DENEN, DIE IN UND FÜR NES AMMIM
LEBEN UND ARBEITEN
In Nes Ammim materialisiert sich, was wir theologisch erarbeitet haben und vertreten: Das Verhältnis zwischen Christentum und Judentum bedarf der Erneuerung. Dieser Prozess steht nach beinahe zweitausend Jahren Entfremdung, Überlegenheitsansprüchen und auch Feindschaft immer noch am Anfang. Vor allem aber sind wir in der Erneuerung unseres Verhältnisses zum Judentum Lernende und nicht Lehrende. Rainer Stuhlmann redet nicht über solche notwendigen Erneuerungen, er lebt vielmehr in ihnen. Er lebt diese erneuerte Haltung und lässt auch uns daran teilhaben durch die Begegnungen und Erlebnisse, von denen er erzählt.
Eine solche Haltung des Lernens, die wir als Kirche mit Blick auf das Judentum immer neu einzuüben haben, überträgt sich auch auf andere Fragen: Im Streit um das „Heilige Land“, im Nahostkonflikt sitzen wir mit Rainer Stuhlmann oft „zwischen den Stühlen“. Dabei gibt dieses Buch keine einfachen Antworten, sondern lässt uns vielmehr teilhaben an den Fragen der Menschen vor Ort. Es gibt keine Reduzierung auf Schwarz-Weiß-Bilder, auch wenn viele aus der Distanz gerne durch klare und eindeutige Parteinahmen Stellung beziehen möchten. Das Buch mutet uns Bilder mit Farbnuancen und Schattierungen zu. Es bezieht uns als Fragende und Antworten Suchende ein. Und das ist, wie ich finde, die angemessene Haltung!
„Als sie nun Mose aussandte, das Land Kanaan zu erkunden, sprach er zu ihnen: Zieht da hinauf ins Südland und geht auf das Gebirge und seht euch das Land an, wie es ist, und das Volk, das darin wohnt [...]. Seid mutig und bringt mit von den Früchten des Landes!“ (4. Mose 13,17ff) – Rainer Stuhlmann nimmt uns mit in seine alltäglichen Erfahrungen, teilt mit uns Früchte seiner aufmerksamen Beobachtungen. Wie ein Kundschafter erzählt er und gewährt Einblicke in Begegnungen mit jüdischen Israeli, palästinensischen Israeli, christlichen Palästinensern, Muslimen, Christinnen und Christen aus Europa, die nach Israel und Palästina kommen.
Rainer Stuhlmann wünsche ich Gottes Segen für seine wichtige Arbeit und seinen weiteren Weg. Dem Buch möge es gelingen, festgefahrene Bilder zu erneuern und Perspektiven zu eröffnen – als Bereicherung für seine möglichst vielen Leserinnen und Leser.
Dr. h.c. Nikolaus Schneider,
Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland
Ein großes Geschenk war es für mich nach fast vierzig Jahren als Pastor im Rheinland, für einige Jahre meines Ruhestandes im „Land der Bibel“ leben zu können. Seit August 2011 plane und gestalte ich für die Freiwilligen in dem internationalen ökumenischen Dorf Nes Ammim die Studienarbeit. Dabei komme ich viel herum in Israel und Palästina. Je mehr ich sah und hörte, desto mehr wich die Illusion, in diesem verwirrenden Land den Überblick oder gar den Durchblick zu bekommen. Als Kinder spielten wir mit Glaskästchen, in denen farbige Scherben eingeschlossen waren, die ein buntes Bild ergaben. Mit jedem Klick an das Kästchen entstand ein neues Bild. So fühlte ich mich in meiner neuen Heimat. Beinahe jede Woche zerbrach ein Bild, das ich meinte gewonnen zu haben, und machte einer neuen Erfahrung Platz. Meine Irritationen feuerten mich an, weiter zu suchen und zu fragen. Allmählich entstand – kein Film, sondern eine aufregende Kette spannungsvoller Momentaufnahmen.
Nach einigen Monaten hatte ich das Bedürfnis, für meine Verwandten, meine Freundinnen und Freunde aufzuschreiben, was ich erlebt habe. Ich war überrascht, welch großes Interesse meine Geschichten fanden. Mehr und mehr Menschen baten mich, meinen Rundbrief zu bekommen. Ich lernte, ein Blog im Internet und eine damit verlinkte Facebook-Seite zu errichten, auf denen ich meine Geschichten und Überlegungen publizierte. Seit ich in Israel lebe, ergaben sich die Themen für die verschiedenen Radio-Sendungen bei DeutschlandRadio Kultur und beim WDR, an denen ich seit Jahren mitwirke, wie von selbst aus dem, was ich täglich erlebte. Schließlich erreichte mich eine Anfrage des Neukirchener Verlags, daraus ein Buch zu machen. Dafür habe ich die Texte aus meinem Blog gekürzt und überarbeitet. Die chronologische ist zu einer thematischen Ordnung geworden. Das mit dem Wort „zwischen“ angedeutete vielfältige Spannungsfeld ist jetzt systematisch geordnet.
„Zwischen den Stühlen“ fühlte ich mich von Anfang an in Israel und Palästina. Das heißt nicht, dass ich zu beiden Seiten gleichen Abstand halte. Ich bin nicht neutral. Das kann ich nicht sein, denn ich bin als Europäer, als Deutscher und als Christ längst Teil der Konflikte. Ich bin ein Freund von Jüdinnen und Juden und von Palästinenserinnen und Palästinensern, ein Freund Israels und Palästinas. Ich bemühe mich um eine „doppelte Solidarität“. Und darum stehe ich in bestimmten Situationen des Konfliktes an der Seite von Palästinensern zum Ärger der unbeweglichen „Freunde Israels“. Und in anderen Situationen ergreife ich die Partei von Juden zum Ärger der unbeweglichen „Freunde Palästinas“. Ich bin hin und her gerissen und versuche, die Freundschaft zu den einen nicht zur Feindschaft gegen die anderen werden zu lassen. Das ist ziemlich unbequem, aber für mich die einzig mögliche Haltung, in diesem Lande als Christ und Deutscher zu leben.
Die Bibel war es einst, die mich 1962 als Siebzehnjährigen das erste Mal ins „Land der Bibel“ brachte. Die Bibel ist es heute, die sich mir durch meine Erfahrungen hier neu aufschließt und die mir hilft, dieses Land und seine beiden Völker besser zu verstehen. Auch davon lassen meine Geschichten etwas erkennen - und davon, dass ich die Bibel anders lese als viele andere Christinnen und Christen in diesem Land - auch aus Deutschland.
Nicht die Formulierung, wohl aber die Sichtweise „Zwischen den Stühlen“ verdanke ich der jahrzehntelangen Freundschaft mit Katja und Dr. Tobias Kriener, die früher und öfter als ich in diesem Land gelebt haben. Oberkirchenrätin Barbara Rudolph und Landespfarrer Dr. Volker Haarmann haben mich ermutigt, mich im Alter noch einmal auf dieses Abenteuer einzulassen und mich bei meiner nicht immer leichten Aufgabe in Nes Ammim in jeder Weise unermüdlich unterstützt. Ihnen gebührt mein Dank.
Die Namen derer, die keine Personen des Öffentlichen Lebens sind, habe ich anonymisiert. Gewidmet ist das Buch denen, die in und für Nes Ammim leben und arbeiten.
Nes Ammim, im August 2014
Rainer Stuhlmann