ELISABETH HERING

ANGEKLAGT IST ASPASIA


MIT FEDERZEICHNUNGEN VON GERHARD STAUF

Abbildung

Sommer ist es - heißer, trockener Sommer. Demeter, die Mutter Erde, trauert um die ihr von Hades geraubte Tochter. Rissig ist ihr Antlitz, grau wie Asche. Den Schatten suchen ihre Geschöpfe, verstecken sich in den Wäldern, hauen sich Gänge und Höhlen untertag oder bergen sich in Klüften der Gebirge - denn die Büschel des spärlichen Grases, das sich zwischen den Steinen angesiedelt hat, sind verdorrt; borstig wie Igelstacheln stehen die Stoppeln auf den verdursteten Äckern, und in der Luft tanzt der Staub, flimmert und flirrt in der Sonne.

Melissa und Ariston haben die Höhe des Aigaleos überschritten und nähern sich dem Heiligen Tor. Die Straße, die von Eleusis nach Athen führt, ist fast leer. Einige müde, beladene Esel, die von ihren Treibern mit Stöcken zum Laufen gebracht werden, einige wandernde Krämer, die mit ihren Waren unterwegs sind, einige Bauersfrauen, die Gemüse aus den bewässerten Gärten zu Markte tragen: Das ist alles, was mit den beiden Wanderern desselben Weges zieht.

Die Stadt, in der sie Einlass finden, scheint zu schlafen. Kleine einstöckige Häuser kehren den Ankömmlingen die fensterlosen Außenwände zu, und ihre Mauersteine werfen ihnen die gespeicherte Sonnenglut entgegen.

Melissa stützt sich auf den Arm ihres Sohnes. Sie kann kaum noch atmen. Ariston bleibt stehen.

»Ich hätte nicht drängen sollen«, sagt er. »Lieber dir Zureden, noch zwei Tage in Eleusis auszuruhen. Nun müssen wir uns nach einer Herberge umsehen. Wer weiß, ob wir so schnell eine finden.«

Melissa lächelt müde »Nein, Axiston«, sagt sie, »das wird nicht nötig sein. Ich will Phainarete aufsuchen. Ihr Haus ist nicht weit von hier entfernt. Wir müssen uns nur an die Zeile der Stadtmauer halten. Sie führt uns gerade dorthin.«

Es ist, als ob dieser Gedanke Melissa neue Kraft gegeben habe. Sie löst ihren Arm aus dem des Sohnes und eilt so schnell voraus, dass Ariston Mühe hat, sich an ihrer Seite zu halten.

Doch plötzlich zögert sie. »Ich weiß nicht«, sagt sie unsicher, »einiges in dieser Gegend muss sich verändert haben! Hier standen kleine Häuser. Sie scheinen abgebrochen zu sein.«

Die Stadtmauer macht einen Bogen. Die Straße steigt an.

»Hier!« ruft Melissa. »Dieses Tor ist’s mit dem seltsam geformten Türgriff! In einen Löwenkopf läuft er aus, siehst du’s? Dieses Haus muss es sein!«

Sie bleibt stehen und klopft. Das Herz schlägt ihr rascher in der Erwartung, Menschen wiederzusehen, mit denen sie das Band gemeinsam verlebter Tage verknüpft. Sie hört Schritte, die Tür öffnet sich, und sie blickt in ein von einem starken Bart umrahmtes unbekanntes Gesicht. »Ich muss mich geirrt haben«, stößt sie heraus. »Ich suchte Phainarete. Die Hebamme Phainarete. Sie wohnt wohl nicht hier?«

»Du hast dich nicht geirrt, Fremde«, antwortet der Bärtige, »sie wohnte hier!« — »Und ist verzogen?« — »Verzogen. Weit weg. Zu Hades, in die Welt der Schatten.«

Tot? Die mütterliche Freundin tot? Und wo — wo blieb ihr Sohn?

Es ist, als habe der Bärtige diese Frage in Melissas Augen gelesen, er sagt: »Ich habe Haus und Werkstatt gemietet. Denn Phainaretes Sohn hat das Handwerk seines Vaters schon lange aufgegeben und begnügt sich mit einer schmalen Kammer. Er wird euch Gastfreundschaft kaum gewähren können. Doch wenn euch das Geschrei meiner Kinder nicht stört, so mögt ihr auf ihn warten. Er pflegt allerdings erst spät am Abend seine Wohnung aufzusuchen, und manchmal kommt er auch gar nicht, wenn er bei Freunden übernachtet.«

Ariston sieht, wie Trauer und Enttäuschung das Gesicht der Mutter überschatten, und er mischt sich ins Gespräch. »Kannst du uns«, fragt er, »nicht vielleicht sagen, wo wir uns für die nächste Zeit zur Herberge einmieten können?« Aber Melissa kommt der Antwort zuvor. »Nicht einmieten, Ariston. Es gibt noch mehr Gastfreunde für uns in Athen.« Sie wendet sich dem Bärtigen zu. «Weißt du, ob Nikomache noch lebt? Die Frau des Töpfers Herodulos?«

»Sie lebt. Herodulos freilich ist schon vor Jahren gestorben. Doch Daton, der Sohn, treibt das Gewerbe seines Vaters weiter.

Du musst am Tempel des Hephaistos Vorbeigehen. Und dann dich nach links halten. Dann kommst du zu der Straße, die zum Kerameikos führt.« — »Ich weiß. Ich bin dort aus und ein gegangen.« Sie dankt und grüßt und wendet sich zum Gehen.

»Nun sag mir eines, Mutter«, fragt Ariston, »warum nur hast du mir bislang verschwiegen, dass du in dieser Stadt Gastfreunde hast? Du wusstest doch, wie sehr ich mir schon längst gewünscht habe, hierher zu kommen!«

Melissa überhört Frage und Vorwurf.

 

Nikomache ist eine Frau von über sechzig Jahren. Sie sitzt im kühlen Dämmer der kleinen Stube, die ihr Licht durch eine halb offene Tür vom engen Innenhof des Hauses erhält. Zum Spinnen ist es hell genug. Unentwegt gleitet der Faden durch die alten, rissigen Finger. Den Rocken mit der Wolle hält sie zwischen den Knien.

Ein Geräusch lässt sie zusammenfahren.

»Erschrick nicht, Nikomache«, sagt eine Stimme, und der Schattenriss einer Gestalt wird in der Türe sichtbar. »Das Haustor war unversperrt, so sind wir eingedrungen. Ich bin Melissa. Und dieses ist Ariston, mein Sohn!«

Die Alte lässt den Rocken fahren, umarmt und küsst Melissa, umarmt und küsst Ariston und fährt ihm mit der rauen, abgearbeiteten Hand übers Gesicht »Die Narbe!« ruft sie. »Kannst du dich noch erinnern, Ariston, wie du über meinen Honigtopf geraten warst und vor Schreck vom Schemel fielst, als ich eintrat? Der Topf ging in Scherben, und ein Splitter verletzte dich am Kinn! Weißt du das noch?«

Ariston ist verlegen, weil eine alte Frau, von der er niemals etwas gehört hat, ihn plötzlich mit Zärtlichkeiten und Fragen bestürmt. Hilfe suchend schickt er den Blick zur Mutter hinüber, und Melissa steht ihm lächelnd bei.

»Wie sollte er sich erinnern können, Nikomache? Zwei Jahre war er alt, als das geschah!«

»Ja richtig. Telleas war damals noch gar nicht ...«

Melissa unterbricht die Alte hastig. »Weißt du nicht, dass er gestorben ist?«

»Wie, Melissa — er lebt nicht mehr? Der Arzt, der Hunderten geholfen hat, konnte sich selbst nicht helfen?«

»Er hätte sich sehr wohl zu helfen gewusst. Als jene Seuche ausbrach, da schickte er uns in die Berge, zu Freunden, er aber blieb dort, wo man ihn brauchte. Und als die Seuche erloschen war und ich mit meinem Sohn in unser Haus zurückkehrte, fand ich nur noch sein Grab.«

»Und seither bist du allein?«

»Allein, Nikomache? An keinem Tage meines Lebens habe ich mich von meinem Sohn getrennt. Das nennst du ›allein‹?«

»Nun gut, du weißt schon, wie ich’s meine! Du bist noch jung, Melissa. Längst nicht vierzig. Ich war sechzig, als Herodulos starb. Da ist es etwas andres.«

»Warum ist das etwas andres?« Ariston ist sichtlich unangenehm berührt von der Wendung, die das Gespräch genommen hat. »Bin ich nicht alt genug? Kann ich nicht für meine Mutter sorgen? Muss ich sie einem Gatten überlassen, der sie mir entfremdet? Und der sie vielleicht gar nicht so schätzt und achtet, wie mein Vater sie geachtet hat?«

»Er hat recht, Nikomache«, sagt Melissa. »Er hat nun ausgelernt. Nachdem Telleas, dem er schon wacker zur Hand gegangen war, gestorben war, gab ich ihn in Mirons Lehre. Du kennst ihn doch, den Krotonen, den Freund meines Gatten? Der hat mir nun bescheinigt, dass er genug gelernt hat, sich selbstständig zu machen. So will er für seine Mutter sorgen, obwohl ich gar nicht gerne für mich sorgen lasse, wie du weißt. Doch brauche ich ja auch nicht gleich die Hände in den Schoß zu legen! Ich hoffe, dass wir beide hier Arbeit finden, er und ich. Freilich dachte ich, dass Phainarete mich empfehlen würde in den Häusern, die sie bedient hat ...«

»Sie ist tot!«

Nikomache blickt zu Boden. Es fällt ihr sichtlich schwer, weiter zu sprechen.

»Ich weiß«, erwidert Melissa. Dann schweigt auch sie.

Daton hat die fremden Stimmen gehört, sich die lehmigen Hände gewaschen und kommt nun, um den Besuch in Augenschein zu nehmen. »Ich falle euch mit der Tür ins Haus«, sagt Melissa nach der Begrüßung. »Und weiß gar nicht, ob ihr Platz habt für uns beide!«

»Wie sollten wir nicht, Melissa! Die Kammer, in der die Mutter zwei Betten herrichten wird, ist freilich schmal. So bequem wie bei Aspasia werdet ihr es bei uns nicht haben.«

»Du weißt doch, Daton, warum ich sie nicht um Gastfreundschaft ansprechen mag!«

»Ich weiß. Aber wäre es nicht an der Zeit, den alten Groll zu begraben? Jetzt, wo sie auf Freunde mehr denn je angewiesen ist!«

»Auf Freunde angewiesen, Daton? Wie meinst du das? Steht denn nicht ihr Gatte auf der Höhe seines Ruhms? Hat er nicht seine Feinde innerhalb und außerhalb Athens auf die Knie gezwungen? Die Gegner seiner Politik in die Verbannung getrieben? Die Bundesgenossen Athens, wo immer sie auf begehrten, zu Untertanen hinabgedrückt? Und ist nicht sie es, die bei allem, was er tut, die Hand im Spiel hat?«

»Das behaupten ihre Feinde! Bist du ... in feindlicher Absicht gekommen?«

»Ich bin in der besten Absicht gekommen, die ein Mensch haben kann! Ich will ihr die Augen öffnen, weil ich fürchte, dass sie den Abgrund gar nicht sieht, an dem sie wandelt!« — »So willst du sie besuchen?« — »Das ist der Grund, weshalb ich dem Drängen meines Sohnes, nach Athen zu gehen, nachgegeben habe. Leicht ist es mir wahrhaftig nicht geworden.«

Ariston hat diesem Gespräch zwischen der Mutter und dem Gastfreund mit steigender Anteilnahme zugehört. Nun kann er nicht mehr an sich halten und fragt: »Von wem sprecht ihr?« — »Von Aspasia, der Gattin des Perikles.« — »Wie - du kennst sie? Willst zu ihr gehen?« — »Gleich morgen. Ich fürchte, es duldet keinen Aufschub.« — »Und nimmst mich mit?«

Melissa misst den Sohn mit einem Blick. Morgen vollendet er sein achtzehntes Jahr. Wird großjährig. Ein Mann.

Stolz mischt sich in ihr mit Zärtlichkeit und Wehmut. »Gut, Ariston«, sagt sie, »du wirst mich begleiten.«

 

Es ist die Stunde, zu der sich die Agora füllt. Priester und Ratsleute, Philosophen und Rhetoren, Krämer und Geldwechsler, Bürger und Sklaven, Geschäftige und Müßiggänger strömen von allen Seiten zusammen in diesem Herzstück der Stadt. Sie fluten um die öffentlichen Gebäude: das Buleuterion, in dem sich die Ratsherren versammeln, den Rundbau des Prytaneions, in dem die Ehrengäste der Stadt gespeist werden, die Tempel, auf deren Altären den Göttern geopfert wird. Die Wandelhallen sind erfüllt von lebhaftem Gespräch, die Verkaufsstände hallen wider vom Anpreisen der Waren und vom Feilschen, das darauf einsetzt. Die jungen Stutzer stolzieren zu Dreien und Vieren über den Markt, bahnen sich, wo das nötig ist, ihren Weg mit den Ellenbogen, Neugierige stauen sich an den Schranken der Gerichtshöfe, die unter freiem Himmel tagen, Flötenmädchen scharen sich am Altar der zwölf Götter zusammen, wo sie ihren Stand haben, Bürger lassen sich in den Baderstuben die Bärte stutzen und sich gleichzeitig mit den letzten Neuigkeiten versehen, und die Agoranomen haben ihr wachsames Auge auf allem und sorgen dafür, dass weder Fisch und Gemüse zu teuer noch die Tarife für die Flötenbläserinnen zu hoch werden. Melissa hätte die Agora gern gemieden, doch muss sie den Eridanos überqueren, und es gibt weit und breit nur diese eine Brücke, die unmittelbar zum Markt führt.

Ariston hat nichts dagegen, all den Leuten zu begegnen, die sich hier ein Stelldichein geben. Er fällt nicht weiter auf. Ein Fremder mehr oder weniger in dieser Stadt — was will das schon besagen? Am liebsten bliebe er vor jedem Tempel stehen, vor jedem Versammlungshaus, stiege die breiten steinernen Stufen zum Hephaistaion hinan, von deren oberstem Absatz man das ganze Gelände überblicken kann, und ginge vor allem zur bunten Halle, die Polygnotos mit Bildern geschmückt hat. Aber die Mutter hastet drei Schritte voraus und wendet sich um, und es trifft ihn ein Blick, so ungeduldig, so vorwurfsvoll, dass er ihr nacheilt, als sei er ein Kind.

Ja, Melissa hastet. Unangenehm ist es ihr, im Kreuzfeuer all der Blicke zu stehen, die die Männer jeder Frau nachwerfen, die sich in der Öffentlichkeit sehen lässt. Endlich hat sie die Agora überquert. Die Straße verengt sich und steigt einen Hügel hinan.

Das Haus, vor dem Melissa stehen bleibt, ist einfach und schmucklos. Ein rechteckiger, steinerner Bau, geräumiger zwar als die Behausung des Töpfers, aber nicht größer, nicht prächtiger als die Gebäude ringsum. Kein Fenster führt zur Straße. Die Räume erhalten ihr Licht, wie üblich, vom Innenhof her. Keine Säule schmückt die Fassade. Pracht gebührt den Göttern und ihren Tempeln, nicht den Wohnungen der Sterblichen!

Das Tor ist nicht sehr breit. Eine schmale, in die steinerne Umrahmung eingemeißelte Girlande bildet seinen einzigen Schmuck.

Plötzlich dreht es sich knarrend in den Angeln. Melissa fährt zusammen und macht dem Heraustretenden Platz.

Sie erkennt ihn auf den ersten Blick. ›Wie alt er geworden ist‹, denkt sie, ›wie tief sich die Falten von der Nase zum Kinn hinunterziehen! Und welche Schatten um die Augen! Das sieht nicht nach zur Schau getragener Würde aus! Mehr nach schlecht verhehltem Gram!‹ Ein Gefühl des Mitleids will sie beschleichen, doch sie verwehrt es sich.

Auch Perikles streift die Frau, an der er vorübergeht, mit einem flüchtigen Blick, erkennt sie aber nicht. Er nimmt den gleichen Weg zur Agora hinunter, den sie gekommen ist, und in drei Schritten Abstand folgt ihm sein Diener. Als die Schritte verhallt sind, klopft Melissa ans Tor. Sie wird eingelassen und zu Aspasia geführt.

Die Gattin des Perikles sitzt in einem bequemen Armstuhl und lässt lesend eine Papyrusrolle durch die Hände gleiten, als ihr die Gäste gemeldet werden. Sie ist immer noch schön wie ein Bild. Die Jahre, die vergangen sind, seit Melissa sie zum letzten Mal sah, haben ihrem Gesicht zwar Reife aufgeprägt, doch noch keine Spur von Verfall. Die Handbewegung, mit der sie die Rolle sinken lässt, ist voller Anmut. Ebenso die Haltung ihres Kopfes. Nur der Blick, den sie den Eintretenden entgegenschickt, ist verschleiert wie von verhaltener Schwermut.

In einem plötzlich aufwallenden Gefühl steht sie auf, geht auf die vor ihr Stehende zu, streift ihr, wie in scheuer Liebkosung, das Tuch von Kopf und Schultern, und: »Nein, Melissa - das kann doch nicht sein!« sagt sie und muss an sich halten, der Gefühle Herr zu werden, die über sie herfallen wie eine Schar sich bekämpfender Vögel.

Melissa steht stumm, sieht sie nur schweigend an.

Es dauert eine Weile, ehe Aspasia wieder Worte findet. »Und das ist Ariston?« fragt sie und zeigt auf den Jüngling, der vor Verlegenheit die Hände in seinem Gewand verbirgt. »Und ... sind es nicht heute auf den Tag genau achtzehn Jahre, dass er geboren wurde?« — »Ariston«, antwortet Melissa. »Ja, auf den Tag genau. Du erinnerst dich recht!« ›Diese achtzehn Jahre‹, denkt Aspasia, wenn man die Zeit doch zurückschrauben könnte um diese achtzehn Jahre!‹ Aber sie spricht es nicht aus.

Mit einer Handbewegung bietet sie Melissa ihren Sessel an, setzt sich auf einen Stuhl, der daneben steht. »Und woher kommt ihr?« fragt sie. »Wir haben die letzten drei Jahre in Korinth gelebt. Dort starb mein Mann. Ich wollte sein Grab nicht verlassen, obwohl ein Grab ja nur eine leere Stätte ist. Wo die Seele weilt, die dem Körper entflohen ist, wissen wir nicht.«

»Es führen drei Straßen von Korinth nach Athen«, sagt Aspasia ablenkend. »Die Nördliche über Pagai werdet ihr nicht genommen haben — sie ist die längste. Doch auch die Kürzeste nicht, die den Isthmos an seiner engsten Stelle überquert und an seinem südlichen Rand entlang den Skironischen Felsen durchschneidet ...« — »Doch, gerade diesen Weg haben wir gewählt«, fällt ihr Melissa ins Wort. Und sie erzählt, dass sie sich der Mannschaft eines Schiffes angeschlossen haben, das über den Diolkos gezogen worden ist, um vom korinthischen Hafen Schoinos aus Megara anzulaufen - dass aber eine athenische Triere, die nördlich der Insel Aigina kreuzte, dieses Unternehmen vereitelt habe, sodass die ganze Fracht auf Eselsrücken verladen und über den Landweg in die befreundete Stadt gebracht werden musste.

»Und da seid ihr«, fragt Aspasia, »auf diesem halsbrecherischen Pfad ...« — »Ein Weg, den ich nie vergessen werde! Links das Gebirge, das sich mit seinen Felsgraten immer näher ans Ufer schob — rechts das unendliche, vom sonnendurchglühten Dunst wie von Schleiern verhüllte Meer — und die Kette der Treiber und Tiere, die sich immer höher in die Felsen hinaufarbeiten mussten, weil unten kein Platz für sie blieb ...« — »Und ein Esel stürzte ab«, fällt Ariston seiner Mutter ins Wort, »und schlug zweimal auf vorspringende Felsen, ehe er in den Fluten versank.«

Zum ersten Mal, seit er ein Mann geworden ist, hört Aspasia seine Stimme und ist seltsam berührt von ihrem dunklen Klang.

»Als das geschehen war, fasste Ariston mich fester und trug mich mehr, als dass er mich führte, und so kamen wir heil über die schlimmsten Stellen, obwohl uns der Skiron, dieser gefürchtete Fallwind, den Gischt ins Gesicht peitschte.«

»Du hast nicht gezittert?« fragt Aspasia und umfasst des Jünglings Gestalt mit einem Blick, der ihn verwirrt. »Dein Fuß ist fest und sicher geblieben, als du die Mutter durch all die Fährnisse geleitet hast?«

»Nein, Herrin«, Ariston sucht seine Röte zu verbergen, indem er zur Erde sieht, »ich war nicht furchtlos. Mir stockte der Atem, als ich die Schreie des unglücklichen Tieres hörte, und gerade weil ich Angst hatte, trat ich so fest auf und schritt aus, so schnell ich konnte und zwang die Mutter, mir über die gefährlichen Stellen zu folgen ohne stehenzubleiben und ohne sich umzusehen.« - »Sag doch nicht Herrin zu mir, Ariston! Weißt du denn nicht, dass ich dich auf den Armen getragen habe, ehe du laufen konntest? In der Zeit, als ich deiner Mutter nahestand wie eine Schwester? Hat sie dir das nicht erzählt?«

»Nein«, antwortet Melissa heftig, die mit einem Mal weiß, dass es ihr viel schwerer fallen wird, als sie je geahnt hat, das auszusprechen, was ihr das Herz abdrückt und weswegen sie alle diese Gefahren auf sich genommen hat. »Ich habe es ihm nicht erzählt!«

Es folgt ein betretenes Schweigen.

›Sie ist die alte geblieben‹, denkt Aspasia bitter. ›Und jetzt - gerade jetzt - wie könnte ich sie brauchen, wenn auch sie sich gewandelt hätte!‹

›Man müsste ganz von Neuem beginnen können‹, denkt Melissa. ›Nicht das Vergangene vergessen - aber es einschließen wie in ein Samenkorn, das mit all seinen Kräften dazu da ist, den Keim zu nähren, damit er sprossen kann!‹

»Ich verstehe dich nicht, Mutter!« Aristons Worte zerreißen das lastende Schweigen. »Weshalb hast du mir niemals gesagt, dass wir hier in Athen Gastfreunde haben? Wo du doch wusstest, dass ich mich seit Jahren danach gesehnt habe, diese Stadt zu besuchen.«

Es ist das zweite Mal, dass er diesen Vorwurf ausspricht, und nun hat Melissa keine Möglichkeit, ihn zu überhören. Doch Aspasia enthebt sie der Antwort.

»Du hattest den Wunsch, Athen zu besuchen?« fragt sie erstaunt. »Und wer hat ihn in dir geweckt? Gar die Mutter?«

»Die Mutter?« Ariston macht eine Handbewegung, die mehr sagt als Worte. »Brauchte ich dazu die Mutter? Spricht nicht ganz Hellas von den Tempelbauten, die in Athen entstehen, und von den berühmten Männern, die hier zusammenströmen, und von den Spielen, Tragödien und Komödien, die dem Dionysos zu Ehren aufgeführt werden, wie man sie sonst nirgendwo zu sehen bekommt?« — »Davon weißt du?« Aspasia schenkt dem erregten Jüngling ein ermunterndes Lächeln. »Ich dachte, in Korinth lässt man an den Athenern kein gutes Haar!« — »Man kann doch«, ruft Ariston voll Eifer, »auch aus der hämischsten Äußerung herausfühlen, was dem Neide zugrunde liegt!«

»Ich wundere mich nicht, dass du Ansichten äußerst, die deinen Jahren vorauseilen.« Aspasias Ton ist warm, fast mütterlich. »Du bist ja, wie ich weiß, in einer guten Schule ausgewachsen, und es ehrt den Lehrer mehr, den Schüler zum selbstständigen Denken zu erziehen als zum Nachbeten der eigenen Ansichten.«

Melissa schweigt, obwohl sie merkt, dass diese Worte nach ihr zielen. Auch Ariston schweigt. Es ist ein seltsamer Charakterzug an ihm, dass jedes Lob ihn betroffen macht. Wenn also Aspasia nicht wieder Verlegenheit aufkommen lassen will, muss sie weiter reden. Und einfühlsam das Thema wechselnd, gleitet sie von der Person des jungen Mannes, der ihre Anteilnahme zu erregen beginnt, zu der Sache hinüber, der er so zugetan ist.

»Athen«, sagt sie langsam, bereit, ihre Worte zu genießen und noch mehr den Eindruck, den sie auf Ariston machen — »Athen wird mit Recht von denen geschmäht, die nichts wachsen sehen können, was ihren Ruhm verdunkelt, und von denen gelobt, die sich selbst mit erhoben fühlen, wenn sie etwas Großes bewundern können. Ich will von all dem, was du erwähnt hast, nicht sprechen. Es stimmt, von nah und fern strömt hier zusammen, was in Hellas einen Namen hat. Eben hörte ich, dass einer der berühmtesten Ärzte, Hippokrates von Kos, in der vergangenen Woche in unsere Stadt gekommen ist. Aber wie gesagt - davon will ich nicht sprechen. Nur dies: Selbst die Luft ist in Attika heller, reiner, und nirgendwo sonst findest du ein so wohlschmeckendes, nahrhaftes Öl wie das unserer Olivenhaine - nirgendwo auch einen so süßen Honig wie den vom Hymettosgebirge!«

»Ja«, fällt Melissa ein, »und nirgendwo auch einen so giftigen Schierling!«

Brüsk wendet sich Aspasia Melissa zu, hat schon ein scharfes Wort auf der Zunge. Doch Ariston hindert sie daran, es auszusprechen. Er hat die Wendung, die seine Mutter dem Gespräch gegeben hat, gar nicht beachtet. Denn ein Name ist in seinem Ohr hängen geblieben und hat alles andere übertönt. »Was sagtest du?« ruft er, »Hippokrates? Von ihm hat mir Miron erzählt! Und Glaukides! Ich will ihn kennenlernen, Mutter! Zu besserer Zeit hätten wir wahrlich nicht eintreffen können!«

»Du musst wissen, Aspasia«, sagt Melissa, »dass schon Telleas, ehe er starb, Ariston in seiner Kunst ausgebildet hat, und dass ich meinen Sohn nach meines Mannes Tod zu Miron in die Lehre gab, der einer unserer Freunde ist und als Arzt einen sehr guten Namen hat.« — »Ein Korinther?« — »Nein, auch er stammt aus Kroton.«

»Und Glaukides ist mein Freund! Er war ein Schüler meines Vaters und ist nur wenige Jahre älter als ich. Er hat sich ebenfalls schon selbstständig gemacht.«

»Auch bei uns wirst du Freunde finden, Ariston. Mein Sohn Perikles ist freilich jünger als du, aber Alkibiades, unser Mündel, nur wenig älter! Du wirst sie kennenlernen und sehen, welchem von ihnen du dich anschließt.«

Aspasia klatscht in die Hände. Ein alter Diener erscheint. »Sind die jungen Herren zu Hause, Zopyras?« — »Alkibiades ist ins Gymnasion gegangen, Herrin«, antwortet der Alte, »aber der junge Perikles sitzt in seinem Zimmer.« — »So schicke ihn zu uns!«

»Würdest du nicht gestatten, Aspasia, dass ich zu ihm gehe? Vielleicht kann er mich gleich zu Hippokrates führen I« — »Ehe du einen Bissen gegessen, einen Schluck getrunken hast?« — »Ich habe weder Hunger noch Durst.«

Ariston steht auf und verneigt sich. Seine Bewegungen sind etwas ungelenk. ›Neben ihm sieht mein Perikles noch wie ein Knabe aus‹, denkt Aspasia, ›und doch ist er wahrscheinlich gewandter und würde diesen jungen Bären vielleicht sogar im Fünfkampf besiegen.‹ Aber sie spricht es nicht aus, nickt nur leicht mit dem Kopf, und Ariston geht mit einem kurzen Gruß aus dem Zimmer.

 

»Verzeih mir meine Unaufmerksamkeit, Melissa!« sagt Aspasia, als die beiden Frauen allein sind. »Eine schlechte Gastgeberin bin ich, dass ich noch gar nicht daran dachte, euch etwas vorzusetzen! Nun ist Ariston fortgestürmt wie ein Jagdhund, den man auf eine Fährte gesetzt hat - aber du ...« — »Nicht wegen Essen und Trinken bin ich gekommen!«

Wie kaum eine zweite beherrscht Aspasia die Kunst, ihre Gedanken, und seien sie denen ihres Gegenübers noch so entgegengesetzt, in ein gefälliges Gewand zu kleiden, sodass sie selbst bittere Wahrheiten auszusprechen vermag, ohne zu verletzen. In Melissas großen, dunklen Augen aber, die sie starr auf sich gerichtet fühlt, liest sie die alte Unerbittlichkeit und weiß, dass alle ihre Kunst vor dieser Frau versagen muss. Eine Welle von Trotz überschwemmt ihr Herz. ›Gut‹, denkt sie, ›wenn sie es nicht anders will!« Jeder versöhnliche Ausdruck fällt von ihren Mienen ab. Feindselig starrt sie Melissa an und schweigt. ›Mag sie denn beginnen«, heißt dieses Schweigen.

Es ist wie ein Kampf mit Blicken statt mit Waffen.

Endlich spricht Melissa. Sie sagt: »Bist du denn nun glücklich, Aspasia?«

»Und um mich das zu fragen, hast du den Skironischen Felsen überquert?« Aspasia lacht. Es ist kein gutes Lachen. »Hast du die Klatschgeschichten gehört, die wie Vogelschwärme über ganz Hellas schwirren? Hat man dir erzählt, dass Perikles Liebschaften hat, mit einem Dutzend Frauen der Stadt? Dass er sich mit ihnen in Pheidias’ Werkstatt trifft?«

»Hältst du mich wirklich für so armselig, Aspasia, dass du denken kannst, ich legte auf derartiges Geschwätz das geringste Gewicht? Als ich mich von dir trennte, geschah es im Zorn, das ist wahr. Aber wenn du meinst, dass mein Zorn in diesen langen Jahren zu Hass geworden ist, so kennst du mich schlecht. In Sorge ist er umgeschlagen, Aspasia, und diese Sorge wuchs von Jahr zu Jahr. Und je mehr sie wuchs, um so mehr schloss sie ein. Erst kreiste sie um dich und die Deinen. Dann um diese Stadt, der du dich verschrieben hast. Und endlich um uns alle: Um das ganze Hellas, das ich mit meinem Mann durchwandert habe, den es von Ort zu Ort trieb, weil er so viel Unheil sah, so viel Gebrechen, und weil er mehr sein wollte als nur ein Arzt für verrenkte Glieder, hitziges Fieber, Durchfälle und Pocken!« — »Und was für ein Heilmittel habt ihr nun entdeckt auf euren Irrfahrten quer durch Hellas? Etwa ein Kräutlein gegen den Tod?«

»Spotte nicht, Aspasia! Du weißt so gut wie ich, was auf uns zukommt! Zu tief schon hat sich das Gift in den Körper dieses unseligen Landes eingefressen, wo jeder gegen jeden die Faust ballt: Polis gegen Polis und innerhalb jeder Polis Arme gegen Reiche, Sklaven gegen Herren, Männer gegen Frauen, Philosophen gegen Dichter, Oligarchen gegen Demokraten ...« — »Denn der Krieg ist der Vater aller Dinge!«

»Nein, Aspasia! Es ist nicht wahr, dass du dich selbst mit so billigem Trost abspeist! Herakleitos hat nicht recht! Pythagoras hat uns eines Besseren belehrt! Nicht blind muss der Mensch sich dem Walten eines zerstörerischen Schicksals unterwerfen! Er kann die Gegensätze sich so durchdringen lassen, dass eine höhere Einheit aus ihnen hervorgeht!

Aus dem Chaos der Geräusche wird Musik, wenn der Musiker die Töne ins rechte Verhältnis zueinander setzt — und diesem Verhältnis liegt eine in Zahlen ausdrückbare Gesetzmäßigkeit zugrunde. Die Gesundheit jeglichen Körpers wird dadurch bewirkt, dass sich die in ihm waltenden gegensätzlichen Kräfte im Gleichgewicht halten. Diese Gesetze erforscht der Arzt und heilt mit seiner Kunst die Kranken. Und im Miteinander der Menschen — der Geschlechter, der Städte, der Staaten - da sollte sich die Gesetzmäßigkeit nicht finden lassen, die eine Versöhnung der Gegensätze bewirkt, statt dass jeder jedem den Rang abläuft und aus Eigennutz danach trachtet, immer der Erste zu sein und vorzustreben den ändern?« — »So lehrt uns Homeros!« — »Homeros! Homeros! Man sah ihn im Tartaros, am Ort der Qual, angeschmiedet mit Ketten, weil er von Göttern Schimpfliches erzählt und die Menschen Verderbliches gelehrt hat!«

Mit einer Handbewegung tut Aspasia diese Erörterung ab. Ihr ist nach dem Für und Wider solcher Gedankengänge, die sich ins Endlose ausspinnen lassen, heut nicht zumute. Schroffer, als es sonst ihre Art ist, fragt sie: »Nun — geradeheraus und ohne Umschweife, Melissa - was willst du von mir?«

Mit einem Ruck hebt sich Melissa aus der bequemen Lage und setzt sich steil auf. Ihr Blick weicht dem Aspasias nicht aus, und die Milesierin erwartet ein hartes Wort. Doch es bleibt ungesprochen.

Sanfter als vorhin ist Melissas Stimme; sie kommt aus tiefster Brust, ist dunkel und beschwörend: »Bei allem, was dir heilig ist, Aspasia, bitte ich dich, veranlasse deinen Gatten, dass er Athen nicht in die Händel hineinreißen lässt, die zwischen Korinth und Kerkyra im Gange sind!«

»Melissa«, auch Aspasias Stimme verliert die Schärfe, »warum begibst du dich wieder auf dieses Gebiet? Unsere Sache ist nicht die Politik, sondern die Philosophie! Hast du das vergessen?« — »Vergessen nicht, Aspasia — aber wie willst du das eine vom andern trennen?«

»Sehr wohl kann man das! Meinst du, dass Anaxagoras sich in die Belange des Staates mischt? Er selbst sagt, dass das nicht seine Aufgabe ist. Er sagt, er sei in die Welt gekommen zur Beobachtung von Sonne und Mond und Himmel!«

›Sie will mich ablenken‹, denkt Melissa, ›doch es soll ihr nicht gelingen!‹ Und laut sagt sie: »Anaxagoras ist nicht Athener, hat also hier auch keinen politischen Einfluss. Wie aber verhält sich Sokrates?«

»Sokrates?« Über Aspasias Gesicht huscht ein Lächeln, und so flüchtig es auch ist, erkennt Melissa doch seine Bitterkeit. »Sokrates hat das Forschen über die Natur der Dinge aufgegeben. Er sagt, zu wissen, wie Sonne und Mond beschaffen seien, befähige den Menschen noch lange nicht, zu wissen, wie er sein Leben am sinnvollsten einrichten solle. Und nun geht er über die Agora und verwickelt die Menschen, die ihm begegnen, in Gespräche darüber, wie sie am besten durch Wohlverhalten — durch Genügsamkeit, durch Selbstbeherrschung, durch Besonnenheit — den Weg zum Glücklichsein einschlagen können.« — »Und hält er den Weg, den Perikles eingeschlagen hat, für den rechten, um Athen, um Hellas zum Glück zu führen?« — »Das weiß ich nicht. Er hat weder mit mir noch mit Perikles jemals darüber gesprochen.«

»Und da meinst du nun, Aspasia, weil Sokrates sich von euch zurückgezogen hat, er kümmere sich nicht mehr um das Glück des Staates, sondern nur noch um das Glück des Einzelnen? Als ob das möglich wäre — als ob nicht eines ins andere übergriffe! Und als ob die Menschen vorwärtsschreiten könnten auf ihrem Weg zur Vervollkommnung, während die Staaten im Zustand wilder Tiere verharren, stets auf dem Sprung, übereinander herzufallen und sich die Beute vom Mund wegzureißen!«

»Und da meinst du, Melissa, den Kerkyräern Schutz zu gewähren, die sich in ihrer Bedrängnis ein uns gewandt haben, stehe einem Staat wie Athen nicht wohl an?«

»Schutz zu gewähren! Als ob du nicht wüsstest, Aspasia, was die ganze Welt weiß: dass euch die Kerkyräer und ihre Streitigkeiten mit ihrer alten Mutterstadt Korinth im Grunde völlig kalt lassen würden. Haben denn diese Leute jemals auch nur einen Blutstropfen übrig gehabt für Athen, ja für die gemeinsame hellenische Sache? Haben sie nicht abseits gestanden, selbst damals, als es gegen die Perser ging? Mit guten Gründen also könntet ihr euch ihren Bitten entziehen, und ihr würdet das zweifellos auch tun, wenn ihre Insel nicht der Schlüssel zur Straße nach Sizilien wäre und ihr auf diese Weise den Handel nach dem Westen in eure Hände bringen könntet, wie ihr den Handel nach dem Osten, nach dem Pontos Euxeinos, an euch gerissen habt!«

»Für wen sprichst du, Melissa? Wer steht als Auftraggeber hinter dir?«

In Melissas Zügen drückt sich ein Schmerz aus, als habe man sie mit einer Peitsche geschlagen. Sie steht auf.

»Das hätte ich nie gedacht«, sagt sie, »dass es so weit mit dir kommen würde, Aspasia, dass du auf sachliche Gründe statt mit Argumenten mit Beleidigungen antwortest. Dann haben Gespräche mit dir ja wohl keinen Sinn mehr!«

Auch Aspasia ist aufgesprungen. Sie steht ihrem Gast gegenüber. Ihr Gesicht ist von Röte überflammt.

Viel zu gut kennt Melissa die ehemalige Gefährtin, um nicht zu lesen, was sich hinter dieser Stirne verbirgt. ›Wie viel bittere Erfahrung«, denkt sie, ›mag sie gemacht haben, seit sie den Weg dieses Mannes teilt und deshalb von aller Welt beneidet und gehasst wird?« Und sie lenkt ein.

»Vielleicht liegt es dir nahe«, meint sie, »hinter Worten, die man ein dich richtet, einen verborgenen Sinn zu wittern, der ihren Wert in Unweit verkehrt. Vielleicht ist oft schon ein Ansinnen an dich in unlauterer Absicht gestellt worden. Aber ich frage dich, Aspasia, hast du jemals, in den vielen Jahren, da wir uns nahe standen, eine solche Neigung an mir beobachtet?« — »Kann sich ein Mensch nicht geändert haben?« kommt es ein wenig unsicher von Aspasias Lippen. Melissa stellt mit Genugtuung fest, dass sie an Boden gewinnt ...

»Gewiss. Er kann sich geändert haben. Er kann sich aber auch treu geblieben sein!« Sie fasst Aspasia fest ins Auge. »Und er kann, selbst wenn er sich untreu geworden ist, zu seinem wahren Wesen zurückfinden.«

Da greift Aspasia nach Melissas Hemd. »Ich wusste, dass du mich bezwingen würdest«, sagt sie leise. »Setz dich noch einmal zu mir. Und. Sprich dich aus. Ich will dir zuhören wie einst.«

Abbildung

Aristón und der junge Perikles verlassen das Haus. In einigen Schritten Abstand folgt ihnen Zopyras, der alte Sklave.

Aristón schreitet schnell aus. Er brennt darauf, zur Agora zu kommen, wo er nachholen kann, was er beim Herweg versäumt hat, und wo er vor allem etwas über Hippokrates zu erfahren hofft. Der junge Perikles hält nicht Schritt. Der Abstand zwischen ihnen vergrößert sich. Schließlich bleibt Ariston stehen. Er ist sichtlich verstimmt.

»Du musst nicht mitkommen, Perikles«, sagt er brüsk. »Ich habe mir den Weg gemerkt und finde ihn auch allein I«

»Allein?« Die Mienen des jungen Perikles, die bis dahin streng, fast verdrossen gewesen sind, entspannen sich. Mit wenigen Schritten holt er den Gast ein, legt ihm die Hand auf die Schulter.

»Allein sollst du nicht gehen, Ariston! Ich gebe dir Zopyras mit. Er bringt dich, wohin immer du willst!«

Betroffen sieht der Alte auf. »Junger Herr!« ruft er erschrocken, »du weißt doch, dass dein Vater es mir bei Strafe verboten hat, dich aus den Augen zu lassen!«

»So geht man mit mir um, Ariston!« Um des jungen Perikles’ Mund zuckt es, und Trotz steht in seinen Augen. »Man bewacht mich, als sei ich ein Kind — oder ein Weib! Hat man auch dich nicht allein auf die Straße gehen lassen, als du sechzehn warst?« — »Meine Eltern besaßen keine Sklaven, Perikles!«

Sie stehen vor einem kleinen Terrassengarten, der von einer niedrigen Mauer abgestützt wird. Der junge Perikles setzt sich auf die von der Sonne erhitzten Steine. »Ich mag nicht weitergehen!« sagt er im Ton eines schmollenden Kindes. »Wenn du nicht willst, Alter, dass unser Gast sich in den Straßen der Stadt verläuft — und wenn du ebenso wenig willst, dass ich allein und ohne Aufsicht bleibe, so gehe du hinunter zur Agora, und Ariston mag mich unterdessen beschützen — er ist ohnehin stärker als du!«

Sein Sitz ist so hoch, dass die Füße kaum den Boden berühren, doch mit der Ferse trommelt er gegen den Stein, und das Sohlenleder seiner Sandalen gibt einen Misston, der dem Alten durch Mark und Bein geht.

Auch Ariston sieht voll Unwillen auf den jungen Perikles, auf dessen gebräuntes Gesicht der unruhige Schatten eines vom Wind bewegten Ölbaumzweiges fällt. ›Da sitzt er wie ein aus Bronze gegossener Gott‹, denkt er, und er ärgert sich über sich selbst, weil er es nicht hindern kann, dass sein Unmut sich mit Bewunderung mischt.

Abbildung

Kein Zweifel, der Sohn der Aspasia ist schön — so schön, wie sich die Bildhauer ihre Modelle wünschen: ebenmäßigen Wuchses, kraftvoll, ohne plump zu sein, unter dem welligen Haar die sanft gerundete, nicht zu hohe Stirn, von der sich der Nasenrücken nur durch eine leichte Einkerbung absetzt, um dann in einer geraden Linie mit ihr zu verlaufen. So mag Hyakinthos ausgesehen haben, als Zephir in Liebe zu ihm entbrannte, und so auch mögen seine Lippen sich in Unmut geschürzt haben, als er die Bewerbungen des Windgottes abwies.

Um sich dem Zauber dieser Erscheinung zu entziehen, lässt Ariston seinen Blick von Perikles zu Zopyras hinüber schweifen und sieht den inneren Kampf, der sich in den Zügen des Alten ausdrückt. In den Ärger über den jungen Perikles mischt sich das Mitleid mit dem alten Sklaven. ›Ein Ende machen‹, denkt er, Vorteilen und die beiden allein lassen! Schließlich wäre es ja gelacht, wenn ich den Weg zur Agora nicht auch allein fände!‹

Und dennoch zögert er. Wendet den Kopf, wie um sich nach einem Helfer umzusehen. Aber die Straße ist menschenleer. Kein anderes Geräusch ist zu hören als das des Windes, der mit den schmalen, silbergrau schimmernden Blättern des Ölbaumes spielt.

Da trifft die Stimme des jungen Perikles sein Ohr, schneidend wie die eines Menschen, der zu befehlen gewöhnt ist.

»Du gehst, Alter, und erkundigst dich, wo sich der Arzt Hippokrates aufhält! Und wenn du es erfahren hast, kommst du sogleich zurück und sagst es uns!« — »Und ich finde euch hier wieder ...« Wie eine halbe Einwilligung kommt es von Zopyras Lippen. — »Hier an dieser Stelle!« — »Ihr geht auch nicht nach Hause, ehe ich wiederkomme?« — »Nicht, ehe du wiederkommst!«

»Aber ...«, wirft Ariston ein, doch der junge Perikles schneidet ihm das Wort ab. »Du kannst dich auf den Alten verlassen. Er kennt halb Athen. Er wird nicht zurückkehren, ehe er herausgebracht hat, wo Hippokrates zu finden ist! Und vielleicht bringt er ihn gleich mit. Er kann ja sein Maul wetzen wie nur einer, wenn er jemanden zu etwas überreden will!«

»Wenn hier jemand sein Maul wetzen kann, um jemanden zu etwas zu überreden, so bist du das, junger Herr!«

Ariston erwartet, dass der junge Perikles den Diener wegen seiner Dreistigkeit zurechtweisen wird, aber er irrt sich. Im Gegenteil — Perikles bricht in schallendes Gelächter aus. »Nun hast du dich mit deinen eigenen Worten geschlagen!« sagt er endlich und unterdrückt sein Lachen mit Mühe. »Also lauf, Alter — lauf, wenn du recht behalten willst!«

Und wirklich, ehe Ariston etwas sagen kann, was den Sklaven hindert, diesen Befehl auszuführen, hat der Alte sich schon abgewandt, und gleich darauf verschwindet seine Gestalt hinter dem nächsten Hause. Die beiden Jünglinge sind allein.

Der junge Perikles rückt zur Seite, und Ariston lässt sich neben ihm auf dem Mäuerchen nieder. Doch ein Gespräch zu beginnen will ihm nicht gelingen.

›Nun also bin ich in Athen! ‹ denkt er, aber dieser Gedanke macht ihn nicht froh. Im Gegenteil - eher ist ihm zumute wie einem Schiffbrüchigen, der an einen fremden Strand geworfen wurde. Und am meisten quält ihn, dass er sich selbst nicht versteht. Denn er ist noch zu jung, um zu wissen, dass sich die Segel der Schwermut am liebsten blähen lassen vom Wind der erfüllten Wünsche.

Auch dem jungen Perikles ist ein diesem Tage ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung gegangen. Und auch ihm hämmert es in den Schläfen, und er weiß, so gewandt seine Zunge sonst ist, das Wort nicht zu finden, das er doch schon seit Jahren für diesen Augenblick bereitgehalten hat.

›Genau so heiß und staubig ist es in diesem Athen wie in unserm Korinth«, denkt Ariston.

Und: »Genau so fremd ist mir dieser Ariston wie meine Brüder«, denkt Perikles, doch jeder fühlt sich von den eigenen Gedanken wie von feindlichen Gewalten überfallen und sucht, sie niederzuschweigen, um ihren Folgen zu wehren.

Auf Ariston lastet dieses Schweigen wie Mittagsglut. Vor dem inneren Auge des jungen Perikles lässt es Bilder erstehen. Ihm ist, als sitze der Gast nicht neben ihm, sondern in einem sich in rascher Fahrt von ihm entfernenden Schiff, das er am Entkommen hindern könnte, wenn er die Verfolgung aufnehmen und im gegebenen Augenblick den Enterhaken auswerfen würde.

Den Enterhaken.

»Ariston«, sagt er und scheut sich, dem ändern in die Augen zu sehen, »du wirst mich für unhöflich, für abweisend halten. Doch glaube mir, ich habe mir schon seit Langem nichts sehnlicher gewünscht, als dich bei mir zu haben!«

Röte überflammt sein Gesicht, sein Kopf macht eine jähe Bewegung, er sieht auf und trifft auf Aristons erstaunten, verständnislosen Blick. »Du?« Vor Überraschung bringt Ariston keinen zusammenhängenden Satz heraus. »Mich? Ja, was wusstest du denn von mir?«

Nun ist die Reihe, sich zu wundern, am jungen Perikles. »Wie sollte ich nichts von dir gewusst haben?« gibt er zurück. »Glaubst du, weil meine Mutter die Gattin des Perikles ist, sind ihre Verwandten ihr zu schlecht, als dass sie ihrem Sohn etwas von ihnen erzählte?« — »Ihre Verwandten? Ja, bin ich denn ihr Verwandter?« — »Das weißt du nicht? Du bist doch der Sohn ihres Bruders!«

»Das ist nicht möglich!« Ariston klammert sich an der Mauer fest. »Mein Vater stammt aus Kroton und nicht aus Milet.«

»Aber Ariston, der Krotone Telleas war doch der zweite Gatte deiner Mutter, war gar nicht dein Vater! Dein Vater heißt Lykon! Und ist des Axiochos Sohn! Wir haben den gleichen Großvater, du und ich! Und wenn ich mich auf eine Stunde gefreut habe, so auf die, in der ich dir begegnen — dich finden würde! Darum — darum habe ich den Zopyras weggeschickt!«

›Es ist nicht wahr!‹ hämmert es in Aristons Kopf. ›Kann nicht wahr sein! Schau ihn dir doch an! Sieh, wie sich sein Hals aus den Schultern hebt, wie seidig sein Haar schimmert - mit ihm willst du eines Blutes sein?‹ Fast traurig gleiten seine Blicke am eigenen Körper hinunter; zu keiner Stunde hat er sich heftiger gewünscht, schön zu sein, zu keiner so schmerzlich vermisst, dass er es nicht ist. Zu gedrungen die Gestalt, zu eckig das von der Narbe entstellte Kinn, zu groß Hände und Füße, zu breit Nase und Mund! »Was weißt du von diesem Lykon, dessen Namen ich niemals gehört habe? Warum hat meine Mutter mir nicht gesagt, dass mein Vater gestorben und sie Witwe gewesen ist, als sie den Krotonen ehelichte?« — »Gestorben? Er ist nicht gestorben! Er lebt!« — »Er lebt?« schreit Ariston. »Wo denn — wo lebt er?« — »In Sardes. Am Hof des persischen Satrapen.«

»Das ist nicht wahr!« Erregt springt Ariston vom Mäuerchen herunter und pflanzt sich vor dem jungen Perikles auf. »Welcher Hellene gibt sich dazu her, am Hofe eines Persers ...« — »Ariston!« Perikles fühlt, wie tief seine Worte den Vetter getroffen haben, und versucht, ihre Wirkung abzuschwächen. »Du brauchst dich doch deshalb deines Vaters nicht zu schämen! Ist nicht sogar Themistokles als Satrap des Großkönigs gestorben?« — »Und du als Athener schämst dich dessen nicht?«

Der junge Perikles geht über diese Äußerung Aristons hinweg, als habe er sie nicht gehört. Auch er springt vom Mäuerchen. »Nun komm«, sagt er, »ich will dir etwas zeigen, was es in Korinth nicht gibt!«

»Aber wir können doch«, ruft Ariston erschrocken, »diesen Platz nicht verlassen! Wie soll uns Zopyras ...« — »Zopyras! Zopyras!« Mit einer Handbewegung schiebt der junge Perikles die Bedenken seines Vetters von sich. »Der weiß, wo ich zu finden bin!« Und er zieht den Sich-Sträubenden mit sich fort.

 

Sie steigen aus dem Gewirr der Gassen. Der Weg wird steinig und steil. Der junge Perikles geht voran. Jetzt ist ihm kein Zögern, kein Verlangsamen anzumerken. Gewandt wie eine Bergziege erklimmt er die steilsten Stufen.

Ariston aber fühlt sich plötzlich am ganzen Körper wie zerschlagen. ›Warum folge ich ihm eigentlich?‹ denkt er. ›Liegt mir die Anstrengung der letzten Tage nicht noch in allen Gliedern?

Hippokrates habe ich suchen wollen! Das würde ich gerne auf mich nehmen. Doch hier wird mich die Nacht erreichen, ohne dass ich ihn getroffen habe!‹

Sein Atem geht mit einem Mal so schwer, dass er stehen bleiben muss. Bislang haben seine Augen am Boden geklebt, denn der Weg ist so wenig eben, dass man bei jedem Schritt aufpassen muss. Nun hebt er den Blick und lässt ihn über die Dächer der Stadt schweifen, die sich am Bergeshang hinziehen wie eine Herde von Lämmern. Doch wo ist der Hirte? Unwillkürlich wendet er sich um und entdeckt ein Dach, einen Giebel, der hinter einer hohen Mauer hervorlugt.

»Was ist das?« fragt er, und er zeigt nach oben.

Der junge Perikles eilt einige Schritte zurück, steht neben dem Weggenossen. »Das ist der Parthenon!« ruft er, und seine Stimme klingt heller als vorher.

»Nicht möglich!« entfährt es dem andern. »So klein? So unscheinbar?« — »Schade, dass du ihn von dieser Stelle schon erblickt hast! Hier hält er sich halb verborgen. Warte, bis er die Hülle abstreift!« Es strahlt etwas so Zwingendes, so Mitreißendes von dem jungen Perikles aus, dass Ariston sich seiner Ermattung schämt. Sie steigen weiter bergan, und Dach und Giebel entschwinden wieder ihren Blicken. Doch bleibt nun der junge Perikles an seines Vetters Seite, als fühle er dessen Müdigkeit und wolle sie abfangen mit seiner Nähe. »Noch eine Wegbiegung«, sagt er endlich, »dann wirst du belohnt sein!«

Die Sonne trifft fast senkrecht auf die wuchtigen marmornen Säulen, die sich plötzlich vor Aristons Augen erheben und ihm einen Laut freudigen Staunens entlocken. »Das freilich ist ein anderer Anblick! So habe ich mir ihn vorgestellt! So erhaben, so überwältigend ...!« — »Wen?« — »Nun, den Parthenon eben!« — »Aber Ariston, das ist er doch gar nicht!« Der junge Perikles kann ein Lächeln nicht unterdrücken. »Das sind nur die Propyläen, die Eingangstore zur Burg! Und sie sind nicht einmal fertig.«

Richtig, nun sieht auch Ariston, dass zu beiden Seiten des riesigen Mitteltores, dessen Giebel von acht mächtigen Säulen gehalten wird, eine Menge Marmorblöcke herumliegen, teils mit Rippen und Kannelüren versehen, teils noch roh, noch unbehauen.

»Hier soll sich rechts und links ein kleiner Vorbau anfügen«, erklärt der junge Perikles, »mit Pforten, die für gewöhnliche Tage genügen, während das große Tor nur für den Festzug geöffnet wird, der es an den Panathenäen durchschreitet.« — »Den möchte ich sehen!« ruft Ariston.

»Ja, das musst du!« bestätigt der junge Perikles, »dann kannst du auch einmal athenische Jungfrauen sehen, die sonst sittsam in ihren Häusern bleiben, an diesem Tage aber den Peplos zur Burg tragen, das Gewand, das der Göttin neu angelegt werden soll und das die Töchter der vornehmsten Bürger gewebt und bestickt haben. Und die Opferrinder mit ihren blumengeschmückten Hörnern! Und den Zug der schönsten Greise, den Sophokles anführt! Und die Schar der Knaben und Jünglinge, die zu den Wettkämpfen antreten!« — »Und unter denen auch du bist!«

Der junge Perikles gibt keine Antwort. Doch Ariston bemerkt es nicht. Sie sind nun unmittelbar unter den Säulen angekommen, die den Torgiebel stützen. Die aus schweren Eichenbohlen gezimmerten und mit Eisenbeschlägen verstärkten Torflügel freilich sind verschlossen, doch als Ariston vergeblich daran rüttelt und dann knurrt: »Nun können wir wohl umkehren«, lacht der junge Perikles.

»Hier habe ich Freunde«, sagt er, und er ruft durch die hohle Hand: »Glaukon! Simonides!«

Aber niemand antwortet.

»Macht nichts«, sagt er schließlich. »Halte dich immer hinter mir!«

Sie klettern über Marmorblöcke, gehen über Sand und Stein und kommen an einen schmalen Eingang, der mit Brettern verschalt ist. »Das Zweite von links«, sagt der junge Perikles, »müssen wir anheben!«

Das Brett gibt nach.

Als Erster schiebt der junge Perikles seine Schulter durch die Lücke. »Mein Vater darf das nicht wissen«, sagt er. »Ich habe den Glaukon beschwatzt, mir diesen Durchschlupf zu lassen, niemand außer mir und ihm weiß, dass die Nägel hier nicht fest im Holz sitzen.«

Er reicht Ariston die Hand, der sich mühsam durch die schmale Öffnung windet.

Dann streicht er sich mit einer raschen Bewegung das Haar aus der Stirn. »Und nun blick auf!« sagt er.

Und der Tempel der aus dem Haupte des Zeus entsprungenen jungfräulichen Göttin, der Schutzherrin dieser Stadt und dieses Landes — der Tempel Pallas Athenes erhebt sich vor Aristons Augen!

Erhebt er sich? Oder schwebt er, ruhend in sich selbst, im Meer des Lichts, das Helios über ihm ausgießt?