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Titelseite

Koytek & Stein

Pagat ultimo




Kriminalroman













Leykam

Zitat

If there’s hell below, we’re all going to go.

(Curtis Mayfield)

Prolog

Herbst 1995

Der Umschlag stach unter dem Packen bunter Werbebroschüren hervor. Beigefarben, etwas abgegriffen, an einer Ecke zerknittert und wieder zurechtgeglättet. Kein Absender, keine Adresse. Nur sein eigener Nachname in großen, krakeligen Blockbuchstaben vorne am Kuvert. Kurz fühlte er das raue Papier zwischen den Fingerkuppen und hielt es sich an die Nase. Es roch, als hätte es lange Zeit in einer Schublade auf seine Bestimmung gewartet. Eine Weile starrte er unschlüssig auf die Schrift, während in ihm Unbehagen hochkroch. Wer ...?

Mit einer fahrigen Handbewegung ließ er den Brief auf den Küchentisch fallen, schnappte die übrigen Werbeaussendungen und querte damit die Küche. Stück für Stück zerknüllte er das Papier zu länglichen Würsten und legte sie in den uralten Holzofen. Darauf platzierte er dünne knorrige Äste, aus denen die letzten Reste von Feuchtigkeit längst entwichen waren. Voriges Jahr hatte er alle Obstbäume auf dem Grundstück zurechtgeschnitten. Jetzt gediehen die alten Bäume zumindest wieder. Ungestüm riss er ein Streichholz an, das zwischen seinen großen Fingern prompt in zwei Teile zerbrach.

Ärgerlich warf er die leere Streichholzschachtel zu den Ästen und sah sich um. Er war eindeutig zu lange nicht da gewesen. Fast schien es, als wollte ihn das gesamte Haus dafür rügen, indem es sich von seiner ungemütlichen Seite zeigte. In den Mauern hatte sich die Feuchtigkeit festgesetzt, an den Wänden unter der Farbe bildeten sich schimmlige Bläschen. Alles war von einer Staubschicht bedeckt, in den Ecken hingen verklebte Spinnweben, und – er rieb sich die Hände – es war eisig. Er stand auf und streckte die müden Glieder. Zeitig am Morgen war er von Wien aufgebrochen, um wenigstens diesen einen Tag hier verbringen zu können. Mit zusammengekniffenen Augenbrauen zog er an der Schublade des Küchentisches. Natürlich klemmte sie. Er griff nach dem Brotmesser und beugte sich zur Lade hinunter. Schob das Messer mit Gewalt zwischen Tischplatte und Lade auf und ab, bis sie endlich nachgab.

Ungeduldig durchwühlte er die Fächer. Aber die Dinge hatten in seiner Abwesenheit offensichtlich ein Eigenleben entwickelt und befanden sich nun nicht mehr dort, wo er sie in Erinnerung hatte. Mit einer gezielten Bewegung des Beckens schob er die Lade wieder zu und schlurfte in den Vorraum. Dort holte er ein Feuerzeug aus seiner Manteltasche, ging am Ofen vorbei und blieb vor dem Küchentisch stehen.

Der Brief war so gelandet, dass ihm sein Name entgegenrief: Mach auf! Optisch passte er gut zur staubigen Umgebung. Vom Inhalt her – da ließ er sich nicht täuschen – war der Brief ein Quertreiber, der nichts mit dem alten Haus zu tun hatte.

Erneut nahm er den Briefumschlag zur Hand und tastete ihn ab. Viel war nicht drin. Vor allem kein Papier, das hätte sich anders angefühlt. Eher ein dünner Karton. Allerdings lag auch noch etwas Zweites im Kuvert. Etwas Hartes, Flaches. Sein Hals verengte sich, als zöge jemand innerlich eine Schnur zusammen.

Unweigerlich dachte er an den Streit vom Vortag. Sie hatte sich wieder einmal über ihn lustig gemacht, ihn regelrecht bloßgestellt! Und ihn so lange weiter provoziert, bis ihm der Kragen geplatzt war.

Nein! Er legte den Brief wieder auf den Tisch zurück und zeichnete mit dem Finger eine Linie durch den Staub – jetzt würde er sich hierum kümmern und nicht auch noch den einzigen freien Tag opfern!

Sobald die Flammen das Papier angeknabbert hatten und sich an die getrockneten Zweige heranmachten, legte er die letzten Buchenscheite nach. Dann schnappte er die Hacke, zog sich seine Jacke über und ging in den Keller. Abgestandene Luft schlug ihm entgegen. Er holte den Schlüsselbund hervor, wählte einen der alten Schlüssel aus und steckte ihn ins Schloss. Nur mit großem Widerstand ließ er sich drehen. Entschlossen versuchte er, die mit Rostflecken übersäte Eisentür aufzuziehen. Aber wie zuvor die Schublade widersetzte auch sie sich. Er stellte die Hacke neben den Türrahmen auf den gestampften Lehmboden und beleidigte die Tür mit Obszönitäten, während er immer heftiger an ihr rüttelte. Ein paar Tropfen Öl ..., dachte er zornig. Doch die Kanne zu finden würde ewig dauern. Also zerrte er schließlich so lange an der Tür, bis sie unter kläglichem Quietschen nachgab.

Die kümmerliche Feuchtraumlampe lieferte gerade so viel an Helligkeit, dass man sich zurechtfinden konnte. Die Hand immer noch am Schalter, starrte er angestrengt in den feuchten, penetrant riechenden Raum. Er blickte auf den Haufen, der vor ihm auf dem Boden lag, wischte sich die vom Moder der Mauer schmutzig gewordene Hand achtlos an der Hose ab und griff wieder zur Hacke. Prüfend fuhr sein Finger über die Schneide. Dann hob er sie über den Kopf, dass sie beinahe die Decke berührte, und schlug zu.

Einmal in der Mitte durch. Mit einem satten Krachen glitt das stählerne Blatt durch den Stamm und blieb im Hackstock stecken. Die Hälften fielen seitlich zu Boden. Als wollte er die vergangenen Monate in kleine Teile zerstückeln, damit sie ihm nichts mehr anhaben konnten, hackte er wie ein Besessener auf die schon zurechtgeschnittenen Holzstämme ein, bis sie endlich die richtige Größe hatten. Genau so, wie sein Vater es ihm gezeigt hatte. Damals hatte er allerdings noch Schwierigkeiten mit dem Gewicht der Hacke gehabt: „Und pass auf, dass du triffst! Nie mit Wucht, sondern mit Schwung!“ Das mit dem Schwung hatte er nie so genau genommen. Das mit dem Treffen beherrschte er nach wie vor. Rasch füllte er die Scheite in den Korb, trug sie hinauf zum Ofen und leerte sie davor auf den Boden. Zwei davon warf er ins knackende Feuer, den Rest stapelte er in der Nische daneben.

Dann begann er mit erstaunlicher Geduld zu putzen. Nahm jeden Gegenstand in die Hand und suchte ihm einen Platz. Fegte mit dem Reisigbesen den Boden und holte die Spinnweben von den Wänden. Zwischendurch erlaubte er sich im Hof eine Rauchpause. Auf den Bäumen hingen vereinzelt runzelige Birnen und Äpfel. Nüsse faulten zwischen braunen Blättern. Erst später, als die Sonne gegen Mittag durch die Wolken brach und ihm ins Gesicht schien, machte sich endlich fast so etwas wie Erleichterung in ihm breit, die er in der Stadt lange vergeblich gesucht hatte.

Gegen Abend – das Haus schien ihm seine Vernachlässigung verziehen zu haben, das Holz prasselte im Ofen, es war warm genug, um sich die Hemdsärmel hochzukrempeln – setzte er sich an den Küchentisch, nahm das Kuvert in die Hand und riss es auf. Zwei Gegenstände rutschten heraus.

Ein kleines, scharfkantiges Stück Glas und eine Spielkarte. Tarock. Der Pagat. Lange Zeit saß er reglos mit der Karte in der Hand da und starrte ins Leere.

Dienstag, 10. Mai 2005

1

„Ich erwarte Sie in zehn Minuten vor dem Eingang!“

Noch ehe Orsini antworten konnte, war die Leitung tot.

„Seltsam“, meinte er und legte den Hörer auf die Gabel.

„Was denn?“, fragte Wilasich.

Er“, antwortete Orsini und deutete mit einer Kopfbewegung an die Decke, „wartet vor dem Eingang auf mich. In zehn Minuten. Ist irgendwas passiert?“

„Nicht dass ich wüsste.“ Wilasich runzelte die Stirn und zuckte mit den Schultern. Er war quasi die rechte Hand Orsinis und wurde von den Kollegen kurz Wila genannt.

Orsini nahm seine Lederjacke vom Haken, gab Wilasich noch ein paar Anweisungen, steckte sein Handy ein und schloss die Tür hinter sich.

Jeder im Büro wusste, wer gemeint war, wenn von ihm die Rede war. Besonders die jüngeren Kollegen legten sogar einen Unterton in die Stimme, der zwischen ängstlich und ehrfürchtig lag, wenn sie von ihm sprachen. Jene, die ihn schon länger kannten, verwendeten untereinander die Abkürzung Pok. Orsini hingegen hatte sich – zumindest innerhalb der Abteilung – für den vollen Namen entschieden.

Dass sein Vorgesetzter ihn sprechen wollte, war an sich nichts Besonderes. Dass es vor dem Gebäude sein sollte, schon. Denn Pokorny bewegte sich nur selten von seinem Schreibtisch weg. Meist rief er die Leute zu sich und besprach alles Wichtige bei Tee und Zigaretten in seinem Büro. So hatte er seinen Ruf als kettenrauchender Schwarzteetrinker mit Reibeisenstimme über die Jahre kultiviert und dabei mehr als klargestellt, dass ihm nie etwas entging.

Orsini trat vor das Polizeigebäude. Auf einer Parkbank, nur wenige Schritte vom Eingang entfernt, saß der Pok. Eine graue Mappe lag neben ihm, er hatte Orsini den Rücken zugewandt und schien dem endlosen Strom an Fahrzeugen etwas abgewinnen zu wollen.

„Endlich ...“, sagte er mit schnarrender Stimme und stand auf, ohne sich umzudrehen.

Orsini blieb hinter der Bank stehen. Ärger kroch in ihm hoch. Schneller war der Weg vom Büro hierher keinesfalls zu schaffen.

Gerade als er zu einer Erwiderung ansetzen wollte, fuhr Pokorny fort: „... endlich wieder ein paar Sonnenstrahlen!“, drehte sich um und sah Orsini an. Sein dichtes, angegrautes Haar war in sorgfältigen Strähnen nach hinten gelegt und hielt üblicherweise den ganzen Tag die Stellung. Auffallend an ihm war sein vom Nikotin gelb gefärbter Schnauzbart, der jeden Seehund vor Neid hätte erblassen lassen. „Ist unglaublich, wie schnell das geht.“

„Wie was geht?“

„Na, der Wechsel der Jahreszeiten. In meiner Jugend hat’s noch so was wie einen Übergang gegeben. Aber jetzt? In der Früh eiskalt und zu Mittag so, dass man ins Schwitzen kommt. Das ist doch nicht mehr normal!“

„Hm ...“, murmelte Orsini mit Blick auf seine cognacbraune Jacke, die er nun wohl oder übel mitschleppen musste. Pokornys thematischer Abstecher zum Wetter war ebenso ungewöhnlich wie das außerbüroliche Treffen insgesamt.

„Kommen Sie, machen wir einen Spaziergang!“ Pokorny schnappte Mappe und Mantel und marschierte los, ohne auf Orsini zu warten.

Störrisch blickte Orsini ihm nach. Einerseits fiel ihm untertäniges Verhalten seit jeher schwer, und er wusste, dass Pokorny gerade das an ihm gefiel. Andererseits hatte der Pok mehr als einmal seine Hand schützend über ihn gehalten, auch wenn er es nie zugeben würde. Also setzte er sich in Bewegung.

Eine Weile trottete er neben seinem schweigenden Vorgesetzten her. Beim Schottentor überquerten sie die Ringstraße, Wiens monumentalen Boulevard. Seine Errichtung hatte damals, im 19. Jahrhundert, quasi den Weizen von der Spreu getrennt und gleich einzementiert: Innerhalb des Rings residierte man in Palais, direkt außerhalb kam das Großbürgertum zum Zug, am Stadtrand durfte die Unterschicht hausen. Immerhin hatte man sich die heute selbstverständlichen Symbole der Demokratie – das Parlament und das Rathaus – erkämpft, dachte Orsini und sah zum Universitätsgebäude hinüber.

Dort hatten zwei junge Männer ein Transparent aufgespannt – Bildungs-Kapital statt Banken-Terror stand da. Die beiden konnten ungleicher nicht sein. Der eine ein Alternativer wie aus dem Bilderbuch – lange Haare, Stirnband und Schlabberhose –, der andere im dunklen Anzug mit Krawatte. Orsini grinste und dachte an seine Jahre im Juridicum, bevor er das Studium abgebrochen hatte. Schon damals waren die Mittel knapp gewesen, aber immerhin hatte man für einen Sitzplatz nicht stundenlang vor dem Hörsaal Schlange stehen müssen. Und es hatte angenehme Begleiterscheinungen wie Partys und Konzerte gegeben, lange Nächte inkludiert.

„Hören Sie überhaupt zu?“, fragte Pokorny plötzlich.

„Wie bitte? ... Natürlich ...“, antwortete Orsini, „... ob ich schon mal was über die Türkenbelagerung gelesen habe ... Ich weiß nur nicht, welche von beiden Sie meinen.“

Pokorny blieb abrupt stehen, blickte ihn listig an und deutete mit der Mappe in der Hand auf die Mölkerbastei, einen der wenigen erhaltenen Abschnitte der ehemaligen Stadtmauern. Orsini meinte sich zu erinnern, dass darin einer der vielen Komponisten, auf die die Stadt so stolz war, eine Zeit lang gelebt hatte. Schubert, Mozart ...? Aber was hatte das mit den Türken zu tun?

„Dann wissen Sie sicherlich, dass die Türken genau hier, wo wir jetzt stehen, alles unterminiert haben.“

Orsini nickte überrascht. Dass sein Chef sich für Historisches interessierte, war ihm neu.

„Sie haben alles drangesetzt, um in die Stadt zu kommen und sich den Goldenen Apfel zu pflücken.“

„Goldenen Apfel?“

„So haben sie Wien genannt. Die türkischen Mineure waren die Besten ihrer Zeit. Hier, zwischen Löwelbastei und Burgbastei, haben sie sich eingegraben – gegraben haben natürlich die Sklaven und Gefangenen. Die sind krepiert wie die Ratten. Der ständige Beschuss von den Mauern, die Ausfälle der Wiener Stadtwache, so gut wie kein Essen.“ Pokorny wies mit einer schnellen Kopfbewegung zur Balustrade hoch. „Es waren aber beide Seiten nicht grad zimperlich: Dort oben haben die Bürger die abgeschlagenen Türkenköpfe auf Spießen zur Schau gestellt.“ Während er mit der Hand he­rumwedelte und zu einer großräumigen Erläuterung ansetzte, schoss ein Fahrradbote mit penetrantem Geklingel auf sie zu. Orsini wich mit einer eleganten Bewegung aus und zog dabei Pokorny mit sich.

„Ziemlich viel los.“

Pokorny nickte abwesend. „Wo war ich gerade?“

„Die abgeschlagenen Türkenköpfe ...“

„... aufgespießt, genau. Wissen Sie, was das Schlimmste bei einer solchen Belagerung war?“

„Die Folterungen?“

„Das auch. Hautabziehen war eine der türkischen Spezialitäten. Das Ärgste aber müssen die hygienischen Bedingungen gewesen sein – abgesehen vom ständigen Hunger. Das übertrifft unser heutiges Vorstellungsvermögen! Die Verletzten sind oft regelrecht verfault“, erwiderte Pokorny trocken, drehte sich um und schritt erneut zügig voran. Ende des Vortrags.

Irritiert folgte ihm Orsini. Er kam sich vor wie ein Blinder an der Leine eines herrischen Hundes. Erst vor der Staatsoper zwang sie eine Gruppe Touristen zu einem weiteren Halt. Orsini schnappte einige Brocken Spanisch auf und beobachtete belustigt eine resolute ältere Dame. Sie hatte einen rosaroten Regenschirm in der Hand und streckte ihn plötzlich energisch in die Höhe. Augenblicklich setzte sich der folgsame Tross in Bewegung. Während Pokorny und Orsini hinter dem Schwarm zum zweiten Mal die Ringstraße querten, musterte Orsini die Gruppe genauer. Weshalb verhielten sich Menschen dermaßen uniform, sobald sie zu mehreren auftraten? Selber fühlte er sich immun gegenüber solchen Erscheinungen, war er doch jahrelang allein in der Welt herumvagabundiert. Erneut mahnte der ungeduldige rosarote Schirm seine Schäfchen zur Eile, bog schließlich mit seinem iberischen Schwarm rechts ab und hinterließ eine rosarot hüpfende Spur in Orsinis Gedächtnis.

„Jetzt schieben sie zur Abwechslung wieder einmal einem Landschaftsarchitekten das Geld sonst wohin, damit er diesen unmöglichen Platz erträglich macht!“, murrte Pokorny indessen.

Das Gelände zwischen Secession und Karlskirche war ein ewiges Provisorium, egal was die Stadt auch anstellte. Es war der zentrale Verkehrsknotenpunkt. Oben donnerten die Autos auf jeweils drei Spuren über den Asphalt, unten trafen sich drei verschiedene U-Bahn-Linien. Da konnten Karlskirche und Technische Uni im Hintergrund strahlen, soviel sie wollten. Zudem hatte sich die Drogenszene hier festgesetzt.

Sie querten schweigend vor dem Café Museum zuerst die Straße und dann ein kleines Stück Grünfläche, das von einem intensiv duftenden Lavendelbeet begrenzt wurde. Pokorny marschierte flott voran und hielt erst unweit der Karlskirche an. „Hier ...“, er schob ein paar Zweige eines buschigen Strauches zur Seite und deutete mit dem Zeigefinger auf eine kahle erdige Stelle, „hat sie gelegen.“

„Wer – sie?“

„Die Selbstmörderin.“ Pokornys Hand fuhr mit routinierter Geste durch die Haare und brachte die akkurat gezogenen Strähnen in eine wie mit dem Kurvenlineal gezogene Form. Dabei sah er Orsini an, als müsste dieser seine Gedanken lesen können. Da Orsini aber nur verständnislos den Kopf schüttelte, murmelte er schließlich: „Sie haben nichts davon gehört ... Wieso auch?“, und deutete auf eine Bank. „Setzen Sie sich!“

Mit einem Stoßseufzer ließ er sich neben Orsini nieder. Dann runzelte er die Stirn. „Was ist das?“

„Was denn?“

„Spüren Sie nichts?“

„Doch“, entgegnete Orsini, der nun auch ein deutliches Zittern bemerkte, das sich von der Parkbank auf den Körper übertrug. „Kann eigentlich nur von den Bohrungsarbeiten kommen.“

„Bohrungsarbeiten?“

„Der Entlastungskanal“, erklärte Orsini und zeigte auf eine der vielen provisorischen Absperrungen aus groben Holzplatten, die größtenteils bereits mit Plakaten zugeklebt waren. Neben einem der zerbeulten Container parkte ein nagelneuer Bagger. Gleichzeitig fragte Orsini sich, wann Pokorny endlich dieses Katz- und Mausspiel bleiben lassen würde. Nicht dass er von Grund auf ungeduldig gewesen wäre, auch saß er ganz gerne auf einer Parkbank, aber ... Er fing mit den Fingern auf dem Holz zu trommeln an.

„Natürlich – lassen wir uns also eine Weile den Allerwertesten massieren“, erwiderte Pokorny und holte tief Luft. „Was ich Ihnen jetzt sagen werde, bleibt vorläufig unter uns!“

Orsini hob die Augenbrauen.

„Ist nichts Verbotenes. Nur eine taktische Vorgehensweise, mit der einstweilen niemand anderer ... belastet werden soll.“

„Die Selbstmörderin?“

Pokorny nickte, nahm die graue Mappe zur Hand und öffnete sie. „Margarete Bauer, geboren 1980“, begann er vorzulesen, „gestorben in der Nacht zum 22. April, also vor ungefähr drei Wochen. Hat sich mit einer Glasscherbe in selbstmörderischer Absicht am linken Unterarm entlang der Pulsader Schnitte zugefügt und ist daraufhin verblutet ..., schon als Jugendliche ins Drogenmilieu abgerutscht, zahlreiche abgebrochene Entzugsversuche ..., vermutlich auch als Gelegenheitsprostituierte tätig. Soweit kein Einzelfall.“

„Rechtshänderin“, murmelte Orsini und begutachtete das Foto, das ihm Pokorny gereicht hatte. Die Frau war mehr Knochen als Fleisch. Ihre Arme waren von älteren Narben und Blutergüssen zerfurcht, die unzähligen Nadeleinstiche hatten sich teilweise entzündet und Eiterbeulen gebildet. Ihr Hals war unglaublich dünn. Zusätzlich ließ der Ausschnitt des ausgewaschenen T-Shirts ihn unnatürlich lang erscheinen. Die Brüste waren flach wie bei einer greisen Frau und wahrscheinlich bereits ebenso runzelig wie die Haut an ihren Händen.

„Sie hat gewusst, was sie tut“, stellte Orsini fest und starrte auf die tief klaffenden Wunden. Die Schnitte reichten bis auf den Knochen und hatten Sehnen, Blutgefäße und Muskeln durchtrennt. Es gab erstaunlich wenige Selbstmörder, die auf Anhieb fest genug schnitten, um zu sterben, dachte Orsini.

„Theoretisch ja“, entgegnete Pokorny. „Allerdings, wenn man das Foto genauer ansieht ...“

Orsini folgte mit den Augen der Spur des geronnenen Blutes am Arm der Toten. Dann nickte er. „Wer hat es als Suizid eingestuft?“

„Der herbeigerufene Notarzt, Dr. ...“

„Ich meine, von uns?“

„Gottschlich.“

Orsini schwieg. Bisher war er mit dem Leiter der Tatortgruppe 2, die für die Spurensicherung zuständig war, einigermaßen ausgekommen. Aber er kannte Gottschlichs Ruf. Ermittlungstechnisch hatte man ihm zwar noch nie Schlamperei nachweisen können, aber die Spatzen pfiffen seine Bequemlichkeit längst schon vom Dach. Dafür hatte er Kontakte im ganzen Polizeiapparat und lauerte wie ein Krake, der seine Fangarme überallhin ausgestreckt hatte, in seiner sicheren Höhle namens Gewerkschaft.

„Die Details können Sie selber nachlesen“, unterbrach Pokorny seine Gedanken.

„Warum genau sollte ich das?“, fragte Orsini. Nur um einem Kollegen einen eventuellen Ermittlungsfehler nachzuweisen? Er hatte momentan genug anderes am Hals. In den letzten Monaten waren mehrere seiner Mitarbeiter freigesetzt worden, wie es neuerdings hieß, und für die verbliebenen gab es Überstunden zur Genüge.

„Vor nicht ganz zehn Jahren, September 1995“, fuhr Pokorny fort, ohne auf Orsinis Frage einzugehen, „ich war damals Bezirksinspektor. Eines Nachts stürzte ein junger Mann aufgebracht ins Kommissariat. Er kam direkt aus dem Stadtpark und redete völlig unzusammenhängendes Zeug. Ich erinnere mich noch genau, dass ihm der Schweiß aus allen Poren rann wie nach einem Saunaaufguss, obwohl es draußen schon herbstlich kühl war. Er gab an, bedroht worden zu sein.“

„Mit einer Glasscherbe?“

Pokorny nickte.

„Wir sind sofort mit ihm dorthin. Haben den ganzen Park abgesucht, aber natürlich niemanden gefunden.“

Orsini zuckte mit den Achseln.

„Allerdings hat es in derselben Nacht einen zweiten, ähnlichen Vorfall gegeben. Hier am Karlsplatz. Dort drüben, um genauer zu sein.“ Pokorny deutete zum Restaurant Resselpark hinüber. „Leider hab ich das erst Tage danach erfahren. Hab zufällig den Kollegen getroffen, der die Anzeige der Frau aufgenommen hat.“

„Eine Frau ...“

„Ja, sie hat mehr oder weniger dasselbe angegeben wie der junge Mann. Dass der Typ plötzlich vor ihr stand und sie dann mit einer Glasscherbe attackierte.“

„Das war alles?“

„Nein, erstens konnte sie ihn beschreiben.“

„Und zwar?“

„Mittelgroß, mittellange blonde Haare, Jeans und Pullover.“

Sehr hilfreich, dachte Orsini. „Und zweitens?“

„Sein stierer Blick, als träten die Augen aus den Höhlen hervor, aber vor allem seine Stimme. Sie hat ausgesagt, dass sie die Stimme wiedererkennen würde. Er hat etwas geflüstert, immer wieder, mit einem ganz eigenen, gepressten Klang. Jedenfalls war es kein normal Betrunkener. Eher ein Besessener.“

„Und der Mann ist niemand anderem aufgefallen?“

Pokorny zog die Mundwinkel nach unten. „Nein. Ich war ja damals noch nicht so lang dabei. Schlägereien, häusliche Gewalt – das gab es ständig. Aber einen Wahnsinnigen mitten in unserem Revier? Wir hatten durchaus Angst, dass sich die Sache ausweiten könnte. Deshalb haben wir es auch über die Medien versucht. Was soll ich sagen, es ist nichts Derartiges mehr passiert, und so ist die Sache irgendwann eingeschlafen.“

„Aber jetzt“, Orsini hielt das Foto hoch, „haben Sie sich daran erinnert.“

Pokorny sah beinahe gequält auf. „Es lässt mir keine Ruhe“, meinte er leise und zuckte plötzlich zusammen, als knapp neben ihnen ein Entenpärchen mit lautem Geschnatter vorbeizog. Ein Jogger in knallroter Bekleidung mit einem noch knalligeren orangen Stirnband hatte sie aufgeschreckt. „Zwei Kunstflieger“, bemerkte er und folgte dem Minigeschwader mit den Augen, bis es in elegantem Bogen über Künstlerhaus und Musikverein weitergesegelt war. „Könnte ja auch ein schöner, harmloser Sommer werden – wär zumindest eine nette Abwechslung.“

Orsini schloss für einen Moment die Augen und spürte die wärmenden Sonnenstrahlen im Gesicht. „Sie sehen einen Zusammenhang, obwohl die Attacken fast zehn Jahre zurückliegen ...“

„Ich wär sehr froh, wenn es keinen Zusammenhang gäbe. Ist ja auch unwahrscheinlich, zu viele Widersprüche.“ Pokorny nahm das Foto der toten Drogensüchtigen in die Hand und deutete damit zum Gebüsch, in dem sie gefunden worden war. „Aber der Kollege Gottschlich hat uns auch nicht grad geholfen, die aus der Welt zu schaffen!“

Tief unter ihnen fraß der Bohrkopf sich gerade mit einem Ruck weiter auf seinem Weg durchs Erdreich, als hätte er sich an einem besonderen Brocken beinahe verschluckt. In Pokornys Hosentasche begann es ebenfalls zu vibrieren. Seufzend griff er nach seinem Handy, warf aber nur einen kurzen Blick darauf und drückte auf Besetzt.

„Der soll warten!“

Orsini schmunzelte, aber im nächsten Augenblick meldete sich der Störenfried erneut.

„Wissen Sie, wer mich da traktiert? Zurzeit jagt eine Sitzung die andere. Als hätten wir nicht schon genug davon gehabt! Ich kann das Wort Reform nicht mehr hören! Bringen wird’s am Ende nicht viel. Das ist ein sinnloses Match – jeder gegen jeden. Und wie früher bei der Türkenbelagerung wird’s ein paar Köpfe geben, die nachher zur Schau aufgespießt werden!“ Pokorny fuhr sich zum mehrten Male wütend durch die Haare. Seine Strähnen hatten dabei kapituliert und sich in ein Jackson Pollock-Gemälde aufgelöst.

Orsini schwieg wohlweislich. Bisher war es ihm halbwegs gelungen, das Thema von sich und seiner Gruppe fernzuhalten. Zu den geplanten Veränderungen gab es noch so gut wie keine konkreten Informationen. Doch im Haus setzte die Unsicherheit allen zu. Die Atmosphäre kippte bei jedem neuen Gerücht etwas weiter ins Gereizte.

Mittlerweile surrte der aufgeregte kleine Kommunikationsvibrator in Pokornys Hosentasche zum dritten Mal. „Meine Eier sind jetzt bald genauso weich wie bei diesem Schleimscheißer“, kam unvermittelt seine derbe Seite zum Vorschein, die er normalerweise streng im Zaum hielt. „Ich lass ihn noch fünf Sekunden zappeln, dann muss ich abheben.“ Beinahe genüsslich zählte er bis fünf, griff sich dann in die Haare, reduzierte Jackson Pollock wieder auf Piet Mondrian und meldete sich mit geschäftsmäßiger Stimme. Nachdem er aufgelegt hatte, schnappte er seinen Mantel, reichte Orsini die Mappe und sagte: „Ich möchte nur, dass Sie in nächster Zeit Ihre Augen offen halten. Hoffen wir, dass ich Unrecht habe! Bis morgen!“

Seufzend nahm Orsini sie entgegen und rief dem Davoneilenden nach: „Weiß man, was der Typ geflüstert hat?“

Pokorny fischte seine Zigarettenpackung aus der Manteltasche, zündete sich im Gehen eine Zigarette an und drehte sich nach dem ersten Lungenzug noch einmal kurz um. „Dona nobis pacem, angeblich. Ein Heiliger also ...“

*

Paula Kisch sah mit einem Lächeln zum Vortragenden hin. Jedes Mal, wenn er sich zur Tafel drehte, um auf seine PowerPoint-Präsentation zu zeigen, versuchte er gleichzeitig, die etwas zu weite Hose hochzuziehen. Das Problem daran war der Gürtel. Er hatte sich wohl nicht genug Zeit genommen, ihn ordentlich einzufädeln, und jetzt, mitten in der Vorlesung, konnte er das schlecht nachholen. Auch das Hemd hätte gebügelt gehört, dachte sie, aber zumindest hatte er sich rasiert. Überhaupt wirkte der Professor absolut sympathisch, sein Vortrag allerdings ...

Nervös tippte sie mit ihrem Stift auf ihrem Knie herum und senkte möglichst unauffällig ihren Blick. „Die zerebrale Aktivität ...“, hörte sie noch, während sie sich wieder in ihre Lektüre vertiefte. Sie hatte einen äußerst spannenden Bericht über die Entwicklung des DNA-Profilings auf den Oberschenkeln liegen, gut durch den Tisch verdeckt. Der Mord an einer 15-Jährigen aus der englischen Ortschaft Enderby war es gewesen, der als allererster mithilfe des genetischen Fingerprints gelöst worden war. Man hatte damals einen Jugendlichen festgenommen, der auch ein Geständnis abgelegt hatte. Wegen eines ähnlichen Mordes im Jahr davor wollte man eigentlich nur abklären, ob es sich um denselben Täter handelte. Allerdings gab es eine Panne: Der DNA-Test ergab die Unschuld des Jugendlichen. 5000 Männer sollten daraufhin freiwillig ...

„Frau Kisch!“, hörte sie wie von weit entfernt eine Stimme. „Frau Kiiisch!“ Ein Ellbogen stupste sie in die Seite.

Paula sah hoch. „Ja, bitte ...?“ Sie biss sich auf die Lippen und schob das Buch ins Bankfach.

„Wären Sie so nett und würden Ihre geneigte Meinung zu den Symptomen von ADHS mit uns teilen?“ Der Professor verschränkte die Arme und sah sie herausfordernd an.

Paula ächzte innerlich. Sie hatte all ihren Charme angewandt, um überhaupt noch für dieses Seminar zugelassen zu werden, nachdem sie die Anmeldefrist versäumt hatte. Und das, obwohl sie der Stoff nicht wirklich interessierte. Hilfesuchend blickte sie um sich, bis ihre Nachbarin mit dem Kopf Richtung Tafel deutete.

„... hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten“, las sie von der Tafel ab, „scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere ihn/sie ansprechen.“

Gelächter erfüllte den Hörsaal.

„Tut mir leid“, meinte sie kleinlaut, „ich war in Gedanken.“

„Wär mir gar nicht aufgefallen“, erwiderte der Professor trocken. „Aber vielleicht können Sie die Gedanken“, er blickte auf die Uhr, „in 40 Minuten fertig denken?“

Paula nickte.

Einige Zeit bemühte sie sich, dem Vortrag zu folgen, und beantwortete sogar eine der Fragen korrekt. Doch schon eine Viertelstunde später ertappte sie sich, wie sie aus dem großen Fenster im sechsten Stock des Neuen Institutsgebäudes der Universität – tatsächlich handelte es sich um einen abgenutzten 60er-Jahre-Bau, der dringend eine Sanierung nötig gehabt hätte – über das Dach der Votivkirche in die Ferne starrte. Ja, sie hatte verbissen darum gekämpft, dieses Studium neben ihrer Ausbildung zur Kriminalbeamtin fortsetzen zu dürfen. Dennoch – ungeduldig wippte sie mit den Zehen in ihren Schuhen auf und ab –, nicht jedes der Fächer interessierte sie tatsächlich. Manche waren geradezu Zeitverschwendung. Zumindest für sie. Das Einzige, was wirklich zählte – vorsichtig zog sie ihr Buch wieder ein Stückchen aus dem Bankfach hervor –, war die Kriminalistik, allen voran die Kriminalpsychologie, die es jedoch leider noch nicht zum eigenständigen Studienfach geschafft hatte.

Erst nachdem sie die Eigenschaften von Hyperaktivität bei Kindern über sich ergehen lassen hatte, und erst nachdem sie auf dem Kommissariat stundenlang über dem Protokoll eines Einbruchs gesessen war – hatte sie endlich Zeit. Sie holte sich einen schwarzen Kaffee, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, streckte die Beine quer über den Tisch und dachte für einen Augenblick an den nächsten Monat, in dem sie sich hauptsächlich dem Studium widmen durfte. Da würde sie sich sogar für die Therapie unaufmerksamer Kleinkinder interessieren, schwor sie sich. Dann schlug sie ihr Buch auf.

*

Conrad Orsini blickte vom Garten des Restaurants Resselpark durch den satt sprießenden Blätterwald zum Eingang der Technischen Universität. Sinnigerweise hatte man zwischen die alten Ahornbäume die Statuen sämtlicher Erfinder, die in keinen anderen Park passten, gestellt, wo sie in Ruhe vor sich hin dösen konnten, ohne dass sie irgendwem abgingen. In einem Zug leerte er sein Glas und hob die Hand. Heute würde er ausnahmsweise nicht mehr ins Büro zurückkehren und stattdessen den angehenden Sommerabend gebührend würdigen. Hinter den Tischen plätscherte ein Brunnen vor sich hin. Steinerne Frösche und Enten spien einander zwischen herumturnenden Engeln Wasser entgegen. Das stumpfe, ewig gleiche Dröhnen der Autos mischte sich mit den Stimmen von den benachbarten Tischen. Hin und wieder knallte eine winzige unreife Kastanie auf das gemusterte Kunststofftischtuch vor ihm. Miniermotten ..., sinnierte er, ein Asienimport.

Schließlich öffnete er doch Pokornys Mappe. Rasch überflog er die Berichte aus dem Jahr 1995 und blätterte weiter bis zum Foto der Selbstmörderin. Ihre langen dunklen Haare klebten wirr über den eingefallenen Wangen. An Lippen und Nase hatte sie mehrere Piercings. Die Glasscherbe lag auf ihrem Bauch. Ein abgebrochenes Stück einer Flasche. Nichts Besonderes. Sie war einmal hübsch gewesen, dachte er und sah zum Nebentisch. Dort schwebte ein hellgrauer Ring aus Rauch in die Höhe und verlor sich im dunklen Grün des Laubs. Seit er mit dem Rauchen aufgehört hatte, überkam es ihn immer wieder. Zu gerne hätte er sich jetzt eine angezündet.

Sein Finger fuhr über das Foto, als könnte er dadurch die Haut der Toten spüren; spüren, ob nicht doch noch ein Hauch Lebendigkeit in ihr vorhanden war. So erging es ihm meistens, wenn er einen Leichnam vor sich hatte. Der Drang nachzuforschen ergriff so von ihm Besitz, dass er sogar auf das bloße Abbild hinlangen musste. Die Unabänderlichkeit des Todes wollte einfach nicht in sein Hirn, egal wie viele Jahre er nun schon damit zu tun hatte. Es war, als gäbe es irgendwo im Universum eine verborgene, geheim gehaltene Möglichkeit, den Lauf der Welt zu ändern, sie anzuhalten und dem Schicksal zu trotzen. Meistens hatte er sich mittlerweile so unter Kontrolle, dass keiner seiner Kollegen etwas bemerkte. Vielleicht ging es ihnen ja sogar ähnlich. Aber manchmal, besonders bei Selbstmorden, wuchs der Drang in ihm und drückte von innen auf seinen Brustkorb. Wie war es möglich, dass die Welt in beinahe sturer Vielfalt einerseits Leben hervorbrachte, nur um es von einem Augenblick zum anderen wieder auszulöschen?

Die Augen der Toten auf dem Bild waren weit aufgerissen. Das Gesicht schien aber eher Unglauben auszudrücken als Verzweiflung oder Angst. Hatte sie sich verschätzt? Hatte sie nicht gedacht, dass es so schnell gehen würde, oder hatte sie sich selbst die Tat vorher nicht wirklich zugetraut? Was aber, wenn an Pokornys Vermutung etwas dran war? Ein Mörder, der seine Tat als Selbstmord tarnte – ein Schläfer, der zehn Jahre Ruhe gegeben hatte, nur um jetzt wieder aktiv zu werden, besser gesagt, um gewaltig zuzulegen. Wie wahrscheinlich war das? Denn – und das war der Schwachpunkt an Pokornys These – bei den Attacken vor zehn Jahren war schließlich niemand ums Leben gekommen.

Orsini griff nach seinem Bier und hielt inne. Womöglich ... Er fixierte die steinernen Engel und meinte, in ihren Gesichtern einen etwas hämischen, unerbittlichen Zug zu erkennen, als plötzlich eine der Minikastanien eben diesen Zeitpunkt wählte, um von ihrem Zweig ausgerechnet in sein Glas zu fallen. Er blickte hoch, ließ das Glas los und wischte sich kopfschüttelnd den Ärmel ab. Womöglich hatte Gottschlich recht mit dem Selbstmord. Abgesehen von den Ungereimtheiten am Foto – denen nachzugehen es aber leider längst zu spät war.