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Das Buch

Der Frankfurter Kommissar Andreas Rauscher ist wie vor den Kopf gestoßen. Sein Onkel fliegt aus der Wohnung, seine Freundin (oder Ex?) will nicht mehr mit ihm reden, ein Hausmeister entpuppt sich als Privatdetektiv und wird kurz darauf auch noch tot aufgefunden. Die Kripo ermittelt in einem Mietshaus in Sachsenhausen und Rauscher wird schnell klar, dass sich zwischen den Mietern des Hauses und ihrer neuen Hausbesitzerin eine hochexplosive Stimmung entwickelt hat. Rauscher taucht ein in eine Welt aus Wut und Zukunftsängsten. Der Krimi basiert auf der aktuellen und hochprekären Situation auf dem Frankfurter Wohnungsmarkt, die von steigenden Mieten, explodierenden Immobilienpreisen und Gentrifizierung geprägt ist. Das Unwort ‚Entmietung‘ macht die Runde. Alteingesessene Frankfurter kommen mit den um sich greifenden Veränderungen nicht zurecht. Schöne neue Mietwelt oder längst Alltag gewordenes Problem?

Der Autor

Gerd Fischer wurde 1970 in Hanau geboren. Er studierte Germanistik, Politologie und Kunstgeschichte in Frankfurt am Main, wo er seit 1991 lebt. Weitere Krimi-Veröffentlichungen im mainbook Verlag: „Mord auf Bali“ 2006 (Neuauflage 2011), „Lauf in den Tod“ 2010, „Der Mann mit den zarten Händen“ 2010, „Robin Tod“ 2011, „Paukersterben“ 2012, „Fliegeralarm“ 2013.

Gerd Fischer

Abgerippt

Der siebte Fall für Kommissar Rauscher

Krimi

Lektorat: Mia Beck
Layout: Anne Fuß
Titelbild (bearbeitet): © stockphoto-graf
ISBN 978-3-944124-51-3

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2. jemanden betrügen / übervorteilen

Inhalt

Prolog

Teil 1

Freitag, 9. August, selber Tag, abends

Samstag, 10. August, 8 Uhr

Sonntag, 11. August, 9 Uhr

Montag, 12. August, 7 Uhr

Teil 2

Montag, 12. August, nachmittags

Teil 3

Dienstag, 13. August

Teil 4

Mittwoch, 14. August, morgens

Teil 5

Freitag, 16. August

Samstag, 17. August

Sonntag, 18. August, morgens

Anmerkung des Autors

Prolog

Ein Klingeln an der Wohnungstür störte Bernd Kessler. Ausgerechnet jetzt, dachte er, während seiner Lieblingsserie. Aus dem Fernseher erklang bereits die Mike & Molly-Titelmelodie. Er hatte sich zum Mittagessen eine Burger-Pizza im Ofen heiß gemacht und wollte sich gerade mit einer Cola auf seine Wohnzimmercouch begeben, kurz vorm Verhungern.

Obwohl er niemanden erwartete, ging er zur Tür.

Fehler Nummer eins.

Kessler strich sich durch seine graumelierten, schütteren Haare und schaute mit seinen hellwachen Augen durch den Spion. Er sah das Gesicht eines Mannes, der vor seiner Wohnungstür stand und von zwei weiteren Männern flankiert wurde. Kessler erschrak. Der Typ trug einen grauen Anzug und sah nach Anwalt oder Gerichtsvollzieher aus. Keinen der drei Männer hatte er je zuvor gesehen.

Der Schlipsträger hob ein Schreiben hoch und rief: „Herr Kessler, bitte öffnen Sie die Tür! Wir wissen, dass Sie zu Hause sind und wir kommen ohnehin rein. Die Hausbesitzerin hat uns einen Schlüssel gegeben. Es wäre also besser, wenn Sie öffnen würden. Wenn Sie nicht kooperieren, müssen wir Gewalt anwenden. Bitte lassen Sie es nicht soweit kommen!“ Es dauerte einen Moment, dann klingelte der Mann Sturm.

Kessler dachte nicht im Traum daran, den Fremden die Tür aufzumachen. Stattdessen schwieg er, als habe er nichts zu befürchten.

Fehler Nummer zwei.

Eine Weile war von draußen nichts zu vernehmen, ehe wieder die Stimme des Mannes erklang. „Herr Kessler, Sie haben jetzt noch drei Sekunden Zeit. Ich zähle rückwärts. Haben Sie das verstanden, ja? Drei Sekunden, kapiert?“

Kessler blieb stumm und starrte die Tür an.

„Okay, Sie wollen es offensichtlich nicht anders, Herr Kessler. Ich fange jetzt an zu zählen.“ Eine kleine Pause folgte.

„Drei.“

Einige Sekunden vergingen.

„Zwei.“

Und kurz darauf sagte der Mann: „Eins … So, jetzt reicht es, Herr Kessler. Wir kommen jetzt rein!“

Kessler machte immer noch keine Anstalten, die Tür zu öffnen. Danach ging alles sehr schnell. Er hörte, wie die Männer versuchten, mit einem Schlüssel seine Tür zu öffnen, doch seiner steckte von innen. Sie konnten das Schloss nicht öffnen. Gerade wollte sich Kessler ins Fäustchen lachen, als er einen dumpfen Schlag wie von einem Vorschlaghammer hörte. Dann noch einen. Und einen dritten. Das Holz der Tür splitterte, ein Loch entstand und das Schloss sprang aus den Fugen. Jemand hebelte die Tür auf. Die drei drangen in seine Wohnung ein. Der Schlipsträger drückte ihm den Zettel in die Hand. „Zwangsräumung!“

Kessler stellte sich den Männern in den Weg.

Fehler Nummer drei.

Derjenige, der vorneweg preschte, kickte ihn mit seinem bulligen Oberkörper zur Seite. Kessler verlor die Balance, fand mit den Händen keinen Halt und stolperte nach hinten. Sein Kopf schlug auf dem Boden auf und er trug eine schmerzende Platzwunde davon, von der er sich minutenlang nicht erholte.

Die beiden Handlanger brachten Pappkartons in die Wohnung und begannen mit der Arbeit. Kessler hielt sich den Kopf und schaute den Dritten wütend an, der mit den Achseln zuckte. „Sie sind mit der Miete knapp 6.000 Euro im Rückstand und haben die Frist verstreichen lassen“, schleuderte ihm der Mann entgegen. „Sie hätten längst ausziehen müssen. Die Wohnung ist vor einem Jahr gekündigt worden. Auf die Klage haben Sie nicht reagiert und zum Termin vor Gericht sind Sie auch nicht erschienen. Da lässt sich leider nichts mehr machen.“

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Drei Stunden später saß Kessler mit pochendem Schädel, knurrendem Magen und verschränkten Armen auf einem Polstersessel vor seinem Haus in der Sachsenhäuser Hedderichstraße. Über dreißig Jahre lang hatte er hier zur Miete gewohnt. Von seinem Platz auf dem Bürgersteig aus konnte er den Frankfurter Südbahnhof sehen. Die hochstehende Sonne über dem südlichen Frankfurter Stadtteil brannte auf ihn nieder. Ihm war heiß. Sein Gemüt kochte ohnehin, seit er seine Wohnung unfreiwillig hatte verlassen müssen.

Hin und wieder tupfte sich Kessler mit einem Taschentuch die Wunde am Hinterkopf trocken. An seinen Schläfen perlten Schweißtropfen hinab, doch das schien ihn nicht zu stören. Er starrte geradeaus. Mit Sack und Pack hatten ihn die Leute des Umzugsunternehmens aus seiner Wohnung geschleppt. Um ihn herum stand der Bürgersteig voller Sachen. Die alte Vitrine aus dem Wohnzimmer. Der Esstisch aus der Küche. Sein Bett. Seine Klamotten waren in Kisten verpackt, die sich fast bis hoch zur Straßenlaterne stapelten.

Seine Nachbarin, Frau Thönnies, kam den Gehweg entlang und musste die Stelle umschiffen. Sie trat auf die Straße und ging um die ganzen Möbel herum zur Haustür. „Bernd?“, rief sie erschrocken. „Was ist denn passiert?“

Er wandte den Blick ab und schwieg.

Die verdattert dreinblickende Frau schüttelte verhalten den Kopf.

Bernd Kessler versuchte, ihr ein Lächeln zu schenken, aber es gelang ihm nicht. Er hätte ihr zu gerne erklärt, was hier vor sich ging, aber er brachte kein Wort heraus. Wenig später verschwand sie mit sorgenvoller Miene im Haus. Die Szene auf dem Bürgersteig schien sie zu überfordern.

Kurz nach ihr kam eine weitere Bekannte den Bürgersteig entlang, die Kessler von seinem Küchenfenster schon des Öfteren beobachtet hatte. Die Rabenfrau, so nannte er die Alte, trug immer die gleichen Klamotten. Eine abgewetzte, fettglänzende Weste, eine Jeans mit Löchern und braune Halbschuhe. Mit ihren langen grauen Haaren, die ihr in Strähnen ins Gesicht hingen, und der fetten dunklen Geschwulst, die auf ihrer Nase thronte, ähnelte sie nicht unwesentlich einer Hexe. Ihre rechte Hand jedoch, die sie hoch in die Luft streckte, zierte ein eleganter schwarzer Handschuh. Begleitet wurde die Rabenfrau stets von einem – manchmal sogar zwei oder drei – Raben, die nach den Essensresten und Müllabfällen gierten, die sie in einer Plastiktüte mitschleppte. Manchmal kam einer der Raben angeflogen und landete auf ihrer Hand. Einmal war Kessler ihr bis zum Stadtwald gefolgt, wo sie mit den Raben ihre tägliche Runde zu drehen schien. Seitdem hegte er den Verdacht, sie wohne vielleicht auch dort.

Als sie Kessler auf dem Sessel sitzen sah, blieb sie stehen und musterte ihn. Etwas schien ihr nicht geheuer zu sein. Ihre Augen leuchteten und wirkten weit weg. Vermutlich war sie einfach verrückt, dachte Kessler, oder – wie das heute genannt wurde – schizophren. Jedenfalls bekam er Muffensausen, wenn er sie zu lange anblickte, denn er musste dann unentwegt an Hitchcocks Vögel denken. Also drehte er den Kopf zur Seite und blieb stumm. Die Rabenfrau registrierte es, zögerte jedoch. Als sie einen Wagen hörte, dessen Fahrer die Hedderichstraße entlang bretterte und vor dem Haus in die Eisen ging, trottete sie weiter. Offenbar witterte sie Gefahr. Sie blickte in die Luft, gurrte zwei- oder dreimal, und die Raben folgten ihr; immer darauf bedacht, keinen der Brösel zu verpassen, die sie auf den Weg streute. Der Wagen, ein neuer metallicblauer Z4, fand eine Parklücke vier Häuser weiter. Ein Mann stieg aus.

Kessler wurde abgelenkt, denn schon kam der Nächste an seinem Sessel vorbei. Es war Thoms, dieser schnöselige neue Hausmeister, den er seit der ersten Begegnung vor einigen Wochen gefressen hatte. Der etwa dreißigjährige Mann kam auf Kessler zu, grinste feist und stemmte die Hände in die Seite. „Na, rausgeflogen?“

Kessler schaute demonstrativ weg, doch Thoms legte nach: „Wollen Sie hier Wurzeln schlagen?“

Anstatt es darauf beruhen zu lassen, drückte er den Finger noch tiefer in die Wunde. „Ich hab’s Ihnen immer gesagt, dass es einmal soweit kommen wird, aber Sie wollten mir ja nicht glauben.“

Kessler zuckte nicht einmal mit einer Augenbraue. Der Hausmeister verharrte noch einen Moment, dann schmunzelte er in sich hinein und schüttelte den Kopf. Bevor er grinsend weiter zog, reckte er seine Hand nach vorne. „Falls wir uns nicht mehr sehen … Machen Sie’s gut!“

Zögernd und widerwillig schlug Kessler ein. Er drückte ihm die Hand, zog sie aber sofort wieder zurück.

Was konnte er jetzt tun? Wohin konnte er mit seinem Kram gehen? Ihm fiel nur eine Möglichkeit ein.

Nie zuvor in seinem 67-jährigen Leben war er so wütend gewesen.

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Kommissar Andreas Rauscher stand auf und ging zum Telefon, das klingelte. Er wollte gerade Feierabend machen, um übers Wochenende nach Hamburg zu seinem Sohn zu fahren. Er dachte an seine Freundin Elke, die ihn vor einigen Monaten mit Mäxchen verlassen hatte. Rauscher hatte sie vor dem Traualtar mitsamt der Hochzeitsgesellschaft stehengelassen, weil er sich um eine potenzielle Selbstmörderin kümmern wollte. Elke war daraufhin in ihre Heimatstadt Hamburg zurückgekehrt. Seitdem hatte er seinen Sohn lediglich an drei Wochenenden gesehen. Gerade in letzter Zeit herrschte weitgehend Funkstille. Sie hatten keine vernünftige Ebene gefunden, miteinander zu reden. Seit die beiden weg waren, hatte er das Gefühl, sein Leben steuere in eine ungeheuer große Leere.

Seinen missratenen Hochzeitstag hätte er am liebsten aus seinem Leben getilgt.

Rauscher nahm das Gespräch an und war erstaunt, denn er vernahm die Stimme seiner Mutter Gabriele, die sich in den letzten Wochen sehr rar gemacht hatte.

Noch bevor Rauscher Hallo sagen konnte, platzte seine Mutter heraus: „Mein Bruder ist gerade aus seiner Wohnung geflogen.“

„Wie jetzt, Onkel Bernd?“

„Wie viele Brüder hab ich denn noch?“

„Aber wieso denn das?“

„Wenn ich das wüsste! Zwangsgeräumt. Er sitzt mit Sack und Pack auf der Straße vor seinem Haus.“

„Das gibt’s doch nicht.“ Rauscher hörte ein Schniefen. Weinte seine Mutter etwa?

„Wenn ich es dir sage … Wir organisieren jetzt einen Umzugs-LKW und holen ihn und seinen Krempel zu uns.“

„Das kann doch nicht sein, dass er so plötzlich …“

„Ich weiß nicht, ob es wirklich so unerwartet kam …“

„Und ihr wusstet echt von nichts?“

„Nein, nein. Seit er vor zwei Jahren in Rente gegangen ist, spricht er kaum noch was.“

„Aber warum denn nicht?“

„Du kennst ihn ja, den sturen Hund.“

„Offensichtlich nicht so richtig.“

Sie legte eine kleine Pause ein. „Hast du Zeit?“

„Jetzt?“

„Ja, wann denn sonst? Oder soll dein Onkel auf der Straße übernachten?“

„Ich wollte gerade nach Hamburg fahren, um Mäxchen zu sehen. Also, der Umzug kommt mir mehr als ungelegen.“ Rauscher seufzte.

„Meinst du etwa uns nicht? Aber wir brauchen deine Hilfe. Soll dein Vater die ganzen Kisten alleine schleppen? Und die Waschmaschine?“

Rauscher überlegte eine Weile. „Ist ja schon gut. Ich sage Elke ab. Wir treffen uns in der Hedderichstraße.“

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Endlich! Den alten, störrischen Sack würden sie heute loswerden. Nach langem Gezeter. Kessler hatte sich aber auch zu blöd angestellt und ihnen die Steilvorlage für die Zwangsräumung selbst geliefert. Oma Thönnies, wie er sie nannte, war die Einzige, die sich problemlos hatte einschüchtern lassen. Sie war inzwischen so weichgekocht, dass sie die Segel wohl bald von allein streichen würde. Wie dieser Friedrich Papst eine Woche vorher. Hahaha! Herzversagen. Kommt eben vor in dem Alter. Wofür gab es schließlich Altersheime?

Die anderen Mieter in der Hedderichstraße machten nach wie vor Probleme. Und ihm ein wenig Sorgen.

Heute wollte er einen neuen Versuch starten, Herrn Paul, dem Mieter im dritten Stock links, auf den Zahn zu fühlen und – falls notwendig – ihn auf die Palme zu bringen. Er musste seinen Widerstand brechen. Und er wusste auch schon, wie er das anstellen würde.

Vor allem: Das erwartete Verena Grün von ihm. Schließlich entlohnte sie ihn fürstlich dafür. „Ich bezahle Ihnen ein Kopfgeld“, so hatte sie es genannt, „für jeden, den sie – unkompliziert – loswerden.“ Nichts leichter als das. Für zwei hatte er schon kassiert, der Rest würde folgen. Sicher bald.

Nun stand er im dritten Stock links vor Herrn Pauls Wohnungstür. Der Mieter kannte ihn bereits von früheren Besuchen. Verena Grün hatte ihn als neuen Hausmeister vorgestellt. Geniale Idee. So hatte er immer Zugang zum Haus, konnte schalten und walten, wie er wollte, und niemand schöpfte Verdacht. Thoms grinste. Heute hatte er eine besondere Überraschung für Paul dabei.

Wenig später klingelte er. Die Tür wurde vorsichtig geöffnet. Edgar Paul linste mit großen Augen ins Treppenhaus und sah ihn mit skeptischem Blick an. Er war erst 55 Jahre alt, aber sein Haar leuchtete schon schlohweiß. Der Mieter wirkte etwas verhärmt, wie er in seinem Feinripp-Unterhemd, der abgewetzten Jogginghose und den Badelatschen dastand. Seine Augen waren eingefallen und hatten dunkle Ränder, als schlafe er zu wenig, und die Gesichtshaut war mattgrau. „Ach, Sie schon wieder! Was gibt’s?“

„Guten Tag, Herr Paul. Ich muss alle Wasseranschlüsse und Abflussrohre im Haus überprüfen. Jetzt ist Ihre Wohnung dran. Dauert auch nicht lange.“

„Müssen die etwa auch erneuert werden?“

„Kann gut sein. Manche haben weit über fünfzig Jahre auf dem Buckel.“

Paul seufzte, trat missmutig einen Schritt beiseite und ließ ihn eintreten. Thoms spürte die Blicke des Mieters in seinem Rücken, als er zielstrebig in die Küche ging und eine Rohrzange aus dem Werkzeugkoffer nahm. Kurz darauf machte er sich unterhalb des Waschbeckens am Abfluss zu schaffen.

„Bei Ihnen scheint noch alles bestens zu sein“, wandte er sich beim Aufstehen an Paul. „Ich müsste mal für kleine Jungs, dann kann ich mir das Bad gleich vornehmen. Darf ich?“

„Kann Sie ja schlecht in die Hose machen lassen, oder?“, brummte Paul.

Nachdem der Hausmeister das Badezimmer betreten hatte, schloss er die Tür hinter sich. Den Gang auf die Toilette hatte er nur vorgetäuscht, damit Paul ihm nicht folgen konnte. Er stellte seinen Werkzeugkoffer auf den weißen Fliesen ab und holte eine kleine Kiste heraus.

Nachdem Thoms sich mit dem Rücken vors Schlüsselloch gestellt hatte, um Paul die Sicht zu nehmen, falls der ihn beobachten wollte, hob er die Kiste auf den Badewannenrand und öffnete sie. Sofort sprangen vier Mäuse heraus: erst zwei weiße, dann eine graue und noch eine gescheckte. Er grinste in sich hinein, verstaute die Kiste im Koffer und riss urplötzlich die Tür auf.

„Herr Paul. Haustiere sind hier nicht erlaubt“, rief Thoms, als er wieder im Wohnungsflur stand. In diesem Moment huschte die erste weiße Maus aus dem Bad, gefolgt von einer weiteren, der gescheckten.

Paul, der gerade um die Ecke bog, zuckte zusammen, als sein Blick auf die Dielen und die ungebetenen Gäste fiel. „Was …? Das gibt’s doch nicht!“

„Ich glaube, ich muss mal den Kammerjäger rufen. Mal sehn, was hier bei Ihnen noch so alles kreucht und fleucht. Frau Grün wird nicht begeistert sein.“ Bevor der verdatterte Herr Paul etwas erwidern konnte, verabschiedete sich der Hausmeister. „Schönen Tag noch.“

Geschwind verließ Thoms die Wohnung und knallte die Tür hinter sich zu. Treppab konnte er nicht mehr vor Lachen. Er hielt sich den Bauch und eine Hand vor den Mund, sonst hätte er laut losgebrüllt.

Von oben hörte er, wie die Tür aufsprang. „Das waren Sie! Das werden Sie bereuen! Ich werde Sie anzeigen! Ich …!“

Rumms!

Herrn Pauls Stimme war verstummt, die Tür wieder ins Schloss gefallen. Ein Lachkrampf schüttelte Thoms. Merkwürdiger Typ. Eigentlich konnte einem der zornige Alte leidtun. Aber diesen Gedanken unterdrückte er schnell und dachte an das Geld, mit dem Verena Grün ihn bald überhäufen würde.

Er beschloss, eine Weile abzuwarten und sich dann noch einmal zu überzeugen, ob oder was der Alte gegen die Mäuse unternehmen würde. In der Zwischenzeit wollte er ihn von draußen beobachten. Vielleicht entdeckte er etwas am Fenster. Thoms brachte den Werkzeugkoffer in den Keller. Anschließend verließ er das Haus durch den Hintereingang und begab sich in den Hof, von dem aus man auch zu einigen Nachbarhäusern gelangen konnte. Niemand war zu sehen. Um Pauls Fenster sehen zu können, musste er an den Rand des Grundstücks gehen, das von einer Hecke eingegrenzt wurde. Ein Sandhaufen war davor aufgeschichtet, eine Hinterlassenschaft der Arbeiter, die das Treppenhaus instand setzten. Er ging darauf zu und wollte sich gerade umdrehen, um Pauls Fenster von hier unten zu beobachten.

Da war plötzlich ein Geräusch. Hinter ihm. Sehr dicht.

Thoms versuchte, den Kopf herumzureißen, doch er kam nicht mehr dazu. Schon spürte er einen Schlag auf den Hinterkopf, der ihn nach vorne schleuderte, einen brennenden Schmerz, der seinen gesamten Körper durchfuhr. Er knallte auf den Boden, wollte noch die Hände schützend hochreißen, doch sie gehorchten ihm nicht mehr, schienen wie gelähmt. In seinem Kopf brach blanke Panik aus. Schweiß schoss aus allen Poren. Er wollte sich wehren, musste sich wehren, war aber hilflos.

Ein zweiter Schlag krachte auf ihn ein, als donnerte er mit dem Kopf ungebremst gegen eine Mauer. Augenblicklich brach die Nacht um ihn herum ein und er spürte nichts mehr.

Teil 1

Freitag, 9. August, selber Tag, abends

Während Andreas Rauscher die letzte Umzugskiste aus dem LKW hievte, schienen ihm die letzten Strahlen der Abendsonne ins Gesicht. Mit seinem etwa 84 Kilo schweren Körper, von denen er sehr gerne sechs bis sieben auf die Schnelle losgeworden wäre, wuchtete er sie die wenigen Steinstufen zur Haustür hinauf. Dann trug er die Kiste die Kellertreppe hinab und stellte sie mit einem tiefen Seufzer zum Rest. Inzwischen war es etwas abgekühlt, aber immer noch schwül. Mit dem Ärmel wischte er sich über Stirn und Gesicht. Fit war etwas anderes. Rauscher spürte jeden einzelnen Knochen. Der Schweiß lief ihm in Strömen. Seine kurzen schwarzen Haare klebten am Schädel. Für die nächsten Tage war Augusthitze vorhergesagt.

Er war frustriert. Statt Möbel zu schleppen, hätte er jetzt mit Mäxchen im Kinderwagen an der Alster entlang spazieren können. Er hatte Elke telefonisch nicht erreicht, aber vor zwei Stunden eine SMS mit seiner Absage fürs Wochenende geschrieben. Seitdem hatte er nichts von ihr gehört.

Sie hatten Onkel Bernds komplette Habe auf einen Umzugs-LKW geladen, den sie beim KFZ-Referat an der Uni in Bockenheim gemietet hatten, und alles ins Häuschen seiner Eltern in der Römerstadt verfrachtet. Die meisten Kartons und Möbel in zwei Kellerräume, ein paar Kisten mit persönlichen Dingen und Kleidung ins Gästezimmer, Onkel Bernds neues Domizil für unbestimmte Zeit.

Der Umzug war weitgehend schweigend verlaufen. Nur das Tuscheln der Nachbarn, deren Blicke offene Verwunderung zeigten, war zu vernehmen. Und hier und da Hundegebell.

Bislang hatte niemand Onkel Bernd auf die Geschehnisse angesprochen. Und auch er bekam den Mund nicht auf, worüber weder Rauscher noch seine Eltern erstaunt waren. Onkel Bernd war offenkundig der Alte geblieben. Etwas mürrisch, etwas verschroben, eine besondere Marke Mensch, kantig und eigenwillig. Einer, der Hilfe nur ungern in Anspruch nahm.

Als die letzte Kiste verstaut war, setzte Gabriele Rauscher einen Kaffee auf und stellte belegte Brote auf den Esszimmertisch. Alle setzten sich, griffen hastig zu und ließen es sich schmecken. Bis auf Onkel Bernd, der verdrossen aus dem Fenster schaute.

Verstohlen warf Rauscher einen Blick auf ihn. Er ist alt geworden, dachte er. Wirkte nicht mehr ganz so kräftig wie früher, aber sein kantiges Gesicht war unverkennbar. Es war etwa ein Jahr her, dass er ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Seitdem waren Onkel Bernds Schläfen noch grauer und die Gesichtspartie noch faltiger geworden. Sein Gesicht mit der dicken Nase glänzte in einer unnatürlichen Röte. Er hatte einige Kilos zugelegt und der letzte Friseurbesuch lag offensichtlich schon lange zurück. Seine 67 Jahre sah man ihm definitiv an.

„Soll ich noch mal nach deiner Kopfwunde schauen?“, fragte Gabriele Rauscher besorgt. Sie erntete jedoch nur ein hingerotztes „Nee, nicht nötig!“

„Komm schon! Vielleicht muss sie gereinigt werden?“ Frau Rauscher erhob sich von ihrem Stuhl, beugte sich über ihren Bruder und wollte gerade Hand anlegen, als er den Kopf wegriss.

„Lass mich!“, fauchte er.

„Ist ja schon gut. Ich wollte dir nur helfen.“

„Ich brauch keine Hilfe!“

„Das hat man heute vor deinem Haus gesehen“, war ihr bissiger Kommentar. Mutter Rauscher nahm wieder Platz und war frustriert.

Vater Rauscher hielt das Schreiben des Gerichtsvollziehers in den Händen und las interessiert.

„Ist das der Vollstreckungsbescheid?“, fragte Andreas Rauscher, um die Situation zu beruhigen.

„Ja. Hier, lies selbst!“ Karl-Heinz Rauscher drückte seinem Sohn den Brief in die Hand. „Scheint hieb- und stichfest zu sein.“

Rauscher las das Räumungsurteil des Amtsgerichts und betrachtete den beglaubigten Stempel. Kein Zweifel, die Räumung war rechtens. Er schüttelte den Kopf.

Einige Schmatzer durchbrachen die Stille des Esszimmers. Onkel Bernd hielt die Arme vor der Brust verschränkt, als wolle er Distanz zum Rest der Familie halten. Sie belauerten sich gegenseitig, bis Gabriele Rauscher der Kragen platzte: „Jetzt sag schon, was passiert ist! Das ist doch unerträglich, wenn man nicht weiß, woran man ist.“ Sie schaute zu ihrem Mann und forderte ihn mit ihrem Blick auf, ihr beizupflichten oder wenigstens auch etwas zu sagen.

„Hmmm“, murmelte Onkel Bernd. „Grgrgr, mhhh.“ Er stopfte sich ein besonders großes Stück Leberwurstbrot in den Mund, kaute lange darauf herum und schmatzte provozierend. Offensichtlich war er keineswegs gewillt, einen Ton zu seinem Rauswurf zu sagen.

„Du bist und bleibst ein alter Stoffel“, setzte Frau Rauscher noch eins obendrauf und schlug mit der Faust auf den Tisch. Kaum ausgesprochen, ergriff sie die leere Brotplatte, verließ fluchtartig das Esszimmer und machte sich in der Küche zu schaffen, als könne sie es in einem Raum mit Onkel Bernd nicht länger aushalten.

Rauschers Vater Karl-Heinz ging diplomatischer vor. „Habt ihr Lust auf ein Bier?“

Onkel Bernd grummelte, ohne etwas Genaues zu sagen.

„Ein Sauergespritzter wäre jetzt nicht schlecht“, antwortete Andreas Rauscher.

Sein Vater erhob sich und kam eine Weile später mit etlichen Flaschen Pils, Apfelwein und Mineralwasser zurück. Er stellte einige Pilstulpen und Gerippte auf den Tisch.

Onkel Bernd rührte nichts davon an. Vater Rauscher machte sich ein Bier auf, während Andreas Rauscher einen Sauergespritzten mixte. Als er Onkel Bernds Miene sah, füllte er ein weiteres Geripptes mit Apfelwein. Pur natürlich, das bevorzugte der Onkel.

Begierig griff dieser danach, leerte es in einem Zug und wischte sich den Mund ab.

Rauscher sammelte Teller und Bestecke ein und brachte sie in die Küche. „So was Stures! Dein Onkel macht jedem Esel Konkurrenz“, rief seine Mutter ihm entgegen.

„So war er doch schon immer. Ich kenne ihn nicht anders. Aber ich kann mich auch nicht an allzu viele Begegnungen von früher erinnern.“

Mutter Rauscher klopfte ihrem Sohn auf die Schulter. „Komm, ich hab noch was Leckeres für euch.“ Gabriele Rauscher kam – gefolgt von Andreas – mit einer neuen Ladung Wurst- und Käsebrote ins Esszimmer und stellte sie auf den Tisch. Sie setzte sich und nahm einen neuen Anlauf. „Na, will uns der Herr mit vollem Magen nicht langsam mal was erzählen?“

„Hach“, grummelte der wieder. „Die ganze Bagaasch kann mir den Buckel runterrutschen.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und sagte keinen Ton mehr.

„Wen genau meinst du damit?“, erkundigte sich Frau Rauscher, doch der Onkel gab keinen Mucks mehr von sich.

„Da habt ihr’s“, sagte Frau Rauscher. „Ein Stinkstiefel wie er im Buche steht! Er redet nicht einmal mit seiner Schwester.“ Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Wir müssen doch was unternehmen.“

Rauscher sah seine Mutter mit skeptischer Miene an. „Aber was willst du machen?“

„Einspruch einlegen gegen das Räumungsurteil! Dagegen klagen, was weiß ich …“ Sie wandte sich an ihren Bruder. „Hast du dich beraten lassen? Beim Mieterbund oder so? Hast du einen Anwalt? Hast du überhaupt irgendwas unternommen?“ Onkel Bernd schaute sie lange an und schwieg beharrlich. „Das ist doch zum Mäusemelken!“, kommentierte Frau Rauscher, die gar nicht mit einer Antwort gerechnet hatte, und senkte den Kopf.

„So wie sich die Lage hier darstellt, sehe ich wenig Möglichkeiten.“ Rauscher sprach Onkel Bernd direkt an. „Gibt es vielleicht irgendwelche Unterlagen, mit denen wir belegen können, dass die Zwangsräumung unberechtigt war?“

Onkel Bernd zuckte zunächst mit den Achseln, besann sich jedoch kurz darauf eines Besseren. „Einen Ordner. Ich habe den ganzen Schriftverkehr mit der Grün, weißt du.“

„Grün?“, fragte Rauscher nach.

„Die Hausbesitzerin“, erklärte der Onkel. „Alle Briefe aus dem letzten Jahr, seit sie das Haus gekauft hat. Das Einzige, was die kann, ist schikanieren.“

„Das schaue ich mir mal an. Wäre ja gelacht, wenn wir nichts finden würden.“

In diesem Moment klingelte Rauschers Handy. Er ging in die Küche und nahm den Anruf an.

„Hi, Jan. Was gibt’s denn?“

Jan Krause war Kommissar in Rauschers Team. „Wo steckst du?“, fragte ihn der Kollege.

„Hör mir nur auf!“

„Was ist denn passiert?“

„Onkel Bernd …“

„Wer?“, unterbrach Krause.

„Der Bruder meiner Mutter. Er ist aus seiner Wohnung geflogen.“

„Wie jetzt?“

„Zwangsräumung.“

„Nein! So was gibt’s doch nur in Berlin, dachte ich jedenfalls.“

„Ich auch. Und das gefällt mir gar nicht. Ich glaube, ich muss schleunigst was unternehmen. Heute haben wir seine ganzen Sachen bei meinen Eltern abgestellt. Ich sag dir!“

„Und was willst du machen?“

„Keine Ahnung. Vielleicht kann man da rechtlich gegen vorgehen.“

„Musst du auf später verschieben. Wir haben einen Einsatz.“

„Doch nicht jetzt?“

„Schnellmerker.“

„Aber ich habe gerade einen Umzug hinter mir und bin völlig im Eimer.“

„Hallo! Hast du nicht verstanden? Also, noch mal zum Mitschreiben: Wir haben einen Einsatz.“

„Wie jetzt?“, äffte Rauscher seinen Kollegen nach.

„Leichenfund. Sieht nach Totschlag aus, soweit es die Kollegen vor Ort beurteilen konnten, ne!“

„Verdammt!“

„Kommst du?“

„Muss ich wirklich?“

Krause seufzte: „Das ist dein Job!“

„Danke für die Aufklärung“, wurde Rauscher lauter.

„Gern geschehen. Wir sehn uns in zehn Minuten, ne!“

Rauscher legte eine kurze Pause ein. „Nee, wirklich. Ich kann jetzt nicht. Muss noch mal mit Onkel Bernd sprechen und mir seine Unterlagen ansehen, damit wir was dagegen tun können.“

„Aber wir haben eine Leiche. Das ist unser Fall!“

„Nimm doch Thaler mit. Tut ihm gut, mal wieder rauszukommen, statt ewig hinterm Schreibtisch zu klemmen.“ Noch ehe Krause antworten konnte, klickte Rauscher das Gespräch weg. Er prüfte noch schnell seine Inbox, aber Elke hatte keine Antwort-SMS gesendet.

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„Rock ’n’ Roll vorm Schlafengehen“, sagte die samtweiche Radiostimme der Moderatorin von HR1, die Rauscher mochte, weil sie so sinnlich klang und ihn beruhigte. Die ersten Takte eines Stones-Songs begannen.

Es war bereits Nacht, als Rauscher auf der Couch im Wohnzimmer seiner Bockenheimer Altbauwohnung saß, das gerahmte Bild, das ihn mit Elke und Mäxchen in einer glücklicheren Zeit zeigte, zurück auf das kleine Tischchen stellte und sich den Ordner mit Schriftstücken griff, den er – nach einer halben Stunde gemeinsamer Suche mit Onkel Bernd – ganz unten in einer Kiste gefunden hatte.

Er blätterte ihn durch, seufzte und gähnte. Es waren diverse Briefe von Verena Grün, der Eigentümerin der Hedderichstraße 37. Darunter auch eine ‚Mitteilung an die Mieter‘, in der sie alle informierte, dass sie das Haus gekauft hatte. Sie war 15 Monate alt und Frau Grün teilte darin auch ihre Kontaktdaten mit. Die weiteren Schriftstücke enthielten Ankündigungen zu Mieterhöhungen, einen Entwurf eines Auflösungsvertrages, eine Ankündigung zur Erneuerung der Heizungsanlage, eine Ankündigung zur Instandsetzung des Treppenhauses inklusive Fenster, ein Informationsschreiben, dass das Wasser dazu zeitweise abgestellt werden müsse. Und so weiter. Eine ganze Latte an Maßnahmen, die Frau Grün im Haus durchführen ließ oder noch vorhatte. Zudem fand Rauscher im Ordner etliche Mahnschreiben. Onkel Bernd habe sich – auch nach wiederholter Aufforderung – zu keinem Schreiben geäußert.

Rauscher glitt ein Lächeln über die Lippen. So war er. Ganz der Onkel, den er kannte. Stur bis zum bitteren Ende, das er heute auf dem Gehweg vor dem Haus, das an die dreißig Jahre sein Zuhause gewesen war, erlebt hatte.

Rauscher erinnerte sich an die Zeit, als er noch klein war. Vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Damals hatte der Onkel noch Briefmarken gesammelt; heute schaute er nur noch Fernsehen. Serien oder Fußball. Er war zu Besuch beim Onkel gewesen und hatte die Tür zum Wohnzimmer geöffnet, wo der Onkel am Tisch saß und seine Briefmarken begutachtete. Da das Fenster offen stand, entstand augenblicklich ein Zug und der Wind fegte die Briefmarken vom Tisch. Der Onkel hob verzweifelt die Hände und versuchte, seine geliebten Briefmarken einzufangen, was ihm aber nicht gelang. Dann brüllte er in Rauschers Richtung: „Mach die verdammte Tür zu, du Deiwel!“ Teufel hatte Onkel Bernd ihn damals genannt. Das konnte er jahrelang nicht vergessen.

Rauscher schüttelte den Kopf, stand auf, ging in die Küche und mixte sich einen Sauergespritzten, den er auf ex trank. Er schenkte noch einmal nach und machte es sich wieder auf der Couch gemütlich. Fix und alle war er von den paar Kisten. Nichts mehr gewohnt. Sein Rücken schmerzte.

Nach einem weiteren Schluck, der wunderbar auf der Zunge bitzelte und einen sauren Geschmack hinterließ, las Rauscher weiter in Onkel Bernds Vergangenheit, bis ein Klingeln ihn unterbrach. Er ging ans Handy.

„Hi, Jan. Wie war’s bei euch?“

„Wo bist du?“

„Zu Hause.“

„Du bist zwar ein vermaledeiter Sturkopf, aber ich wollte dich wenigstens informieren, was wir heute am Fundort vorgefunden haben. Soll ich kurz vorbeikommen? Ich bin noch im Präsidium, breche aber sowieso gleich auf.“

„Das können wir auch am Telefon machen. Ich bin hundemüde und geh gleich schlafen.“

„Okay, wie du willst. Also, zum Totschlag: Wir haben eine männliche Leiche auf dem Tisch. Identität unbekannt. Er hatte keine Papiere dabei. Schätzungsweise dreißig Jahre alt. Durchtrainiert. Sieht nach Fitnessstudio aus. Brauner Teint. Haare und Gesicht sehr gepflegt. Todesursache: massive Gewalteinwirkung am Hinterkopf. Er wurde mit einem stumpfen, schweren Gegenstand getroffen – könnte ein Baseballschläger gewesen sein, aber auch ein dickeres Rohr oder eine Statue. Wahrscheinlich ist er nach vorne auf den Bauch gefallen und benommen liegen geblieben. Der Täter hat ihm mit zwei weiteren Schlägen den Rest gegeben und ihm den Schädel zertrümmert. Er ist entweder verblutet oder an einem Schädeltrauma gestorben. Näheres ergibt die Obduktion. Mit ziemlicher Sicherheit ist der Fundort auch der Tatort.“

„Wo wurde er eigentlich gefunden?“

„Hab ich das nicht erwähnt? In der Hedderichstraße.“

„Du machst Scherze?“, rief Rauscher mit lauter, klarer Stimme, tat damit seine Verwunderung kund und sprang auf, wobei der Ordner von seinen Oberschenkeln rutschte und zu Boden fiel. „Das gibt’s doch nicht!“ Er lief wie aufgedreht durchs Wohnzimmer.

„Wieso denn, Andreas? Was ist denn los?“

„Ich war heute auch in der Hedderichstraße. Onkel Bernd wohnt da. Das heißt, er hat da gewohnt. Hausnummer 37.“

„Die Leiche lag in einem Hinterhof, der zu mehreren Häusern gehört. Das sind die Hausnummern 33 bis 43. Nummer 37 ist somit auch dabei.“

„Wir müssen die Häuser abklappern und sämtliche Bewohner befragen.“

„Die Kollegen waren heute schon vor Ort dabei, aber jetzt ist es zu spät. Sie machen morgen weiter, aber Markowsky hat uns nur fünf zusätzliche Leute bewilligt. Wird also ne Weile dauern, ne!“

„Gut. Wie war denn die genaue Auffindesituation?“

„Die Leiche lag in einem Gebüsch am Rande des Hofes und war mit einer Plane bedeckt. Davor ist ein Sandhaufen, der nur noch halb abgedeckt war. Vielleicht hat der Wind die Plane verweht, jedenfalls schaute das rechte Bein des Mannes raus. Frau Müller, eine Bewohnerin im Haus 41, hat ihn entdeckt. Von ihrem Fenster aus.“

„Da wäre die Leiche so oder so bald entdeckt worden. Dem Täter war es also nicht wichtig, sie wegzuschaffen.“

„Oder es war ihm zu riskant. Er hätte ja auch mit ihr gesehen werden können. Es war mitten am Tag.“

„Wann war denn der Todeszeitpunkt?“

„Quast wollte sich nicht hundertprozentig festlegen, aber er lag jedenfalls noch nicht lange dort. Es könnte sein, dass er noch ganz frisch war.“

„Wenn die Tat tagsüber begangen wurde, muss doch jemand was gesehen haben. Was ist mit dieser Frau Müller? Vielleicht hockt sie den ganzen Tag am Fenster und beobachtet die Nachbarschaft.“

„Sie ist ziemlich aufgelöst aufgrund der Geschehnisse, aber ich habe sie schon vernommen, soweit das möglich war. Sie kam erst abends vom Arbeiten. Mit anderen Worten: Sie war nicht zu Hause und kann nichts gesehen haben.“

„Mist!“ Rauscher legte eine Pause ein. „Gut. Dann müssen wir hoffen, dass ein anderer den Täter beobachtet hat.“

„Von dem übrigens jede Spur fehlt. Er hat wohl nichts hinterlassen. DNA finden wir zwar bestimmt, aber in so einem Hinterhof … da gibt es wahrscheinlich Hunderte von Spuren.“

„Warten wir’s ab!“

„Wir treffen uns morgen früh im Büro, ne! Und wenn ich früh sage, meine ich das auch.“

„Ist ja schon gut. Immer die gleiche Leier.“

Samstag, 10. August, 8 Uhr

Während Andreas Rauscher frühmorgens im Präsidium an seinem Schreibtisch saß und bereits die dritte Tasse Kaffee trank, um seine Lebensgeister zu wecken, spürte er zunehmend den Umzugs-Muskelkater in seine Glieder kriechen. Von diesen läppischen paar Kisten, dachte er. Er hatte schlecht geschlafen, sich immer wieder hin und her gewälzt. Vielleicht sollte er sich doch mal ein Fitnessstudio von innen betrachten. Oder mal wieder laufen gehen, das hatte er total vernachlässigt. Zeit dazu würde er locker aufbringen können – ohne Elke und Mäxchen hatte er reichlich davon. Apropos: Es gab immer noch keine Reaktion aus Hamburg. Er konnte sich ausmalen, was das zu bedeuten hatte.

Ein Gähnen unterdrückend, schnappte er sich Jan Krauses Bericht zum gestrigen Mordopfer. Viel hatten sie bislang nicht. Er betrachtete sich die Fotos und seufzte. Am liebsten wäre er sofort aufgestanden und hätte sich um Onkel Bernds Ding gekümmert, aber dann fiel ihm wieder ein, dass der Tote in der Hedderichstraße gefunden worden war. Der Hinterhof war zwar nicht eindeutig dem Haus zuzuordnen, in dem Onkel Bernd gewohnt hatte, aber Rauschers Antennen funkten Alarm. Es war ein merkwürdiges Zusammentreffen. Die Zwangsräumung und der Mord. Am gleichen Ort. Am gleichen Tag. Eventuell kurz hintereinander.

Noch bevor Rauscher ins Grübeln kam, öffnete sich die Tür und der gertenschlanke lange Lulatsch Krause kam herein.

„Moin“, sagte er. „Du siehst scheiße aus.“ Mit den Fingerspitzen tippte er sich auf die geschorenen Haare, die so kurz waren, dass die Kopfhaut durchschimmerte.

„Danke“, antwortete Rauscher. „Genauso fühle ich mich auch. Hast du was Neues?“

„Logo, sonst wär ich nicht hier, ne!“ Krause nahm am Schreibtisch gegenüber von Rauscher Platz. „Also: Mehrere Hausbewohner haben gestern Abend den Toten anhand eines Fotos eindeutig identifiziert. Es handelt sich um einen gewissen Thomas Thoms.“

„Aha. Und warum betonst du das ‚gewissen‘ so?“

„Es gibt dabei eine kleine Ungereimtheit. Die Hausbewohner behaupten steif und fest, dass er der neue Hausmeister von Hausnummer 37 war.“

„Also von dem Haus, in dem Onkel Bernd gewohnt hat!“

„Genau. Aber wie erklärst du dir, dass der gleiche Thomas Thoms als Privatdetektiv in der Heidestraße in Bornheim gemeldet ist und eine kleine Detektei unterhält?“

„Hmmm!“ Rauscher nahm einen weiteren Schluck Kaffee und blickte aus dem Fenster. Der Himmel war blau, nur einige Schleierwolken waren am Horizont zu erkennen. „Vielleicht hatte er zu wenige Aufträge und brauchte einen Nebenjob?“

„Du könntest doch deinen Onkel mal fragen, ob er ihn schon mal gesehen hat.“

„Könnte ich. Ja. Aber wie ich ihn kenne, wird er nicht viel preisgeben.“

„Einen Versuch ist es wert.“

„Okay, ich mach mich auf den Weg und nehme ein Bild von Thoms mit. Und du?“

„Ich informiere Andres. Die KTU muss sich die Detektei vorknöpfen. Thoms’ Wohnung liegt gleich nebenan. Ich fahre hin und mache mir selbst ein Bild. Am Tatort haben wir kein Handy gefunden, vielleicht hat er es zu Hause gelassen.“

„Oder der Täter hat es mitgenommen.“

„Kann sein, aber dann finden wir bestimmt einen Computer mit Kontaktadressen und so weiter.“

„Alles klar. Bis nachher.“

Keine zehn Minuten später fuhr Rauscher in die Römerstadt. Dabei hatte er gestern noch gehofft, dort nicht so schnell wieder hinzumüssen.

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Die Detektei lag zur Straße hin und war ein größeres Einzimmerbüro, in das viel Licht einfiel. Ein überdimensional großer Schreibtisch stand in der Mitte des Raumes. Auf der Platte sah es nach Chaos aus, ansonsten herrschte Ordnung. Fast schon penibel sauber war es ringsherum. Da musste eine Putzfrau ihre Finger im Spiel haben, schoss es Krause durch den Kopf, als er den Raum inspizierte.

Er zog Einmalhandschuhe über, schnappte sich einen Ordner, auf dessen Rücken das Wort Steuer geschrieben war, und blätterte bis zum Jahr 2012. Das war der neueste Steuerbescheid. Er staunte nicht schlecht, als er sich die Zahlen anschaute. Thoms hatte nach Abzug der Betriebskosten ein zu versteuerndes Einkommen von 10.800 Euro angegeben. Das reichte wohl nicht mal für die Jahresmiete. Die Erklärungen aus den Jahren 2011 und 2010 wiesen sogar noch weniger Einkommen aus. Also musste er über andere – womöglich schwarze – Geldquellen verfügen.