Informationen zum Buch

Die Frau des Offiziers

Fünfzig Jahre lang hat Trudys Mutter kein Wort über ihre Vergangenheit verloren. Doch es gibt ein verstörendes Souvenir, tief vergraben in der Wäscheschublade: ein Familienporträt, auf dem sie und ihre kleine Tochter gemeinsam mit einem Nazi-Offizier zu sehen sind, dem Obersturmführer von Buchenwald.

Jenna Blums preisgekrönter Roman war ein Bestseller in zahlreichen Ländern. Ihre universelle Geschichte von Schuld, Liebe und Vergebung wird für die große Leinwand verfilmt.

Weimar, 1940. Ledig, schwanger und von ihrem Vater vestoßen, kommt die 19-jährige Anna bei der Bäckerin Mathilde unter. Mathilde erhält Mehl, Zucker und Butter von den Nazis, um das Offizierskasino von Buchenwald mit Gebäck zu beliefern. Gleichzeitig schmuggeln die beiden Frauen Brot ins KZ und geheime Botschaften hinaus. Als Mathilde zwei Jahre später auf frischer Tat ertappt wird und der Obersturmführer Heinz von Steuern in der Bäckerei auftaucht, sieht Anna nur einen vezweifelten Ausweg, um sich und ihre kleine Tochter Trudy zu retten.

Minneapolis, 1996. Ein paar diffuse Erinnerungsschnipsel, ein verstecktes Familienfoto und ein unauslöschliches Gefühl der Schuld sind alles, was Trudy mit ihrem Geburtsort Weimar verbindet. Erschüttert vom Tod ihres Stiefvaters und erdrückt von der Last einer Vergangenheit, die ihre Mutter hinter eine Mauer aus Schweigen verbannt hat, beginnt die Geschichtsprofessorin endlich mit Recherchen zum Alltag nichtjüdischer deutscher Frauen im Dritten Reich. Nach und nach legt sie dabei die erschütternde Geschichte ihrer Mutter frei, die so ganz anders ist, als sie es erwartet hat.

Jenna Blums einfühlsamer und sorgfältig recherchierter Roman, der sich zwei Jahre auf der New York Times-Bestenliste hielt, erzählt von einer verbotenen Liebe, vom zwiespältigen Wesen der Schuld, vom Recht auf Vergessen und von einer außergewöhnlichen Mutter-Tochter-Beziehung.

»Die packende Geschichte zweier Frauen, die mit der Last und Verantwortung der Erinnerung ringen.« The Boston Globe

»Ein eindringlicher Roman, der das Herz berührt und das Gewissen aufruft.« Independent on Sunday

Jenna Blum

Die uns lieben

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Yasemin Dinçer

logo_digital.jpg

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Prolog: Trudy und Anna, 1993

Anna und Max (Weimar 1939–1940)

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Trudy (November 1996)

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Anna und Mathilde (Weimar 1940–1942)

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Trudy (Dezember 1996)

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Anna und der Obersturmführer (Weimar 1942)

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Trudy (Januar 1997)

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Anna und der Obersturmführer (Berchtesgaden 1943)

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Trudy (Februar 1997)

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Anna und der Obersturmführer (Weimar 1943–1945)

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Trudy (März 1997)

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Anna und Jack (Weimar 1945)

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Trudy (April 1997)

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Anna und Jack (New Heidelberg 1945)

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Trudy (Mai 1997)

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Danksagung

Die uns lieben: Vorgeschichte

Anmerkungen

Über Jenna Blum

Impressum

Leseprobe aus: Delphine Coulin – Samba

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Dieses Buch ist meiner Mutter Frances Joerg Blum gewidmet, die mich nach Deutschland mitgenommen und mir den Schlüssel gegeben hat: Ich liebe Dich, meine Mutti.

Außerdem habe ich es in liebevollem Gedenken an meinen Dad, Robert P. Blum, geschrieben, der gesagt hätte: Mazel tov.

Ich war freiwillig zur aktiven SS gegangen, der schwarze Rock war mir zu lieb geworden, als daß ich ihn so wieder ausziehen wollte.

Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz

PROLOG
Trudy und Anna, 1993

Die Beerdigung ist gut besucht, und die lutherische Kirche von New Heidelberg ist bis auf die letzte Reihe gefüllt mit Farmern und deren Familien, die gekommen sind, um von einem der ihren Abschied zu nehmen. Da alle Plätze besetzt sind, stehen einige von ihnen an die Wand gelehnt oder drängen sich im Vorraum der Kirche. Der Anblick der Männer in ihren dunklen Anzügen ist auf komische Weise ungewohnt, für den ganz normalen Gottesdienst putzen sie sich nie so fein heraus. Die Frauen dagegen tragen dasselbe wie jeden Sonntag, egal bei welchem Wetter: eine Kombination aus Rock und Pullover mit Strumpfhosen und Pumps. Die ausgebeulten Parkas, die nicht zum Rest ihrer Kleidung passen und ihre bevorstehende Rückkehr zu den praktischen Dingen des Lebens ankündigen, stellen ihr einziges Zugeständnis an die Kälte dar.

Und kalt ist es. Trudy Swenson denkt, dass der Dezember in Minnesota ein schlechter Zeitpunkt ist, um einen geliebten Menschen begraben zu müssen. Tatsächlich ist es sogar unmöglich. Der Boden ist einen Meter tief gefroren, und ihr Vater wird im Kühlraum der Leichenhalle des Countys untergebracht werden, bis die Erde aufgetaut genug ist, um ihn in sich aufzunehmen. Trudy versucht, nicht daran zu denken, wie Jack nach mehreren Monaten der Lagerung aussehen wird. Stattdessen bemüht sie sich, ihre Aufmerksamkeit auf die Grabrede zu richten. Doch der Verlust muss ihre Wahrnehmung durcheinandergebracht haben, da ihre Gedanken stur ihrer eigenen Wege gehen. Sie kreisen über ihr im Kirchenschiff und liefern ihr aus der Vogelperspektive ein Bild der Kirche und der Menschen darin: Trudy selbst, kerzengerade neben ihrer Mutter Anna in der ersten Reihe sitzend; der Pfarrer, wie er seine Rede auf einen Mann herunterleiert, der nach seiner Beschreibung jeder der Anwesenden sein könnte; der Verstorbene in seinem Sarg; der Rest der Stadt, der hinter Trudy sitzt und ihr auf den Hinterkopf starrt. Trudy hat das Gefühl, fürchterlich aus der Menge herauszustechen, und auch wenn sie ihrem Vater gegenüber nicht respektlos sein möchte, betet sie ausschließlich darum, dass der Gottesdienst bald vorüber sein möge.

Dann ist es so weit, und die Gemeinde richtet sich polternd auf und bleibt erwartungsvoll stehen. Trudy wird klar, dass alle darauf warten, dass sie und Anna die Kirche als Erste verlassen, wie es sich gehört. Sie hält kurz inne, um Jack ein paar letzte Abschiedsworte zuzumurmeln, dann ergreift sie Annas Ellbogen, um ihr aus der Kirchenbank zu helfen. Anna gestattet Trudy, sie an den Reihen teilnahmsloser Gesichter entlangzuführen, doch sobald sie draußen sind, verschränkt sie die Arme und geht allein weiter. Mit winzigen, vorsichtigen Schritten bewegen sich die beiden Frauen über das Eis auf Trudys Wagen zu.

Trudy schaltet die Zündung ein und wartet zitternd darauf, dass der Motor vorglüht. Das Innere des Civics wird keine angenehme Temperatur erreichen, bevor sie an ihrem Ziel angelangt sind, dem Farmhaus sechs Meilen nördlich von hier. Die arktische Luft schneidet in die Lunge wie Glasscherben, und es schüttelt Trudy bis auf die Knochen, die in der Kälte zu zerspringen drohen.

Nun, das war doch ein schöner Gottesdienst, sagt sie zu Anna.

Anna blickt durch das Fenster auf der Beifahrerseite gen Horizont. Die lutherische Kirche ist auf New Heidelbergs höchster Stelle erbaut worden, je näher bei Gott, desto besser. Von diesem Aussichtspunkt aus wirkt die Landschaft im Sommer wie ein verträumtes Schachbrett, und man hat das Gefühl, man könnte einfach Anlauf nehmen, die Arme ausbreiten und darüber hinwegfliegen. Nun jedoch ist sie lediglich ein verdrießliches, ununterbrochenes Weiß.

Trudy probiert es noch einmal.

Kurz und schlicht, sagt sie. Dad hätte es gefallen, meinst du nicht?

Langsam wendet Anna den Blick ihrer blassen Augen zuerst nach vorn auf die Windschutzscheibe und dann zu ihrer Tochter. Sie starrt Trudy an, als wüsste sie nicht, wer sie ist.

Wir müssen nach Hause, erwidert sie. Ich muss das Essen vorbereiten. Die Leute werden früh genug da sein.

Ihre Mutter hat recht, überall um sie herum steigen die New Heidelberger bereits in ihre Lastwagen und Minivans. Nach einer kurzen respektvollen Pause, um den Angehörigen Zeit zu geben, sich das Gesicht aufzufrischen, werden die Stadtbewohner im Farmhaus einfallen und ihre Aufläufe und Beileidsbekundungen überbringen. Trudy legt den Gang ein, beschleunigt aus dem Parkplatz heraus und bemerkt dabei, wie Annas Hände und Füße aufgrund der ungewohnten Geschwindigkeit kurz hochschnellen. Obwohl Anna seit fast fünfzig Jahren in dieser abgelegenen ländlichen Gegend lebt, wo es den Leuten nichts ausmacht, eine halbe Stunde zu fahren, um Lebensmittel einzukaufen, hat sie nie Autofahren gelernt. Sie richtet den Blick erneut aus ihrem Fenster und beobachtet die vorbeiziehenden Felder.

Für Trudy, die New Heidelberg vor fünfunddreißig Jahren, direkt nach ihrem Highschool-Abschluss, in Richtung der Twin Cities Minneapolis-Saint Paul verlassen hat, ist diese Landschaft der Inbegriff der Monotonie, so trostlos und unwirtlich wie die Steppen Sibiriens. Schnee und Schlamm, grauer Himmel, Reihe um Reihe Stacheldrahtzäune entlang der zweispurigen Fahrbahn. Silos und Wohnwagen. Nicht einmal Kühe sind zu sehen. Es ist noch früh, erst drei Uhr nachmittags, doch über diesen Teil des Landes bricht die Nacht rasch herein. In einer Stunde wird es bereits vollkommen dunkel sein. Dieser Gedanke und das Wissen darum, wie sie die nächste Zeit verbringen wird, lösen in Trudy den sehnlichen Wunsch aus, sich wieder in ihrer eigenen Küche zu befinden, in ihrem Arbeitszimmer, in ihrem Seminarraum voller desillusionierter Studenten, überall, nur nicht hier. Sie beschließt spontan, früher als geplant nach Minneapolis zurückzukehren, vielleicht schon am nächsten Morgen. Denn Trudy hat es als eine der Merkwürdigkeiten des Todes erkannt, dass man in seiner Folge genauso weiter machen muss wie zuvor. Es erscheint herzlos und falsch, doch nun, da die Trauerrituale vollzogen sind, besteht Trudys einzige noch verbliebene Aufgabe darin, zu versuchen, die Ungeheuerlichkeit dieser plötzlichen Veränderung zu begreifen. Und das kann sie genauso gut in der Behaglichkeit ihres eigenen Zuhauses tun, statt schweigend mit Anna zusammenzusitzen.

Zunächst muss allerdings der Leichenschmaus durchgestanden werden, also biegt Trudy nun in die Auffahrt zum Farmhaus ein. Als sie durch den Windschutz aus Kiefern fahren, durchbohren einzelne Sonnenstrahlen die Wolken, verwandeln das öde Weiß der Felder in glitzernde Gischt und heben die Nebengebäude auf, wie es Trudy scheint, schamlos dramatische, sakrale Weise hervor. Sie parkt den Wagen und hilft Anna heraus, wandert jedoch noch eine Weile im Vorgarten umher, nachdem Anna ins Haus gegangen ist. Hier soll Jack den tödlichen Herzinfarkt erlitten haben. Der Rechtsmediziner hat Trudy versichert, dass Jack tot war, noch bevor er auf dem Boden aufschlug. Und doch fragt sie sich: Ist Jack stehen geblieben, verblüfft über den Schmerz, der sich durch seinen linken Arm und seine Brust zog? Hatte er noch genügend Zeit, um zu begreifen, was mit ihm geschah? Trudy hofft es nicht. Sie wäre erleichtert, wenn sie es sicher wüsste, doch Anna, die einzige Zeugin, äußert sich wie üblich nicht.

Trudy verbringt eine weitere Minute damit, auf den festgestampften Schnee zu starren und zu versuchen, darunter den Weg von der Scheune zur Veranda auszumachen, den Jack so regelmäßig gegangen ist, dass seine Stiefel Furchen im Gras hinterlassen haben. Doch sie kann nichts erkennen, und die Sonne verschwindet hinter trüben Wolken, also seufzt Trudy schließlich und erklimmt die Treppenstufen, die ins Haus ihrer Mutter führen.

Denn eigentlich war es immer schon Annas Haus gewesen. Jack und Trudy hätten darin genauso gut Untermieter sein können, deren unordentliche, doch unvermeidbare Anwesenheit Anna geduldig ertrug. Immerhin war Anna diejenige, die den Boden scheuerte, die Vorhänge wusch, die Fenster mit Zeitungspapier und Essig polierte, die Oberkante des Türrahmens mit einem speziellen Aufsatz absaugte. Anna war es, die stets gegen die Feinde einer jeden Farmersfrau ankämpfte, gegen Erde und Exkremente, Häcksel und Blut. Letztendlich ein aussichtsloser Kampf, besagt doch ein allgemein anerkannter Grundsatz des landwirtschaftlichen Lebens, dass alles, was sich draußen befindet, früher oder später auch hereinkommen wird. Anna ist es dennoch unter großen und hartnäckigen Anstrengungen gelungen, ein gewisses Maß an teutonischer Reinlichkeit durchzusetzen.

Nachdem sie ihren Mantel aufgehängt hat, tritt Trudy zu ihrer Mutter in die Küche. Die beiden Frauen arbeiten in stiller, konzentrierter Eile und befördern das Essen, das Anna in den letzten achtundvierzig Stunden zubereitet hat, ins Speisezimmer. Dieses ist ein düsterer, höhlenartiger Raum, auf den Anna unmäßig stolz ist, mit dunkler Wandtäfelung, Schwertlilientapete und einer hohen Decke, die in der Dunkelheit zu schweben scheint. Der Spiegel über dem Büfett schimmert milchig, schwere Vorhänge filtern das spärliche Tageslicht. Trudy kann sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal in diesem Zimmer gewesen ist. Schiebetüren schirmen es vom Rest des Hauses ab, schützen die kostbaren Eichenmöbel vor Spott und Geißel des alltäglichen Lebens. Es ist ausschließlich für Besuch vorgesehen, was bedeutet, dass es in den letzten paar Jahren überhaupt nicht genutzt wurde.

Allerdings ist es der perfekte Rahmen für den aktuellen Anlass, der das Äußerste an Förmlichkeit verlangt, und zu diesem Zweck ist Anna darin fleißig zugange gewesen. Auf dem Teppich zeigen sich Streifen vom heftigen Bürsten, das Sideboard und der Tisch sind vom Zitronenöl spiegelglatt. Bald sind ihre glänzenden Oberflächen jedoch unter Untersetzern und Pyrex-Schmortöpfen verborgen, in denen sich nicht etwa die Sauerbraten und Kartoffeln aus Annas Heimatland befinden, sondern die Gerichte, die sie hier zuzubereiten gelernt hat: Nudelauflauf, Obstsalat mit einem schaumigen Hügel Cool-Whip-Diätsahne darauf, ein Ring aus Götterspeise mit Früchten. Eine Übung im Überfluss, da die Nachbarn jeden Augenblick mit genau denselben Gerichten vor der Tür stehen werden. Dennoch verlangt das Protokoll, dass Anna sie bewirtet.

Trudy stellt einen Weidenkorb mit Brötchen auf den Tisch und dreht sich zu ihrer Mutter um.

Hast du Kaffee gekocht?, fragt sie und richtet damit seit Betreten des Hauses zum ersten Mal ein Wort an Anna.

Anna winkt unkonzentriert ab.

Das mache ich gleich, erwidert sie. Sieh du noch einmal nach, dass ich auch nichts vergessen habe.

Jawohl, denkt Trudy.

Sie streift in einem vertrauten Kreis vom Wohnzimmer in die Küche und wieder zurück, so wie sie es schon als Kind tat, als sie Anna hierhin und dorthin folgte und ihr Fragen stellte, auf die Anna keine Antworten gab. Selbstverständlich ist alles in perfekter Ordnung. Als sie oben nachsieht, ob im Badezimmer frische Handtücher hängen, bemerkt Trudy, dass Jacks Rasierzeug fehlt. An seiner Stelle stehen Annas Parfümflakons, exakt einen Zentimeter vom Rand des Glasregals entfernt aufgereiht. Als Nächstes wirft sie einen Blick ins Schlafzimmer ihrer Eltern: Das Bett ist ordentlich gemacht, doch der Fußboden ist mit beschrifteten Mülltüten bedeckt. Jacks Kleidungsstücke, zur Spende an die Kirche vorbereitet. Trudy runzelt die Stirn und reibt sich die Arme. Sie kehrt zurück ins Wohnzimmer, nimmt ihren Mantel aus dem Wandschrank und flüchtet sich auf die Veranda, wo sie sich zitternd zusammenkauert.

Sie richtet ihren Blick auf die Straße. Eine schwere blaue Abenddämmerung hat sich über das Land gelegt und drückt den Himmel zu Boden. Mittlerweile sollte sich längst eine triste Prozession aus Scheinwerfern die von hohen schwarzen Kiefern gesäumte Auffahrt heraufbewegen. Doch es ist nichts zu sehen, und das einzige Geräusch ist das Pfeifen des Windes über den Feldern.

Trudy wartet, bis es zu dunkel ist, um etwas zu erkennen. Dann geht sie zurück ins Haus und schaltet beim Eintreten das Licht an. Sie findet Anna immer noch im Speisezimmer, wo sie nun am Kopfende des Tisches sitzt. Trudy kann Anna kaum von den Schatten um sie herum unterscheiden. Sie ist lediglich ein weiterer fester schwarzer Umriss, wie die Möbelstücke um sie herum.

Trudy tastet nach dem Lichtschalter, dann verströmt das Milchglas des Kronleuchters einen fahlen Schein. Eine der Glühbirnen ist durchgebrannt.

Ich glaube, es kommt keiner, sagt sie zu Anna.

Anna scheint sie nicht gehört zu haben. Sie spielt mit einem Platzdeckchen herum, kämmt seine Fransen zu geraden Linien. Sie sieht müde aus, denkt Trudy. Womöglich ist sie etwas blasser als gewöhnlich. Doch der Verlust ihres Ehemannes wird bei ihr keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Annas Schönheit ist unerschütterlich. Auch wenn es nicht Annas Schuld ist, empfindet Trudy es beinahe als persönlichen Affront, dass ihre Mutter sogar jetzt noch so ruhig und strahlend wirkt, selbst als Dreiundsiebzigjährige in Trauerkleidung.

Trudy setzt an, um noch etwas hinzuzufügen – sie hat keine Ahnung, ob es ein Tut mir leid oder Was hast du denn erwartet? sein wird –, doch Anna hindert sie daran, indem sie nickt und aufsteht. Ohne auch nur einen Blick auf Trudy oder das unberührte Essen zu werfen, schreitet sie durch die Doppeltür. Während Anna über den Wohnzimmerteppich geht, hört Trudy einen Moment lang gar nichts, dann vernimmt sie das Aufschlagen von Annas Absätzen auf der Treppe und im Flur über ihr. Danach ertönt das Quietschen von Federn, als Anna sich auf das Bett setzt, das sie mehr als vier Jahrzehnte lang mit Jack geteilt hat. Dann wieder Stille.

Trudy verharrt für eine Weile an ihrem Platz und lauscht. Als kein weiterer Laut zu hören ist, schlendert sie in die Küche und schenkt sich etwas von dem Kaffee ein, den Anna in einem riesigen Kessel gekocht hat. Trudy steht an der Spüle und wärmt sich die Hände an der Tasse, statt daraus zu trinken, da diese immer noch steif von der Kälte draußen sind. Sie blickt aus dem Fenster in die Richtung, von der sie weiß, dass dort New Heidelberg liegt, auch wenn sie von hier aus noch nicht einmal den schwachen Striemen der Lichter am Horizont erkennen kann.

Trudy nimmt einen Schluck Kaffee. Warum sollte sie überrascht sein? In Wahrheit ist sie es nicht. Die Leute aus der Gegend haben Jack bereits in der Kirche ihren Respekt erwiesen. Und nun, da er fort ist, haben sie keinen Grund mehr, nett zu seiner Witwe oder deren Tochter zu sein. Wie sie es schon seit Jahren tun wollten, seit Jack Anna damals in dieses Land brachte, haben die New Heidelberger sich nun endgültig von ihr abgewandt.

Anna und Max
Weimar 1939–1940

1

Der Abend verläuft eigentlich wie immer, bis der Hund zu würgen beginnt. Und selbst dann macht Anna sich zunächst nicht die Mühe, sich von den Rouladen abzuwenden, die sie für das Abendessen füllt, das sie gemeinsam mit ihrem Vater Gerhard einnehmen wird, da ihr die angestrengten Laute des Dackels nicht ungewöhnlich erscheinen. Der Hund namens Spätzle verschlingt ständig irgendetwas, das er nicht fressen sollte, fällt über Hühnerkadaver her und verschluckt ganze Brotkanten, ohne zu kauen, und diese Gier wird unweigerlich gefolgt von Würgelauten. Anna hält ihn für eine scheußliche kleine Kreatur, und zwar seit sie ihn vor fünf Jahren zu ihrem vierzehnten Geburtstag bekam, ein Geschenk ihres Vaters kurz nach dem Tod ihrer Mutter, wie als Ersatz. Vielleicht ist es ungerecht, Spätzle dafür zu hassen, doch darüber hinaus hat er ständig schlechte Laune und schnappt mit seinen gelblichen Reißzähnen nach jedem außer Gerhard, so dass er eigentlich eher das Haustier ihres Vaters ist. Und er ist übermäßig fett, da Gerhard ihm ständig Leckerbissen zusteckt, obwohl er Anna stets anbellt: Füttere! den Hund! nicht! vom Tisch!

Nun ignoriert Anna Spätzle und wünscht sich, ihre Hände wären nicht in der Rührschüssel beschäftigt, damit sie sie sich an die Ohren legen könnte, doch als das Würgen nicht nachlässt, dreht sie sich beunruhigt zu ihm um. Zwischen Rmmmp-rmmmp-rmmmp-Geräuschen schnappt er immer wieder nach Luft, und seine lange Schnauze ist schaumbefleckt. Anna lässt die Rouladen stehen und beugt sich über ihn, stemmt seinen Kiefer auf, um heranzukommen an das, was auch immer in seiner Luftröhre feststeckt, doch ihre Finger, die bereits vom Fleisch ganz fettig sind, finden keinen Halt im glitschigen Rachen des Hundes. Seine Bemühungen, das Objekt herunterzuschlucken, scheinen schließlich erfolgreich zu sein, doch Anna will das Ergebnis nicht dem Zufall überlassen. Was, wenn das, was er gefressen hat, giftig ist? Wenn der Hund sterben sollte? Mit einem ängstlichen Blick in Richtung des Arbeitszimmers ihres Vaters wirft Anna sich ihren Mantel über, schnappt sich den Dackel und rennt aus dem Haus, ohne auch nur die schmutzige Schürze abzulegen.

Da keine Zeit bleibt, um Spätzle zu ihrem Arzt im Herzen von Weimar zu bringen, beschließt Anna, es bei einer näher gelegenen Praxis in den heruntergekommenen Außenbezirken zu versuchen, die sie noch nie betreten hat, an der sie jedoch bei ihren täglichen Gängen in die Stadt schon oft vorbeigekommen ist. Sie rennt die gesamte Strecke und hat alle Mühe, den Hund festzuhalten, der sich empört in ihren Armen windet, ein rutschiger Schlauch aus Muskeln. Unter flackernden Gaslampen hinweg, über verrottende Oktoberblätter auf den Bürgersteigen, die sich nach Jahrzehnten von Frost und Tau heben und senken: Endlich biegt Anna in eine Straße mit einer Reihe von schmalen, vernachlässigten Häusern ein, die noch immer die Narben des letzten Krieges tragen, und da ist auch das bronzene Namensschild: DOKTOR MAXIMILIAN STERN. Anna drückt die Tür mit der Hüfte auf und eilt an der Rezeption vorbei ins Untersuchungszimmer.

Der Herr Doktor hält gerade sein Stethoskop an die Brust einer Frau, deren Fleisch sich wie Speck um ihren Musselin-Büstenhalter herum kräuselt. Die Patientin entdeckt Anna vor dem Arzt, zeigt mit dem Finger auf sie und lässt einen kurzen heiseren Schrei ertönen. Der Doktor zuckt erschrocken zusammen und richtet sich auf.

Wer auch immer Sie sind, setzen Sie sich ins Wartezimmer, fährt er sie an. Ich bin gleich für Sie da.

Bitte, keucht Anna. Der Hund meines Vaters, er hat etwas Giftiges gefressen, ich glaube, er stirbt.

Der Doktor dreht sich um und zieht eine Augenbraue hoch.

Sie können sich anziehen, Frau Rosenberg, erklärt er seiner Patientin. Sie haben nur eine leichte Bronchitis, nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müssten. Ich gebe Ihnen das übliche Rezept. Wenn Sie mich nun entschuldigen, ich muss mich um dieses arme Tier kümmern.

Also!, empört sich die Frau, während sie sich ihre Hemdbluse überzieht. Also! Das hätte ich nicht erwartet, wegen eines Hundes vernachlässigt zu werden.

Sie greift nach ihrem Mantel und drängt sich mit einem theatralischen Schnaufen an Anna vorbei.

Als die Tür ins Schloss fällt, tritt der Doktor schnell auf Anna zu und nimmt ihr ihre Last ab, und sie bildet sich ein, dass er ihr über seine Brillengläser hinweg den Hauch eines komplizenhaften Blicks zuwirft. Sie lässt den Kopf in Vorahnung des zweiten, freudig überraschten Blicks sinken, den sie von Männern stets zu erwarten hat. Doch stattdessen hört sie, wie seine Schritte sich entfernen, und als sie wieder nach oben sieht, kehrt er ihr den Rücken zu und beugt sich über den Dackel auf dem Tisch.

Na, was haben wir denn da, murmelt er.

Anna beobachtet ängstlich, wie er dem Hund ins Maul greift und sich dann umdreht, um eine Spritze vorzubereiten. Seine geschickten Handbewegungen und das Spiel der Muskeln unter seinem dünnen Hemd haben eine tröstliche Wirkung auf sie. Er ist groß und schlank, fast schon hager. Er kommt ihr außerdem sonderbar bekannt vor, auch wenn Anna ganz sicher noch nie hier gewesen ist.

So dankbar ich Ihnen dafür bin, mich von Frau Rosenberg erlöst zu haben, muss ich doch sagen, dass dies ein reichlich unorthodoxer Besuch ist, Fräulein, erklärt der Doktor während der Arbeit. Haben Sie etwa den Eindruck, ich sei ein Tierarzt? Oder dachten Sie, ein jüdischer Arzt wäre dankbar, auch nur einen Hund behandeln zu dürfen?

Jüdisch? Anna blickt mit halb zugekniffenen Augen auf das blonde Haar des Doktors, das zwar glatt ist, ihm jedoch in Wirbeln und Stacheln vom Kopf absteht. Im Nachhinein fällt ihr der an die Tür der Arztpraxis gemalte Davidstern ein. Natürlich weiß sie, dass dies das jüdische Viertel ist, doch sie hat in ihrer Panik keinen Gedanken daran verschwendet.

Nein, nein, protestiert Anna. Natürlich nicht. Ich habe ihn hergebracht, weil Sie am nächsten waren.

Sie zuckt zusammen, als ihr bewusst wird, wie das nun wiederum klingt.

Es tut mir leid, sagt sie. Ich wollte Sie nicht kränken.

Der Doktor lächelt ihr über die Schulter zu.

Nein, ich bin derjenige, der sich entschuldigen muss, erwidert er. Es sollte ein Witz sein, doch es war grob von mir. In diesen Zeiten bin ich tatsächlich dankbar für jeden Patienten, ob es sich nun um andere Juden oder um Dackel handelt. Sie sind arisch, Fräulein, nicht wahr? Sie wissen sicher, dass Sie das Gesetz gebrochen haben, als Sie dieses Haus betraten.

Anna nickt, obwohl sie auch daran nicht gedacht hat. Der Doktor richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf den Hund.

Gleich haben wir’s, gleich haben wir’s, murmelt er. Ah, da ist ja der Übeltäter.

Er hält etwas hoch, damit Anna es sich ansehen kann: ein Stück von einer ihrer Monatsbinden, spuckedurchtränkt und voller Blutflecken.

Anna schlägt sich beschämt die Hände vors Gesicht.

Ach, du lieber Gott, ruft sie. Dieser elende Hund!

Herr Doktor Stern lacht und wirft die Binde in einen Abfalleimer.

Es hätte schlimmer sein können, meint er.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie …

Er hätte etwas wirklich Giftiges fressen können. Schokolade zum Beispiel.

Schokolade ist giftig?

Für Hunde schon, Fräulein.

Das wusste ich nicht.

Nun, jetzt wissen Sie es.

Anna fächelt ihren glühenden Wangen Luft zu.

Unter diesen Umständen bin ich mir nicht sicher, ob mir das nicht lieber gewesen wäre, meint sie.

Der Doktor lacht, ein kurzes Bellen, und tritt ans Waschbecken, um sich die Hände einzuseifen.

Sie brauchen sich nicht zu schämen, Fräulein, sagt er. Nihil humanum mihi alienum est – nichts Menschliches ist mir fremd. Und im Übrigen auch nichts Hündisches. Aber Sie sollten besser darauf achtgeben, was Sie dem kleinen Burschen zu fressen geben – als Mahlzeit, meine ich. Er ist viel zu dick.

Daran ist mein Vater schuld, erklärt Anna. Er steckt dem Hund ständig Essensreste zu.

Nun sieht Herr Doktor Stern sie noch einmal aufmerksamer an. Ihr Vater – das ist Herr Brandt, nicht wahr?

Ja, das stimmt.

Ah, macht der Doktor und legt Spätzle in Annas Arme. Die Augen des Dackels sind glasig. Derart schlaff scheint er so schwer zu sein wie ein Pflasterstein.

Ein mildes Beruhigungsmittel und Muskelrelaxans, erklärt der Doktor. Damit ich sie herausziehen konnte, die … Wie dem auch sei, er wird bald wieder ganz der Alte sein, vorausgesetzt, Sie halten ihn fern von Süßigkeiten und anderem, sagen wir, Ungenießbarem.

Er zieht seine Brille ein wenig hinunter und schenkt Anna ein Lächeln, das diese länger erwidert, als sie sollte. Dann reißt sie sich zusammen und verlagert die Position des Hundes, um in ihrer Manteltasche verlegen nach ihrem Geldbeutel zu kramen.

Was schulde ich Ihnen?, fragt sie.

Der Doktor winkt ab.

Keine Gebühr, erwidert er. Das ist das mindeste, was ich tun kann, wenn man mein letztes, unglückseliges Wirken in Ihrer Familie bedenkt.

Er wendet sich ab, und Anna denkt: Natürlich. Jetzt weiß sie, wo sie ihn schon einmal gesehen hat. Er hatte Annas Mutter in den letzten Tagen ihrer Krankheit behandelt, der einzige Arzt in ganz Weimar, der bereit war, zu ihnen nach Hause zu kommen. Anna erinnert sich daran, wie Herr Doktor Stern im Flur des ersten Stocks mit den in seiner Tasche klirrenden Ampullen an ihr vorbeieilte, wie er, als er die kläglich in der Ecke stehende Anna entdeckte, innehielt, ihr sanft unters Kinn griff und sagte: Alles wird gut, Kleines. Sie erinnert sich ebenfalls daran, wie Gerhard als erste Reaktion auf den Tod seiner Frau schimpfte: Es ist allein seine Schuld, dass sie sich nicht erholt hat. Was soll man auch anderes von einem Juden erwarten? Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass er sie anfasst.

Sie hatten früher einen Bart, stellt Anna nun fest, einen roten Bart.

Der Doktor schabt sich mit der Hand über den Kiefer, was ein leise kratzendes Geräusch verursacht.

Ach, ja, das hatte ich, bestätigt er. Ich habe ihn letztes Jahr abrasiert, um jünger zu wirken. Eitel in jedem Sinne des Wortes.

Anna lächelt erneut. Wie alt ist er wohl? Bestimmt nicht älter als Mitte dreißig. Er trägt keinen Ehering.

Er öffnet ihr mit einer höflichen kleinen Geste die Tür. Anna bleibt in der Nähe des Apothekerschrankes stehen und sucht nach etwas, das sie ihn noch fragen könnte, überlegt, ob sie vielleicht so tun könnte, als interessierte sie sich für die Glasgefäße mit den Arzneimitteln und Zungenspateln oder das in einer Ecke des Raumes stehende Skelett mit dem Filzhut auf dem Schädel. Der Doktor wirkt jedoch mittlerweile ungeduldig, also seufzt Anna leise und umgreift den Hund noch fester.

Vielen Dank, Herr Doktor, murmelt sie, als sie an ihm vorbeihastet und unter dem Geruch des Desinfektionsmittels die Gewürzseife auf seiner Haut wahrnimmt.

Gern geschehen, Fräulein.

Der Doktor lässt ein kleines, fahriges Lächeln aufblitzen und ruft ins Wartezimmer hinein: Maizel!

Ein kleiner Junge mit langen, über seine Ohren wippenden Locken und einem Arm in einer Schlinge huscht auf Anna zu. Ihm folgt ein älterer jüdischer Herr in einem abgetragenen schwarzen Mantel. Ihre Stirnlocken erinnern Anna an Sägespäne. Sie drückt sich gegen die Wand, um die beiden an sich vorbeizulassen.

Als sie in den kühlen Abend hinaustritt, wirft Anna einen wehmütigen Blick zurück auf die Praxis. Dann erinnert sie sich mit Unbehagen an ihren Vater. Es ist spät, und Gerhard wird wütend sein, dass sein Abendessen verschoben wurde. Er besteht darauf, dass ihm seine Mahlzeiten mit militärischer Präzision serviert werden. Anna folgt einer plötzlichen Eingebung, macht kehrt und eilt auf die nur wenige Straßen entfernte Bäckerei zu. Eine Sachertorte, Gerhards Lieblingsnachtisch, wird ihr eine Entschuldigung dafür liefern, dass sie um diese Uhrzeit noch unterwegs ist – denn sie wird ihm ganz bestimmt nichts von dem Debakel mit dem Hund erzählen –, und könnte seinen Zorn dämpfen.

Wie alles andere in dieser tristen Gegend ist die Bäckerei recht unansehnlich. Sie hat noch nicht einmal einen Namen. Anna fragt sich, weshalb Frau Staudt, die Besitzerin, sich nicht entschließt, sie aus dem jüdischen Viertel heraus zu verlegen, da sie schließlich genauso arisch ist wie Anna selbst. Doch ganz gleich, so heruntergekommen der Laden auch sein mag, sind seine Backwaren doch die besten von ganz Weimar. Anna erreicht ihn gerade in dem Augenblick, als die Bäckerin das Schild von Offen auf Geschlossen umwendet. Anna klopft ans Fenster und verzieht verzweifelt das Gesicht, und Frau Staudt, deren beträchtlicher Körperumfang so eng in ihre Schürze geschnürt ist, dass diese beinahe aus allen Nähten platzt, reißt die Hände hoch.

Sie schließt die Tür auf und murrt mit ihrer dünnen, abweisenden Stimme: Und was willst du nun? Eine Linzer Torte? Den Mond?

Eine Sachertorte?, bittet Anna und setzt ihr gewinnendstes Lächeln auf.

Eine Sachertorte! Sachertorte wünscht die Prinzessin … Ich nehme auch nicht an, dass du die richtigen Lebensmittelmarken hast.

Nun …

Das dachte ich mir.

Doch die verwitwete und kinderlose Bäckerin hat der Halbwaisen Anna gegenüber schon lange gewisse mütterliche Gefühle entwickelt, und da sich im Hinterzimmer tatsächlich eine kostbare Sachertorte befindet, gelingt es Anna, mit einem Mitleid heischenden Gesichtsausdruck die Hälfte davon auf Kredit zu erbetteln.

Als dies vollbracht ist, kehrt sie nach Hause zurück, so schnell es ihr mit der Tortenschachtel unter dem einen und dem Dackel, der langsam wieder anfängt, sich zu drehen und zu winden, unter dem anderen Arm möglich ist. Und wieder hat Anna Glück: Als sie sich durch den Dienstboteneingang hineinschleicht, dringt ein anschwellender Wagner-Chor aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters. Gerhards Laune ist also erträglich. Vielleicht hat er nicht einmal bemerkt, wie spät es ist. Anna legt den Hund in sein Körbchen und blickt nachdenklich auf die Anrichte. Die Rouladen waren nun so lange ungekühlt, dass sie wahrscheinlich verdorben sind. Anna wird stattdessen aus den Resten vom letzten Abendessen einen Eintopf zubereiten müssen.

Während sie hastig die Zutaten für den Schmortopf zusammensucht, bröckelt sie kleine Stückchen vom Kuchen ab und steckt sie sich in den Mund. Die kalte Abendluft hat sie hungrig gemacht. Bei Spätzle scheint sie ebenfalls Wunder gewirkt zu haben, da er sich genauso schnell erholt, wie der Doktor es versprochen hat. Er watschelt aus seinem Körbchen, um zwischen ihren Füßen zu lauern, starrt mit wachem Interesse auf Annas Hand und beobachtet die Bewegung der Sachertorte von der Schachtel in ihren Mund. Nachdem es jedoch nicht so aussieht, als wollte Anna ihm etwas davon anbieten, lässt er eine Salve Kläffer ertönen.

Still, befiehlt Anna.

Sie schneidet sich selbst ein Stückchen Kuchen ab und verspeist dieses langsam, genießt die dunkle Schweizer Schokolade und durchkämmt ihre Erinnerung nach weiteren Einzelheiten von Herrn Doktor Sterns Hausbesuch vor fünf Jahren. Ihr fällt ein, dass der rote Bart ihn hatte aussehen lassen wie der holländische Maler van Gogh, dessen Selbstporträts einmal in Weimars Schlossmuseum ausgestellt wurden. Auch ohne den Bart ist die Ähnlichkeit immer noch verblüffend, denkt Anna: das schmale Gesicht, der traurige Glanz der blauen Augen, die Müdigkeitsfalten, die sich um seinen Mund herum eingegraben haben, die jedoch auch seinen Humor durchscheinen lassen.

Anna seufzt. In der Zeit vor dem Reich hätte sie den Doktor mit irgendeiner erfundenen Krankheit erneut aufsuchen können. Mit etwas sorgfältiger Planung hätte sie ihn womöglich sogar außerhalb der Arbeit treffen können. Aber jetzt? Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass Anna einen jüdischen Arzt aufsucht. Tatsächlich ist es sogar verboten, wie der Doktor selbst ihr in Erinnerung gerufen hat. Nicht, dass Anna solchen Dingen je viel Beachtung geschenkt hätte.

Sie beißt niedergeschlagen von ihrem Kuchen ab, und Spätzle bellt erneut.

Sei still, verlangt Anna geistesabwesend.

Dann blickt sie auf den Hund hinunter. Ermutigt durch Annas nachdenklichen Gesichtsausdruck beginnt er zu jaulen und mit dem Schwanz zu wedeln. Anna lächelt ihm zu und schneidet noch ein Stück Kuchen ab, diesmal ein etwas größeres. Sie zögert kurz, während die Schokolade in ihrer Handfläche schmilzt. Dann ruft sie: Hier, Junge, und lässt es auf den Boden fallen.

2

Schach, sagt der Doktor.

Anna blickt stirnrunzelnd auf die Konstellation ramponierter Figuren auf den creme- und eichenholzfarbenen Quadraten. Max hat ihr erzählt, dass dieses Schachspiel einst seinem Vater und davor dessen Vater gehörte. Eine der ursprünglichen schwarzen Figuren ist verlorengegangen und wurde durch einen Stummel Kohle ersetzt, und bei Annas Dame fehlt die Krone. Außerdem sitzt sie in einer Ecke fest.

Anna ist keine blutige Anfängerin in diesem Spiel. Sie hat dessen Grundlagen bereits als Kind erlernt, auf den Knien ihres Großvaters mütterlicherseits. Doch der Unterricht bei Max in den letzten vier Monaten hat ihr die klare Logik der Züge offenbart, das Zusammenspiel der Figuren, das kluge geometrische Geflecht. Max hat sie auch wieder an die leidenschaftliche Freude am reinen Lernen herangeführt, die Anna seit dem Sprachunterricht auf dem Gymnasium nicht mehr empfunden hatte. Jetzt sieht Anna abends beim Einschlafen das Schachbrett auf ihre Augenlider tätowiert, auf dem sie die Figuren endlos zu immer neuen Anordnungen umstellt. Und sie macht Fortschritte.

Aber Max ist so viel besser als sie! Noch immer ist jede Partie mit ihm eine Demütigung. Ebenso wie ihre heimlichen Abende hier, empfindet Anna mittlerweile. Max ist noch komplizierter als ihre gemeinsamen Spiele. Es ist zwar wahr, dass er jedes Mal, wenn Anna ungebeten an seiner Hintertür auftaucht, erfreut über ihren Anblick wirkt und stets ausruft: Anna, ist das nicht komisch? Ich hatte das Gefühl, dass du vorbeikommen würdest. Und Anna hat ihn auch schon dabei ertappt, wie er sie mit der gesunden männlichen Bewunderung musterte, die sie gewohnt ist. Dennoch beschränkt Max seine Komplimente auf Bemerkungen zu ihrer Kleidung, wie etwa einem Seidenschal, der das Blau ihrer Augen zur Geltung bringt. Er verhält sich wie ein liebevoller Onkel. Es ist zum Verrücktwerden.

Gerade betrachtet er sie amüsiert über den Rand seiner Brille hinweg.

Bist du bereit, dich geschlagen zu geben?, fragt er.

Noch nicht, erwidert Anna.

Sie betrachtet das Brett eingehend. Ihre Hand schwebt über einem ihrer Springer. Dann steht sie auf und geht zum Herd.

Darf ich noch einen Tee kochen?, fragt sie und greift nach der Blechdose auf dem obersten Regalbrett. Die Bewegung lässt ihren Rock fast zehn Zentimeter über ihre Knie rutschen. Er ist ein altmodisches Kleidungsstück, da man längst keine Bleistiftsilhouette mehr trägt, doch er ist auch der kürzeste, den sie besitzt.

Du stehst immer noch im Schach, Anna, bemerkt Max. Könnte es etwa sein, dass du gerade versuchst, mich mit deinem hübschen Rock abzulenken?

Anna wirft ihm über die Schulter einen Blick zu.

Funktioniert es?

Max lacht.

Das erinnert mich an einen Witz, den der Rabbi meines Vaters immer erzählt hat, meint er. Warum beantwortet ein Jude eine Frage immer mit einer Gegenfrage?

Ich weiß es nicht, antwortet Anna und hantiert mit dem Tee. Warum?

Warum nicht?

Anna schneidet eine Grimasse und sieht sich in Max’ Küche um, während sie darauf wartet, dass das Teewasser kocht. Wie die restlichen Räume hinter seiner Praxis ist sie klein, aber ordentlich. Jede Tasse hängt an ihrem Haken, die Gewürze im Küchenschrank sind alphabetisch geordnet, der Boden ist gefegt. Auf einem gegen eine Wand gelehnten Leiterregal stehen sogar ein paar Pflanzen, die sich dem kalten, lilaweißen Licht einer merkwürdigen Lampe entgegenrecken. Doch ein paar Haushaltsarbeiten hat Max entweder vernachlässigt, oder er hat ihre Notwendigkeit gar nicht erst erkannt: Die rautenförmigen Scheiben in den Fenstern mit Stabwerk müssten einmal ordentlich mit Zeitungspapier und Essig gereinigt werden, und wenn man mit dem Finger über die Fensterbank fahren würde, bekäme dieser einen Staubpelz. Dinge, die nur einer Frau auffallen: Dies ist eindeutig ein Junggesellenhaushalt, denkt Anna und blickt mit einem liebevollen Lächeln auf ihre angeschlagene Teetasse.

Da der Teekessel sich an die Maxime hält, nach der etwas besonders lange dauert, wenn man darauf wartet, und sich stur weigert zu pfeifen, kehrt Anna dem Herd den Rücken zu und schlendert in Richtung der Pflanzen.

Wie heißt diese hier?, fragt sie und beugt sich über ein dunkelgrünes Blatt.

Sie hört das Schaben von Max’ Stuhlbeinen, als dieser aufsteht, um sich hinter sie zu stellen.

Das ist eine Monstera deliciosa, erklärt er, ein köstliches Fensterblatt.

Aha. Dabei sieht sie gar nicht so köstlich aus. Und die hier?

Max legt Anna beiläufig eine Hand auf die Schulter, während sie sich gemeinsam vorbeugen. Anna hält die Luft an und blickt aus dem Augenwinkel auf die langen, geschickten Finger mit den gerade geschnittenen Nägeln.

Ein Zierspargel, antwortet Max. Asparagus densiflorus sprengerii.

Anna starrt auf einen einzelnen Farnwedel auf der Suche nach Licht, der blind und empfindlich unter dem Ansturm ihres vermischten Atems erzittert. Als Max seine Hand von ihrer Schulter nimmt, bildet sie sich ein, dass sie ihre Wärme dort noch immer spüren kann, als hätte sie einen strahlenden Abdruck hinterlassen.

Er zeigt auf ein weiteres Exemplar mit gestreiften Blättern.

Und das hier, sagt er und blickt Anna über den Drahtrand seiner Brille hinweg an, ist Zebrina pendula, zu Deutsch Zebra-Ampelkraut, doch auf Englisch wird sie auch Wandering Jew, also wandernder Jude, genannt. Ein Geschenk eines ehemaligen Patienten, der meines Wissens mittlerweile in Kanada ist. Passender Name, findest du nicht?

Anna tritt ein paar Schritte zurück.

Wahrscheinlich, erwidert sie.

Sie setzt sich wieder vor das Schachbrett. Lächelt Max, als er es ihr nachtut? Anna bewegt ihren Turm rasch, ohne vorherige Überlegung.

Max schiebt sich seine Brille auf die Stirn, als hätte er dort ein weiteres Paar Augen.

Da haben wir die Bescherung!, seufzt er. Du hast meinen Plan vollkommen durchkreuzt, junge Dame.

Anna beobachtet ihn heimlich, während er das Schachbrett genauestens prüft und dabei die Hände in seinem undisziplinierten hellen Haar vergräbt. Er berührt seinen Turm mit dem Zeigefinger.

Verrate mir etwas, fordert er sie auf. Dein Vater. Ist er Parteimitglied?

Seine Neigungen gehen in diese Richtung, ja, erwidert Anna vorsichtig.

Max reibt sich das Kinn.

Das habe ich mir gedacht, sagt er. Er machte auf mich diesen Eindruck. Er ist ein – rechthaberischer Mensch, oder?

Das könnte man so sagen.

Mmmm. Und verrate mir noch etwas, liebe Anna. Ich habe mich das gefragt. War es sehr schwer für dich, die letzten fünf Jahre ganz allein mit ihm zu leben? Du wirkst so … einsam.

Im Raum ist es so still, dass Anna das Sprudeln des Wassers im Topf hören kann. Trotz der erstaunlichen Ungezwungenheit dieser abendlichen Unterhaltungen, die Anna jede Nacht in ihrem Kinderbett noch einmal in Gedanken durchgeht, ist dies das erste Mal, dass Max sie etwas so Persönliches gefragt hat. Sie würde ihm gern eine Antwort geben, doch die bleibt ihr im Hals stecken.

Max streicht mit der Hand über den Turm.

Ein Elternteil zu verlieren, sagt er an diesen gewandt, ist eine Erfahrung, die das Leben tiefgreifend verändert, nicht wahr? Als Kind hatte ich oft dieses Gefühl von Gott ist im Himmel, und in Ordnung ist die Welt – das ist von Robert Browning, einem englischen Dichter. Doch seit mein Vater im Krieg gefallen ist, bin ich jeden Morgen mit dem Wissen aufgewacht, dass ich diese absolute Sicherheit nie wieder empfinden werde. Nichts ist je wieder ganz richtig, nachdem ein Elternteil gestorben ist, oder? Egal, wie gut die Dinge laufen, man hat stets das Gefühl, dass irgendetwas nicht ganz stimmt …

Während Max spricht, wird Anna von gleichzeitig auf sie eindringenden Erkenntnissen gelähmt, von denen die erste die Tatsache ist, dass seit dem Tod ihrer Mutter nie jemand mit ihr darüber gesprochen hat. Anfangs kamen die Nachbarn mit Plattitüden und Tellern voller Essen vorbei, und es gab wohlmeinende Einladungen von entfernten Verwandten, die Feiertage bei ihnen und den Sommer in ihren Landhäusern zu verbringen. Doch niemand brachte je den Mut, die schlichte menschliche Güte auf, sie zu fragen, wie sie sich nach diesem Verlust fühlte. Das Thema direkt anzusprechen.

Und dann Max’ Kommentar über ihre Einsamkeit: Wie kann er das bloß wissen? Anna blickt über den Tisch auf sein schmales Gesicht. Obwohl sie von Natur aus zurückhaltend ruhig ist und darüber hinaus auch einigen Neid auf sich zog, weil sich stets alle Jungen nach ihr umdrehten, hatte Anna doch eine Zeit lang Freundinnen, Schulkameradinnen gehabt, bei denen sie sich in der Pause unterhakte, Bekannte, mit denen sie Klassentratsch austauschte. Doch das Aufkommen des Reiches, das mit dem Tod ihrer Mutter zusammenfiel, bereitete all dem rasch ein Ende. Die Aktivitäten des Bundes Deutscher Mädel, dem Anna mit den anderen Mädchen zusammen beitrat, erschienen ihr stumpfsinnig und lösten ein vage ungutes Gefühl bei ihr aus. Während patriotischer Freudenfeuer im Wald auf dem Ettersberg oder bei Schwimmausflügen mit den Jungen von der Hitlerjugend beobachtete Anna die fröhlich singenden Gesichter und dachte nur daran, was sie zu Hause noch erwartete: das Kochen und Putzen, das düstere, leere Bett ihrer Mutter. Sie nahm immer seltener teil und gab als Begründung die Hausarbeit und die Bedürfnisse ihres Vaters an, und irgendwann kamen dann keine Freundinnen mehr die Auffahrt zu ihrem Haus heraufgelaufen, und auch ihre Einladungen an Anna wichen einem verständnislosen Schweigen.

Und so ist Anna nur noch ihr Vater geblieben, dessen Anforderungen an sie, die sie einst als Ausrede nutzte, zweifellos real genug sind. Sie denkt an Gerhard, wie er seine Morgentoilette verrichtet, im Morgenmantel durchs Haus läuft, sich räuspert und in eins der Taschentücher spuckt, die er überall im Haus verstreut liegen lässt, damit Anna sie aufhebt und für ihn wäscht. Sie muss ihm täglich den ergrauten Bart stutzen und alle zwei Wochen die Haare schneiden. Seine Laken müssen, wie seine Hemden, gestärkt und gebügelt werden. Sie muss ihm seine Leibgerichte zubereiten und ihre eigenen Vorlieben dabei außer Acht lassen, um die Mahlzeit danach in ängstlicher Stille zu ertragen, die lediglich durch das Rascheln von Gerhards Zeitung, dem Stürmer, und seine aufbrausenden Schmähreden gegen die Übeltaten der Juden unterbrochen wird. Wie sehr wünscht Anna sich, er wäre statt der Mutter gestorben!

Max versetzt seinen Turm.

Schach, sagt er und blickt auf.

Oh, Anna. Es tut mir leid.

Anna schüttelt den Kopf.

Ich wollte dich nicht traurig machen, beteuert Max.

Das hast du nicht, versichert Anna ihm, als sie schließlich die Sprache wiederfindet. Ich bin nur erschrocken darüber, wie gut du es in Worte gefasst hast. Es ist, als wäre man Mitglied in einer Art Verein, nicht wahr? Der Verein der Trauernden. Über den Beitritt entscheidet man nicht selbst, er wird einem aufgedrängt. Und die Mitglieder, deren Leben verändert worden ist, wissen mehr als die, die kein Teil davon sind, aber der Preis, den man zahlt, um dazuzugehören, ist so furchtbar hoch.

Max kippt mit dem Stuhl nach hinten und betrachtet Anna für einen langen Moment, während er sich mit der Hand über das Gesicht und den Hals fährt.

Ja, erwidert er dann. Ja, das trifft es sehr gut.

Dann schlagen die Beine seines Stuhls wieder auf dem Boden auf, und er erhebt sich.

Wo wir gerade von deinem Vater sprechen, fährt er lächelnd fort, möchtest du sehen, wie es seinem Hund geht?

Anna sieht ihn traurig an, enttäuscht über diese Rückkehr zu oberflächlicheren Gesprächsthemen. Doch als Max sie herbeiwinkt, steht sie gehorsam auf und folgt ihm.

Nachdem er die Flamme unter dem Teekessel heruntergedreht hat, ergreift Max Annas Ellbogen und führt sie zu einer Tür an der Rückseite des Hauses, von der Anna erwartet, dass sie sich in einen Garten öffnet. Stattdessen findet sie sich in einem dunklen Schuppen wieder, in dem es muffig nach Stroh und Tieren riecht. Sie vernimmt ein belegtes, schläfriges Bellen, und als Max eine Petroleumlampe anzündet, sieht Anna, dass er dort eine behelfsmäßige Tierpension eingerichtet hat. Neben Spätzle befinden sich fünf weitere Hunde in einzelnen Käfigen, und aus einer Ecke nimmt Anna das grüne Funkeln der Augen einer Katze wahr, die über einen Wurf kleiner Kätzchen wacht. Es gibt sogar einen Kanarienvogel in einem Bauer, der den Kopf unter einen Flügel gesteckt hat.

Anna geht zu Spätzle hinüber.

Hallo, Junge, sagt sie.

Der Dackel knurrt sie an. Anna zieht ihre Hand von dem Drahtkäfig zurück.

Wie ich sehe, hat sich sein Charakter nicht verbessert, bemerkt sie.

Vielleicht würde er das tun, wenn du aufhören würdest, den Hund mit Schokolade vollzustopfen, erwidert Max hinter ihr.

Anna wird rot. Ich habe dir doch gesagt, das ist das Werk meines Vaters.

Ach ja, natürlich, meint Max. Das hast du gesagt.

Anna dreht sich um und blickt in sein wissend lächelndes Gesicht. Mit glühenden Wangen bückt sie sich, um einen Terrier zu betrachten.

Du bist also doch Tierarzt, kommentiert sie.