Über Paul Theroux

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Paul Theroux, geboren 1941 in Medford, Massachusetts/USA, ist mit mehr als dreißig veröffentlichten Büchern einer der weltweit populärsten Gegenwartsautoren. Neben seinen autobiographisch beeinflussten Büchern hat er vor allem literarische Titel über seine Reisen durch China, Argentinien und die Südsee verfasst und dadurch Weltruhm erlangt. Theroux ist seit 2013 Mitglied der American Academy of Science and Arts. Er lebt mit seiner Familie in London und auf Cape Cod.

Eine Schlange kroch an meinen Wassertrog

an einem glühend heißen Tag 

– so heiß, ich trug den Schlafanzug –

um dort zu trinken.

 

D.H. Lawrence

1

Dies ist meine einzige Geschichte. Jetzt, mit sechzig, kann ich sie erzählen.

Vor Jahren, als Taormina noch ein Dorf war, das aufgrund der Hitze von den Touristen im Sommer gemieden wurde, zog es mich gerade wegen dieser Hitze an den Ort, wo D.H. Lawrence eines seiner besten Gedichte geschrieben hatte. Bei einem Spaziergang durch die steilen, von alten Steinhäusern und blühenden Sträuchern gesäumten Altstadtgassen blieb ich begeistert vor dem Palazzo d’Oro stehen – ich hatte nämlich ein Faible für schwelgerische, verheißungsvolle Namen. Hinter den vergoldeten Gesichtern im schmiedeeisernen, von scharfen Spitzen gekrönten Tor entdeckte ich auf der Terrasse eine goldblonde Frau und einen Mann mit einer eleganten Hakennase – ein hübsches Paar. Sie trugen weite weiße Kleidung und genossen ein ausgiebiges Mittagessen, wie es in Italien üblich ist. Ich stellte mir vor, wie es wäre, an ihrem Tisch zu sitzen, und dachte: Ich will euer Leben leben – ein neidischer Wunsch, von dem ich noch nicht wissen konnte, dass er meinen eigenen Untergang beschwor.

Ich hatte meine Launen immer mit meiner angeblichen Armut gerechtfertigt, die unweigerlich zu bestimmten Handlungen und Verhaltensweisen führe. In Wahrheit liebte ich das Risiko. Ich hätte mich schämen sollen, nicht, weil ich mich schlecht benommen hätte, sondern weil ich vieles für mich behielt und selten die Wahrheit sagte. Es machte mir Spaß, Geheimnisse zu hüten und Lügengeschichten zu erfinden. Zu meinen Lügen gehörte die Behauptung, ich sei arm.

Die Welt kennt mich und feiert mein Werk. Meine Gemälde, in denen mein gesamtes rastloses Leben festgehalten ist, sind wie gute Taten, sie kommen dem pharaonischen »Bekenntnis der Sündenlosigkeit« nahe – einer negativen Beichte: all die anstrengenden Reisen, die eigenen Entdeckungen, die immer wieder triumphale Heimkehr. Zu einer Zeit, als berühmte Maler zu Hause blieben, mit Farbe herumspritzten, mit dem Rechenschieber Proportionen bestimmten, Federn und Tonscherben auf Leinwände klebten, Streifen und Kreise malten oder gleich gigantische einfarbige Bilder, reiste ich in ferne Länder und porträtierte die Menschen, die ich dort antraf, in ihren ureigenen Landschaften – schlichte, freundliche Menschen, ausschließlich Eingeborene in den natürlichsten Posen. Ich musste für diese Bilder viel Kritik einstecken, besonders in der Presse, wo man mir die starke Linienführung vorhielt, die Klarheit der Figuren, die seitlichen, verschämten Blicke. Tatsächlich geht es darum, dass ich mit meiner Arbeit sehr gut verdient habe. Denn meine Förderer und Sammler sind immer wieder mit mir auf Reisen gegangen, ich habe sie – all meinen Kritikern zum Trotz – mit meinen Bildern in exotische Landschaften geführt; in den zahlreichen Serien von signierten Lithographien – die Bilder aus Indien, Bilder aus China, Bilder aus Afrika, die geschlossene Erzählungen sind, weit mehr als Sammlungen einzelner Drucke – haben sie mich begleitet.

Wenn man mir vorhält, meine Gemälde seien zu »eingängig«, sage ich immer, dass meine Stärke im Erzählen liege. Was ich aber noch nie jemandem gesagt habe, ist, dass die findigsten Erzähler diejenigen sind, die eine bestimmte Geschichte meiden – und zwar die einzige, die ihnen selbst gehört. Statt sie anzurühren, erzählen sie von anderen, aufregenderen Dingen. Die Quelle des phantastischen Erzählens ist oftmals dieses Geheimnis. Der Phantast verbirgt, um auf die Wahrheit zu deuten, er umspielt die eigentliche Geschichte und weicht ihr immer wieder aus. Manchmal ist es nicht das Abwegige, das verwirrt, sondern die unübersehbare Zahl der Möglichkeiten. Dies ist – wie gesagt – meine einzige Geschichte.

Für einen Reisenden, der ich immer gewesen bin, wäre es ein Leichtes gewesen, noch einmal nach Taormina zurückzukehren. Doch obwohl ich immer wieder in Sizilien war, habe ich es nie getan. Ich widerstand der Versuchung und wusste doch, dass der Zeitpunkt kommen würde, und zwar mit meinem eigenen sechzigsten Geburtstag. Kein Alter, dachte ich eigentlich, nur die anderen sahen es nicht so.

An meinem fünfzigsten Geburtstag hatte ich ein Selbstporträt angefertigt, das vom Publikum – dem wachsamen Gesicht und der feinen Andeutung eines ruhelosen Blicks zum Trotz – als sanftmütig gepriesen wurde. Zehn Jahre waren seither vergangen. Der Sechzigste eignete sich kaum als Anlass für ein solches Selbstporträt. Stattdessen drängte es mich, noch einmal auf Reisen zu gehen, und zwar in dem Geist von damals. Wenn ich unterwegs war, konnte ich ein anderer sein – in diesem Fall, im Monat meines Geburtstags, der junge Mann, der ich mit einundzwanzig gewesen war, als ich mich im heißen Sommer 1962 in Sizilien wiederfand und von einem Mädchen zurückgewiesen wurde, das ich sehr mochte, Fabiola, eine Principessa. »Das bedeutet hier gar nichts!«

Mir allerdings bedeutete der Titel durchaus etwas. Ich war ihr aus Falconara und Urbino – ich liebte diese Namen – bis Palermo gefolgt. Da sie aber Sizilianerin war, durfte sie nicht mit mir gesehen werden, es sei denn, wir wären – zumindest annähernd – verlobt. Ich musste sie zu meiner fidanzata machen, ich musste ihr sagen, dass ich sie liebte. Ansonsten sei sie eine Schlampe, sagte sie. Vielleicht ahnte sie, dass ich es nicht sehr ernst meinte. Ich war ein etwas frecher, viel zu junger Amerikaner (Fabiola war dreiundzwanzig), der das Italien von Fellini und Antonioni suchte und hungrig war nach neuen Erfahrungen. Ich erklärte ihr, ich sei Existenzialist – ein beliebtes Wort im Italien des Jahres 1962 –, es war die einfachste Möglichkeit, jegliche Verantwortung von sich zu weisen. Ich war beharrlich und voller Ungeduld, immer auf der Hut vor Menschen, die mir die Freiheit nehmen wollten, eine Eigenschaft, die mich zum Einzelgänger gemacht hatte. Fabiola hatte Romantisches im Sinn, sie verlangte Hingabe. Liebe mich, bettelten ihre Augen, liebe mich, und ich werde dir alles geben. Für mich aber war Liebe eine Niederlage, Liebe war Tod. Ich schwor, dass mir das Wort niemals über die Lippen kommen würde.

Und dann lebte ich mein Leben, vierzig weitere Jahre lang. Es waren die wichtigen Jahre, die Jahre der Familie, der großen Anstrengungen, der Liebe und der Anerkennung, und es fehlte nicht an Enttäuschungen und Verlusten, an Hinweisen, dass vor meinem näher rückenden Tod noch Schlimmeres zu erwarten war.

Ich war wieder in Sizilien, ein Sechzigjähriger, der noch einmal die alten Wege ging, der die guten Hotels mied und nach den Spuren seines früheren Selbst suchte. Palermo war viel amerikanischer als damals – und freizügiger. Frauen benutzten Handys, Männer trugen Jeans, und selbst die Nonnen in ihren unförmigen Ordenskleidern hatten etwas sehr Weltliches. Ich rief Fabiola an. Die einzige Nummer, die ich von ihr hatte, war ungültig, im Telefonbuch stand sie nicht. Ich streifte umher, suchte nach Vergangenem und entdeckte kaum etwas, das mit dem anspruchslosen Jungen, der einst so unbeschwert durch Sizilien gereist war, in Zusammenhang stand.

Ich nahm den Zug nach Messina, von dort den Express nach Catania. In Taormina-Giardini stieg ich aus, ging zu Fuß in die Oberstadt hinauf, wie ich es vor Jahren getan hatte. Ich nutzte die Gelegenheit, mein Gedächtnis zu prüfen. Ich fertigte in Gedanken kleine Skizzen an und redete leise mit mir selbst, wie es meine Angewohnheit ist, wenn ich einer Erinnerung nachspüre.

Hotels halten sich besser als Restaurants. Der Palazzo d’Oro an der Via Roma erlebte, obschon er von neueren und renovierten Häusern umgeben war, eine Art späte Blüte. Zufrieden stellte ich fest, dass es schön sein könnte, noch einmal dort abzusteigen, in den alten Erinnerungen zu schwelgen, mich ernsthaft dem Zeichnen zu widmen und meine Geschichte aufzuschreiben – wodurch der Aufenthalt eine besondere Bedeutung, sogar etwas Zeremonielles erhalten würde, ein Ritual des Gedenkens an all die Jahre, die seither vergangen waren.

Ich ging zum Pool, einem neuen Pool, und sah dort ein Mädchen mit kurzem, von der Sonne gebleichtem Schopf, das oben ohne ausgestreckt auf einer gestreiften Liege lag. Ihre Brüste waren klein und fest, sie war höchstens siebzehn Jahre alt. So lag sie da: mit geöffneten Schenkeln, die Hände hinter dem Kopf, eine aufblitzende Balthus-Phantasie, die endete, als sie ihr Knie umfasste und die Beine anzog. Sie wandte sich ab und zupfte wie ein elfisches, zwischen Unschuld und Verruchtheit schwankendes Wesen – oder ein gelangweilter Teenager – an ihrem goldenen Bikinihöschen. Der Anblick brachte mich beinahe um den Verstand. Ich starrte, sie hatte mich noch nicht entdeckt, ich konnte mich kaum losreißen von den kleinen Brüsten, den hellen Knospen, die ihr den Anschein von Unschuld verliehen.

Ein Hoteldiener kam, er trug ein langes Gewand und ein weißes Käppchen, der Araber, der Moro des Palazzo d’Oro also, führte mich schließlich an ihr vorbei.

Das sonnenbadende Mädchen griff nach seinem Glas und trank eine pinkfarbene Flüssigkeit. Ich bewunderte die pulsierende Bewegung ihrer Nackenmuskeln, die schlanke Kehle, die sich mit jedem Schluck neu füllte. Ich stellte mir vor, dass sie mich über den Rand des Glases hinweg beobachtete.

 

1962 war ich von der Via Fontana Vecchia zurückgekehrt, wo Lawrence gewohnt hatte und, so vermutete ich, sein wunderschön trauriges Gedicht, eine Selbstanklage, geschrieben hatte, und war an der Mauer des Palazzo stehen geblieben. Mir war der Name ins Auge gefallen, die vergoldeten Gesichter. Bald entdeckte ich auf der Terrasse ein Paar, das zu Mittag aß. Wie gern würde ich in diesem Hotel wohnen!, schwärmte ich, doch ein Zimmer in einer der schmutzigen Pensionen in der Unterstadt, zwischen Strand und Bahnschienen, war das Einzige, was ich mir leisten konnte. Ich war müde, die Hitze machte mir zu schaffen, denn ich war – zur heißesten Zeit des Jahres – dritter Klasse in einem sehr langsamen Zug gefahren.

Ich reiste damals mit einem einzigen Satz Wäsche zum Wechseln. Ich trug ein hell gestreiftes Jackett über einem T-Shirt, dazu eine Jeans. Meine Tasche war so klein, dass ich überhaupt nicht als Tourist zu erkennen war, ich sah eher wie ein Junge aus, der mit Büchern und Mappen zur Schule ging. Das leichte Gepäck machte es möglich, neue Orte zu entdecken und spontane Entscheidungen zu treffen: Bleibe ich hier oder ziehe ich weiter, vertrödele ich die Zeit am Strand, trampe ich zum nächsten Ort, oder schlafe ich im Nachtzug in der dritten Klasse, um Geld zu sparen? Meist begann ich erst nach Sonnenuntergang, mir Gedanken um eine Unterkunft zu machen, und es war noch Vormittag, als ich an jenem Tag Taormina erkundete. Wie schön es wäre, dachte ich, auf dem Briefpapier des Palazzo d’Oro eine Nachricht zu schreiben! Vielleicht an Fabiola, die Principessa. Der Briefkopf, den ich auf einer nahe der Terrasse aushängenden Tageskarte sah, war von zwei goldenen Mohrengesichtern und Palmen geschmückt – ein Hauch von Afrika hier in Sizilien.

Nun stand ich in meinem Zimmer, und ich sah vor meinem inneren Auge, wie mein jüngeres Selbst das Hotel betrat, wie es, um Gelassenheit bemüht, vor der gleißenden, gelb gekachelten Mauer die heiße Terrasse überquerte und Kaffee mit einem Glas Wasser bestellte.

Wo sich jetzt das halbnackte Mädchen auf der Liege räkelte, befand sich damals eine Markise, kaum jemand kam auf die Idee, in Sizilien ein Sonnenbad zu nehmen. Im Schatten der Markise, geschützt von der Mauer des Swimmingpools, saßen, vertieft ins Gespräch wie Liebende, der Mann und die Frau. Sie hatten die exakt gleichen Strohhüte auf, die Frau, ganz in Weiß gekleidet, trug hübsche Spitzenhandschuhe. Sie waren die einzigen Gäste.

Aus der Ferne – auf meinen Augen mag ein leichter Schleier gelegen haben wegen der schlaflosen Nacht – wirkte die goldblonde Frau jung und attraktiv, ich schätzte sie auf Mitte dreißig. Offenbar ein Liebespaar, dachte ich, der Mann schien aufmerksamer als ein Ehemann. Gerade bat er sie um etwas, inständig, er bettelte förmlich, hilflos und ausgeliefert wie Fabiola. Das Mittagessen auf ihrem Tisch sah köstlich aus, es bestand, wie üblich in der Hitze des italienischen Sommers, aus verschiedenen Salaten und Antipasti. Es waren gelbe Tomaten darunter, irgendein roter Salat, hauchdünn geschnittenes Fleisch, Hummerschwänze, Garnelen, Oliven und eingelegte Gürkchen, Artischocken und Palmherzen, frische, in hohen Gläsern servierte Säfte. Es war ein perfekter Tag, in der Ferne schimmerte das blaue Meer, der Ätna stieß in schöner Regelmäßigkeit kleine graue Rauchwolken aus, die dicken, gedrungenen Mauern des Palazzo waren unerschütterlich. Unter der großen grünen Markise hatte das Paar mit den weißen Hüten etwas Magisches.

Ich will euer Leben leben, dachte ich wieder, es war Neid, beißend, scharf und neu, den ich am Gaumen schmeckte. Wussten diese Leute denn, wie gut sie es hatten? Wäre es nicht wunderbar, wenn ich an ihrer Stelle säße, ich selbst, um an diesem schönen sizilianischen Mittag mein Essen einzunehmen, ohne jede Eile, ohne weitere Pläne? Ich sehnte mich nach einem Zimmer in diesem Hotel mit dem prachtvollen Namen. Kühn vor Neugier stand ich auf und trat, während ich vielleicht einen Teller skizzierte, eine Mauer mit rankenden Blüten oder den blauen Streifen des Meers über den Wipfeln der Pappeln und Zypressen, näher an den Tisch des Paars. Wenn ich zeichnete, wurde ich oft von Fremden gebeten, ihnen meine Skizzen zu zeigen.

Doch die beiden sprachen mich nicht an, ich musste aus der Nähe erkennen, dass ich mich getäuscht hatte. Nichts war, wie ich es gesehen hatte, außer dem Meer.

Das gleißende Licht hatte der Frau zum Vorteil gereicht, hatte ihr Gesicht geglättet, ihr einen klareren Ausdruck verliehen. An den Lippen erkannte ich, dass sie älter war, als ich gedacht hatte. Das blonde Haar war gefärbt, ihre Haut war weiß und straff wie die eines Fisches. Ihr Körper war dürr und staksig wie der eines hungernden Mädchens. Aber der Strohhut, die Sonnenbrille, das strohblonde Haar und die Spitzenhandschuhe machten mich neugierig. Der Mann kritzelte etwas auf einen Block, sie hatten die Speisen, die vielleicht überhaupt nicht essbar waren, nicht angerührt.

Als ich gerade an meinen Tisch zurückkehren wollte, sprach mich der Mann doch noch an und winkte mich zu sich. Sein gekrümmter Finger, die Melodie seiner Worte verrieten, dass er kein Italiener war, sondern ein Ausländer.

»Wir möchten bitte Ihre Skizzen sehen«, sagte er.

Mein Plan war also aufgegangen. Trotzdem zögerte ich.

»Sie müssen Sie uns wohl zeigen«, sagte er mit dem Selbstbewusstsein, das ich für ein Kennzeichen reicher Leute hielt. »Sonst ist hier nämlich niemand.«

Ich willigte ein und erkannte im selben Augenblick, dass meinem anfänglichen Wunsch, ihr Leben zu leben, eine Täuschung zugrunde lag. Ich hatte die beiden für ein Liebespaar gehalten, das Mittagessen für ein romantisches Tête-à-tête. Ich hätte falscher nicht liegen können, wie ich nun feststellte. Da ich der Täuschung aber einmal aufgesessen war, da ich ihren Platz einnehmen und besitzen wollte, was sie besaßen, würde ich für meinen Neid am Ende bezahlen müssen. Trotzdem drängte es mich, den nächsten Schritt zu tun. Ich hatte schließlich keine anderen Pläne.

»Sind Sie gerade erst in Taormina angekommen?«

»Ich bin schon eine Weile hier«, antwortete ich ausweichend. »Ich bin hier, um ein wenig zu zeichnen und einige literarische Nachforschungen anzustellen. D.H. Lawrence hat in den Zwanzigern in der Via Fontana Vecchia gewohnt.«

Zehn Minuten hatte ich auf der Suche nach einem Motiv, einem Trog vielleicht, vor Lawrence’ Haus gestanden. Ich hielt mich bedeckt, ich wollte ihnen nicht die ganze Wahrheit erzählen: die harten Sitze in der dritten Klasse, der steile, beschwerliche Weg hinauf in die Stadt, der widerliche Gestank der italienischen Stop-Zigaretten, es war einfach zu schrecklich.

»Er war mit einer Deutschen verheiratet«, sagte die Frau, als müsste sie mich korrigieren. »Auch Thomas Mann ist hier gewesen.«

Ich ging also davon aus, dass sie selbst Deutsche war, sie sprach mit starkem Akzent. Die weitere Konversation übernahm der Mann mit der Hakennase, dessen schmales Gesicht trotz der dunklen Haut etwas sehr Edles hatte. Er machte mir Komplimente für die Zeichnungen und stellte einige Fragen, die ich ohne Rücksicht auf die Wahrheit beantwortete, um mich ins rechte Licht zu rücken.

Ihr Alter hatte ich völlig falsch eingeschätzt. Ein Einundzwanzigjähriger kennt sich mit der Zeit nicht aus, er versteht das Alter nicht, er weiß es nicht zuzuordnen: achtunddreißig ist alt, mit vierzig ist man unrettbar verloren, mit fünfzig ist man ein Greis, und wer noch älter wird, ist unsichtbar. Man kann das anziehend finden oder abstoßend, andere Möglichkeiten gibt es nicht. Abstoßend war die Deutsche keinesfalls, allerdings hatten ihr die Bemühungen, sich jünger zu machen, als sie war, einen puppenartigen und nachlässigen Ausdruck verliehen.

Sie waren aber offensichtlich sehr wohlhabend. Die Reichen waren damals für mich so etwas wie das mythische El Dorado – eine Rasse goldener Giganten, in jeder Hinsicht mächtig, geschützt und überlegen, sogar körperlich. Sie konnten kaufen, was sie wollten, sie traten selbstbewusst auf, sprachen eine eigene Sprache und sahen, da sie hoch oben in ihren Palästen wohnten, nur ihresgleichen. Es tat weh, das Paar auf diese Weise zu betrachten. Es war besser, nicht daran zu denken, wie begrenzt meine eigenen Möglichkeiten waren. Und wie ich, wollte ich es im Leben zu etwas bringen, in diesen Palast eindringen, ihn zu meiner eigenen Wohnung machen müsste – nicht, indem ich ihn belagerte und seine Befestigungen niederriss, sondern indem ich mich einschlich, hineinschlüpfte durch einen geheimen Gang, eine Hintertür, ein Mauseloch.

Die Frau lächelte selbstvergessen und zeigte mir ihr Profil, der Finger ihres Spitzenhandschuhs stützte kaum merklich ihr Kinn.

»Wir haben gerade über die Oper gesprochen, wir finden es schade, dass es im Teatro Greco keine Vorstellungen gibt«, sagte der Mann.

Ich war dankbar für dieses Thema. Ich war zwar materiell mittellos, hatte aber viel gelesen und sprach sogar Italienisch, und da ich mir fest vorgenommen hatte, alle größeren Bildungslücken selbst zu schließen, hatte ich mich so umfassend wie möglich auch mit der Oper beschäftigt.

»Ich habe in Urbino eine neue Inszenierung von Otello gesehen«, sagte ich.

»Die einfachen Menschen lieben diesen Herrn Grün«, sagte die Frau.

»Nicht Verdis Otello«, sagte ich.

Was sie verwunderte, wie ich erfreut feststellte. Ich wurde mutiger.

»Rossinis Otello meine ich, sie haben die Fassung mit dem Happy End genommen.«

»Ich bevorzuge die französische Oper«, sagte der Mann.

»Ich wünschte, Bizet wäre mit dem Salammbô besser zurechtgekommen.«

»Es gibt keinen Salammbô«, sagte die Frau, und der streitbare Ton dieser trotzigen Haarspalterei hinterließ Spuren in ihrem Gesicht.

»Er hat ihn nicht beendet. Flaubert hat es nicht zugelassen.«

Stimmte es, was ich da behauptete? Es klang immerhin ziemlich klug, sie schienen es zu glauben. Statt Wagner oder Verdi, mit denen sie sich vermutlich gut auskannten, erwähnte ich seltenere Werke. Vieles davon kannte ich gar nicht, und das wenigste hatte ich auf der Bühne gesehen. Da ich aber die bekanntesten Werke mied, machte ich es ihnen unmöglich, meine Ausführungen zu hinterfragen. Ich war jung, aber fintenreich.

»Ich bin jedes Jahr in Glyndebourne.«

Nicht wir, sondern ich, womit sie mir zu verstehen gab, dass der Mann weder ihr Gatte noch ihr Liebhaber war. Der Mann war also ein Lakai, vielleicht ein Freund.

»In meiner Heimatstadt haben wir eine sehr gute Oper. Boston. Und auch in Lenox im Tanglewood.«

»Davon habe ich gehört«, sagte der Mann.

So gelang es mir, den Eindruck zu festigen, dass sie es mit einem klugen und gebildeten Menschen zu tun hatten.

»Sie haben recht – es ist sehr schade, dass sie das Teatro Greco nicht für Opernaufführungen nutzen.«

»Nun, das tun sie aber«, sagte der Mann.

Aus Furcht, meine eigene Unwissenheit verraten zu haben, riskierte ich eine weitere Verallgemeinerung und sagte: »Diesen Sommer, meine ich.« Der Mann nickte, ich bewegte mich auf einem schmalen Grat.

»Die Sitze sind so hart«, sagte die Frau. »Ich weigere mich, auf Marmor zu sitzen. Ich erwarte einen weichen Sessel auf einem Balkon!«

Die einzig angemessene Reaktion wäre gewesen, sie für eine verwöhnte Zicke zu halten, aber ihre Direktheit und Kompromisslosigkeit beeindruckten mich. Was sollte ich mit griechischen Ruinen anfangen, was soll ich mit alten Steinbänken in Siracusa und Taormina …?

Wir plauderten noch ein wenig über die Hitze, das gefährlich grelle Mittagslicht, die Wildblumen, die Leere, die ausbleibenden Touristen.

»Deshalb komme ich ja«, sagte die Frau.

Schon wieder dieses »ich«. Sie reiste, wohin sie wollte, den Mann nahm sie zum Zeitvertreib mit.

»Haben Sie schon gegessen?«, fragte er und zeigte auf die Teller. »Bedienen Sie sich doch, bitte.«

»Nein, danke«, sagte ich, obwohl ich halb verhungert war. Denn ich war stolz, und ich spürte, dass höfliche Zurückhaltung gut bei ihnen ankommen würde. Vielleicht würde ihre Achtung vor mir steigen.

»Es stört Sie hoffentlich nicht«, sagte der Mann und nahm eine winzige Menge Salat. Die Frau, die noch immer ihre Handschuhe trug, spießte mit einem silbernen Instrument Oliven von einer Antipasti-Platte und knabberte daran.

»Sehr erfreut, dass wir uns ein wenig unterhalten konnten«, sagte ich und empfahl mich. Ich kehrte an meinen Tisch und zur leeren Kaffeetasse zurück, schlug mein Skizzenheft auf und machte mich daran, eine meiner Zeichnungen zu schattieren.