oder ein drittes Auge oder …« Sie stöhnte.

Nate seufzte. Das Minigolfspielen an seinem Geburtstag lief nicht gut. Er schaute in den Himmel, in den blauen, blauen Himmel und fragte: »Warum ich?«

Und ganz weit in der Ferne, über dem Golf von Mexiko, grummelte ein Gewitter.

»Okay, Gen, das letzte«, sagte Nate und starrte in das große aufgerissene Maul des Tyrannosaurus Rex, der nur darauf wartete, jemandem – vor allem einem glücklosen Jungen –, der es wagte, den Ball mit einem einzigen Schlag einzulochen, den Kopf abzubeißen. Weil jeder, der den Ball beim Tyrannosaurus Rex mit einem einzigen Schlag einlochte, eine Runde Minigolf umsonst spielen durfte. Das war in ganz Paradise Beach bekannt und etwas, das Nate in seinem elfjährigen Leben auf Gottes grüner Erde noch nie passiert war.

Er grub tief in seiner Brust und fand einen winzigen Hoffnungsschimmer.

Als er seinen Golfball auf das Abschlagfeld setzte und auf den langen grünen Streifen zwischen sich und dem T. Rex schaute, entfuhr dem Maul des Dinosauriers so etwas Ähnliches wie ein gurgelndes Gebrüll. Seine Kiefer öffneten und schlossen sich knarrend und die kleinen Arme hoben und senkten sich ruckartig.

Nate schauderte. Er holte tief Luft und packte seinen Golfschläger. »Das ist meine letzte Chance«, murmelte er. »Meine letzte Chance, den Ball auf Anhieb reinzukriegen und allen zu zeigen, dass ich kein Loser bin.«

Er wusste, dass ein Wunder nötig wäre, den Ball mit einem einzigen Schlag ins Loch zu befördern. Aber redete Pfarrer Beam nicht ständig von Wundern? Von der Tortilla, die das Gesicht von Jesus trug? Von Lazarus, der von den Toten auferstanden war? Von Jona im Wal?

Nate spürte, wie ein merkwürdiger Windstoß ihn von hinten schob und vorwärtstrieb.

»Oh, bitte friss mich nicht, Mister Dinosaurier!«, rief Ricky mit hoher Mädchenstimme.

Nate holte noch einmal tief Luft. Er schaute in den klaren blauen Himmel von Florida und bat denjenigen (wer auch immer), der über glücklose Jungen wachte: »Bitte! Nur das eine Mal, bitte!« Er kniff die Augen zusammen und hob den Golfschläger mit Schwung über seine Schulter. Der Schlägerkopf funkelte in der Sonne.

»Das schaffst du«, sagte Gen. »Deine Chancen stehen besser, weil –«

Nate hörte nicht, warum seine Chancen besser standen, denn im selben Augenblick erschütterten der hellste Blitz und ein Donnerschlag so laut wie die Stimme Gottes Nates Welt. Danach war es, als ob ihn die Hand Gottes packte, und zwar nicht gerade sanft, ihn hoch in die Luft wirbelte und ihn dem König der Dinosaurier vor die Füße warf.

Das Letzte, was Nate sah, waren die knarrenden Kiefer des T. Rex, die sich vor ihm schlossen. Das Letzte, was er dachte, war, dass Geburtstagswünsche nie, nie in Erfüllung gingen.

Dann spürte er, dass er von tausend Fäden, die so fein wie Spinnweben waren, in die Höhe gezogen wurde. Die Fäden zogen ihn durch seine Brust, seinen Bauch, seine Arme und Beine und am Ende mit dem Blubb einer Seifenblase aus seiner Haut.

Er schwebte durch die Luft, in der tausend Millionen Lichter funkelten. Es war, als ob sich sämtliche Glühwürmchen der Vereinigten Staaten von Amerika um ihn versammelt hätten. Sie kitzelten ihn an den Armen, dem Kopf und an seiner Brust. Sie erfüllten ihn mit einem freudigen und friedlichen Gefühl.

Musik ertönte ringsum und trug ihn wie die wunderschönsten Engel, die ihm alle gleichzeitig etwas vorsangen, oder wie der Chor der Kirche des Einen Wahren Erlösers und Ewigen Lichts, nach oben.

»Er hat keinen Puls mehr!«, rief eine Stimme von unten.

Nate schaute auf die Leute herab, die sich um einen menschlichen Klumpen drängten.

»Kann mal jemand über die Straße laufen und seinen Großvater holen?«, schrie eine andere Stimme.

»Rufen Sie die 911 an!«, brüllte Ricky Sands dem Mann in der Hütte zu.

Nate konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was der Zirkus sollte. Er fühlte sich gut. Sogar besser als je zuvor.

Jemand schob sich durch die Menge und kauerte sich neben ihn. Ihm wurde warm ums Herz. Gen, die Gute.

Er sah, dass sie ihm die Nase zuhielt und dann ihren Mund auf seinen drückte.

»Iiiieh!«, kreischte eines der Mädchen. »Sie küsst ihn!«

Gen legte die Hände übereinander, drückte auf seinen Brustkorb – eins zwei drei eins zwei drei eins zwei drei – und atmete wieder in seinen Mund.

»Verlass mich nicht, Nathaniel Harlow!«, befahl sie.

Er hörte das Heulen einer Sirene in der Ferne. Er sah, dass sein Großvater über die Straße rannte. Er spürte, wie das Herz seines Großvaters in seiner Brust hämmerte. Nate wollte ihm so gerne sagen, dass alles okay war.

Der Großvater warf sich neben ihn auf die Erde und rief immer wieder seinen Namen. Nate staunte über die Tränen, die dem alten Mann über das Gesicht liefen. Er hatte seinen Großvater nie weinen gesehen, außer, als seine Eltern starben.

»Komm schon, Nathaniel!«, sagte Gen, während sie weiterpumpte. »Loser und Irre halten zusammen!«

Mit jedem Atemzug, den Gen in seinen Mund stieß, und mit jedem Ruf seines Namens spürte er, wie die Fäden, die ihn oben hielten, rissen. Einer nach dem anderen – Ping! Ping! Ping! –, bis er merkte, dass er fiel. Er fiel und fiel. Zurück in seinen geschundenen Körper.

Kapitel 3

Als Nate die Augen aufschlug, sah er zweierlei: das besorgte, wettergegerbte Gesicht seines Großvaters, der sich über ihn beugte, und eine kompliziert erscheinende Maschine, an der Lichter und Zickzacklinien blinkten.

Der Großvater umklammerte die Hand seines Enkels und sagte etwas, das Nate nicht verstand. Seine Stimme schien aus einem weit entfernten Ziehbrunnen zu kommen.

»Was ist, Opa? Ich kann dich nicht hören.« Nate leckte sich die Lippen und schmeckte Blut.

Der Großvater kam ganz nah und schrie: »Du bist im Panama City Hospital, mein Junge. Auf dem Minigolfplatz hat dich der Blitz getroffen.«