Geleitwort

Es ist mir eine große Ehre und Freude, das Geleitwort für das Elterntrainingsmanual von Frau Cordula Neuhaus zu schreiben.

Frau Neuhaus hat bereits in zahlreichen Büchern sowie in Vorträgen gezeigt, dass sie nicht nur über einen großen praktisch-klinischen Erfahrungsschatz verfügt, sondern auch über profunde Kenntnisse zur wissenschaftlichen ADHS-Literatur verfügt.

Ihre Bücher und auch das vorliegende Manual zeugen davon, dass Frau Neuhaus eine Expertin der Störung ist, über Jahrzehnte lange Erfahrung in Diagnostik und Therapie von Kindern mit ADHS verfügt und sich mit viel Empathie authentisch für die betroffenen Kinder und ihre Eltern einsetzt. Dabei schrecken sie auch ideologisch und politisch motivierte Angriffe nicht.

Im Rahmen der multimodalen Therapie, wie sie in den Leitlinien der AG ADHS der Kinder- und Jugendärzte sowie der Kinder- und Jugendpsychiater empfohlen wird, besitzt das Elterntraining einen hohen Stellenwert. Es wird jedoch in qualitativ guter Ausführung nur selten angeboten. Ein ADHS-Elterntraining kann nur effektiv sein, wenn es die Besonderheiten im Verhalten der Kinder mit ADHS berücksichtigt. Folgerichtig sieht es auch Frau Neuhaus als Ziel ihres Trainings an, die Eltern zu befähigen, mit Verständnis und Wissen um die Dysregulation der autonomen Selbststeuerung ihres Kindes – und evtl. auch ihrer eigenen – die Vorläufer von Konflikten zu analysieren und damit den Konflikt zu entschärfen oder abzuwenden. Frau Neuhaus weiß aus langjähriger Erfahrung in der Durchführung von Elterntrainings, dass nicht selten ein Elternteil selbst von einer ADHS betroffen ist. Dies zu berücksichtigen und adäquat damit umzugehen, ist sehr wichtig und stellt eine Besonderheit ihres Manuals dar. In der Literatur wird immer wieder auf die Erfolglosigkeit eines Trainings bei selbst betroffenen Eltern hingewiesen – das von Frau Neuhaus konzipierte Training, das auf ihrer verhaltenstherapeutischen Ausbildung und jahrelangen Erfahrung mit selbst betroffenen Eltern basiert, lässt hoffen, dass auch diese Eltern motiviert und aktiviert werden können, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren und zu modifizieren.

Das Manual stellt kein Rezeptbuch dar, das nach Schema X abgearbeitet werden kann. Es erfordert von dem „Trainer“, dass er sich auf dem aktuellen Wissensstand befindet, eine positive Einstellung zu ADHS hat, darauf verzichtet Ratschläge zu verteilen und mit Schuldzuweisung zu arbeiten. Stattdessen sollte er flexibel auf die in der Gruppe sich entwickelnde Dynamik reagieren und einen Dialog zulassen und fördern. Nur so ist es möglich, den sehr unterschiedlichen Bedürfnissen der Eltern gerecht zu werden und die Eltern dabei zu unterstützen, die positive Beziehung zu ihrem Kind wiederzuerlangen bzw. zu erhalten und mit „liebevoller Sturheit“ ihr Kind zu begleiten.

Ich hoffe, dass das Manual viele Therapeuten ermutigt, diese wichtige Aufgabe in Angriff zu nehmen und dass damit endlich ausreichend wirksame Elterntrainings zur Verfügung stehen.

Dr. Kirsten Stollhoff

Vorwort

Mein letzter Gedanke, bevor ich anfing zu schreiben, war: Die machen mich kaputt! „Die“ sind Kevin, zwölf Jahre, und Aileen, zehn Jahre alt. Wir, meine Frau Briska und ich, lieben unsere Kinder, gar keine Frage, aber es gab in den vergangenen Jahren so viele Momente, an denen meine Nerven dermaßen angegriffen waren. Situationen, aus denen wir beide keinen Ausweg mehr fanden, wo, Gott verzeih mir, ich sie am liebsten an die Wand geklatscht hätte. Aber komischerweise kenne ich das alles schon, nur damals war ich das Kind. Die Reaktionen meines Vaters damals sind meine Gedanken heute, und genau dies möchte ich nicht so an meine Kinder weitergeben.

Ich hatte vor meinem Papa richtig Angst. Ich musste nach seinen Vorstellungen funktionieren, etwas anderes war undenkbar. Heute bin ich der Papa, nur ich bestehe nicht mit Gewalt darauf, dass die beiden sich so verhalten, wie wir es gerne hätten. Aber was kann man tun? Der Stimmungspegel im Haus ist kontinuierlich hochexplosiv. Da die beiden Kinder sich in ihrem Wesen total unterscheiden, ist der Versuch einer gerechten Regelung so gut wie unmöglich!

Kevin, der Ruhige, Träumer, Organizer. Alles muss auf seinem Platz sein, der Schulranzen wird fünfmal am Tag sortiert – ja nichts berühren! Alles wird hinterfragt: „Was ist, wenn?“, „Muss ich zur Bundeswehr oder soll ich erst einen Beruf erlernen?“ – so geht das von morgens bis abends.

Aileen, die Hyperaktive, Quirlige, Unordentliche, Quasselstrippe bis zum Abwinken – der „Supergau“ war vorprogrammiert. Kein Tag ohne Weinen, Schreien, Schlagen, Nerven und Verweigern. Und wir mittendrin! Durch die ständigen Streitereien, die auch unsere Ehe sehr belasten, kamen wir irgendwann an den Punkt, an dem wir uns fragten: Sind wir schlechte Eltern? Wir schaffen das nicht, auf jeden Fall nicht alleine!

Wie schon gesagt, wir lieben unsere Kinder und sie lieben uns, was sie in den Streitpausen sehr deutlich zu erkennen geben. Sie brauchen uns, aber wohl nicht so. Ich bin mir nicht sicher, ob das ständige Gebrüll von uns beiden nicht genauso schlimm ist wie das Zuschlagen meines Vaters. Körperliche Wunden verheilen, aber die seelischen bleiben. Ob Schlagen oder Kurz-und-klein-Schreien – die Erinnerung bleibt. Ich weiß das!

Wenn ich an meine Kindheit denke, fallen mir eigentlich nur die schlimmen Sachen ein. Sicher hatte ich Freunde. Wir waren jeden Tag am Bach oder im Wald, das war wirklich toll. Aber Punkt 17.00 Uhr, wenn mein Vater in die Garage fuhr, war es vorbei. Ich möchte das heute nicht. Meine Kinder sollen sich freuen, wenn ich heimkomme, oder später, wenn sie erwachsen sind, zu uns sagen können – ihr ward und seid gute Eltern (hoffentlich).

Die Hauptleidtragende ist natürlich meine Frau. Es geht los um 6.00 Uhr und endet um 21.00 Uhr, während ich an vielen Tagen die Kinder nur morgens sehe. Aber es gibt ja Handys, und somit kann ich auch tagsüber auf dem Laufenden gehalten werden, was meine Arbeitsleistung im Beruf manchmal sehr beeinträchtigt.

Als vor einigen Monaten eine Kinderpsychologin in unsere Nachbarschaft zog und ich aus beruflichen Gründen in ihrem Haus tätig war, ergab sich für unsere Familie eine einmalige Chance, die meine Frau sofort erkannte. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, welche Konsequenzen das für uns haben würde. Frau Neuhaus nahm sich sofort nach der ersten Anfrage von Briska die Kinder vor.

Zuerst war Kevin an der Reihe. Nachdem er ausgetestet war, kam eine Reihe von Untersuchungen. Zur gleichen Zeit hörte ich zum ersten Mal das Wort ADHS, was mir bis dahin völlig fremd war. Kevin wurde dann mit einem Medikament sozusagen eingestellt, worauf ich nicht näher eingehen kann, weil ich nicht dabei war. Auf jeden Fall bemerkte ich nach den ersten Tagen, dass sich mein Sohn absolut veränderte. Nicht zum Negativen, nein, zum Positiven. Zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte ich einen Sohn, der mir freiwillig etwas erzählte und gerne zur Schule ging, was bis dahin undenkbar war. Sicherlich wurden nicht alle Marotten abgestellt, aber immerhin so, dass wir damit sehr gut leben können. Jetzt ist Aileen an der Reihe, und auch bei ihr stellen wir Veränderungen fest.

Um eine funktionierende Familie zu bekommen, dürfen wir die Ursachen und Fehler nicht nur bei den Kindern suchen. Deshalb waren wir am Wochenende bei einem Elterntraining von Frau Neuhaus in Esslingen. Als ich von meiner Frau darüber informiert wurde, dass sie uns angemeldet hatte, war ich überhaupt nicht begeistert. Meine Wochenenden sind durch meinen Beruf sehr kostbar, aber um des Friedens Willen bin ich mitgefahren. Außer uns waren noch acht weitere Ehepaare da, und nach einer kurzen Vorstellung der einzelnen Paare und der Sorgen um ihre Kinder merkte ich schnell, dass diese uns sehr bekannten Verhaltensweisen weiter verbreitet sind, als ich dachte.

Ich fühlte mich in dieser großen Runde richtig wohl. Zum ersten Mal war ich mit Menschen zusammen, mit denen ich mich über unsere Probleme unterhalten konnte. Es war für mich interessant zu erfahren, wie es anderen geht und wie sie sich zu Hause bei dentäglichen Kämpfen mit den Kindern verhalten.

Nach dem ersten Tag fuhren wir mit vielen neuen Gedanken, Ideen und sehr viel Hoffnung nach Hause und mit Vorfreude auf den nächsten Tag. Die Erfahrungen, Verhaltensregeln, Richtlinien und Hinweise, die uns vermittelt wurden, waren unglaublich. Wir hatten alles aufgesogen wie ein Schwamm. Auf dem Heimweg musste ich meiner Frau Recht geben, es war für mich und uns sehr wichtig, an diesem Seminar teilgenommen zu haben.

Ich sehe jetzt die ganze Situation mit anderen Augen und kann mich auf die Stresssituation ganz anders einstellen. Vor allem ist mir sehr bewusst geworden, wie wichtig wir Eltern für unsere Kinder sind. Sie stehen und fallen mit uns. Wir sind der einzige Halt für sie. Wir sind die, die sie verstehen, wenn wir uns darum bemühen! Es sind keine dummen Kinder, im Gegenteil, durch Förderung und konsequentes Verhalten, Einhaltung ausgemachter Regeln und Übertragung von Verantwortung in kleinen Schritten, bin ich mir sicher, die tollsten Kinder der Welt zu haben, „denn das sind meine“.

Um das Erlernte nicht in Vergessenheit geraten zulassen, beschlossen wir nach dem zweiten Tag, sofort nach Öffnen der Haustüre mit den Verhaltensänderungen zu beginnen.

Ich muss zugeben, dass ich bisher meinen beiden Kindern nicht allzu viel zutraute. Zu oft wurden wir in der Vergangenheit enttäuscht. Denn schon bei den kleinsten Bitten, etwas für uns zu erledigen, kam ein „Nein, kein Bock!“ oder „Mach ich nachher“ (bei dem es auch blieb und wir zum guten Schluss den Auftrag selber erledigen mussten). Sollte sich doch einer der beiden bereit erklären etwas zu tun, ging dies meist nur mit einer Belohnung oder zumindest nach der Frage: „Was bekomme ich dafür?“.

Hochkonzentriert und interessiert nahm ich mir jetzt vor, das Verhalten meiner Kinder eine Zeit lang zu beobachten, die kleinen Charaktere zu sortieren, um bei jedem Kind ein spezielles Verhaltensmuster für mich zu erkennen. Da beide (trotz vieler Gemeinsamkeiten, wie ich jetzt erkannte) die totalen Gegensätze sind, war ich mir nicht sicher, ob das Erlernte bei beiden gleichermaßen anzuwenden ist.

Aber die acht Ehepaare, deren Kinder alle auch irgendwie eine „andere“ Form von ADS bzw. ADHS aufwiesen, wurden von Frau Neuhaus auch nicht anders beraten. Also muss es doch eine einheitliche Basis geben, eine dicke Wurzel, deren Abzweigungen sich in alle Richtungen bewegen können.

Ich für mich vergleiche es mal mit dem Genuss von zu viel Alkohol. Die einen werden immer lustiger, andere aggressiv oder depressiv, aber die Basis bei allen ist der Alkohol. Vielleicht ist das ein schlechter Vergleich, aber irgendwie muss ich versuchen, es mir vorzustellen.

Bei der Bemühung, das Verhalten meiner Kinder zu beobachten, muss ich zugeben, dass es mich ab und zu innerlich fast zerrissen hätte. Es gehörte bisher ja zur Tagesordnung: ewige Sticheleien und Gemeinheiten, die sich die beiden im Minutentakt zuschoben. Aber jetzt, als ich mich eigentlich zum ersten Mal darauf konzentrierte, fiel mir auf, an was für winzigen Kleinigkeiten sich die beiden hochzogen, um zum guten Schluss den absoluten Höllenstreit entstehen zu lassen (der natürlich ohne ein Eingreifen meiner Frau oder mir nie ein Ende gefunden hätte). Die Emotionen aller Beteiligten waren danach natürlich dermaßen angespannt, dass der kleinste Anlass ausreichte, um den Streit wieder von vorne anfangen zu lassen.

Vor dem Elterntraining in Esslingen waren wir beide 100 %ig in die Streitereien mit eingestiegen. Ich habe mich oft gefragt, wie weit der Lärm wohl in der Nachbarschaft zu hören war! Diese üble Stimmung zog sich dann durch den ganzen Tag, was uns auch so manchen Ausflug, Spaziergang oder Spieleabend ordentlich vermieste. Das Resultat war, dass wir immer weniger mit den Kindern unternahmen, und ich gebe ehrlich zu, dass ich oft gottfroh war, wenn ich das Haus alleine verlassen konnte.

Sobald ich aber dann zur Ruhe kam, tat es mir unsagbar leid, die beiden nicht mitgenommen zu haben. Folglich hatte ich auch an meinen alleinigen Unternehmungen keinen Spaß. Mit einem schlechten Gewissen ging ich nach einiger Zeit wieder nach Hause, um mich dem wieder auszusetzen, weshalb ich das Haus verlassen hatte. Wenn ich jetzt, während ich das aufschreibe, darüber nachdenke, mit was für einer wörtlichen Brutalität ich versucht habe, die Kinder zur Vernunft zu bringen, dann muss ich zugeben, dass ich in diesen Momenten nicht mehr daran dachte, dass mir meine beiden Kinder gegenüber standen, sondern zwei üble Terroristen, die nichts anderes im Kopf haben, als uns den Tag zu versauen.

Nach dem Seminar von Frau Neuhaus war mein einziger Gedanke: „Um Gottes Willen, was hast du getan?“. Über viele Jahre hinweg mussten die beiden sich die übelsten Beschimpfungen meinerseits anhören, um dann trotzdem beim Zu-Bett-Gehen zu sagen: „Papa, wir haben dich lieb!“.

Jeder Erwachsene, mit dem ich das angestellt hätte, wäre auf Lebzeit mit mir böse gewesen. Je mehr ich gerade die ganze Situation analysiere, muss ich feststellen, dass ich mich die ganzen Jahre nicht wirklich für die Sorgen, Ängste und Wünsche meiner Kinder interessiert hatte. Wenn ich jetzt in einen Spiegel schauen würde, müsste ich Kevin und Aileen sehen, die sagen „Hau ab!“, „Lass mich in Ruhe!“, „Kein’ Bock!“ oder „Keine Zeit!“. Das Problem, das ich jetzt sehe, liegt also zum Großteil auch bei mir.

Aber wie soll ich von einer Minute auf die andere alles ändern können? Wahrscheinlich gar nicht. Schritt für Schritt. Nicht als Wiedergutmachung, nein, weil ich sie liebe und ich die paar Jahre, bevor sie erwachsen werden, ein toller Papa sein will. Gott sei Dank wurden wir aufgeklärt. Ich möchte nicht wissen, wie oft wir schon kurz vor einem familiären „Kollaps“ standen!

Aber durch den vehementen Druck, den meine Frau auf mich ausübte, ihr unerlässliches Arbeiten mit den Kindern und früher schon ihre leider völlig frustrierende Suche nach einer Lösung, sehe ich das erste Mal Licht am Horizont. Meine Frau war auf einer Beratungsstelle, bei Therapeuten – hilfloses, unnützes Rumexperimentieren überzeugte weder sie noch mich. Also zog ich mich immer mehr zurück.

Nun gehen wir die Sache gemeinsam an und nicht jeder für sich. Es ist und wird eine Herausforderung bleiben, die ich jetzt gern annehme. Seit die beiden jeden Tag sehr willig ihre Tabletten einnehmen (nachdem auch ihnen von Frau Neuhaus erklärt wurde, was sie haben), hat sich bereits sehr viel verändert. Sie wissen weshalb und warum die Medikamente notwendig sind und zeigen uns, dass auch sie an einer positiven Veränderung interessiert sind. Dies war der erste Schritt, den zweiten werd en meine Frau und ich dazu tun.

Bisher dachte ich, dass dies ein Problem unserer Familie ist – intern zuhause. Umso mehr bin ich erschrocken, als man mir sagte, dass man teilweise versucht, diese Kinder mit ADHS aus dem allgemeinen Leben auszugliedern oder einfach in die Ecke zu stellen. Es ist unglaublich, wie viele Kinder in Deutschland unter diesen Symptomen leiden. Wo soll das hinführen? Jetzt habe ich nach vielen Erziehungsjahren endlich erkannt, wie ich meine Kinder und meine Familie retten kann, zumindest meinen Teil dazu beitragen. Und plötzlich stehe ich vor einem Krieg der Welten. Ich denke für mich, dass ich nicht übertreibe.

Es war mir bisher nicht bewusst, dass meine Frau schon seit Beginn der Schulzeit sich in diesem „Krieg“ befindet. Endlose Gespräche mit den Lehrern, die alles wissen, nur nicht, wie man mit Kindern mit ADHS umgeht. Endlose Telefonate mit Behörden und Kassen, denen die Familien mit diesen Problemen einfach offensichtlich nur egal sind.

Im Augenblick sehe ich die Lehrer unserer Tochter Aileen als größtes Problem. Bei Kevin läuft auf der Realschule alles rund. Er hat eine Klassenlehrerin, die sich sehr um seine Person bemüht, was sich in seinen Noten widerspiegelt. Er ist in seiner Klasse sehr beliebt, wurde jetzt sogar zum Klassensprecher vorgeschlagen!

Aileen ist einem täglichen Druck ausgesetzt, mit dem sie wahrscheinlich nicht mehr lange umgehen kann. Diesen Druck muss meine Frau jeden Tag aufs Neue abfangen, sie aufmuntern, mit ihr üben, lernen. Mit viel Disziplin hat sich meine Tochter von einer 4 in Mathe auf eine 3,4 im Jahreszeugnis verbessert, was ihre Lehrerin jedoch nur dazu brachte, ihr wieder eine 4 einzutragen mit der Begründung: „Das spornt sie an, besser zu werden!“ Na toll, größer hätte sie das Loch gar nicht schaufeln können, um meine Tochter vollends zu beerdigen. „Für was soll ich noch lernen, bringt eh nix, ich hab Angst vor morgen.“ Wochen der Arbeit zuhause werden mit einer „Aufrundung“ das Gully hinunter gespült. Wir werden in den nächsten Tagen zu zweit das Gespräch mit den Lehrern von Aileen suchen, in der Hoffnung, ein bisschen Verständnis zu erwirken.

Das andere Übel sind die Behörden, allen voran das Jugendamt. Durch viele Tests und Gespräche haben es Frau Neuhaus und eine Mitarbeiterin tatsächlich geschafft, dass mein Sohn Kevin Vertrauen aufbaute, was ich nie für möglich gehalten hätte. Unser vorher so zurückgezogener, ängstlicher Sohn mit seinen Tics und seiner Pummligkeit ging früher nie raus, traute sich gar nichts. Er geht nach wie vor sehr gerne nach Esslingen und wir freuen uns mit ihm auf die Zeit der Behandlung. Aber irgendwie „darf“ es nicht so einfach funktionieren (?!).

„Wer diagnostiziert, darf nicht behandeln.“ Ein neuer Schlag in die offenen Wunden unserer Familie. Aber so einfach geben wir nicht auf, meine Frau auf jeden Fall nicht! Wir sehen die Erfolge und glauben auch daran, was hoffentlich Berge versetzen kann. Unser Sohn war bedroht von seelischer Behinderung – wie kann man einfach einige Gesetze ändern, die das Wohlergehen unserer Kinder behindern?

Wir haben durch die erlernte Kommunikation bereits am ersten Tag nach dem Elterntraining unsere Kinder dazu gebracht, selbstständig Aufgaben zu übernehmen.

Durch die kalte Witterung fand es meine Frau angebracht, ein warmes Holzfeuer im Ofen anzuzünden. Ohne Aufforderung fragte Kevin, ob er ein Stück Holz in den Ofen werfen dürfte, was bisher für mich nie ein Thema war, denn Kinder und Feuer geht nicht! Aber mit fast zwölf Jahren dachte ich, warum nicht, und erklärte ihn zum „Wächter des Feuers“ (unter der Abnahme des Versprechens: „Nur wenn einer von uns dabei ist!“).

Und siehe da, den ganzen Abend ging das Feuer nicht aus. War das Holz alle, nahm er den Korb und ging in den Keller, um Neues zu holen. Bei dieser Gelegenheit ging Aileen gleich mit, um noch ein paar Tüten Milch in die Wohnung zu schaffen.

Briska und ich schauten uns an, nickten uns zu und dachten: „So geht’s“. Auch die beiden hatten sichtlich ihre Freude daran, uns diese Arbeit abzunehmen. Ich bin mir absolut sicher, dass wir über einen längeren Zeitraum gesehen, unser Familienleben in den Griff bekommen. Es ist jetzt nur der Anfang, aber ohne Anfang kein Ende. Jeder neue Tag eine neue Herausforderung, an dessen Ende ich zufrieden ins Bett gehen möchte.

Rolf Scharfenecker

Nach fast zwei Jahren und Hochs und Tiefs durch die Pubertät ist die Entwicklung beider Kinder wirklich nur erfreulich. Kevin hat beliebt und sehr kompetent in einem Sozialprojekt der Schule im Kindergarten mitgearbeitet, will Erzieher werden und wird gerade Jungscharleiter.

Aileen zeigte rasch ihre gute technische Begabung, brachte gute Leistungen in der Realschule und „diagnostizierte“ das ADHS ihres Vaters … Derzeit kämpft sie mit den wachsenden Anforderungen in der heftig einsetzenden Pubertät. Sie kümmert sich rührend um die fünf Katzen der Nachbarin Neuhaus.

Einleitung

Die jahrelange Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit ADHS und deren Eltern (von denen überzufällig häufig ein Elternteil selbst betroffen ist) bringt immer wieder aufs Neue die Erkenntnis, dass in der zentral wichtigen Elternberatung des multimodalen Behandlungsansatzes nicht nur die Anleitung zur Konsequenz, zu klaren Regeln und Strukturen für den Transfer in den Alltag wesentlich ist. Es zeigte und zeigt sich immer deutlicher, wie dies kommuniziert wird: zunächst im Elterntraining durch das Modell des Trainers und durch konkrete „Selbsterfahrung“ im Rollens piel; und dann durch die Eltern bei Instruktionen, beim Einfordern von Regeln, bei Erklärungen und Konfliktentschärfungen ihrem Nachwuchs gegenüber.

Seit 2003 werden verschiedene Kurse angeboten: „Elterntraining für Elterntrainer“ (ETKJ) in Deutschland, Österreich und in der Schweiz sowie in den „Kommunikations- und Selbstwert-Trainings-Seminare für ältere Jugendliche und junge Erwachsene mit ADHS“. In diesen Kursen wird immer deutlicher, wie entscheidend die Aufnahmefähigkeit für die vermittelten Inhalte von den „silent messengers“, der Mimik, Gestik und Körperhaltung, aber vor allen Dingen auch vom Tonfall (und natürlich auch der spezifischen Wortwahl) abhängen.

Kinder und Jugendliche mit ADHS verstehen offensichtlich Sprache schlichtweg einfach etwas „anders“. Sie kommen mit „Metasprache“ schlecht zurecht, fassen z. T. wirklich „wörtlich“ auf. So ist z. B. etwas Schwieriges langweilig, weil es eine lange Weile dauert. Sie reagieren zudem früher oder später leider „allergisch“ (im wahrsten Sinne des Wortes) auf Worte und Formulierungen, die sich wiederholen, die „extrem“ sind, die gereizt, vorwurfsvoll, jammernd, anklagend, drohend, moralisierend-appellierend, verhaltensverschreibend geäußert werden.

In einer förderlichen, unterstützenden und notwendigerweise auch länger anhaltend anleitenden Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS (mit und ohne Komorbiditäten) geht es entsprechend vordringlich darum, in der Familie einen veränderten „Kommunikationsstil“ zu entwickeln, mit eindeutigen und präzisen Ansagen und Aufforderungen, die klar, freundlich und wertschätzend transportiert werden.

Um die Lebensqualität nicht nur für die Kinder und Jugendlichen, sondern auch für die anderen Familienmitglieder wirkungsvoll zu verbessern, kristallisierten sich aus der Durchführung von Elterntrainings über viele Jahre hinweg zwei entscheidende Wirkfaktoren heraus:

In diesem Elterntrainingsmanual ETKJ ADHS geht es nicht darum, nach „etwas Psychoedukation“ Eltern zur Selbsthilfe anzuregen oder „Kochrezepte“ zu vermitteln für typische und spezifische Krisensituationen. Letztendlich sollen Eltern mit Hilfe von umfassendem „Störungsbildteaching“ und bei Bedarf immer wieder erneutem (und geduldigem) Erklären der Dysregulation der autonomen Selbststeuerung zur Analyse der Vorlaufsituationen eines Konfliktes befähigt werden. Unnötige krisenhafte Zuspitzungen können so oft im Vorfeld erkannt und somit abgefangen oder schnell beigelegt werden.

Dies gelingt am besten, wenn die Inhalte des Trainings klar, plastisch und anschaulich (d. h. auch mit sehr konkreten, von Eltern real berichteten Beispielen unterlegt) vermittelt werden, um die tatsächliche und aktive Bereitschaft der Eltern für eine Veränderung unter Einbindung der bereits vorhandenen Ressourcen zu erwirken.

Nach Grawe (2004) erscheint es daneben äußerst wichtig, darauf zu achten, dass wirklich nur Veränderungen und Ziele formuliert werden, die nachvollziehbar und plausibel sind und die in den Familien auch tatsächlich erreicht werden können (d. h. „machbar“ erscheinen).

Dafür ist unabdingbar notwendig, dass der Therapeut nicht nur inhaltlich überzeugend und sicher wirkt, sondern auch einen positiven/sympathischen Eindruck auf die Eltern macht. Dies ist essentiell bei ADHS! Als Lehrender und Explorierender im Konflikt ist er freundlich, warmherzig, extrovertiert, optimistisch und etwas humorvoll. Beim Therapeuten sind Körperhaltung, Mimik, Gestik und vor allem der Tonfall ausschlaggebend dafür, ob er „ankommt“. Er sollte besonders darauf achten, emotional negativ besetzte Formulierungen zu vermeiden (was sinnvollerweise auch richtig beübt werden sollte. Hierfür bietet sich der Kurs „Train the Trainer ETKJ“ als Ergänzung zum vorliegenden Manual an).

Eltern suchen in einem solchen „Erziehungskurs“ Orientierung, nehmen viel „so nebenher“ wahr, was möglichst positiv für sie sein sollte. Eltern sollten – der neuropsychotherapeutischen Ausrichtung folgend – während eines Trainings auch angenehme Zustände erleben, z. B. gemeinsam Lachen können. Mit einer guten Grundstimmung lernt es sich leichter – eine Binsenwahrheit. Aber nur bei guter Befindlichkeit kann jemand mit ADHS wirklich Informationen aufnehmen, an die er sich dann später auch erinnern kann.

Im ETKJ ADHS dürfen entsprechend keinerlei unsensible Bemerkungen oder direktive Vorgaben („Sie müssen …“) bezüglich erwünschter Veränderungen gemacht werden. Allerdings wird den Eltern aber auch nicht „freigestellt“, was und wie sie etwas verändern können, wenn bei ihnen ein echter Veränderungswunsch bezüglich immer wiederke hrender Problemeskalationen besteht. „Psychologisierende Interpretationen“ z. B. bezüglich der psychodynamischen Hintergründe, Bindung und Beziehung mit hintergründig subjektiven Hypothesen des Trainers ohne stimmigen und bestätigten Abgleich mit Elternteilen ist im ETKJ ADHS tabu.

Das ETKJ ADHS basiert ursprünglich auf dem „Münchner Trainingsmodell“ nach Paul Innerhofer (1977) mit einer der Kernaussagen, dass Eltern nicht nur diejenigen sind, die ihr Kind unter Umständen leider am stärksten „schädigen“ können, sondern das Kind auch weit stärker als außenstehende Personen unterstützen und fördern können – wenn sie wissen, wie das funktionieren kann.

Erweitert wurde der Ansatz dahingehend, dass Eltern im Training dazu verholfen wird, das Kind mit dem typischen Wahrnehmungs- und Reaktionsstil bei ADHS in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt zu sehen, um das Verhalten des Kindes/Jugendlichen nachvollziehen zu können. Wird die Symptomatik vor allem unter dem Aspekt des „gestört Werdens“ der Eltern durch das Verhalten der Kinder/Jugendlichen gesehen. Dies triggert unwillkürlich den Impuls bei den Eltern, instinktiv wehren, kritisieren, strafen zu wollen (wie sie dies bisher erfolglos schon machten). Verstehen die Eltern die Hintergründe wirklich, erkennen sie, dass die Kinder/Jugendlichen sich tatsächlich eben nicht so verhalten/anpassen können und sie unter ihrer Steuerungsschwäche tatsächlich leiden.

Die leider eindeutig entwicklungspsychopathologischen Aspekte bei ADHS im Lebensverlauf (vgl. Neuhaus 2007) machen gewisse Einstellungsänderungen der Erziehenden nötig, um eine alters- und störungsspezifisch positive erzieherische Haltung mobilisieren zu können, die dann im sogenannten „Verhaltensmanagement“ und im veränderten Kommunikationsstil ihren Niederschlag finden.

Das ETKJ ADHS ist als ein Elterntraining zu verstehen, bei dem wünschenswerterweise beide Elternteile präsent sind (bei Trennung und Scheidung evtl. auch mit den neuen Partnern – mit Teilnahme unter Umständen in verschiedenen Kursen) oder einem Elternteil und einer miterziehenden Bezugsperson (Tagesmutter, Großeltern, etc.). Geschwisterkinder unter 18 Jahren sollten nicht zugelassen werden, da leider erfahrungsgemäß Erläuterungen aus dem Training später unter Umständen kontraproduktiv im Konflikt eingesetzt werden können.

Voraussetzung für ein gelingendes Elterntraining ETKJ ADHS ist, dass zumindest bei einem Elternteil ein deutlicher Leidensdruck besteht, der Wille, die Symptomatik als Störung zu akzeptieren, eine gewisse Mitarbeitsbereitschaft, Umsetzungswilligkeit und ausreichende Kognitionsfähigkeit (sowie ausreichendes Sprachverständnis der Sprache, in der es vermittelt wird).

Es liegt an der „Kunst der Vermittlung“, wie der eher skeptischere, kritischere oder weniger interessierte Elternteil mit „ins Boot“ geholt wird – allerdings unter der Voraussetzung, dass keine „Ideologie“ im Hintergrund steht. Das verhaltenstherapeutisch neuropsychotherapeutisch konzipierte ETKJ ADHS ist angelegt als ein Kompakttraining in der Gruppe am Wochenende mit mindestens zwei Nachberatungsabenden ca. zwei bis vier Monate später.

Es hat sich gezeigt, dass der Transfer wesentlich besser gelingt, wenn sehr intensiv und verdichtend zunächst an konkreten Beispielen der Wahrnehmungs- und Reaktionsstil bei ADHS verstanden werden kann, dann stimmig und nachvollziehbar Einstellungsänderungen erarbeitet und Strategien erläutert werden – und danach das Ausprobieren über einen längeren Zeitraum (mit Nachbesprechung/Korrektur in derselben Gruppe zeitversetzt später) erfolgen kann.

Nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsene mit ADHS als Elternteile, haben zum Teil noch Schwierigkeiten mit einer realistischen Selbsteinschätzung oder können sich oft auch selber nicht so gut organisieren. Sie haben nicht selten ebenso ihre Schwierigkeiten mit dem Einschätzen von Zeit und Zeitverlauf. Sie verfügen vor allen Dingen aber nicht (im Vergleich zu Nichtbetroffenen) über eine ständige und jederzeit präsente „autobiografische Bewusstheit“. Daher praktizieren sie leider erfahrungsgemäß im Umgang mit ihren Kindern und Jugendlichen genau die Art der Kommunikation, die sie selbst als Kind oder Jugendlicher verabscheut haben.

Sie monologisieren gerne, kommen vom einem zum anderen, unterbrechen bisweilen impulsiv ihr Gegenüber oder geraten rasch in einen belehrenden, leider häufig regelrecht schulmeisterlichen Ton. Gut gemeint (!) erklären sie gern weit ausholend und haben, ohne es wirklich zu merken (wie ihre Kinder), am liebsten das letzte Wort. Und genau wie ihre Kinder sehen sie beim Gegenüber alles vor allem jedes Fehlverhalten (!) – nur nicht bei sich selbst. Ihre eigene Erziehungs- und Modellwirkung ist ihnen meist kaum „bewusst“, wird ihnen allerdings recht negativ emotional besetzt unter Umständen vom Partner oder leider auch professionellem Berater mit zusätzlicher Schuldzuweisung „rückgemeldet“. Oft hat ein Elternteil jedoch bereits früh in der eigenen Lebens-/Lerngeschichte Selbstzweifel entwickelt, häufig bestehen hintergründig Verlustängste, Insuffizienz- und Schuldgefühle (vgl. Neuhaus 2005).

Dies ist leider überzufällig häufig der Grund, warum der Rat, einfach mal richtig konsequent sein zu sollen, nicht umgesetzt wird/werden kann. Aus Angst vor einem Konflikt, einer mal wieder nicht enden wollenden Diskussion, oft vor allem aber aus Angst, evtl. die Zuneigung des Kindes/Jugendlichen verlieren zu können, wird dann einem Wunsch eben doch entsprochen, eine Ausnahme gemacht, nachgegeben. Man will nicht so hart, streng, rigide sein, versucht es eben dann weiter so, wie man das gerade eben so jetzt für richtig hält.

Durch den bei ADHS typischerweise mangelhaft ausreifenden Perspektivewechsel entstehen schnell Missverständnisse, wenn etwas z. B. subjektiv „nicht so Wichtiges“ unvollständig aufgenommen wurde, eine Erledigung vergessen wurde, sich nicht wahrgenommen, wertgeschätzt fühlend, entgleist die Situation schnell durch gereizte Wortwechsel mit Vermutungen darüber, „warum jemand mal wieder nicht…“. Die Rechtfertigung erfolgt schneller, als dieses „Gedankenlesen“ geäußert ist, wobei das Gegenüber von der 100 %igen Korrektheit der Vermutung, „warum wieder jemand nicht…“ völlig überzeugt ist.

Erfahrungsgemäß bleiben Betroffene mit ADHS „unter sich“, wobei in der Beziehungsgestaltung die individuellen „Rhythmen“ und vor allem über die Dauer die Absprachen in der Paarbeziehung nicht „so einfach“ abstimmbar und einhaltbar sind, auch wenn an sich der Wille grundsätzlich dafür wirklich da ist.

Selbst ein erwünschtes Kind wird dann (bei seiner eigenen Reizoffenheit und Reizfilterschwäche, seiner später zunehmend auffallenden Impulssteuerungsschwäche und vor allen Dingen seiner Affektlabilität) rasch Anlass zu vielen Auseinandersetzungen bei kontroversen Einschätzungen (mit entsprechend hintergründigen Einstellungen), Wertungen und Reaktionen der Partner geben. Ein subjektiv zunächst lieb gemeintes Erteilen von Ratschlägen (wenn das Gegenüber mit einer Situation nicht so gut fertig zu werden scheint) wird schnell zu einem vorwurfsvollen „Also gut, dann eben nicht!“ oder bei einer Entgegnung „Wenn du meinst…“ – wenn nicht sofort freudig der Rat aufgegriffen/umgesetzt wird (in der Erwartung, dass die subjektiv richtige Hilfestellung doch dem anderen sofort „einleuchten“ müsste).

Bei den typischen (oft aus geringstem Anlass getriggerten) Verhaltensauffälligkeiten des Kindes reagiert leider das Umfeld dann zusätzlich rasch und ungefragt negativ, was die Selbstwirksamkeitsempfindung der Eltern bezüglich ihrer Erziehungsfähigkeit beeinträchtigt. Dies wird oft dadurch verschärft, dass völlig unterschiedliche und widersprüchliche Kommentare geäußert werden, bagatellisierend oder auch im Gegenteil mit spezifischen Schuldzuweisungen, Interpretationen und Vorwürfen (auch zum Teil von Professionellen!), was die Befindlichkeit der leider eben oft schon aus ihrer eigenen Lerngeschichte verunsicherten und syndromtypisch schnell zu beeinflussenden und verunsichernden Eltern noch weiter einschränkt – und somit das Umsetzen von Ratschlägen schlicht verunmöglicht.

Im ETKJ ADHS wird mit einer speziellen Gesprächsführungstechnik gearbeitet, mit prägnant-freundlich-humorvollem Strukturieren, mit ermittelndem Hinterfragen (bis eine Situation wirklich plastisch geworden ist) und mit Abstoppen durch „Parallelreden“, wenn jemand ins Monologisieren kommt.

Es wird gänzlich abgesehen von unnötigem und leider sogar völlig kontraproduktivem „Spiegeln von Gefühlen“ oder „dem Betrachten eines Problems aus jeder Sicht“, da ein Problem bei ADHS biologischen Ursprungs ist und nicht gleich eine Lösung impliziert.

Sehr problematisch ist für sie die „Freiarbeit mit Wochenplan“ mit der Notwendigkeit des ständigen abwägend-überlegten Entscheiden-Sollens, was Kinder mit ADHS auch als Jugendliche eben einfach nicht können.

Durch die Methoden-Vielfalt und die Vorgaben in der Schule, etwa dass die Kinder immer wieder ihren Sitzplatz wechseln sollen, ist der Geräuschpegel in den Klassen seit Jahren extrem hoch geworden. Hausaufgaben sollen zwar nach wie vor von Kindern und Jugendlichen angefertigt werden – selbstständig, nicht von den Eltern kontrolliert –, werden durch die Lehrer allerdings meist nur noch in den seltensten Fällen wirklich überwacht. Kinder mit ADHS brauchen jedoch besonders viel übendes Wiederholen, bis sie nicht so interessante „Basics“ der Kulturtechniken (wie Rechtschreibregeln, das Einmaleins) wirklich verautomatisiert haben, d. h. auch unter erschwerten Umständen sofort abrufen können.

Voraussetzung für ein erfolgreiches Elterntraining ist, dass der Trainer selbst die konstitutionell bedingte Regulierungsdynamik bei ADHS als Anpassungsstörung kennt und akzeptiert – dies (mit allen möglichen Komorbiditäten und assoziierten Störungen) über den ganzen Lebensverlauf – und sein Wissen immer wieder anhand der Erkenntnisse der seriösen internationalen wissenschaftlichen Forschung erweitert.

Unabdingbar notwendig ist für ein gelingendes Elterntraining mit diesem Konzept, dass der Trainer die gegenwärtige Situation der Kinder und Jugendlichen kennt und weiß, dass besonders in Deutschland (und zum Teil auch im deutschsprachigen Ausland) im Kindergarten und in der Schule immer früher von allen Kindern Selbstständigkeit verlangt wird. Immer früher soll eigenverantwortlich sich etwas erarbeitend und ableitend gelernt werden, auch in Gruppen, im Rahmen von Projekten und mit entsprechenden Präsentationen.

Ein kleiner Teil aller Kinder kommt damit zurecht – Kinder mit ADHS definitiv nicht.

Bei der „modernen“ Art der Stoffvermittlung wird immer unklarer, was wie und wozu gelernt werden soll. Durch das „fächerübergreifende“ Lernen in immer größeren „Arbeitsfeldern“ wissen selbst oft ältere Jugendliche nicht, zu welchem Fachbereich sie den aktuellen Stoff zuordnen sollen. Das mühsame Abarbeiten von Arbeitsblättern mit großen Textmengen (die es sofort zu erfassen gilt), die Schwierigkeit mit Begriffen umgehen zu müssen, die oft einfach noch nicht verstanden worden sind und die Notwendigkeit, dann auch noch erkennen zu sollen, dass es im Mathebuch Aufgaben gibt, die nicht lösbar sind, erschweren das ohnehin belastete Schülerleben (unter anderem mit der sehr eingeschränkten Fähigkeit, die Aufmerksamkeit sofort aktivieren zu können, v. a. wenn etwas nicht so interessant ist oder ein Lehrer nicht sofort sympathisch erscheint).

Es erwies sich über die Jahre als positiv, Eltern mit Kindern der ungefähr gleichen Altersgruppe zusammen zu schulen (Vorschulkinder, Grundschulkinder, Jugendliche, in der Sekundarstufe I (5.–7. Klasse), Jugendliche der Mittelstufe, ältere Jugendliche, junge Erwachsene).

Bei den jüngeren Kindern haben Eltern vor allen Dingen ihre Schwierigkeiten mit der frühen „Selbstständigkeit“, dem ständigen Plappern und dem plötzlichen „Bocken“, mit der typischen Trödelei bei Routinen, beim Thema „Schlafen“, „Essen“, aber auch bei dem häufigen Problem des verzögerten Sauberwerdens oder den unerwartet auftauchenden Problemen im Umgang mit Gleichaltrigen.

Bei den Schulkindern und jungen Jugendlichen dreht es sich natürlich um alles im Kontext Schule und Hausaufgaben. Daneben belastet, dass die Kinder nicht Ordnung halten können und der immer prominenter werdende Wunsch nach noch mehr Medienkonsum. Ab der Schulzeit eskaliert es in familiären Kommunikation erfahrungsgemäß noch rascher, oftmals nehmen auch die Schwierigkeiten der Kinder und jungen Jugendlichen im Umgang mit Gleichaltrigen deutlich zu (und die Konflikte zwischen den Elternteilen).

Bei den Eltern der etwas älteren Jugendlichen geht es um die ständigen Querelen wegen des Lernens, dem Aufschieben subjektiv schwierig oder langweilig erscheinender Aufgaben. Es geht aber auch um die Sorge bezüglich der Anziehungskraft, die andere schwierige Jugendliche auf Jugendliche mit ADHS haben, unter anderem mit der Angst vor delinquentem Verhalten und Substanzmissbrauch.

Kinder und vor allem Jugendliche wollen oft schon sehr früh „selbstbestimmt“ sein. „Alle anderen dürfen…, nur ich nicht!“ ist ein gängiges Argument. Eine einmal genehmigte Ausnahme wird sofort zur „stehenden Regel“ – und es wird ewig diskutiert, warum das nicht so sein soll. Leider sind sie tatsächlich sehr in Gefahr, Computer-spielsüchtig zu werden.

Jugendliche haben oft Probleme mit dem Begriff „Eigentum“, wenn sie gerade etwas benötigen. Kummer macht das zunehmende Vermeiden, Lügen, Mogeln, Tricksen, was fast unweigerlich die „Superpubertät“ begleitet.

Ältere Jugendliche und junge Erwachsene bereiten ihren Eltern häufig Sorge bezüglich ihrer Unentschlossenheit hinsichtlich der Berufswahl, unter anderem auch damit, sich nicht „aufraffen“ zu können, eine Bewerbung zu schreiben. Anlass zur Besorgnis wird nicht selten, dass selbst der ältere Jugendliche oder junge Erwachsene mit dem Geld immer noch nicht zurecht kommt, noch immer nicht begreift, dass das eigene Zimmer ein Teil der elterlichen Wohnung ist, für das die Eltern aufkommen (und eigentlich einen Anspruch auf etwas eigene Lebensqualität haben).

Die vielen Facetten der Schwierigkeiten im Alltag der Kleinkinder, Schulkinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit ADHS können an dieser Stelle nicht allumfassend dargestellt werden. Entsprechend ist die Kenntnis der Basisliteratur (vgl. Anhang) Voraussetzung für ein Gelingen des Elterntrainings.

Ziel des alltagswirksamen ETKJ ADHS ist die Befähigung der Eltern, mit dem Wahrnehmungs- und Reaktionsstil bei ADHS verstehend umzugehen und somit anders und erfolgreicher kommunizieren zu können.

Dies führt bei Anwendung der Strategien dann über den Zeitverlauf erfahrungsgemäß zusätzlich zur Erhöhung der eigenen Selbstwirksamkeit und somit des Selbstvertrauens, wie die Rückmeldungen der letzten Jahre eindrücklich belegen (wobei manchmal ein solches Training, nach einiger Zeit wiederholt, erst den erwünschten Effekt mit sich bringt).

Über im Rollenspiel konkret erlebte negative Kommunikation mit den entsprechenden Auswirkungen und nachfolgender Vorlauf- und Mikroanalyse von Krisen zu Hause sollen ein konkreter Abbau des Entstehens solcher Konflikte und eine verbesserte Eltern-Kind-Interaktion möglich werden.

Ziel soll sein, in den Familien die typischen Beeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten der Kinder und Jugendlichen nicht vor allem durch Strafen und Ankündigungen negativer Sanktionen reduzieren zu wollen, was sich im Langzeiteffekt als ineffektiv heraus gestellt hat. Wird die Anstrengungsbereitschaft gezielt verstärkt (und nicht nur das Handlungsergebnis!) und wird unter Umständen flankierend, wenn nötig, rechtzeitig (von gut aufgeklärten Eltern getragen!), die Medikation eingesetzt, führt dies erfreulich oft zu einer Reduktion und/oder Prophylaxe entstehender Komorbiditäten.

Die langjährige Erfahrung zeigt, dass vielen Eltern das Lesen von Ratgebern schwer fällt und/oder die Umsetzung nicht recht klappt. Tatsächlich wird aber offensichtlich wirklich nur anhaltend umgesetzt, was in den Familien wirklich verstanden wurde, subjektiv nachvollziehbar, plausibel und machbar erscheint.

Die Wirkmechanismen (überprüft durch Evaluationsrückmeldungen) sind:

Wirkmechanismen sind aber auch:

und somit

und somit

und somit

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Das Manual richtet sich an Therapeuten und Pädagogen, die mit Kindern und Jugendlichen mit ADHS und deren Eltern erfolgreicher als bisher umgehen wollen. Die etwas „andere Art“ der Kommunikation zeigt sich seit nunmehr acht Jahren sehr hilfreich auch in sehr komplizierten Situationen (erprobt in der Hausunterrichtsgruppe der besonderen Betreuungsform des Kindertherapeutischen Zentrums Esslingen GmbH sowie im Verlauf von mehreren Sommercamps, einmal mit 26 Kindern von 6–16 Jahren in einem verregneten Sommer in einem Zelt!).

I Theoretische Grundlagen

1 Wie das ETKJ ADHS entstand

Als 1985 das Buch „Unkonzentriert? – Hilfen für hyperaktive Kinder und ihre Eltern“ von Walter Eichlseder erschien, wusste man noch nicht so besonders viel über die Ursachen von ADHS. Der Kinderarzt schrieb damals in seinen Ratschlägen entlastend für viele Eltern, dass sie sich keine Schuld am Verhalten des Kindes zu geben brauchten. Eltern sollten sich nicht entmutigen lassen durch Vorhaltungen von „Besserwissern“ bezüglich dessen, was sie alles versäumt und falsch gemacht hätten.