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UNTER KORSAREN

VERSCHOLLEN

 

ROMAN

 

 

VON

WERNER LEGÈRE

 

 

 

 

 

 

 

Herausgegeben von Lothar und Bernhard Schmid

© 1997 Karl-May-Verlag

ISBN 978-3-7802-1663-2

 

 

EDITION USTAD

 

im

 

KARL-MAY-VERLAG

BAMBERG • RADEBEUL


Der vorliegende Roman spielt am Anfang des 19. Jahrhunderts.

1. Der nächtliche Gast

 

Durch die nachtdunklen Straßen Genuas schleicht am 2. Februar 1813 ein Mann und biegt schließlich in ein Gässchen im Rücken der stolzen Kaufmannshäuser ein. Unhörbar ist sein Schritt; sorgsam vermeidet er die Stellen, wo aus den wenigen erleuchteten Fenstern ein Lichtstrahl auf das holprige Pflaster fällt. Der Weg scheint ihm bekannt zu sein; nirgends stößt sein Fuß an Kanten oder Steine. Von der San-Lorenzo-Kathedrale dringen Stundenschläge herüber. Auch San Dominicus an der Piazza Reale kündet die Zeit: elf Uhr nachts. Der Wanderer hat sich in den tiefen Schatten einer Tür gedrückt. Jetzt geht er weiter, bleibt endlich vor einem Häuschen stehen. Ohne zu suchen, findet er den Türklopfer. Ein kurzer, dumpfer Schlag. Pause. Ein stärkerer zweiter nun. Wieder Stille. Ein dritter, vierter folgen. Der Mann tritt zur Seite und wartet. Gespannt lauscht er die Gasse hinauf und hinab. Sie liegt einsam und verlassen da.

Trotz der angestrengten Aufmerksamkeit, mit der der nächtliche Besucher die Umgebung betrachtet, entgeht seinem Ohr nichts von dem, was im Innern des Hauses geschieht. Jetzt bemerkt er schlurfende Schritte, die sich der Haustür nähern. Ein Riegel wird zurückgeschoben, ein Schlüssel knarrt im Schloss. Quietschend bewegt sich die Tür in den Angeln. Durch einen Spalt fällt gedämpftes Licht ins Freie.

„Wer da?“, kommt aus dem Halbdunkel des Flurs eine Stimme.

Der Fremde murmelt etwas. Das Wort muss dem Öffnenden bekannt sein, denn er schließt die Tür nicht wieder.

Gelungen wäre es ihm sowieso nicht. Der Einlass Begehrende hatte sofort den Fuß dazwischengestellt. Die Sperrkette wird gelöst, der Fremde kann eintreten. Langsam und gewissenhaft schließt und verriegelt der Pförtner die Tür. Nach diesen Vorsichtsmaßnahmen schlägt er den langen mantelartigen Rock von der Laterne zurück und leuchtet dem Gast ins Gesicht. Er sieht nichts weiter als scharfe, stechende Augen. Sonst ist das Antlitz des Eingetretenen durch den breiten, tief in die Stirn gezogenen Hut und den malerisch hochgenommenen weiten Mantel verdeckt.

„Oh, Herr, Ihr!“ Unterwürfig verneigt sich der Diener vor dem Fremden. Das Licht in seiner Hand schwankt. Er hat Furcht.

„Seid ihr allein im Haus?“ Der kalte, herrische Ton lässt den Alten zusammenzucken.

„Wir sind es.“

„Dann führe mich zu deinem Herrn!“

„Ich – weiß nicht.“

„Vorwärts, leuchte! Ich habe keine Lust, lange im Flur zu stehen.“

„Verzeiht! Der Herr will nicht gestört sein.“

„Was kümmert’s mich!“

„Ich werde Euch melden. Geduldet Euch einen Augenblick.“

„Nichts da, leuchte! Oder soll ich mir meinen Weg allein suchen?“

Die Angst vor dem nächtlichen Besucher ist größer als die vor dem Hausherrn, deshalb fordert der Diener mit einem „So kommt, Herr!“ zum Folgen auf.

Im ungewissen Licht der Laterne wirkt das Innere des Hauses gespenstisch. Der Fremde nimmt keine Kenntnis davon. Er zuckt nicht für den Bruchteil einer Sekunde zurück, als ihn plötzlich aus dem Dunkel zwei Augen anblitzen. Es sind die Glasaugen einer ausgestopften Eule, die vom Licht getroffen aufleuchten. Würde der Diener sich einen Augenblick umdrehen, dann würde ihm lediglich auffallen, dass der Besucher spöttisch dreinblickt.

Endlich macht der Alte vor einer Tür Halt. Schon will er klopfen, da schiebt ihn der Fremde, dessen Gesicht noch immer unter dem Mantelkragen verborgen ist, zur Seite und öffnet.

Die Kerze im schweren silbernen Leuchter flackert auf, als der Luftzug durch die geöffnete Tür über sie streicht. Der Besucher kann nicht genau unterscheiden, wie viele Menschen in dem großen, so spärlich erhellten Raum sind. Wie er in der Tür steht, hinter sich den gebückten Diener mit der Laterne, deren Schein ihn umfängt, wirkt er furchterregend – ein unheimlicher Gast.

Lautlos hat der Alte die Tür geschlossen. Die Kerze brennt wieder ruhig und gleichmäßig. Dem Eingang gegenüber sitzt in einem hochlehnigen Sessel ein älterer, sorgfältig gepflegter Herr. Ein jüngerer stößt soeben den Stuhl von der Längsseite des Tisches zurück und springt auf. Er blickt verstört auf den Eindringling.

„Pietro!“ Der befehlende Ton des Alten mahnt den jungen Mann, Haltung zu bewahren. Zögernd nimmt dieser wieder Platz.

Die beiden Männer sind Agostino Gravelli, der einflussreichste Bankier Genuas, und sein Sohn Pietro.

Der Fremde hat den rechten Arm, der bisher den Mantel hochgehalten hat, gesenkt. Sein Gesicht ist frei. Gravelli schrickt zusammen; dann aber ist sein Antlitz ruhig, als seien niemals Schrecken und Furcht darüber gejagt. So hart und kalt ist es wie zu den großen Verhandlungen, die immer zu Gunsten des Bankiers auslaufen. Mühsam erhebt er sich aus dem Sessel. Ein kurzer Wink gebietet Pietro, das Zimmer zu verlassen. Der Sohn befolgt den Befehl sofort.

Ohne eine Einladung des Hausherrn abzuwarten, lässt sich der Fremde am Tisch nieder. Und als fühle er sich hier zu Hause, gießt er Wein in einen Kelch, dessen Rand er sorgfältig abwischt.

Aus des Bankiers Augen schießt ein Blitz. Er ist beleidigt, aber wieder beherrscht er sich. Schweigend nimmt er ebenfalls Platz.

„Gravelli, wir sind unzufrieden mit Euch“, beginnt der Mann im Mantel die Unterhaltung.

„Ich kenne den Grund nicht“, entgegnet der Bankier.

„In den letzten Monaten haben verschiedene Schiffe Genua und andere westitalienische Häfen verlassen, ohne dass wir von Euch Nachricht erhielten.“

„Bin ich allwissend?“, begehrt Gravelli auf.

Der Gast beachtet diesen Einwurf nicht. Er zieht ein Papier aus der Tasche und hält es absichtlich so, dass der Bankier es erkennen kann.

„Hm, hm“, murmelt er. „Ihr bekamt vom Dey[1] von Algier eine große Summe Geld geliehen. Eine große Summe. Ja, hier steht der Betrag genau. Wartet... Es war Rettung in höchster Not, als Euch der Dey beisprang. Ach, man wird alt, Gravelli, die Geisteskräfte lassen nach. Wie war es doch gleich? Ihr müsst Euch noch erinnern.“

„Schu...“ Gravelli kann das „Schurke“ gerade noch in ein Stöhnen verwandeln. Er ist sich nicht darüber im Unklaren, dass der Besucher es dennoch deutet – an die Gurgel möchte er dem Fremden springen.

„Nun, wenn Ihr nicht reden wollt, Gravelli, bitte. Als Gegenleistung verpflichtetet Ihr Euch, uns alle Schiffe zu melden, die Segel nach dem südlichen Mittelmeer setzen.“

Der Bankier schweigt. Er kennt den Vertrag, der ihn zwingt, den Raubschiffen, den Korsaren des Deys von Algier, Beute zuzutreiben.

„Lasst die Hand vom Leuchter, Gravelli!“, zischt plötzlich der Fremde scharf. Und spöttisch fährt er fort, als er die Wirkung seiner Worte auf den Hausherrn bemerkt: „Ihr seid mir nicht gewachsen, solltet es wissen, Mann. Ich sehe es Euch an, dass Ihr Lust habt, mir den Schädel einzuschlagen. Dann könntet Ihr seelenruhig das Dokument an Euch bringen und wäret aller Bindungen ledig. Gravelli, seid Ihr ein Kind? Fast muss ich es annehmen, denn Ihr benehmt Euch kindisch. Unsere Macht ist unendlich größer als die Eure, auch wenn Ihr inzwischen einer der reichsten und mächtigsten Männer Genuas geworden seid. Schade um jede Handbewegung.“

„Was wollt Ihr, Benelli?“ Gravelli lässt sich nicht einschüchtern. Der andere hatte seine Gedanken erraten, bevor die Hand sie ausführen konnte. Gut, vorbei. So ist seine Frage ganz sachlich und geschäftsmäßig.

„Keinen Namen, ich warne“, weist ihn der Besucher zurecht. „Zwar fühle ich mich in Eurem Hause sicher. Trotzdem ist es notwendig, mich niemals, selbst nicht in Gedanken, nicht im Traum, so anzureden. Euer Diener ist zweifellos gut geschult und wird nicht die Ohren an Ritzen und Spalten haben und auch kein Geheimnis seines Herrn ausplaudern, sollte es zu seiner Kenntnis gelangt sein; aber Ihr selbst könntet Euch einmal an einem anderen Ort vergessen. – Ich habe vom Dey zu bestellen, dass er Euch an Eure Pflicht gemahnt und – warnt. Die Nachrichten in der letzten Zeit sind mangelhaft gewesen.“

„Ich habe getan, was ich konnte“, verteidigt sich der Bankier.

„Bah, leere Worte! Die Verbindungen des Hauses Gravelli sind so weitreichend, dass es unglaubhaft ist, dass Euch die Reisen vieler Schiffe nicht bekannt geworden wären. Nein, nein, Ihr macht mir nichts weis. Ich kenne Eure großen Geschäfte, auch wenn sie noch so heimlich und unter Decknamen abgeschlossen werden. Sie haben Euch verführt, den Vertrag als überholt anzusehen. Mit dem Geld des Deys seid Ihr groß und mächtig geworden, vergesst das niemals. Einige Zeit ist Euch noch gewährt, den Vertrag zu erfüllen. Sagen wir: bis Ende Mai. Danach...“ Benelli schweigt. Dieses Schweigen aber kündet Gefahr.

Gravelli streckt noch immer nicht die Waffen. „Danach?“, fragt er zurück. Er möchte den Gegner verleiten, etwas von seinem Spiel zu zeigen. Eine Kleinigkeit schon würde ihm, dem klarsichtigen Finanzmann, genügen, von sich aus Maßnahmen zur Vereitelung des Vorhabens zu ergreifen.

Der unheimliche Gast lächelt hämisch. Er durchschaut den Bankier. Ganz unpersönlich, leicht plaudernd, wirft er hin:

„Was nützt einem toten Mann all sein ergaunertes Geld!“

Gravelli versteht. Er erhebt sich, geht, verfolgt von den Blicken Benellis, zu einem Schrank, dem er einige Bogen Papier und Schreibzeug entnimmt. Hastig schreibt er ein paar Zeilen, streut Sand darauf und schiebt dem Besucher das Blatt hin.

„Hier, bringt das dem Dey und gebt mir meinen Vertrag zurück.“

„Ein Wechsel! Ausgezeichnet.“ Benelli liest die Anweisung langsam Wort für Wort, nickt verschiedentlich zustimmend. „Das Haus, auf das er gezogen ist, ist eines der ersten und sichersten Italiens. Ihr habt Euch fest in den Sattel gesetzt, Freund, alle Hochachtung!“

„Erseht Ihr daraus, dass ich es ehrlich meine?“

„Niemals haben wir an der Ehrlichkeit Agostino Gravellis gezweifelt. Oh, Ihr braucht Euch nicht an dem Ton zu stoßen, den ich dem Wort ‚Ehrlichkeit‘ unterlegte. Über solche Kleinigkeiten wie den Sinn und Klang eines Wortes sind wir beide ja hinaus, nicht wahr?“

Der Bankier geht auch darüber hinweg, obwohl es ihm ist, als habe er eine Ohrfeige erhalten. „Wollt Ihr das Geschäft für den Dey in dieser Weise machen? – Für Eure Bemühungen dieses.“ Ein zweiter Wechsel wird hinübergeschoben.

„Zehntausend Lire italiane! Eine schöne runde Summe. Ihr seid großzügig, Gravelli!“

„Soll ich meine Freunde schäbig behandeln?“, fragt Gravelli gönnerhaft zurück. Er hätte noch hinzusetzen können, dass der Betrag eine Lächerlichkeit bei seinem Reichtum ist, aber er unterlässt es. Vielleicht ist Benelli doch nicht so tief in seine Geschäfte eingeweiht, und ihm selbst Fingerzeige für Rückschlüsse zu geben, dazu ist der alte Bankier zu vorsichtig und zu schlau. „Das Schicksal möge mich für alle Zukunft davor bewahren, geizig und undankbar zu sein. Bitte, gebt mir meinen Vertrag zurück.“

„Sofort, Gravelli. Gleich, gleich.“

Der Bankier atmet erleichtert auf, als er sein Gegenüber so freundlich und im leichten Unterhaltungston sprechen hört und ihn so friedlich im Sessel sitzen sieht. Umständlich kramt Benelli den Vertrag heraus, fächelt sich das Gesicht mit ihm. Das Kinn hat er in die Linke gestützt, der Zeigefinger liegt an der Nase.

Nach einer kleinen Pause spricht der Besucher weiter:

„Eins wundert mich. Ihr gestattet doch, dass ich einmal meine persönliche Ansicht äußere?“

Mit einer herablassenden Bewegung fordert Gravelli den Gast zum Weitersprechen auf. Er ist belustigt über Benelli. Aus dem gefährlichen Gegenspieler ist plötzlich ein Biedermann geworden. Das haben die zehntausend Lire bewirkt. Vor Geld werden alle klein und zahm. Unzählige Male hat er das schon erlebt, nie aber so wie jetzt. Wirklich, die Sache läuft besser, viel besser, als er zu hoffen gewagt hat. Und um den anderen noch sicherer zu machen, fügt er schnell hinzu: „Unter Freunden ist das doch eine Selbstverständlichkeit.“ Eine bloße Redewendung.

„Also, ich wundere mich“, – Benelli füllt den Kelch erneut mit dem köstlichen Wein – „dass Ihr Euer Leben nicht höher bewertet. Nur das Doppelte des vom Dey erhaltenen Betrags bietet Ihr dafür.“ Dabei hebt er, als habe er die Worte nur so für sich gesprochen, den Kelch gegen das Licht und dreht ihn spielerisch in der Hand, wie um den edlen Tropfen zu prüfen.

Gravelli erbleicht. Er sieht, dass die Augen des Besuchers nicht auf den Wein, sondern wie zwei Dolche auf ihn gerichtet sind.

„Ich – ich verstehe nicht“, stottert er.

„Euer Wortschatz ist klein, Signore Gravelli. Habt Ihr Ähnliches nicht schon einmal gesagt? Machen wir dem Spiel ein Ende!“ Benelli setzt den Kelch schroff zurück. „Ihr werdet uns wieder so mit Nachrichten bedienen wie in der Vergangenheit. Geschieht es nicht, dann wird man Euch zu finden wissen, und wenn Ihr Euch in die Bleikammern Venedigs flüchtetet. Eure Geschäfte als Bankier kümmern uns nicht. Macht da, was Ihr wollt. Von dem Vertrag könnt Ihr Euch niemals lösen, auch wenn Ihr das Hundert- oder Tausendfache bötet. – Da, nehmt Euren Wechsel zurück. Das andere Papierchen lasst Ihr mir doch als Andenken an diesen so gemütlichen Abend? – Gute Nacht!“

Gravelli erhebt sich ebenfalls. Für einen Augenblick war er zu Tode bestürzt über Benellis Blick, hatte sich aber schnell wieder gefasst. Er weiß, dass der Besucher kein Wort zu viel gesagt hat. Man wird die Drohung wahr machen. Die Macht dazu besitzt der Dey, dem genug Helfershelfer, Männer ohne Furcht und Gewissen, zur Seite stehen.

„Nein, nein, bemüht Euch nicht“, Benelli tritt lächelnd auf Gravelli zu und drückt ihn scheinbar ganz freundschaftlich, aber mit eisernen Muskeln in den Sessel zurück. „Ich finde mich allein in Eurem Hause zurecht. Der Schreck ist Euch in die Glieder gefahren. Wie leicht könnte es geschehen, dass Ihr auf der Treppe ins Stolpern kämt und mich mit Euch risset. Ich möchte nicht das Opfer eines Unfalls werden.“

„Teufel, Teufel.“ Gravelli stöhnt auf, als der gefährliche Besucher die Tür hinter sich geschlossen hat. Der Bankier ist ehrlich genug, anzuerkennen, dass er in Benelli einen ebenbürtigen Gegenspieler gefunden hat. Aber damit sind vorerst seine Gedanken auch mit dem Gesandten des Deys fertig. Sie kreisen nun um augenblicklich viel Wichtigeres: zehntausend Lire!

„Zehntausend Lire! Zehntausend“, so murmelt er wieder und wieder. Dass sein Leben durch den Vertrag an den Dey gebunden ist, darüber jammert er nicht. Es geht darum, den Verlust wieder einzubringen.

Durch Eilkurier die Auszahlung sperren lassen? Unmöglich. Man liefe Gefahr, Benelli morgen erneut hier in diesem Raum gegenübersitzen zu müssen. „Ich habe mich wie ein Tölpel, wie ein grüner Junge benommen“, stellt er abschließend fest.

Ein zaghaftes Klopfen an der Tür. Gravelli hört es wie aus weiter Ferne, aber er beachtet es nicht. Nach einer Weile tritt der Diener unaufgefordert ein.

„Verzeiht, Herr, der Mann hatte mir verboten, ihn anzumelden. Ich kann nichts dafür. Verzeiht.“

Lange blickt der Bankier den verhutzelten Alten an, der sich unter den Blicken des Herrn duckt. Gravelli bemerkt es nicht. Gedanken schießen ihm wie Blitze durch den Kopf. Endlich befiehlt er: „Rufe meinen Sohn.“

Als wenig später Pietro Gravelli dem Vater gegenübersteht, erschrickt er über dessen finsteres Gesicht, aus dem die Backenknochen hart hervortreten.

„Setz dich, Pietro – doch nein, gib erst Anweisung, dass wir unter keinen, hörst du, keinen Umständen gestört werden dürfen. Auch wenn der Fremde zurückkommen sollte: Ich bin nicht zu sprechen. – Wir haben ernstlich miteinander zu reden, mein Sohn“, hebt er dann mit dumpfer Stimme an. „Wir sind reich, du weißt es. Unser Vermögen – nein, nicht allein der Reichtum – mein Leben ist in Gefahr.“

„Dein Leben, Vater? Du jagst mir Angst ein!“

„Unterbrich mich nicht! Du musst mithelfen, die Gefahr zu bannen.“

„Zähle auf mich! Hängt es mit dem nächtlichen Besucher zusammen?“

„Schweig und höre!“ Gravelli überlegt, streicht sich mit der Hand über die Stirn. Die Augen sind geschlossen, als er fortfährt: „Ich war nicht immer der große Bankier Gravelli, sondern einer von den vielen armen Händlern, die den Unterhalt mit allen möglichen kleinen Geschäften verdienen mussten. Eines Tages hatte ich ein Geschäft mit dem Mann, der uns eben verlassen hat. Es war ein schöner, verlockender Handel und versprach einen für meine damalige Lage ansehnlichen Gewinn. Er missglückte. Ich habe lange nach den Gründen für das Scheitern gesucht, sie natürlich nicht gefunden; denn es war ein darauf angelegtes Spiel gewesen. Heute durchschaue ich derartige Sachen auf den ersten Blick. Kurzum: Man machte mich haftbar. Alles, was ich in jahrelanger mühseliger Arbeit zurückgelegt hatte – es war lächerlich wenig, dünkte mich aber ein Schatz –, wäre verloren gewesen, wenn... Aber das wollte man nicht. Was bedeuten solchen Menschen einige hundert zusammengekratzter Münzen? Nichts, denn sie verfügen über ganz andere Summen. Man schlug mir ein neues Geschäft vor. Ich sollte einen Vertrag unterschreiben. Etwas hatte ich aber bereits gelernt. Ich erkannte, dass man mich brauchte. Und ich habe mich nicht billig verkauft. ‚Einverstanden‘, habe ich gesagt, zugleich aber die Hand ausgestreckt, ‚wenn ihr mir eine gewisse Summe dafür zahlt.‘ Was ich nicht zu glauben wagte, geschah. Der Betrag wurde bewilligt. Ich unterschrieb – und war danach reich.“

„Und was besagt der Vertrag? Wozu musstest du dich verpflichten?“, fragt Pietro.

„Ich verpflichtete mich, da mir kein anderer Weg blieb, auch wenn meine Forderung abgelehnt worden wäre, dem Dey von Algier alle Schiffe zu melden, die Segel nach dem südlichen Mittelmeer setzen würden.“

Pietro springt auf. „Und du hast es getan, Vater? Du – hast – es getan? Hast den Korsaren die Beute in die Hände gespielt?“

„Ja!“ Jetzt erst hebt Gravelli die Augen von der kostbaren Tischdecke, deren Muster er die ganze Zeit stumpf betrachtet hat. Hart und fest bohren sie sich in die des Sohnes. Diesem zwingenden Blick weicht der Jüngere aus.

„Was weiter?“, fragt Pietro.

„Mit dem Gold des Deys als Grundstock habe ich meine großen Geschäfte angebahnt und ein Vermögen zusammengebracht, dessen Umfang du noch nicht kennst. Ich werde dir dann vielleicht mein Geheimbuch zeigen. Für jetzt aber wisse: Es ist aus mit deinen Tändeleien, mit deinem Nichtstun. Ich brauche dich. Man hat mir den Tod angedroht, wenn ich den Vertrag nicht weiter einhalte. In der letzten Zeit habe ich nur noch selten Meldungen gesandt. Der Dey und vor allem dieser Mann“, Gravelli deutet mit einer Kopfbewegung an, dass er von Benelli spricht, „sind jedoch keine Partner, die sich betrügen lassen. Ich muss meinem Versprechen wieder voll nachkommen. Das macht mir keine Sorgen, aber etwas anderes: Ich traue ihnen nicht mehr. Man hat mich in der Hand. Sollte es ihnen einfallen, mich zu Grunde richten zu wollen, dann gilt es größten Kampf; denn ich werde mich wehren. Und dabei musst du mir beistehen.“

Beängstigende Stille liegt über dem Raum. Nur das Ticken der Uhr, Schlag um Schlag, kündet das Fortschreiten der Zeit. Viele Male schwingt das Pendel.

Pietro schweigt.

Gravelli hat sich im Ohrensessel zurückgelehnt. Die rechte Hand liegt auf dem Herzen, wohl um das heftige Pochen zu dämpfen.

„Pietro!“

Der junge Mann richtet sich mühsam aus seiner zusammengesunkenen Haltung auf.

„Es ist furchtbar! Wie viele Menschen mögen durch deinen...“, er spricht das Wort „Verrat“ nicht aus, „durch deine Nachrichten in den Tod oder in die nicht minder grausame Sklaverei bei den Barbaresken geraten sein?“

„So verurteilst du mich, Sohn?“ Die Worte des Bankiers klingen hart, dennoch spürt Pietro den ausgeprägten Familiensinn des Alten.

„Ich verwerfe eine Zusammenarbeit mit den Seeräubern!“

„Die uns reich gemacht hat!“

„Die Unglück sät!“

„Die uns zur Macht führte! Nur dadurch war es möglich, dich auf die Hochschule zu schicken. Nur dadurch konntest du deinen kostspieligen künstlerischen Neigungen nachgehen. Nur dadurch vermochtest du große Reisen zu unternehmen, allen Liebhabereien zu frönen. Nur dadurch fandest du Zugang zu den reichsten und angesehensten Familien des Landes. Nur dadurch errangst du die Liebe der Tochter eines der ersten Häuser Italiens. Nur dadurch! Und durch mich, durch meine Verbindung mit dem Dey von Algier!“

„Und dennoch tatest du unrecht!“

„Ist das dein letztes Wort?“, fragt Gravelli lauernd.

„Wenn ich es nicht noch durch ‚Verrat‘ verstärken soll!“

„Verrat, Verrat! Das mir! Ich verfluche meine Liebe zu dir. Sie hat mich verführt, dir ein Leben zu bereiten wie keinem anderen jungen Mann in Genua und weit und breit. So bist du undankbar geworden und unfähig zu erkennen, dass jeder Tag Kampf heißt. Wie viel besser wäre es gewesen, dich zur Arbeit heranzuziehen, wie es der hochnäsige Andrea Parvisi mit seinem Sohn Luigi getan hat. Der junge Parvisi ist ein tüchtiger Kaufmann geworden, einer, der unter Umständen auch mir die Kreise stören kann. Luigi, den ich hasse wie keinen sonst, ist der Sohn seines Vaters. Er wird den Alten nicht verraten. Sein Mund spricht bestimmt niemals solche Worte, wie du sie eben für mich hattest. Luigi Parvisi, der dich und mich tödlich beleidigte, muss ich über den eigenen Sohn stellen. Welch ein Schlag! Aber das Leben ist oftmals unbarmherzig hart mit mir umgesprungen. Es wird mich auch jetzt nicht beugen, selbst wenn ein Mitglied meiner Familie mich in der Stunde der Entscheidung verrät.“

Der junge Mann beobachtet den Vater angestrengt. Er sieht das verzerrte Gesicht. Furcht befällt ihn. Was wird geschehen?

Da spricht der Alte wieder: „Du wirst morgen mit den Deinen Genua verlassen. Ich gebe dir ein kleines Vermögen mit. Nicht für dich ist es gedacht, sondern für meine Schwiegertochter und die Enkel, bis ihr Ernährer fähig geworden ist, sie vor dem Hungertod zu bewahren! Wage nicht, dich hilfesuchend an die Eltern deiner Frau zu wenden! Ein Gravelli bettelt nicht, er kämpft ohne Rücksicht auf sich selbst oder die Meinung der Menschen. Mein Haus ist dir für immer verschlossen. Ich habe keinen Sohn mehr. Und hüte dich, Pietro Gravelli, jemals auch nur ein Wort von dem heute Gehörten über die Lippen zu bringen. Man würde dich finden, wo immer du dich auch zu verbergen trachtetest.“

Gravelli ist aufgesprungen. Die Muskeln in seinem Gesicht arbeiten. Man hört das Knirschen der Zähne. Plötzlich schwankt er, kann sich gerade noch an dem schweren Tisch festhalten, sonst wäre er darüber gestürzt.

„Vater!“ Pietro schnellt herbei und will dem Alten aufhelfen.

„Rühr mich nicht an. Hinaus!“

Der Sohn prallt zurück. Stöhnend lässt sich der Bankier in den Sessel zurücksinken.

„Vater!“

„Hinaus, hinaus!“, brüllt Agostino Gravelli.

Erneut beginnt Pietro: „Vater...!“

In höchster Wut, bevor der Sohn ein weiteres Wort hervorbringt, ergreift der Bankier die schwere silberne Weinkanne, um sie auf ihn zu schleudern. Der junge Mann packt den erhobenen Arm, entwindet der Hand die gefährliche Waffe und drückt den Rasenden mit großer Kraft in den Sessel.

„Dann also ohne diese Anrede. Ich fürchte mich nicht vor dem Leben. Deinen Fluch und deine Drohung verlache ich. Wir sind nicht auf dem Theater. Ich bleibe bei meinem Urteil über deine Geschäfte mit dem Dey und gehe keinen Schritt davon ab. Wohl, du bist reich und mächtig geworden, aber ein Gefangener, einer, der springen muss, wie man es ihm befiehlt.“

„Was kümmert’s dich noch? Du wirst also deine Frau und deine Kinder von der Sonnenseite auf die Schattenseite des Lebens führen?“ Der alte Gravelli fragt es leichthin. Der Gegensatz zu seinen vorher gesagten harten Worten ist schneidend. Der Bankier ist gefürchtet wegen dieses Schillerns seiner Handlungen und Reden.

Pietro stutzt, erbleicht. Dann wirft er sich über den Tisch, vergräbt die Hände in die verschränkten Arme.

„Vater, Vater!“, stöhnt er gequält. „Vater, immer und ewig, auch wenn du die Bande zwischen uns als zerschnitten betrachtest, nichts kann uns trennen.“ Und nach einer Pause, während der Gravelli ungerührt, unbeteiligt dagesessen hat, fährt er, nun wieder fester sprechend, fort: „Du tatest unrecht. Ich kann nicht anders, muss es so nennen. Die Bildung, die du mir ermöglicht hast, lässt mich alles mit anderen Augen sehen. Ich konnte mich mit den großen Gedanken und Zielen, die die Menschheit bewegt haben, vertraut machen; ich habe vergangene und noch bestehende Kulturen studiert, habe Böses von Gutem unterscheiden gelernt. Menschen in die Sklaverei zu führen, ist ein Verbrechen – und Verbrechen, die Hand dazu zu bieten. Das weiß ich. Aber ich bin nicht dein Richter, Vater, sondern dein Sohn und kein Kind mehr, wenn du mich auch noch nie für voll genommen hast.“

Ein spöttischer Blick Gravellis streift den Sohn.

Wieder nur das Ticken der Uhr. Zermürbend, marternd.

Ein junger Mensch kämpft. Wird hin und her geworfen zwischen Gut und Böse, findet nicht aus noch ein.

Agostino Gravelli wartet.

Stumpf, müde, geschlagen entscheidet der Sohn: „Ich bin ein Gravelli.“

„Das heißt?“ Überflüssig die Frage. Der Vater hat gesiegt.

„Dass ich für meine Familie das Gleiche zu tun bereit bin wie du. Wider besseres Wissen.“ Und fiebernd, um jede Sinnesänderung unmöglich zu machen: „Was wollte der Fremde im Einzelnen? Berichte, erzähle, Wort für Wort. Ich muss alles wissen. Nichts verschweige, nichts beschönige!“

Der Bankier berichtet. Es gibt keine Geheimnisse mehr zwischen den beiden.

„Und du glaubst, dass es dem Fremden ernst mit der Drohung ist?“, fragt Pietro am Ende.

„Unbedingt. Nichts wird mich vor der Rache dieser Menschen schützen können, wenn ich ihnen nicht willfährig bin. Seit einiger Zeit habe ich den Vertrag lässig erfüllt. Nicht aus den von dir angegebenen Gründen. Die kümmern mich nicht. Mich drückten die Fesseln. Der Dey hat mich damals in den Sattel gesetzt, reiten habe ich selbst gelernt, aber leider meine Kraft überschätzt. Seit heute weiß ich, dass ich nicht gegen ihn ankomme.“

„Was gedenkst du zu tun?“

„Ich suche nach einer Möglichkeit, wenigstens das Vermögen zu sichern. Um mein Leben ist mir nicht bange, wenn ich Algier weiter mit Nachrichten bediene. Aber ich fürchte unseren nächtlichen Besucher. Bisher hat er nur für den Dey gearbeitet. Lass den Fall eintreten, er entzweit sich mit ihm oder der jetzige Herrscher wird gestürzt, wie das da unten so schnell geschieht, und der neue verschmäht die Hilfe dieses Gauners; dann besteht die Gefahr, dass der Mann sich an mich hält. Sicher bin ich vor ihm niemals. Es kommt darauf an, wer von uns beiden schneller und rücksichtsloser ist. Ich werde mich bemühen, beides zu sein. – Ah – vielleicht geht es so. – Pietro, du musst in den nächsten Tagen Genua verlassen. Ich werde dir alle verfügbaren Mittel geben und eine weitere Verschiebung unseres Vermögens folgen lassen.“

„Wohin?“

„Weg aus Italien. Doch nicht zu weit. Napoleon ist in Russland geschlagen worden. Das bedeutet natürlich noch nicht, dass die Herrschaft des Korsen zu Ende geht, aber ich möchte nicht mehr auf ihn bauen. Die politische Lage Europas ist verwirrt. Nirgends, wenn wir von den kleinen Staaten absehen, die kein Betätigungsfeld für uns sein können, besteht absolute Sicherheit. Gehe nach Wien. Du bekommst von mir laufend Anweisungen, wie du dort die Geschäfte zu führen hast. Ich habe das Gefühl, dass einmal über kurz oder lang eine vollkommene Änderung eintreten wird; vielleicht löscht der Hass der Völker den Tyrannen aus. Die mir von allen Seiten zugehenden Nachrichten lassen es erhoffen. Gut, es bleibt bei Wien. Ich diene dem Dey hier weiter.“

„Komm mit uns, Vater!“

„Zwecklos und unmöglich. Benelli, dieser italienische Renegat[2], überwacht sicherlich alle meine Schritte. Hier geschieht mir vielleicht nichts. In Wien aber würde mich der Dolch eines bezahlten Mörders treffen, denn ich könnte von dort aus meinen Vertrag nicht erfüllen. Jetzt erbitte ich, was ich vordem forderte: Schweige gegen jedermann, selbst gegen deine Frau, über diese Unterhaltung. Und erwähne niemals den Namen Benelli in Verbindung mit den Korsaren. Nur drei Menschen kennen ihn so in Genua: ich, du und der alte Camillo.“

„Ich werde unverbrüchlich schweigen, Vater.“

„Gut, Pietro. Morgen sprechen wir weiter. Du wirst dich mit deiner Frau und den Kindern auf eine Vergnügungsreise begeben, sodass die Franzosen keinen Argwohn schöpfen können, wenn du die Stadt verlässt. Sie würden es auch anders nicht, denn sie kennen mich ja, aber es ist besser so. Ich freue mich, dass ich nicht mehr Luigi Parvisi über den eigenen Sohn stellen muss.“

Dass der Name des einstigen besten Freundes Pietros in dieser Stunde nochmals erwähnt wird, hat verhängnisvolle Folgen. Der junge Gravelli hasst Luigi mit gleicher Glut, wie er ihn früher geliebt hat. Langsam wie eine Katze beugt er sich weit über den Tisch zu dem Alten hin.

„Weißt du, dass Luigi Parvisi mit Raffaela und seinem Söhnchen Livio demnächst nach Malaga segeln wird? Er soll dort die Niederlassung des Hauses übernehmen.“

„Was sagst du?“

„Mit der ‚Astra‘ hörte ich.“

„Pietro, du bist ein Gravelli!“

„Wird die ‚Astra‘ den Bestimmungshafen erreichen?“

„Nein, wenn mir genug Zeit bleibt, meine Freunde davon zu unterrichten. Lass mich jetzt allein. Ich muss diese Nachricht auswerten und alles daransetzen, dem Geschlecht der Parvisi den Untergang zu bereiten.“