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Marina Münkler

MARCO POLO

Leben und Legende

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Marco Polo ist eine der bekanntesten Figuren des Mittelalters und einer der wenigen bekannten Fernostasienreisenden dieser Zeit. Als Kaufmann und Abenteurer ist er das Synonym für den «merchant adventurer», aber er ist viel mehr als das, ein Chronist der Fremde, der erste europäische Reisende, der mit der Autorität des Augenzeugen vom faszinierenden Raum des Fernen Ostens für ein staunendes Publikum berichtete. Es soll hier nicht darum gehen, den «wirklichen» Marco Polo gegen den «Mythos» Marco Polo auszuspielen, sondern darum, zu zeigen, wie aus dem Sohn einer mittleren venezianischen Kaufmannsfamilie jene schillernde Gestalt werden konnte, die wir heute kennen.

Über die Autorin

Marina Münkler, geb. 1960, ist Professorin für Ältere und frühneuzeitliche Literatur und Kultur an der TU Dresden.

Inhalt

Einleitung: Ein außergewöhnlicher Autor

Vor Marco Polo: Europa und die Mongolen im 13. Jahrhundert

Die ersten europäischen Berichte über die Mongolen

Die Mongolen als Missionsvolk und die Normalisierung der Beziehungen

Der europäische Fernhandel und die mongolischen Reiche

Die Kaufleute und die Reichtümer Asiens

Eine venezianische Kaufmannsfamilie

Zwei Reisen – ein Bericht

Marco Polos Vorläufer: Niccolò und Maffeo Polo

Die zweite Reise: Marco Polos Weg nach China

Der Autor und sein Erzähler

Die Entstehung des Berichts

Rustichello da Pisa

Beschreiben und Erzählen: Le Divisament dou Monde

Der Aufbau und die deskriptive Struktur des Berichts

Von Dschingis bis Khubilai Khan: Die Geschichte der Mongolen

Khubilai Khan, der Held Marco Polos

Welcher Marco Polo?
Die handschriftliche Überlieferung des Berichts

Die Frage des Originals oder: Welcher Text?

Die unterschiedlichen Handschriftengruppen

Die Einschätzung des Berichts und seine Rezeption

Il Milione oder die Glaubwürdigkeit Marco Polos

Marco Polo und die Neue Welt

Das Blickfeld des Augenzeugen oder: Wer war Marco Polo?

Entlarvung eines Hochstaplers?

Bibliographische Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Register

Einleitung:
Ein außergewöhnlicher Autor

Marco Polo ist heute nahezu der einzig bekannte Fernostasienreisende des Mittelalters und eine der berühmtesten Gestalten dieses Zeitalters. Wie kein anderer verkörpert der venezianische Kaufmannssohn das Bild des spätmittelalterlichen «merchant adventurer», der aus der Enge der mittelalterlichen Gesellschaft in die Welt aufgebrochen ist und davon in einem authentischen Bericht kündet. Und zweifellos mutet die Biographie Marco Polos auch heute noch außergewöhnlich an. In einer Zeit, in der Fernreisen alles andere als selbstverständlich waren, begleitete er im Jahre 1271 als Siebzehnjähriger seinen Vater Niccolò und seinen Onkel Maffeo nach China, trat in den Dienst des mongolischen Großkhans Khubilai, durchreiste als sein Gesandter und Berichterstatter große Teile Südostasiens und kehrte erst 1295, nach nahezu fünfundzwanzig Jahren, nach Venedig zurück.

So außerordentlich diese biographischen Daten aber auch erscheinen mögen, so hätte Marco Polos Biographie doch kaum Interesse erregt, wenn er nicht einige Jahre nach seiner Rückkehr jenen Asienbericht abgefasst hätte, der ihn berühmt gemacht hat. Das Divisament dou monde, wie das Buch in seiner frühesten Fassung betitelt wurde, galt bald als ein Livre des merveilles, und der ursprünglich in franko-italienischer Sprache abgefasste Text wurde noch zu Marco Polos Lebzeiten ins Lateinische und Französische, in toskanische und venezianische Dialekte und bis zum Ende des 15. Jahrhunderts in nahezu alle europäischen Sprachen übersetzt.

Der erstaunliche Erfolg, der seinem Bericht beschieden war, hängt sicherlich nicht zuletzt damit zusammen, dass Asien in gewisser Weise den Erwartungshorizont der europäischen Kultur bildete. Ob Endzeitvorstellungen oder Heilserwartungen, ob Furcht vor dem Fremden oder Faszination durch das Fremde – wie widersprüchlich auch immer die europäischen Erwartungen waren, sie richteten sich in erster Linie auf Asien. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts verband sich diese Mischung aus Furcht und Faszination mit den Mongolen, die einerseits durch ihre bis nach Europa reichenden Eroberungsfeldzüge Angst und Schrecken verbreitet hatten, andererseits aber die unermesslich reichen Länder Asiens beherrschten und europäischen Fernhändlern erstmals die Möglichkeit eröffnet hatten, die asiatischen Luxuswaren, wie Seide, Gewürze und Edelsteine, direkt an ihren Herkunftsorten zu erwerben. Von Asien und den Mongolen handelte Marco Polos Bericht; von den Ländern, Regionen und Städten Mittel- bis Fernostasiens, vom Aufstieg der Mongolen und der Geschichte ihrer Dynastie bis zu Khubilai Khan und von den reichen und wundersamen südostasiatischen Ländern und Inseln, die an das Reich des Großkhans angrenzten. Das war es auch, was Marco Polos zeitgenössische Leser faszinierte: Den beschriebenen Gegenständen, nicht der Person des Reisenden galt ihr Interesse.

Diese Konstellation hat sich heute nahezu umgekehrt. Jetzt gilt das Interesse mehr dem großen Reisenden als seiner Beschreibung Asiens. Wer Marco Polos Bericht freilich in der Erwartung aufschlägt, darin etwas über den berühmten Venezianer und sein abenteuerliches Leben zwischen Venedig und Peking erfahren zu können, wird zweifellos enttäuscht sein. Ein Reisebericht im engeren Sinne des Wortes ist Marco Polos Bericht nämlich nicht: Über ihn selbst erfährt man in seinem Bericht am allerwenigsten; von Reisestrapazen oder gar bestandenen Abenteuern ist nirgendwo die Rede, und selbst seine Lebensumstände in China schildert er nicht, sondern gibt lediglich an, in welcher Funktion er dort tätig gewesen sei.

Die Fülle seines Wissens und die Rahmendaten seiner Biographie sind jedoch allzu außergewöhnlich, als dass man bis in die jüngste Zeit der Versuchung hätte widerstehen können, sie auszufüllen und zu einer interpretierbaren Identität zu vereindeutigen. Damit freilich ist Marco Polo ein Mythos – in dem positiven Sinne, dass er einer der wenigen mittelalterlichen Autoren ist, dessen Leben auch heute noch so faszinierend erscheint, dass man mehr über ihn erfahren möchte, als sein Bericht hergibt, aber auch in dem schlechten Sinne, dass man sich ein Bild von ihm gemacht hat, das den Blick auf seinen Bericht selbst verstellt oder dessen Deutung in unangemessener Weise geprägt hat.

Dennoch ist Marco Polo nur als Mythos Marco Polo. Nur davon lebt er und hat er, wenn auch unter anderen Vorzeichen, von Anfang an gelebt – von Aneignungen, Übersetzungen, Veränderungen, Verfälschungen, Etikettierungen, die immer schon mit dem Text verknüpft waren, der unter seinem Namen firmiert. Das hat in erster Linie damit zu tun, dass Marco Polos Bericht in einer Handschriftenkultur entstanden ist und verbreitet wurde: Wer den Text abschrieb oder übersetzte, veränderte ihn immer auch, freilich ohne diese Veränderungen als solche kenntlich zu machen. Immer stand Marco Polo mit seinem Namen für den gesamten Text in der je vorliegenden Fassung ein, und so veränderte sich mit dem Text stets auch die Identität des Berichterstatters. Den kaufmännischen Marco Polo, für den die Welt aus Waren und Preisen besteht, bieten am ehesten die toskanischen Handschriften des frühen 14. Jahrhunderts, die den Text deutlich kürzen und umstellen. Daneben gibt es aber auch den «höfisch-ritterlichen» Marco Polo der franko-italienischen und altfranzösischen Varianten und vor allem den «belehrenden» lateinischen Marco Polo, dessen Text der geistlichen Erbauung diente. Welcher von diesen der «wirkliche» Marco Polo ist, lässt sich letztlich nicht entscheiden. Immer wieder hat er unterschiedlichen Funktionen gedient und sie zu erfüllen vermocht. Es kann also nicht darum gehen, den «wirklichen» Marco Polo gegen den Mythos Marco Polo auszuspielen, sondern vielmehr darum, zu zeigen, wie aus dem Sohn einer mittleren venezianischen Kaufmannsfamilie jene schillernde Gestalt werden konnte, die er bis heute geblieben ist.

Das Selbstbewusstsein, mit dem er seinen Bericht ankündigte, spricht jedenfalls für sich: «Kaiser, Könige und Fürsten, Ritter und Bürger – und ihr alle, die ihr die verschiedenen Rassen und die Mannigfaltigkeit der Welt kennenlernen wollt, nehmt dies Buch, und laßt es euch vorlesen. Merkwürdiges und Wunderbares findet ihr darin, und ihr werdet erfahren, wie sich Groß-Armenien, Persien, die Tatarei, Indien und viele andere Reiche voneinander unterscheiden. Dieses Buch wird euch genau darüber unterrichten; denn Messer Marco Polo, ein gebildeter edler Bürger aus Venedig, erzählt hier, was er mit eigenen Augen gesehen hat. (…) Denn ihr müßt wissen, seit der Erschaffung unseres Urvaters Adam gab es keinen Christen, keinen Heiden, weder einen Tataren noch einen Inder, keinen einzigen Menschen, der über eine solche Fülle von Merkwürdigkeiten Bescheid weiß wie Messer Marco Polo allein» (ed. Guignard, S. 7f.).

Vor Marco Polo:
Europa und die Mongolen im 13. Jahrhundert

Während des 13. Jahrhunderts waren die Kontakte Europas mit Asien entscheidend durch den Aufstieg der Mongolen zur beherrschenden Macht Asiens geprägt. Die Mongolen waren ein clanföderatives, nomadisches Reitervolk, das erst zu Beginn des 13. Jahrhunderts aus einem teils freiwilligen, teils erzwungenen Zusammenschluss kleinerer nomadisierender Völker der zentralasiatischen Steppe hervorgegangen war, nachdem es die im 12. Jahrhundert unter den reiternomadischen Völkern immer wieder geführten Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft in der Steppe für sich hatte entscheiden können. Diese Aufstiegsphase der Mongolen zur expandierenden Großmacht verbindet sich mit ihrem Anführer Temüdschin, der 1206 zum Herrscher über alle Völker der mongolischen Steppe ausgerufen wurde und den Namen Dschingis Khan annahm. Unter seinem Khanat begannen die Eroberungszüge, die das mongolische Großreich begründeten, das zu den Zeiten seiner größten Ausdehnung vom Chinesischen bis zum Schwarzen Meer reichte. Dem Prinzip der Clanföderation entsprechend, das auf der Gefolgschaft einzelner Clans gegenüber dem gewählten Anführer beruhte, der seine Fähigkeit zur Führung in erster Linie mittels militärischer Erfolge unter Beweis stellen musste, unternahm Dschingis Khan mit seinen Truppen sogleich nach seiner Wahl die ersten Feldzüge gegen die westlich der Mongolen siedelnden Turkvölker sowie gegen das nordchinesische Reich der Chin, denen die Mongolen vordem tributpflichtig gewesen waren. Während sich die Eroberung Nordchinas hinzog und erst unter Dschingis Khans Nachfolger Ögödei vollendet werden konnte, war die Westexpansion sehr erfolgreich. In den Jahren 1218 bis 1220 eroberten mongolische Heere das Reich der Chwarezm in Transoxanien mit den reichen und entwickelten Städten Buchara und Samarkand, besiegten 1223 an der Kalka ein vereinigtes Heer von Komanen und Russen und drangen bis zum Dnjepr vor. Zwischen 1225 und 1227 konzentrierten sie ihre Kräfte dann auf den Osten, unterwarfen die mit den Chin verbündeten Tanguten und dehnten die mongolische Herrschaft über große Teile Nordchinas aus, dessen weitere Eroberung mit Dschingis Khans Tod im Jahre 1227 jedoch zunächst unterbrochen wurde.

Von diesen mongolischen Eroberungskriegen drangen vorerst nur vage Nachrichten nach Europa bzw. ins Heilige Land, wo die europäischen Kreuzfahrer nach den ersten Erfolgen unter erheblichen Druck der Araber geraten waren und sich nur mühsam halten konnten. Die ersten Gerüchte über ein aus dem Osten herandrängendes kriegerisches Volk, die sich nach 1220 im Kreuzfahrerheer vor dem ägyptischen Damiette verbreitet hatten, waren von der Hoffnung getragen, ein christlicher Priesterkönig eile den in Bedrängnis geratenen Kreuzfahrern zu Hilfe, um das Heilige Land von den Sarazenen zu befreien. Hintergrund dieser Gerüchte waren die mongolischen Eroberungen in Transoxanien, die das Reich des Chwarezm-Schahs, Mohammeds II., zerschlagen hatten. Die widersprüchlichen Nachrichten über eine gewaltige Heermacht, die im Rücken der Sarazenen bereits ein islamisches Reich zerstört hatte, verbanden sich mit der seit dem 12. Jahrhundert in Europa kursierenden Legende vom christlichen Priesterkönig Johannes, von dem es hieß, er herrsche in Indien über ein mächtiges Reich. Der erhoffte Beistand durch den Priesterkönig und sein siegreiches Heer blieb jedoch aus, ohne dass man sich recht erklären konnte, warum er nach seinem großen Sieg über ein sarazenisches Heer nicht weiterzog, um Jerusalem zu befreien. Tatsächlich hatten sich die Mongolen 1223 wieder nach Ostasien zurückgezogen, um die Herrschaft über die dort eroberten Gebiete zu konsolidieren, und nachdem Dschingis Khan im Jahre 1227 verstorben war, hatten sie die Westexpansion vorläufig eingestellt.

Nach dem Tod Dschingis Khans ging die Herrschaft auf seine vier Söhne und ihre Clans über, unter denen die eroberten Gebiete aufgeteilt wurden. Entsprechend dem mongolischen Erbgesetz erhielt der Clan des ältesten Sohnes Dschötschi, der wie sein Vater im Jahre 1227 starb, die am weitesten entfernten Gebiete im Westen, dem zweiten Sohn Tschaghatai und dem dritten Sohn Ögödei fielen die eroberten Territorien in Transoxanien und Turkestan zu, während der jüngste Sohn Tolui im mongolischen Stammland herrschte. Nach mongolischem Erbrecht hätte ihm eigentlich auch die Würde des Großkhans zuteilwerden müssen, aber Dschingis Khan hatte entgegen der üblichen Erbfolge seinen dritten Sohn Ögödei zu seinem Nachfolger bestimmt, und dieser wurde 1229 auf einem Reichstag zum Großkhan gewählt. Ögödei bestimmte in erster Linie die Leitlinien der mongolischen Eroberungspolitik und setzte die mongolische Expansion fort, im Westen gegen Persien, die Kumanen sowie die Wolgabulgaren und im Osten gegen das nordchinesische Reich der Chin, das 1234 endgültig unterworfen wurde. Er ließ aber auch das mongolische Post- und Eilverkehrssystem ausbauen, das es ermöglichte, sehr schnell große Entfernungen zu überwinden. In kurzen Abständen wurden Stationen für den Pferdewechsel bzw. die Weitergabe von Briefen eingerichtet, wodurch es möglich war, die Nachrichtenverbindung zwischen dem Sitz des Großkhans in der Mongolei und den neu eroberten Gebieten ständig aufrechtzuerhalten und Gesandte aus verschiedenen Ländern rasch an den Hof des Großkhans zu befördern.

Auf dem zweiten Reichstag 1235 wurde unter Ögödei erneut ein großer Westfeldzug beschlossen. 1237 eroberten die Mongolen große Gebiete an der Wolga und drangen bis nach Moskau und Rostow vor. Seither gelangten immer mehr Briefe von dominikanischen und franziskanischen Missionaren ins Abendland, in denen von einem Volk die Rede war, das sich Tartaren nenne und dessen Grausamkeit und Rohheit schrecklich seien. Man mutmaßte nun, dass der Priesterkönig Johannes nach dem Verlust von Damiette durch die Kreuzfahrer in den Osten zurückgekehrt, danach aber von den Tartaren in seinem Heer ermordet worden sei, die nun nicht mehr nur die Feinde der Christenheit bekämpften, sondern sich auch anschickten, Russland und andere christliche Länder anzugreifen und zu verheeren. In Westeuropa war man ob der aus Osteuropa übermittelten Nachrichten zwar besorgt, aber man war doch noch nicht besonders beunruhigt und überdies zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um dem kriegerischen Volk aus dem Osten größere Aufmerksamkeit zu schenken. Die Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst steuerten zu diesem Zeitpunkt ihrem Höhepunkt zu: Papst Gregor IX. hatte Kaiser Friedrich II. 1239 exkommuniziert und wollte ihn zu Ostern 1241 auf einem nach Rom einberufenen Konzil als Kaiser absetzen lassen, woraufhin Friedrich zahlreiche der anreisenden Prälaten gefangennehmen ließ und auf diese Weise den Zusammentritt des Konzils verhinderte. Die Abwehr der nach dem Fall von Kiew 1240 in zwei Flügeln weiter nach Westen drängenden mongolischen Heere überließ man unterdessen dem Herzog von Schlesien und dem König von Ungarn, von denen man annahm, sie hätten genügend Erfahrung im Umgang mit kriegerischen Völkern aus dem Osten. Die Niederlagen des deutsch-polnischen und des ungarischen Ritterheeres von 1241 verliehen der Situation jedoch eine ungeahnte Dramatik. Am 9. April 1241 brachte ein mongolisches Heer bei Liegnitz einem polnisch-deutschen Ritterheer eine vernichtende Niederlage bei, und nur zwei Tage später schlug das zweite mongolische Heer bei Mohi am Sajò die Truppen des ungarischen Königs Béla, der mit den Resten seines aufgeriebenen Heeres an die Adria floh, wohin ihm ein kleinerer mongolischer Trupp folgte. Keines der osteuropäischen Heere war der hochmobilen Taktik der mongolischen leichten Reiterei gewachsen, die mit dem Bogen über eine äußerst effektive Distanzwaffe verfügte und deutlich beweglicher war als die schwerfälligen, gepanzerten Ritter. Die mongolische Art der Kriegsführung war den europäischen Ritterheeren sowohl strategisch durch die Aufteilung des Heeres in zwei weiträumig operierende Flügel als auch taktisch durch die hohe Mobilität der Mongolen in der Schlacht überlegen, und sie spottete überdies jeder Vorstellung von ehrenhaftem Kampf und Ritterlichkeit. Dem bedrängten ungarischen Heer etwa hatten die Tartaren, wie berichtet wurde, einen scheinbaren Fluchtweg eröffnet, um es in eine taktisch günstige Position zu locken, in der sie es umso leichter niedermachen konnten, und Herzog Heinrich von Schlesien, der in der Schlacht von Liegnitz gefallen war, hatten sie den Kopf abgeschlagen und ihn auf eine Lanze gespießt, mit der sie vor den Toren von Liegnitz erschienen. Solche crudelitas (Grausamkeit), astutia (Verschlagenheit) und malitia (Bosheit) kannte man nicht einmal aus den Kämpfen mit den Sarazenen, und gleichzeitig gab es offenkundig nichts, was man ihr entgegenzusetzen hatte. Erstmals zeichnete sich damit eine Katastrophe der christlich-ritterlichen Kultur des Abendlandes ab, die in den Kreuzzügen zwar bereits eine Reihe von Niederlagen, aber keine vergleichbaren Demütigungen hatte hinnehmen müssen. Die durch die mongolischen Siege in Ost- und Mitteleuropa ausgelöste Panik drückt sich deutlich in einem Brief aus, den Herzog Otto II. von Bayern, dessen Herzogtum nach den Niederlagen von Liegnitz und am Sajò unmittelbar gefährdet schien, an Bischof Sibotho von Augsburg schrieb: «Daher möge Eure väterliche Würde erfahren, daß ein barbarisches Volk der Tartaren, von unerhörter Grausamkeit, in unendlicher Zahl von entfernten und unbekannten Gegenden hergekommen ist. Den Grund ihres Kommens wissen wir nicht, außer daß sie alle Christen gottlos verfolgen und töten wollen» (zit. nach Bezzola, Die Mongolen, S. 67).

In der Kombination von unerhörter Grausamkeit, unendlicher Zahl und dem Namen «Tartaren» fügte sich ein Bild zusammen, das die im 13. Jahrhundert ohnehin verbreitete Endzeitstimmung auf die Mongolen übertrug: Der Name «Tartaren», der seit den dreißiger Jahren für das kriegerische Volk aus dem Osten verwendet worden war, wurde nun in Anlehnung an tartarus gedeutet, und die unbekannten Gegenden wurden damit zur Hölle vereindeutigt. Aus dem Schlund der Hölle, so vermutete auch Friedrich II., sei das grausame, gesetzlose und unmenschliche Volk entsprungen, um alle anderen Völker zu unterjochen oder zu vernichten. Die Kurie freilich war kaum in der Lage zu reagieren; Gregor IX. verstarb im April 1241, dessen Nachfolger Coelestin IV. überlebte seine Wahl gerade um zwei Wochen, und darauf folgte eine zweijährige Sedisvakanz, die erst 1243 mit der Wahl von Innozenz IV. beendet wurde. Kaiser Friedrich II. zeigte sich zwar entschlossen, auf die tartarische Herausforderung zu reagieren, aber ein Teil der europäischen Herrscher misstraute ihm, und die päpstliche Partei, die ihn zuvor schon als Antichristen abgestempelt hatte, verbreitete, er selbst habe die Tartaren gegen die Christen aufgehetzt. Der Kaiser seinerseits versuchte zu demonstrieren, dass Europa nur unter seiner Führung gerettet werden könne, und verlangte von der Kurie die Anerkennung seiner Suprematie in weltlichen Fragen. So war Europa einerseits von Panik erfüllt, andererseits aber gelähmt und harrte mit fatalistisch-apokalyptischen Visionen der weiteren Entwicklung.

Die von vielen geteilte furchtbare Gewissheit schlug jedoch wieder in Ungewissheit um, als die Tartaren Anfang 1242 ebenso überraschend wieder verschwanden, wie sie über Osteuropa hergefallen waren. Der Grund für den plötzlichen Rückzug der Mongolen war, wie schon 1227, der Tod des Großkhans. Nach dem Tod Ögödeis kehrte Batu, der die Westexpansion betrieben hatte, mit seinen Horden nach Osten zurück, um bei der Wahl des neuen Großkhans seinen Einfluss geltend zu machen. In Europa freilich konnte man sich das plötzliche Verschwinden der Tartaren ebensowenig erklären, wie zuvor ihr Auftauchen und ihre Siege. Während man einerseits wieder zur politischen Tagesordnung überging, blieb doch andererseits die Furcht bestehen, die «Diener des Satans» könnten wieder zurückkehren und dann noch schlimmere Verheerungen anrichten.

Zum ersten Mal seit den Einfällen der Hunnen in Europa war die Beschreibung der Völker Ostasiens einem deutlichen Aktualisierungsdruck ausgesetzt: Was aus den Völkerlisten des Alten Testaments und den überlieferten Schriften der antiken Historiker zu entnehmen war, reichte nicht aus, um begreifen zu können, wer die «wie Gottes zornflammender Blitz», «wie ein Wirbelwind» (Matthaeus Parisiensis, Chronica Maiora, IV, S. 113) über Osteuropa herfallenden Völker waren. Waren sie nur eines der verschiedenen Heidenvölker, die seit jeher aus dem Osten nach Europa gedrängt waren, Nachfolger der von den antiken Autoren als wild und grausam beschriebenen Skythen vielleicht, oder handelte es sich bei ihnen um die apokalyptischen Völker Gog und Magog, die Vorboten des Weltendes? Um diesen Zustand der Ungewissheit zu beenden, beschloss der 1243 gewählte Papst Innozenz IV., Gesandte gen Osten zu schicken, die ergründen sollten, wer die Tartaren waren und welche Absichten sie hatten.

Auf den Johannistag 1245 berief Innozenz IV. ein Konzil nach Lyon ein, in dessen Mittelpunkt neben der Absetzung des Kaisers und der Ausrufung eines neuen Kreuzzugs gegen die Sarazenen die Erörterung von Mitteln und Wegen zum Schutze der Christenheit vor den Tartaren stand. Noch bevor das Konzil zusammentrat, sandte Innozenz im Frühjahr 1245 vier Gesandtschaften zu den Tartaren. Diese Gesandtschaften wurden von franziskanischen und dominikanischen Ordensmitgliedern übernommen, deren Anfang des 13. Jahrhunderts neu gegründete Orden es sich zur Aufgabe gemacht hatten, nicht mehr nur in Klöstern für das eigene Heil zu sorgen, sondern überall hinzuziehen, wo das Wort Gottes verkündet werden sollte oder dem christlichen Glauben Gefahr drohte. Die Franziskaner Johannes de Plano Carpini und Laurentius von Portugal reisten über Osteuropa, die Dominikaner Andreas von Longjumeau und Ascelin von Cremona über das Heilige Land. Der Franziskaner Johannes de Plano Carpini gelangte als einziger mit seinen Begleitern bis in die Nähe von Karakorum in der Mongolei, wo er der gerade stattfindenden Thronerhebung des neuen Großkhans Güyük beiwohnte und ihm anschließend einen an König und Volk der Tartaren gerichteten Brief des Papstes übergab.

Als Johannes de Plano Carpini nach zweieinhalbjähriger Reise an Allerheiligen 1247 nach Lyon zurückkehrte, überbrachte er dem Papst ein Antwortschreiben, aus dem mehr als deutlich der mongolische Weltherrschaftsanspruch hervorging. Den Brief des Papstes nämlich hatte Güyük als Bitte um Unterwerfung gedeutet, und in seinem Antwortschreiben forderte er ihn in barschem Ton auf, sich unverzüglich mit allen Königen und Fürsten des Abendlands an seinen Hof zu begeben: «Durch die Kraft des ewigen Himmels (Gottes), des ozeangleichen Chans des mächtigen großen Volkes; unser Befehl. (…) Die Bitte um Unterwerfung wurde von seiten Eures Gesandten gehört. Wenn Ihr entsprechend Eurem Wort vorgeht, so kommt: Du, der große Papst, und die Könige alle persönlich, um uns zu huldigen. Dann werden wir auch die Weisungen (jasa), die es gibt, vernehmen lassen. (…) Du persönlich an der Spitze der Könige, Ihr alle zusammen, sollt kommen, um mir zu huldigen und Dienst zu leisten. Dann wollen wir Eure Unterwerfung zur Kenntnis nehmen. Wenn ihr aber Gottes Befehl nicht annehmt und unserem Befehl zuwiderhandelt, werden wir erkennen, daß ihr unsere Feinde seid» (zit. nach Spuler, S. 83f.).

Die ersten europäischen Berichte über die Mongolen

Carpini übergab dem Papst aber nicht nur diese Unterwerfungsaufforderung, sondern auch einen von ihm verfassten Bericht über die Mongolen. Er ist unter dem Titel Historia Mongalorum überliefert und war die erste systematische Beschreibung des mongolischen Volkes durch einen Europäer aufgrund eigener Augenzeugenschaft. Carpinis Historia Mongalorum war in neun Bücher gegliedert und beschrieb das Land der Mongolen, seine Bewohner, ihre religiösen Gebräuche, ihre Sitten, die Geschichte des mongolischen Aufstiegs seit Dschingis Khan, die Art ihrer Kriegsführung, aber auch, welche Maßnahmen man zu ihrer Abwehr ergreifen könne, und schließlich den Verlauf seiner eigenen Reise.

Diese systematische Gliederung stimmt in vielen Punkten mit den Fragen überein, die das Konzil von Lyon an einem der Versammlungstage an einen russischen Besucher des Konzils richtete, der offensichtlich als Kenner der Tartaren betrachtet wurde. Carpini reiste also mit einem vorgefertigten Fragenkatalog, der seine Beobachtungen steuerte. In seinem Bericht spezifizierte er die Fragen zu Beschreibungskomplexen, die in sich noch einmal systematisch gegliedert waren, und stellte diese Gliederung an den Anfang jedes Kapitels. Auf diese Weise lieferte er eine sehr komplexe Beschreibung einer dem Abendland bis dahin völlig unvertrauten Gesellschaft. Dabei stellte er auch klar, dass die Tartaren eigentlich nicht Tartaren, sondern Mongolen hießen, während die tattari