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KILLEN McNEILL

 

AM SCHATTENUFER

 

 

ROMAN

 

 

Aus dem Englischen von Gottfried Röckelein

 

 

 

 

 

ARS VIVENDI

 

 

 

Für Anna McNeill McNeill

1919–2001

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vollständige E-Book-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage April 2013)

© 2013 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Korrektorat: Eva Elisabeth Wagner, Margit Schwab

Umschlaggestaltung: Philipp Starke, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von © plainpicture/Gallery Stock/Jeremy Browne

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-252-5

 

Teil 1

September 1973

 

 

 

1

Ihr haltet Ausschau nach einem Auto mit zwei Männern, das den Eindruck erweckt, als wäre es auf Erkundungsfahrt. Geringe Geschwindigkeit, die Männer schauen sich um. Wenn sie glauben, die Luft ist rein, fahren sie weg und kommen später wieder. Dann mit zwei Autos. Aber da ist es schon zu spät, denn im zweiten Wagen wird sich die Bombe befinden.

Der Diamond, der Platz in der Mitte unseres Ortes, liegt verlassen im gelben Laternenlicht. Weggeworfene Chipstüten und Zeitungen wirbeln im leichten Wind um den Monolithen des Kriegerdenkmals. Eine leere Flasche Tennant’s rollt immer wieder gegen den Bordstein. Die üblichen nächtlichen Geräusche von Mitchellstown, die mich im Schlaf begleiten, Geräusche, die ich gar nicht mehr wahrnehme, und erst, wenn ich woanders übernachte, fehlen sie mir, und dann kann ich wegen der Stille nicht einschlafen.

Euer Job besteht darin, die anderen wissen zu lassen, dass die Luft nicht rein ist. Nichts weiter. Markiert nicht die Helden. Zwei von euch in jedem Wagen, ein Katholik, ein Protestant, eine Stunde Wachdienst pro Team.

Der Vorname meines Partners ist eigentlich alles, was ich von ihm weiß. »John und Seamus von vier bis fünf«, las Sergeant Hamilton bei der Besprechung unten in der Kaserne von seinem Zettel ab, nachdem er uns unsere Instruktionen gegeben hatte. Seamus kommt mir mit diesen langen dunklen Wimpern, seinen Sommersprossen und blauen Augen irgendwie bekannt vor, aber ich kann ihn nicht richtig einordnen; er müsste einer aus dem Schulbus gewesen sein, aber das war vor drei Jahren, bevor ich auf die Universität ging. Da war er wohl so fünfzehn oder sechzehn, und jetzt ist er ein Mann. Außerdem wird er sowieso oben bei den anderen katholischen Jungs von St. Columb’s gesessen haben.

Über mich wird Seamus mehr wissen; schließlich parken wir gerade vor unserem Geschäft, dem größten in Mitchellstown: Dalzell’s Emporium. Wir sitzen in meinem Auto, einem zerbeulten alten Ford Prefect. Unsere Wache dauert nur noch zwölf Minuten. Meine 8-Spur-Kassette mit Sticky Fingers hat gerade ausgeleiert. Worüber könnte man reden? Worüber man nicht reden kann, ist einfacher. Über die Unruhen, die Politik, die Bomben in Mitchellstown. Diese Themen hängen im Wageninnern wie ungebetene Gäste, wie der Rauch der drei Zigaretten, die jeder von uns geraucht hat. Über Mädchen? Ich kenne die nicht, die er kennt, und er kennt die nicht, die ich kenne. Außerdem scheint er ein wenig schüchtern zu sein.

Zeit für eine letzte Zigarette, und dann ab ins Bett. Ich bin dran. Ich halte Seamus die Packung hin.

»Danke.«

Wir zünden unsere Kippen an. Ein rechteckiger, gelber Lichtschein taucht uns gegenüber auf der Zufahrt zum Platz auf. Zwei Schatten schlüpfen in die Nacht hinaus.

»Das sind bloß Spätheimkehrer aus dem McAtamney’s«, sagt Seamus.

»Dort soll’s ganz nett sein«, sage ich. Das McAtamney’s ist ein katholisches Pub, ich gehe da nicht hin.

»In welches gehst du?«, fragt er.

»Ins Fountain

»Aha.« Seamus wird da wohl nicht hingehen. Er betrachtet mich aufmerksam.

Möchte er über diese Sache mit den getrennten Pubs reden? Über getrennte Schulen? Getrennte Leben? Ich wende mich ihm zu. Er schaut nicht mehr mich an, sondern an mir vorbei. »Kannst du mal dein Seitenfenster ein bisschen abwischen?«, fragt er.

Mache ich. Nichts.

»Da kam ein Auto die Church Street herauf«, sagt er. »Ich habe die Lichter gesehen.«

Aus dieser Richtung sollten wir sie laut Polizei erwarten. Sie würden auf Nebenstraßen von Swatragh herüberkommen, einer Hochburg der Irish Republican Army etwa zehn Meilen entfernt.

»Keine Lichter zu sehen.«

»Es hat angehalten. Es parkt direkt um die Ecke.«

»Vielleicht bloß ein Liebespaar.«

»Doch nicht mitten in Mitchellstown.«

Der Diamond wird von Scheinwerfern beleuchtet.

»Da kommen sie«, sagt Seamus.

Ein Auto tastet sich vor, beginnt den Diamond zu umrunden, hält an, stößt zurück und parkt vor Toners Schuhgeschäft mit dem Kühler zu uns. Die Lichter gehen aus.

»Kennst du das Auto?«, frage ich.

»Nein. Aber es ist ein Cortina.«

»Scheiße.«

»Genau.«

Die IRA benutzt immer Cortinas. Leicht zu klauen, schwer zurückzuverfolgen.

»Was jetzt?«, frage ich.

»Was die Polizei sagte. Lassen wir sie wissen, dass wir da sind. Dass die Luft nicht rein ist.«

»Rübergehen und ans Fenster klopfen?«

»Fahr langsam an ihnen vorbei.«

Ich starte den Motor und schalte die Scheinwerfer ein. Sie leuchten direkt durch die Windschutzscheibe des Cortina. Zwei Arme werden gehoben, um zwei Gesichter zu verdecken. »Hoppela«, sage ich. »Sorry, Jungs.«

Wir fahren um den Diamond herum. Seamus wirft im Vorbeifahren einen Blick in das andere Auto. »Niemand aus der Gegend«, sagt er.

Ich parke den Wagen, und wir stehen wieder dem Cortina gegenüber.

»Du rufst besser die Polizei an«, sagt er.

Ich steige aus. Dabei höre ich, wie sie im Cortina den Motor anlassen. Ich gehe rasch zu unserer Haustür. Plötzlich erscheint mein Schatten auf unserer Hauswand in einer Korona aus Scheinwerferlicht. Verdammt. Ich hätte die Schlüssel bereithalten sollen. Ich fummele sie aus der Tasche, sperre die Tür auf, husche hinein und schließe sie wieder. Den Flur entlang zum Telefon unter der Treppe, während die Lichter des Cortina durch das Oberlicht an der Decke scheinen. Ich wähle 999. Ich höre, wie der Cortina über den Platz auf unser Haus zufährt, und das Scheinwerferlicht an der Decke zieht sich zurück und verschwindet, je näher er kommt. Ich kann den Motor im Leerlauf hören. Sie halten direkt vor unserem Haus. Direkt neben meinem Wagen. »Ja?«, sagt eine Stimme am Telefon.

»Rote Segel im Sonnenuntergang«, sage ich, der Code für diese Nacht. »Hier spricht John Dalzell, auf Beobachtungsposten am Diamond. Ich telefoniere von unserem Haus aus. Vor Toner’s hat ein verdächtiges Auto gehalten. Ein Ford Cortina. Jetzt kommt es her.«

»Ist Seamus Cassidy bei dir?«

Jetzt höre ich zum ersten Mal seinen Namen. Cassidy. Natürlich. Teresas Bruder.

»Er sitzt noch draußen im Wagen.«

»Wir sind gleich da.« Er legt auf.

Steht der Cortina noch draußen? Was ist mit Seamus? Ich gehe ins vordere Zimmer und ziehe den Vorhang ein wenig zurück. Mein Prefect steht da. Ich kann Seamus’ Rücken erkennen. Kein weiteres Auto in Sicht. Ich gehe hinaus und steige ein. »Sind sie weg?«

»Sie sind die Church Street zurückgefahren.«

»Haben sie nicht neben dir gehalten?«

»Nein. Sie sind gleich weitergefahren.«

»Ich dachte, ich hätte sie herfahren und hier halten hören.«

Er schüttelt den Kopf.

»Die Polizei ist gleich da.« Und schon fährt der graue Landrover der Royal Ulster Constabulary um den Diamond herum, hält direkt neben uns, das Seitenfenster wird heruntergekurbelt. Seamus lässt das unsrige herunter.

»Alles okay, Jungs?«

»Klar.«

»Habt ihr ein Kennzeichen?«

»Nein, leider nicht, war zu dunkel«, sagt Seamus.

»Welche Richtung hat der Wagen eingeschlagen?«

»Wieder durch die Church Street.«

»Gute Arbeit, Jungs, ihr könnt jetzt heimgehen. Wir übernehmen das.« Sie setzen zurück, wenden und parken erneut neben meinem Auto, diesmal mit der Front zum Platz.

»Wie kommst du nach Hause?«, frage ich Seamus. »Soll ich dich fahren?«

»Nein, ich bin mit dem Rad da.«

»Das könnten wir in den Kofferraum tun.«

»Nee, nee, bloß keine Umstände.« Er macht Anstalten auszusteigen.

»Wie geht’s Teresa?«, frage ich, als er schon halb zur Tür draußen ist.

»Gut.«

»Ich seh sie hier gar nicht mehr. Was macht sie?«

»Sie ist drüben in England. In Canterbury. Studiert.«

»Was?«

»Deutsch, glaube ich. Also dann, gute Nacht. Oder besser: guten Morgen.«

»Was glaubst du, haben wir die Stadt vor einer Bombe gerettet?«

Er zuckt die Achseln und ist weg.

Ich fahre mit meinem Prefect los, um den Diamond herum, durch die Church Street und die Auffahrt zum Fair Hill hinauf. Teresa Cassidys Bruder. So was. Ich war mal in sie verliebt. Na gut, eigentlich war’s wohl eher eine Schwärmerei. Nicht, dass sie je davon erfahren hätte. Ich habe sie immer nur im Bus zur Schule nach Coleraine gesehen. Wir hätten uns nirgendwo sonst begegnen können, weil sie katholisch ist. Andere Schulen, andere Jugendclubs, andere Sportarten. Sogar andere Abteile im Bus; sie waren oben und wir waren unten, ohne dass das jemand so geplant hätte; es hat sich einfach so ergeben; und klar haben wir den Katholiken an der Bushaltestelle zugenickt und so, aber man saß immer mit seinesgleichen zusammen.

Ich erinnere mich noch an den Augenblick, in dem ich mich in sie verguckte. Es passierte, als ich ihr Lächeln von der Seite sah, es war die Art, wie ihre Mundwinkel unter den Wangenknochen Kringel und Grübchen bildeten. Ganz in sich versunken war sie, lächelte nur für sich selbst. Weil ich unten keinen Sitzplatz gefunden hatte, war ich nach oben gegangen, was genauso wenig ein Problem darstellte, wie wenn Katholiken mal unten saßen; man hat sich nur nicht groß unterhalten. Es war ein Mittwochnachmittag im November, was bedeutete, dass es um vier schon dunkel war, und ich sah aus dem Fenster und konnte Teresas Spiegelbild klar und deutlich in der Scheibe erkennen, da sie mir gegenüber auf der anderen Seite des Ganges saß. Ich habe ihr nicht hinterherspioniert oder so was, aber ich konnte sie auf diese Weise unbeobachtet betrachten. Sie hielt den Kopf über ein Buch gebeugt und las, ab und zu strich sie sich die Haare zurück über die Schulter, und dann fielen sie wieder nach vorn, und ich konnte nur ihren Mund sehen, der sich plötzlich zu einem umwerfenden Lächeln verzog, und dann hörte ich sie laut auflachen. Schnell fuhr ihre Hand vor den geöffneten Mund, und sie lachte leise weiter. Ich drehte mich in ihre Richtung und sah sie an, und sie hob den Blick und sah zu mir her, noch immer kichernd und mit strahlenden Augen. Etwas Wunderschönes aus ihrem Innern wollte einen Ausflug machen.

»Gutes Buch?«, fragte ich.

»Toll«, sagte sie und zeigte mir den Einband. Es war The Country Girls.

Damit war unsere Unterhaltung beendet. Sie widmete sich wieder ihrer Lektüre, und ich drehte mich wieder zum Fenster. Ich habe nicht weiter darüber nachgedacht, aber spätabends, als ich gerade einschlafen wollte, hörte ich erneut ihr kehliges Lachen, und es packte mich mit der gleichen Macht, mit der es auch sie überrascht hatte, und warf mich im Bett herum.

Der Himmel hat graue Strähnen, als ich das Auto parke, abschließe und heimwärts gehe. Ich glaube, dass »Gutes Buch?« für lange Zeit die letzten normalen Worte waren, die ich an sie richtete. Ich war fünfzehn, wurde schnell rot und schaffte es nicht, mich in ihre Nähe zu begeben, ohne wie ein Leuchtfeuer zu glühen. Mir fiel rein gar nichts ein, was ich zu ihr hätte sagen können. Das ging monatelang so. Ich kaufte mir dieses Buch, und es gefiel mir auch ganz gut, denn es ließ sich zunächst leicht lesen, und später dann musste man plötzlich über irgendetwas daraus nachdenken. Ich versuchte herauszufinden, über welche Stelle sie gelacht hatte, und da gab es einige, die infrage kamen. Ich fing an, zu ihrer Farm hinauszuradeln, die gleich auf der anderen Seite der Raine-Brücke lag, und vor der Einfahrt hin- und herzufahren, als hätte ich dort etwas verloren. Ich denke, diese Phase hielt ungefähr eine Woche an, bis mir eines Abends, als es schon dunkel war, jemand mit einer Taschenlampe ins Gesicht leuchtete, ein Stock auf den Vorderreifen knallte, zwei Hände die Lenkstange packten und zwei andere meine Arme, und eine Stimme, die mir vage aus dem oberen Stock des Busses bekannt vorkam, sagte: »Das ist jetzt noch mal eine freundliche Warnung. Lass Teresa in Ruhe. Sollten wir mitkriegen, dass du dich wieder hier herumtreibst, gerben wir dir das Fell. Das solltest du eigentlich wissen. Treib dich bei deinen eigenen Leuten herum.« Und das war es dann.

Ich komme auf der Main Street gegenüber von Jones’ Café heraus. Beziehungsweise dem, was früher mal Jones’ Café war. Taffy Jones stammte, wie alle Taffys, aus Wales, war während des Krieges beim Militär gewesen, lernte seine Frau Myrtle aus Mitchellstown in Indien kennen und zog nach dem Krieg hierher, wo sie ihr Café eröffneten. An der Vorderfront brachten sie ein Schild mit der Aufschrift JONES’ CAFÉ an. Sie hatten Fish and Chips im Angebot mit guten, selbst gemachten Fritten, hatten Vorhänge aus Plastikperlen auf der Innenseite der Türen, die beim Hindurchgehen klackerten, Linoleum auf dem Boden, verschiedene Ebenen, kleine Nischen und die Porträts kornischer Fischer an den Wänden. Mir gefiel es dort. Es wurde vor zwei Jahren in die Luft gesprengt, die erste Bombe in Mitchellstown, und jetzt ist da nur noch ein Loch in der Straße, in das man hineinsehen und auf leere Keller blicken kann. Schon komisch, wie schnell an so einer Stelle das Unkraut wächst. Mrs. Jones ist inzwischen gestorben, und Taffy ist im Altersheim.

Ich marschiere die Main Street entlang zum Diamond. Jetzt geht die Sonne auf, und das Licht fällt schräg auf das nächste Loch in der Straße, wo früher das Star Cinema stand. Es flog als Zweites in die Luft. Ich bin da jeden Samstag hingegangen, egal, was lief. Wenn man Glück hatte, war es ein James-Bond-Film oder ein Spaghetti-Western, oder ein Monumentalschinken mit Charlton Heston, aber das andere Zeug haben wir uns auch angeschaut. Doris Day und Rock Hudson, Carry-On-Komödien. Das Kino selbst war nichts Besonderes, eher wie eine Scheune mit einem Wellblechdach, keine Ränge oder so was, aber es war ein Ort, wo man hingehen konnte. Manchmal, als ich noch jünger war und wenn ein nicht jugendfreier Film lief, ging ich ums Gebäude herum und hörte von hinten zu. Die Dracula-Filme klangen super. Die Musik und die Schreie. Eigentlich war der Sound besser als die Bilder, wie ich feststellte, nachdem ich mir endlich die ganzen Filme ansehen durfte.

Ich sprach nur noch einmal mit Teresa. Es war der Tag meines Deutschabiturs vor zwei Jahren. Ich nahm einen späteren Bus nach Ballyraine, weil die Prüfung erst am Nachmittag stattfand. Der einzige Mensch, der ebenfalls auf den Bus wartete, war Teresa. Was bedeutete, dass auch sie die Prüfung ablegen würde.

»Guten Tag«, sagte ich scherzhaft auf Deutsch. In der Zwischenzeit hatte ich die Gabe der normalen Rede wiedererlangt; außerdem machte mich die Tatsache, dass ich mit Molly ging, ein bisschen lockerer in der Gesellschaft von Mädchen.

»Oh ja«, sagte sie. »Sprechen wir Deutsch. Das ist gut für die Abschlussprüfung.«

»Gut für die was?«, fragte ich.

»Für die Abschlussprüfung. Du weißt schon, das Schlussexamen.«

Auf der ganzen Fahrt redeten wir Deutsch, so gut es ging beziehungsweise so gut ich konnte. Selbstverständlich war ihr Deutsch dem meinen haushoch überlegen. Sie war ja nicht stundenlang mit dem Fahrrad auf dem Weg vor ihrem Haus umhergefahren oder hatte ewig zum Fenster hinausgestarrt und an mich gedacht wie ich an sie, sondern hatte in der Zeit ihre Hausaufgaben gemacht.

Während der Prüfung freute ich mich schon darauf, sie auf dem Rückweg im Bus für mich allein zu haben. Und da war sie dann auch, saß auf dem Sitz zum Gang hin und rutschte zum Fenster, als sie mich sah. Sie hatte den Platz für mich frei gehalten! Wir hatten beide dasselbe Aufsatzthema gewählt, irgendetwas darüber, wie wir uns die Zukunft vorstellten, was uns jetzt Gesprächsstoff lieferte. Ich erinnere mich, dass sie echte Pläne hatte, im Gegensatz zu mir, der ich damals noch nicht wusste, was ich studieren sollte. Später stellte sich heraus, dass Germanistik das einzige Fach war, für das ich an irgendeiner Uni eine Zulassung bekam, was ich aber erst Ende August erfuhr. Sie habe Angebote von mehreren Unis für ein Germanistikstudium, weil ihre Vorzensuren so gut gewesen seien, dass sie mehr oder weniger bloß zu bestehen brauchte, erzählte sie mir einfach so und ohne eine Spur von Angeberei. Alle diese Universitäten lagen in England oder Schottland, was für sie das Wichtigste war, denn sie wollte um jeden Preis aus Nordirland weg. Wir unterhielten uns locker und ungezwungen, wie wir es die ganzen Jahre schon hätten tun können, wäre ich nicht ein solcher Trottel gewesen. Sie wollte nicht unterrichten, sie wollte übersetzen, und zwar die neueste und beste deutsche Literatur. Sie erwähnte ein paar Namen von Leuten, von denen ich noch nie gehört hatte. Ich hatte damals keine Lust, über meine Zukunft nachzudenken, und habe auch jetzt keine, weil ich mich in ein paar Wochen zu einem Auslandsjahr nach Deutschland aufmache, und zu guter Letzt werde ich wohl doch als Deutschlehrer in einer Schule von der Sorte enden, wie ich sie selbst besuchte und hasste.

Draußen vor dem Haus am Diamond steht noch immer der RUC-Landrover, und der Himmel über der Bridge Street wird heller. Dort hinten wohnt Teresa. Teresa Cassidy. So was. Diese Schwärmereien. Wenn du jung bist, denkst du, du kommst nie darüber hinweg, und dann schaffst du es doch.

 

2

Als ich am nächsten Tag aus dem Bett komme und mich auf Erkundung in den Laden begebe, ist es schon früher Nachmittag. Keine Kundschaft weit und breit. Ich sehe Dads Silhouette durch die Schaufensterscheibe über den goldenen Lettern von Dalzell’s Emporium; er steht bestimmt vor dem Laden und unterhält sich wie üblich mit jemandem auf der Straße; Tilly wird hinten in ihrem Reich sein, zwischen Stoffballen und den Schubladen mit Kurzwaren, vertieft in Geschäftskorrespondenz oder in ein Telefongespräch mit irgendeinem obskuren Knopfhersteller. Matts Kopf ragt gerade noch über den Verkaufstisch beim Fenster, in dem die Handschuhe ausliegen. Er wühlt herum, sortiert wahrscheinlich, aber ich registriere die Neigung seines gepflegten Hauptes, als er verstohlen auf seine Uhr blickt. »Ich war die ganze Nacht auf und habe die Stadt vor einer Bombe gerettet, falls das jemand nicht mitbekommen haben sollte«, rufe ich zu seinem Schädeldach hinüber. Ich kann seine Augen nicht sehen, und er sagt nichts, aber seine Stirn legt sich in Falten. »Ich brauche ein Hemd für heute Abend«, fahre ich fort für den Fall, dass er glaubt, ich sei zum Arbeiten gekommen, und marschiere schnurstracks zum Mahagonitresen, der sich über die gesamte Länge des Ladens erstreckt. Dahinter befinden sich verglaste Schubladen mit Hemden, nur von der Rückseite des Tresens zugänglich. Dass die Kundschaft womöglich selbst an den Artikeln herumfummelt, kommt in Dalzell’s Emporium nicht infrage. Gott bewahre. Ich ziehe eins nach dem anderen heraus. Keine Chance. Nichts als Van Heusen, Peter England oder Brutus Slimline in Cellophanschachteln. Ganz unten liegen sogar, du lieber Himmel, einige weiße Imperia-Nylonhemden. Schon leicht vergilbt. »Gibt’s hier überhaupt irgendetwas neueren Datums?«, frage ich. »Zum Beispiel was von nach 1970?«

Keine Antwort.

»Mein Gott, dieses Zeug ist ja antik. Schon mal was von Ben Sherman gehört? Oder von Falmer?«

Matt richtet sich auf, seine Kniegelenke knacken. Er trägt Anzug, Brille und einen Fassonschnitt, wie immer.

»Die Nachfrage nach Hippieklamotten ist in Mitchellstown nicht gerade groß«, sagt er.

Oho. Einer dieser Tage. Bloß weil er im Laden arbeiten muss und ich nicht. Ist doch nicht meine Schuld, dass er die Schule frühzeitig verlassen hat. Und ich habe jetzt Ferien. Student zu sein ist eine Arbeit wie jede andere auch, und wenn nicht, braucht er es nicht zu wissen.

»Wir sind nicht alle bei den Halleluja-Hillbillys, falls du es noch nicht mitgekriegt haben solltest.«

Das war jetzt vielleicht ein wenig hart, aber ist doch wahr. Nur gut, dass unsere Mutter den Schlagabtausch nicht gehört hat; sie wird wohl oben in ihrem kleinen Büro sein und Rechnungen durchgehen. Sie würde mich zusammenstauchen, dass ich in keinen Schuh mehr passe, auch wenn Matt angefangen hat. Er kann manchmal ein total humorloser Arsch sein. Wäre er mein älterer Bruder, wäre es schlimm genug; aber er ist zwei Jahre jünger, neunzehn.

Er geht nach oben in die Damenabteilung, wahrscheinlich um sich bei Jane Shaw zu beklagen, seiner Freundin, einer bigotten Landpomeranze, die dort arbeitet. Wie der größte Teil der protestantischen Jugend in Mitchellstown gehören die beiden zu den »Bekehrten«, was immer das bedeutet. Youth Fellowship, Gospel Hall, der Herr Jaysus Christ, Hammondorgeln, Country- und Western-Musik, das volle Programm. Kein Sex vor der Ehe. »Auch nicht ein kleines bisschen?«, habe ich ihn gefragt. »Nicht mal, du weißt schon, ein bisschen vorfühlen?«

»Du bist widerlich.«

Was mich anbelangt, so gehe ich heute Abend mit Molly weg, weshalb ich ein Hemd brauche, und egal, wohin wir gehen, ob in den Flamingo Tanzsaal nach Ballymena, zu Kellys Nachtclub in Portrush oder ins Palace Kino in Coleraine, wir werden irgendwo drunten am Raine landen, mit jeder Menge Sex.

Ich werfe einen Blick in die Runde. Es sind nicht bloß die Hemden, die mich deprimieren, es ist der ganze Laden hier. Als wäre er einem Dickens-Roman entsprungen. Der Geruch von Muffigkeit, verbrauchter Luft, gebohnerten Bodenbrettern und Mottenkugeln. Ein riesiger, hoher Raum wie ein Western Saloon, mit Mahagonitresen, gusseisernen Stützpfeilern, geschwungener Holztreppe, Metallzylindern, die vom Büro meiner Mutter droben durch Rohre hin- und herzischen und Rechnungen und Wechselgeld transportieren. Als wir jünger waren, haben Matt und ich immer Raumschiff mit ihnen gespielt und Plastikcowboys in die Büchsen gesteckt. Das fällt heutzutage vermutlich unter den Begriff Sünde.

Die Türglocke schlägt an. Himmel, wenn jetzt ein Kunde kommt, muss ich ihn bedienen.

Es ist mein Vater. »Draußen steht ein herrenloses Auto«, sagt er. »Ich ruf die Polizei an.«

Im selben Moment geht die Sirene im Feuerwehrhaus los, ein Geheul, das uns als Kinder immer ganz aufgeregt werden und zum Fair Hill hinaufrennen ließ, damit wir zusehen konnten, wie die Feuerwehrleute eintrafen, sich umzogen und unter schrillem Gebimmel mit dem Löschzug ausrückten. Heute löst der Sirenenton Angst aus. Ich trete ans Fenster und sehe hinaus. Ein Ford Cortina. Es könnte der von vergangener Nacht sein, er sieht genauso aus und parkt direkt vor unserem Laden. Ein anderes Geräusch stimmt in das Sirenengeheul ein. Es ist das Martinshorn eines RUC-Landrovers, nein, von zweien, im Nu sind sie da, umrunden den Diamond, fahren mit ­quietschenden Bremsen und rumpelnden Reifen auf den Gehsteig. Türen knallen, Rufe sind zu hören. »Den Platz räumen! Bombenalarm!« Ein Polizist schaut ins Innere des Cortina; man hört das Quäken seines Walkie-Talkies und seine drängende Stimme. Ein zweiter lädt die Straßensperren aus. Ein dritter kommt zu unserem Laden, bimmelbimmel, da steht er und kommandiert: »Alle nach hinten raus! Bombenalarm.«

»Alarm oder Drohung?«, fragt mein Vater.

»Echter Alarm. Lasst alles liegen und stehen und verschwindet.«

»Wie viel Zeit haben wir noch?« Das ist Tilly, die aus den unteren Regionen heraufruft.

»Eine halbe Stunde, hieß es. Das war vor fünf Minuten. Ihr müsst jetzt sofort raus.« Und schon eilt er davon.

Matt und Jane und Mutter kommen von oben herunter. Janes Gesicht ist voller Sommersprossen und Angst und weist keinerlei Spuren von Kosmetik auf. Sie trägt etwas, das früher unter die Bezeichnung Sommerkleid fiel, ganz voller Blümchen, und die Haare hat sie zu einem flachsblonden Zopf geflochten. Natürlichkeit ist angesagt. Wie aus einem Walt-Disney-Film. Klack-klack machen Mutters Stöckelschuhe auf der hölzernen Treppe; sie hält eine Tortenschachtel in der Hand.

»Das sind die Einnahmen dieser Woche«, sagt sie, »und alles aus dem Safe.«

»Gut, prima. Macht alle Fenster auf und verschließt die offenen Kamine. Auf geht’s«, sagt mein Vater. »Tilly, was machst du denn da?« Im rückwärtigen Teil des Ladens hat sich Tilly einen leeren Hutkarton gegriffen, und jetzt zieht sie Schubladen heraus und entleert sie in den Karton. »Bin gleich fertig, Chef«, sagt sie.

»Bring sie von da weg«, sagt er zu mir.

Ich schieße los durch den Mittelgang, meine Schritte hallen auf den Bodenbrettern, Hemden links, Handschuhe rechts, ein Ständer mit Herrenanzügen links, Hosen rechts, Stoffballen rechts und links, eine dicke Fliege lässt sich gerade auf einem Ballen Harris Tweed nieder – ob auch sie es nach draußen schafft? –, dann Tilly direkt vor mir, klein, pummelig und drahthaarig, ein Abrazo in einem geblümten Kleid, wie sie hektisch Schubladen aus dem riesigen Kurzwarenkasten herausreißt, der die ganze Rückwand bedeckt, wie ein verrückter Zwerg, der die Register einer gigantischen Orgel zieht.

»Wir müssen hier weg«, sage ich.

»Bloß noch die dunkelbraunen Dreiviertelzoll-Velours-Ösenknöpfe«, sagt sie. »Die werden nicht mehr hergestellt.«

»Zum Teufel mit den dunkelbraunen Dreiviertelzoll-Velours-Ösenknöpfen, die Bombe da kann jede Minute hochgehen.«

»Hör auf zu fluchen und hilf mir lieber. Sie liegen lose in einer Schublade, neben einer ganz kleinen braunen Tüte. Ich habe sie erst heute früh gesehen.«

Tilly ist besessen von ihren Zwirnsrollen, Päckchen mit Nähnadeln und Stecknadeln, von Gummi- und Stoffbändern, Litzen, Reiß- und anderen Verschlüssen, Haken, Ösen, Druck-, Kragen-, Manschetten- und sonstigen Knöpfen. Sie hat sie allesamt fein säuberlich in die Schubladen sortiert, überprüft ständig den Bestand und telefoniert und bestellt ununterbrochen. Als ich noch ein Kind war, hat sie mir immer erzählt, dass sie sie allmorgendlich zum Anwesenheitsappell antreten lässt, und ich glaubte ihr. Nichts auf der Welt macht sie glücklicher, als wenn eine völlig unbekannte Kundin aus Belfast oder Derry in den Laden kommt und sagt, sie habe unsere Adresse von irgendeinem großen Kaufhaus, und wir seien ihre letzte Hoffnung bezüglich eines winzig kleinen Artikels, um den sich kein Mensch mehr schert, und Tilly ihn dann hervorzaubert. Für solche Augenblicke lebt sie, sie machen ihre Existenzberechtigung aus. Einmal, als ich gerade im Laden aushalf, kam eine Frau im ­Pelzmantel herein und sagte, dem Ton nach aus Malone, man habe ihr empfohlen, nach Tilly Burnside zu verlangen, weil diese eventuell einen Ersatz für den fehlenden Knopf an ihrem Mantel habe. Tilly schürzt bloß die Lippen, schielt über den Rand ihrer Nickelbrille, wirft einen Blick auf die anderen Knöpfe, verkündet: »Brauner marmorierter Winso«, verschiebt kurz den Unterkiefer wie eine Einspannbacke seitwärts, dreht sich um, greift in eine Schublade und legt mit einer einzigen fließenden Bewegung das Duplikat auf den Tisch. Danach hatte sie monatelang gute Laune. Selbstverständlich kam die Frau nie wieder in den Laden, und Mum sagte, wir hätten bei dem Geschäft etwa drei Pence Gewinn gemacht.

Es ist einfacher, die dunkelbraunen Dreiviertelzoll-Velours-Ösenknöpfe zu suchen, als Tilly aus dem Laden zu bugsieren. Also beginne ich mit der Suche. Ich höre, wie im Haus die Fenster hochgeschoben werden. Wir haben dazugelernt, seit das von den ersten beiden Bomben erzeugte Vakuum alle Vorderfenster in der ganzen Straße herausgesaugt und den Ruß aus den Kaminen in alle Räume geblasen hat.

»Was in Gottes Namen treibt ihr beiden da?« Meine Mutter ist neben uns aufgetaucht.

»Wir suchen die dunkelbraunen Dreiviertelzoll-Velours-Ösenknöpfe«, erkläre ich ihr.

»Seid ihr noch bei Trost?«

»Sir William verlangt die immer«, sagt Tilly. »Für sein Tweedjackett.«

Es handelt sich um Sir William Foster-Clark, der im Clark House drunten am Ufer des Raine wohnt beziehungsweise residiert. Er kommt ausschließlich wegen der Knöpfe in den Laden.

»William!«, ruft meine Mutter. »Tu endlich was!« Mein Vater heißt ebenfalls William, und nie würde meine Mutter ihn Bill nennen.

»Hab sie«, sagt Tilly und lässt die Knöpfe in die Schachtel fallen. Meine Mutter nimmt sie ihr ab.

 

Draußen, im trügerischen Sonnenlicht, verstopft der umgeleitete Verkehr den Fair Hill, wirbelt Staubwolken von der trockenen Erde hoch, und die Leute aus den Geschäften am Diamond bevölkern den Hügel. Wir haben das vorher schon mitgemacht, die anderen öfter als ich, weil ich unter der Woche zumeist weg bin, aber sogar ich habe schon dreimal im Dreck und Staub gewartet. Die Toners vom Schuhgeschäft, die McAllens vom Zeitungsladen, die McAtamneys von der Metzgerei, dann alle, die Mercers Hotel bewohnen, darunter McGlinchey, der Friseur, der Einzige von ihnen, den ich kenne. Sie schauen auf unsere kleine Gruppe, die aus mir, Tilly, Matt, Jane, Mum und Dad besteht. Mir wird klar, dass sie sehen möchten, wie wir auf die Tatsache reagieren, dass der Cortina so nahe bei unserem Laden abgestellt wurde; der ist diesmal für uns bestimmt. Ein paar Leute aus der Stadt oder der Umgebung wollen unser Haus in die Luft jagen. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. Wir haben doch nichts getan, womit wir das verdient hätten. Ich registriere, dass ich anfange, hektisch nach Luft zu schnappen, ich beuge mich vor und stütze die Hände auf die Knie. »Bleib locker«, sagt Matt, »die Leute gucken schon.«

»Geht schon wieder, geht schon wieder.« Ich richte mich auf. Mein Vater sieht auch nicht gerade wie das blühende Leben aus. Normalerweise ein kleiner, gepflegter Mann mit geschmeidigen Bewegungen und einem angedeuteten Dauerlächeln auf den Lippen, wirkt er jetzt mitgenommen. Die langen Haarsträhnen, die er beflissen pflegt, um seinen kahlen Schädel zu kaschieren, hängen ihm übers linke Ohr, und ein Zipfel seines Hemdes spitzt über dem Hosengürtel heraus. Warum sieht er so beschämt aus? Meine Mutter steht neben ihm, sie scheint nicht zu wissen, wie sie ihn trösten könnte, öffentliche Zurschaustellung von Zuneigung liegt ihnen nicht. »Zumindest haben wir die Einnahmen, William«, sagt sie und hält die Schachtel hoch. Aber es ist Tillys Hutschachtel, sie muss beide im Laden verwechselt haben. Sie hat es noch nicht bemerkt. Sie bemerkt es jetzt. Es ist ein grässlicher Anblick. Ihr Mund wird immer größer, ihre Augen weiten sich, ihre Hand fliegt vor den Mund, sie kann nicht sprechen und will zurück zum Laden rennen, aber mein Vater kriegt sie noch zu fassen, und dann fängt sie an »O Gott, o Gott, o Gott. Es tut mir so leid, William, es tut mir so leid, es tut mir so leid«, und schließlich bricht sie vor aller Augen in Tränen aus, was ihr normalerweise nicht im Traum einfallen würde.

Sie hat Angst vor meinem Vater. Warum hat sie Angst vor meinem Vater? Wenn überhaupt, dann hätte ich eher geglaubt, es müsste andersherum sein. Aber eigentlich ist es nicht er, vor dem sie Angst hat, sondern das, wofür er steht. Dieses ganze Dalzell-Ding. Weil sie versagt hat, deshalb. Weil sie aus dem kleinen Bauernhof an der Landstraße stammt und in die Dalzell-Dynastie eingeheiratet hat. »Waren nichts, hatten nichts«, hörte ich Großmutter Dalzell einmal zu dem bewussten Sir William sagen, als sie glaubte, niemand könne sie hören.

Ich will mir das nicht länger ansehen. »Ich geh zur Straße und guck zu, wie die Bombe hochgeht«, sage ich zu Matt. »Kommst du mit?«

»Lasst mich nicht allein«, sagt Jane.

Wir gelangen über einen Durchgang auf die Main Street, direkt hinter die Polizeiabsperrung. Hier halten sich noch weitere Leute auf. Ein kleiner, o-beiniger Polizist steht mit dem Rücken zu uns, die Hände hinter dem Körper ineinandergelegt. Samstagnachmittag in Mitchellstown. Die Uhr auf dem quadratischen Türmchen über unserem Laden zeigt kurz nach zwei. Sie hat zwei Zifferblätter, eines zum Diamond hin und das andere zur Main Street. Die Main-Street-Uhr geht gegenüber der Diamond-Uhr schon immer zwei Minuten nach. Der Cortina steht genau darunter und glänzt in der Sonne. Sie haben es tatsächlich geschafft. Direkt im Herzen von Mitchellstown. Der Diamond ist menschenleer. Was wird nach der Bombe von ihm übrig sein? Drüben in der linken Ecke vor der Bücherei treffen sich jeden Samstagabend um sechs die Männer in den dunklen Anzügen und halten Predigten vor den Leuten, die an den Ecken herumstehen und auf die Ankunft des Belfast Telegraph mit den Fußballergebnissen warten.

»Vielleicht geht die Bombe ja nicht los«, sagt Matt.

Warum beunruhigt mich dieser Gedanke?

Aber dann schlägt der Cortina plötzlich wie ein Stier in einem Rodeo nach links aus, der Polizist vor uns geht in die Hocke, das Auto verschwindet in einer gelben Wolke, und es gibt einen ohrenbetäubenden Knall und ein Donnern, als würde ein Zug direkt auf uns zurasen. Der Gehsteig unter unseren Füßen sackt weg und federt dann wieder zurück, und vor unserem Anwesen steigt ein riesiger Rauchpilz auf.

»Großer Gott«, sagt Matt.

Es ist plötzlich so still, dass ich glaube, ich sei taub geworden, und dann höre ich ein Geräusch wie von einem plötzlichen schweren Platzregen, platschplatsch, der sich zu einer prasselnden Sintflut steigert, während es Steine und irgendwelche Trümmer auf den Diamond hagelt. Der Rauch verzieht sich. Die Fassade des Ladens ist jetzt ein gähnendes Loch. Eine der drei eisernen Stützen im Innern hat sich verbogen, und der erste Stock, den sie getragen hat, hängt in der Mitte durch. Dann ist da ein weiteres Geräusch über unseren Köpfen, ein schürfendes Geräusch von etwas, das immer schneller wird. Ich kenne es, kann es aber nicht einordnen. Der Polizist fährt herum, noch immer in der Hocke. »Aufpassen, Leute!«, ruft er. »Lose Dachziegel!«

Matt und ich drücken uns flach gegen die Mauer hinter uns, Jane taumelt hinaus auf die Straße.

»Jane!«, ruft Matt und packt sie am linken Arm.

Dann ein Geräusch, wie wenn das Hackbeil eines Metzgers in ein Stück Fleisch mit Knochen fährt. O mein Gott, ein Ziegel steckt in Janes Kopf, zwei weitere zerspringen vor ihr auf der Straße, sie sackt zusammen und fällt nach rechts, noch immer von Matt gehalten, Knie, Schulter und Kopf schlagen auf dem Gehsteig auf, Matt wird von ihr mitgerissen, er stolpert über ihren Körper und landet auf dem Gesicht, hält noch immer ihre Hand, zerrt ihren Körper ungelenk zu sich. Er schreit »ah, ah, ah«, steht wieder auf, packt sie von hinten, hält sie an der Taille fest und zieht sie hoch, scheint zu glauben, wenn er sie nur auf die Beine bekommt, wird alles wieder gut.

»Hilf mir, um Gottes willen!«, ruft er mir zu, aber wobei denn, sie ist so tot, wie man nur tot sein kann, und ihr Kopf baumelt vor und zurück, weil der Ziegel so schwer ist. Das Einzige, was man tun kann, ist, sie wieder hinzulegen, was ich auch versuche.

»Was machst du da?«, schreit Matt, und das Ganze artet in ein lächerliches Tauziehen aus. Jetzt kommt auch noch der Polizist dazu, und Matt schreit erneut »ah, ah, ah«, und wir legen Jane auf die Erde. Ihr Kopf fällt jetzt zur Seite, und der Ziegel schlägt mit einem furchtbaren Geräusch auf dem Gehsteig auf. Matt zieht mit beiden Händen an dem Ziegel, und Janes Kopf ist voller Blut. Ein paar der Umstehenden zerren ihn endlich weg und halten ihn fest. Jane liegt der Länge nach alleine da, mit dem blutigen Kopf auf einer Seite und dem herausstehenden Ziegel, und ihre weiße Wollunterhose schaut hervor, bis ihr eine Frau den Minirock drüberzieht.

»Lasst mich durch«, sagt ein Mann. Es ist Doktor McQuillan, der katholische Arzt, Gott sei Dank, und er beugt sich über Jane und tastet nach einem Puls und ruft dann nach einer Decke oder irgendwas, um das arme Mädchen zuzudecken. Matt hockt vornübergebeugt an der Mauer, und um ihn herum breitet sich eine Blutlache aus. Doktor McQuillan geht zu ihm hinüber, betrachtet sich Matts Hände und ruft nach jemandem, der ihm assistieren kann, und ich gehe hin. Matts Handflächen sind von dem Ziegel zerschnitten, Blut schießt in großen Schüben heraus, ich muss den tiefsten Schnitt so fest wie möglich zudrücken, und jemand macht das Gleiche mit der anderen Hand. Matt schreit erneut, und Doktor McQuillan legt an beiden Armen eine Aderpresse an. Dann hört man den Krankenwagen kommen, und ich werde zur Seite geschubst.

 

3

»Und das hier ist die Toilette«, sagt Herr Brand. »Du musst aufpassen, dass der Eimer immer voll Wasser ist, wenn du ein … großes Geschäft machst.«

»Warum?«

Das ist die erste richtige Unterhaltung auf Deutsch seit meinem Abflug aus Irland. Letzte Woche beim Vorbereitungskurs in München bin ich mit anderen Studenten aus England und Irland um die Häuser gezogen und habe mein Deutsch nur benutzt, um Bier zu bestellen.

Er hebt den Deckel. Er ist ein leichenblasser Mensch mit herabhängenden Mundwinkeln, wahrscheinlich magenkrank, hager, und sogar mir fällt trotz des heftigen Abschiedsabends gestern in einem Münchner Biergarten auf, dass sein dunkles Haar nach Alkohol und Zigaretten riecht. Ihm gehört das Haus, und im Erdgeschoss betreibt er ein Fotofachgeschäft. Heute Morgen bin ich mit dem Zug hierher nach Burgbernbach ­gefahren, einem Städtchen in den bewaldeten Hügeln des fränkischen Steigerwalds, wo ich dieses Jahr unterrichten werde.

»Schau mal«, sagt er und deutet auf das Klo. An seiner rechten Hand fehlen die vordersten Glieder der ersten beiden Finger. Die Schüssel hat unten keinen Siphon, es gibt nur ein Loch und darunter ein Rohr, das in den düsteren Eingeweiden des Hauses verschwindet. »Sonst rutscht es nicht runter.«

Es gibt keine Spülung. Und auch kein warmes Wasser. Er hat mir bereits erklärt, wie der Boiler im Bad mit Holzscheiten beheizt und wie der Ofen in meinem möblierten Zimmer mit Öl befüllt wird.

»Wie spüle ich das Geschirr?«

»Du machst das Wasser im Bad warm, nimmst dir einen Eimer voll und trägst ihn in die Küche.«

»Was für einen Eimer?«

»Den vom Klo.« Er muss meinen Gesichtsausdruck bemerkt haben. »Jetzt stell dich nicht so an, der Eimer ist doch sauber, du verrichtest doch dein … großes Geschäft nicht in den Eimer, oder? Noch was.« Er streckt einen seiner intakten Finger in meine Richtung. »Am gescheitesten ist es, dann abzuwaschen, wenn du sowieso baden willst. Wenn das Wasser eh schon warm ist. Klar?«

»Was mache ich zuerst?«

»Das liegt bei dir.«

»Und wie wasche ich mich frühmorgens?«

»Kalt.« Er lässt das meckernde Lachen eines nikotingegerbten Rauchers hören. »Da kommst du nicht auf dumme Gedanken. Nun zur Kaution. Du zahlst mir hundert Mark Kaution für eventuelle Beschädigungen in der Wohnung, die du verursachst, und wenn du nichts beschädigst, kriegst du das Geld wieder, wenn du ausziehst, klar? Das heißt, Beschädigungen, die von dir stammen, nicht die, die schon da sind. Wie die Brandspuren im Linoleum in der Küche.«

»Oder wie die …« – herrje, wie heißen die Dinger bloß auf Deutsch? – »die Beschädigungen auf dem Fußboden im vorderen Zimmer.«

»Was für Beschädigungen?«

Ich zeige sie ihm. Drei tiefe Schrammen, die parallel in einer leichten Kurve zum Fenster hin verlaufen, dort abrupt aufhören, wobei die mittlere am weitesten vorn endet, wie bei einem fliegenden Pfeil.

»Ach, die. Die waren schon immer da. Also dann.« Er streckt seine verstümmelte Hand aus. »Viel Glück.«

Er lässt mich mitten im vorderen Zimmer meiner Bleibe stehen, das sich aus einem alten Sofa, einem wackeligen Tisch, zwei Stühlen und dem Bett zusammensetzt. Vom Fenster hinter dem Tisch überblickt man den genau in der Stadtmitte gelegenen Marktplatz. »Beste Lage, hahaha«, wie Herr Brand sagte. Doch eine mysteriöse Stille liegt über dem Platz, und kein Mensch ist zu sehen. Sogar an einem Sonntag wäre in Mitchellstown mehr Betrieb, schon wegen der Leute, die zum Zeitungsladen gehen.

Ich schreibe schnell einen Brief nach Hause mit meiner neuen Adresse und verlasse die Wohnung, um ihn aufzugeben und den Ort zu erkunden. Bei der Herfahrt mit dem Zug habe ich schon gesehen, dass es sich um ein recht malerisches Städtchen handelt. Es liegt inmitten einer Hügellandschaft, an den Fuß eines bewaldeten Hanges hingebettet, der wie eine Woge aus dem Naturpark Steigerwald herüberschwappt. Die Altstadt ist ringsum von einer Mauer aus gelbem Sandstein eingefasst, die von vier Toren durchbrochen wird. Das mittelalterliche Zentrum scheint im Wesentlichen intakt, lauter steil aufragende Fachwerkhäuser mit roten Dächern. Gepflasterte Straßen, ein Marktplatz mit zwei einander gegenüberliegenden Gasthäusern, einem Rathaus, einem Supermarkt, einer Haushaltswarenhandlung, einem Elektrohändler, dem Fotoladen meines Vermieters, einem Geschäft für Bettwäsche und Tischdecken. Aber alle Läden haben zu, und eine bedrückende Stille liegt über dem Ort.

»Entschuldigen Sie bitte, wo ist hier die Post?«, frage ich eine alte Frau, die gerade die Straße kehrt.

Sie deutet in Richtung der Straße in ihrem Rücken. »Aber die hat jetzt zu.«

»Ist heute ein Feiertag?«

»Naa, wieso?«

»Weil alle Geschäfte geschlossen haben.«

Sie zuckt mit den Achseln. »Am Samstagnachmittag haben die immer geschlossen.«

Als wäre der Sonntag ein breiter, angeschwollener Strom, der über seine Ufer getreten ist und sich zurück in den Samstag gestaut hat. Allmächtiger. Die andere Sache, die mich beunruhigt, sind die herrenlosen Autos, die überall auf dem Marktplatz geparkt sind. Das fand ich schon in München schlimm, aber hier ist es noch schlimmer, weil diese Stadt ungefähr so groß ist wie Mitchellstown und die Atmosphäre des kleinen Marktplatzes die gleiche. Für mich ist es problematisch, an einem leeren Auto vorbeizugehen, obwohl ich weiß, dass mir hier keine Gefahr droht. Meine Hände fangen an zu schwitzen, mein Atem beschleunigt sich, und mir kommt es vor, als hätte ich meine Beine nicht vollständig unter Kontrolle, als könnten sie sich verbiegen und einknicken, als könnte sich das Pflaster unter ihnen plötzlich senken und wieder zurückschnellen, kurz bevor dieser schreckliche, ohrenbetäubende Detonationsknall kommt.

 

In einem Gasthaus droben am Nordtor halte ich am Sonntagabend ein leeres Glas Bier in beiden Händen. Morgen ist mein erster Unterrichtstag. Ich sehe mich um. Eine Musikbox mit hauptsächlich deutschen Schlagern, ein Spielautomat, ein Tischfußball, an dem niemand spielt. Dunkelheit, die sich in den Ecken sammelt. Ich hätte ein Buch mitnehmen sollen. Neben der Musikbox liegt ein Stapel Magazine mit nackten Mädchen. Schlüsselloch, Praline, St. Pauli Nachrichten. Magazine, für die man bei uns daheim ordentlich Geld hinlegen und beim Kauf rot werden müsste, und hier liegen sie einfach so herum, und jeder kann sie lesen. Zum Beispiel mit Fotos von Jenni draußen im Wald, die vor sich hin träumt und dabei von irgendwas gestochen wird, woraufhin sie sich vollständig ausziehen muss, um den Stachel zu suchen.

»Noch ein Bier?«, fragt der Wirt, der lautlos neben mir auftaucht.

»Ja, bitte.«

»Sind Sie der neue Engländer an der Schule?«

»Ja.«

Sein Blick fällt auf die Bilder, dann wieder auf mich. Der Hauch eines Lächelns huscht über sein Gesicht.

»Aha.« Schlurf, schlurf.

Der heutige Tag war der langweiligste in meinem bisherigen Leben. Keine Sonntagszeitung, kein Fernsehen, kein Auto, keine Leute. Sogar das Gasthaus ist leer, abgesehen von dem alten Ehepaar ein paar Tische weiter, das die Köpfe zusammensteckt, wenn es miteinander spricht, wie es Schwerhörige tun, und dem Wirt hinter dem Tresen, der mein Bier einschenkt.

Letzte Woche um diese Zeit war ich gerade nach München geflogen und ins Studentenwohnheim gezogen. Die Flure waren voll mit frisch eingetroffenen Studenten aus dem Vereinigten Königreich, die allesamt die Vorbereitungswoche für Assistant Teachers absolvierten. Ich schloss mich einer Gruppe an, die einen Abstecher zum Marienplatz machen wollte, und wir landeten im Weißen Bräuhaus bei köstlichem dunklen Hefeweizen. Von da an ging es Schlag auf Schlag. Jennerwein, Drugstore, Hofbräuhaus, Englischer Garten, Augustinerkeller, Donisl. Martin, Micky, Geoff, Maurice, Jonathan, Judy, Joanne, Lucy, die hübsche kleine Jill. Keine Zeit für Betrachtungen. Keine Zeit für Erinnerungen.

Molly machte ungefähr eine Woche nach der Bombe mit mir Schluss. Wir gingen ins Kino, sahen uns 007 – Leben und sterben lassen an, und ich preschte wieder mit dem Wagen meines Vaters zur Slipanlage drunten am Raine, als sie sagte: »Ich möchte heute Abend nicht zum Fluss runter, John«, und ich fragte: »Was heißt das?«, und sie sagte: »Eigentlich möchte ich überhaupt nie mehr runter zum Fluss.«

»Warum nicht?«

»Weil ich bekehrt bin.«

Der Wirt kommt mit meinem Bier zurück. Plonk. Ein Bier hält zwei Zigaretten lang. Danach gehe ich zurück in mein möbliertes Zimmer.

 

Janes Beerdigung war furchtbar. Sie fand unter glühend heißem, grellem Sonnenlicht statt, das gnadenlos von jedem noch so elenden Detail zurückgeworfen wurde. Von den Messingbeschlägen und dem Hochglanzlack des Sarges; vom billigen weißen Nylonkragen von Janes kleinem, gebücktem, o-beinigem Vater John-Joe vor mir; vom Schweiß auf der Glatze ihres Onkels Sammy zu John-Joes Rechten, der durch die Haarsträhnen schimmerte, die er sorgfältig mit Frisiercreme darüberdrapiert hatte. Der Messinggriff am Sarg fühlte sich warm an, Schweiß lief mir über Rücken und Stirn und tropfte von der Nase, und ich spürte, wie meine Hände immer rutschiger wurden.

Ich gehörte zum ersten Lift; Lifts heißen bei uns die Sargträgermannschaften, die sich bei einem Begräbnis ablösen. In den Tagen unmittelbar vor der Beerdigung war Matt manisch high gewesen. Er hatte die Trauerfeier organisiert, sich mit furchterregender Intensität auf die Einzelheiten gestürzt. Er selbst konnte den Sarg nicht mittragen, weil seine Hände genäht und bandagiert worden waren und er aussah, als wären ihm weiße Pfoten gewachsen.

»Warum bin ich beim ersten Lift dabei?«, fragte ich.

»Die Lifts sind für Leute, die die letzte Ehre erweisen, in absteigender Reihenfolge ihrer Bedeutung für die verstorbene Person«, sagte er. »Ihre Zusammensetzung muss streng ausgewogen sein. Wie die Sitzordnung bei einem wichtigen Essen. Keiner darf das Gefühl haben, zu kurz zu kommen. Der erste Lift gehört der Familie. Du übernimmst meinen Posten.«