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Vorwort

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

Impressum

ATLAN-Blaubände

 

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Nr. 6

 

Wolken des Todes

 

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Vorwort

 

 

Der vorliegende sechste Band der Atlan-Zeitabenteuer, für den fünf aufeinanderfolgende Einzel-Erzählungen aus der Vielzahl der Perry-Rhodan-Planetenromane zusammengestellt wurden, könnte aus guten Gründen auch »Charis-Zyklus« genannt werden. Diese Herrscherin eines frühen nordafrikanischen Stammes, eine Botin von ES vor dem verheerenden Vulkanausbruch Stronghyle-Santorins, die Atlan während des Mittelmeer-Infernos kennenlernte, wird in den folgenden fünf Bänden seine Gefährtin sein: Wolken des Todes (Taschenbuch 227), Im tödlichen Schatten (Taschenbuch 229, beide 1981 geschrieben und 1982 veröffentlicht), Kampf der tausend Schiffe (Taschenbuch 238 von 1983), Herr der hundert Schlachten (Taschenbuch 242) und Das Ende eines Herrschers (Taschenbuch 245, beide von 1983). Wieder schaltet sich die kosmische Superintelligenz ES ein, um den Bewohnern von Terra – dritte Welt von Larsafs Stern – zu helfen, und abermals berichtet der Arkonide Atlan von erstaunlichen Weltreisen, von den Kämpfen zwischen Griechen und Persern und von den Triumphen und dem Tod des Weltherrschers Alexanders des Großen.

Atlan, der schwerverletzt im Schock nach der Katastrophe des Vulkanplaneten Karthago II auf Gäa im künstlichen Tiefschlaf liegt, befreit sich durch die Erzählungen von aufgestauten Erinnerungen: Trotz seiner potentiellen Unsterblichkeit, die ihm der Zellschwingungsaktivator (ein janusköpfig verpflichtendes Geschenk von ES) verleiht, kann nur die Katharsis ihn retten. Professor Cyr Aescunnar, der beste Geschichtswissenschaftler des Neuen Einsteinschen Imperiums, von psychosomatischen Blindheitsanfällen gemartert, bearbeitet Atlans Erzählungen und schreibt weiter an den ANNALEN DER MENSCHHEIT, der ersten »wirklichen und wahren« Augenzeugen-Weltgeschichte.

Auch der Verfasser, in gewisser Hinsicht Atlans Chronist, sieht sich vor der Aufgabe, in die Ergebnisse historischer Forschung Atlans Augenzeugenschaft – und umgekehrt – zu integrieren und die inzwischen bisweilen geänderte Sicht der Geschichte zu berücksichtigen: Seit dem ersten Atlan-Zeitabenteuer Bruder der stählernen Wölfe, Taschenbuch 56 von 1974, sind immerhin mehr als zwei Jahrzehnte vergangen. Diesmal, also zwischen etwa 1000 und 323 vor Christi, kann nur eine Weltkarte die vielen Orte zeigen, an denen Atlan, unterstützt durch seinen treuen Höchstleistungsrobot und seine Freunde, den Barbaren des frühen Terra hilft.

Der Chronist wird oft gefragt, wie schwierig das Recherchieren im vorgeschichtlichen und historisch-archäologischen Umfeld der Atlan-Zeitabenteuer ist: Es ist eine zeitraubende, herrlich interessante und schwierige Aufgabe, die dadurch oft erschwert wird, dass sich die fachwissenschaftlichen Bücher und Lexika dem bemühten Laien mitunter allzu sperrig zeigen; als Autor will man jedem Leser verständlicherweise ein geschlossenes, überzeugendes Bild jener Kultur und/oder Zivilisation schildern, in denen sich der Arkonide, einer galaktischen Hochkultur entstammend, bewegen muss. Schließlich erlebt und kommentiert er das Geschehen unter den streitsüchtigen Barbaren von der Warte eines zivilisatorisch uralten, raumfahrenden Sternenvolks.

Das Aufspüren der – bis zum heutigen Tag jahrtausendeweit entfernten, ergo immer nur angenäherten – geschichtlichen Wahrheit und Wirklichkeit ist eine höllisch schwere Arbeit, und unentwegt werden bisher scheinbar gesicherte Erkenntnisse durch neue Funde und die Forschungsergebnisse einer ständig um mehr Erkenntnis bemühten Wissenschaft verändert. Dennoch ist es eine faszinierende Sache, an Atlans Seite in der fernen Vergangenheit zu graben und die Ergebnisse in die Neu-Bearbeitungen einzufügen. Dass mitunter der Druckfehlerteufel und dessen elektronische Mutanten des ausgehenden XX. Jahrhunderts ihre bösen Spiele mit Autor, Lektor, Setzer und Korrektor treiben, ist ein vager Trost: Nichts ist vollkommen (auch nicht Kristallprinz Atlan!).

 

Es gibt Freunde, die dem Autor durch strenge, aber förderliche Kritik helfen und die Fehler unerbittlich aufspüren: Rainer Castor hilft mit Berechnungen, Hinweisen, Zahlen und kontrolliert selbst Ricos positronische Kalenderauszüge. Die Karten sollen das Verständnis erleichtern; allen Kritikern und Freunden, die den Chronisten mit Atlan-Informationen füttern, sei hiermit gedankt, denn was wären Atlans qualvolle Erinnerungen ohne Zuhörer, und was wären die beschriebenen Abenteuer ohne Leser? Zehn, zwölf oder fünfzehn Hardcover-Bände: wir alle erleben zwischen 8000 vor der Zeitrechnung und 2040 rund zehn Jahrtausende einer begeisternden Atlan-Zeit!

 

München, Winter 1994

Hanns Kneifel

Prolog

 

 

Die lastende Sorge um Atlans Tod oder Weiterleben war für ihn zweitrangig geworden. Die kalte, lähmende Angst, endgültig zu erblinden, beherrschte jede Minute der dunklen Tage und tiefschwarzen Nächte und verließ ihn nur kurz vor dem Einschlafen. Professor Cyr Aescunnar fürchtete die endgültige Finsternis; gleichzeitig wusste er, dass es keine körperliche Ursache für die Anfälle der Blindheit gab, für die Blinks und den Ophtalmoslide. Seine Furcht, blind zu werden, provozierte vorübergehende Blindheit, vor der er Todesfurcht empfand, und so schloss sich der Kreis. Eine wenig professionelle Betrachtungsweise, sagte sich Cyr, aber er hatte keine bessere.

Sein Einzelzimmer lag im selben MEDO-CENTER des Planetaren Krankenhauses am Stadtrand Sol Citys, in dessen Zentrumsbau der Arkonide Atlan der völligen Genesung entgegenschlief. Cyr Aescunnar, dessen Augen durch eine große, gepolsterte Brille mit fast schwarz getönter Sichtplatte geschützt waren, erkannte schemenhaft die Einrichtung des Raumes in der Ophtalmologischen Abteilung und einige Ausschnitte des Parks vor dem ebenfalls getönten Glas des Fensters: Bäume, Büsche und kunstvolle Brunnenanlagen.

»Der Schlaf der Vernunft«, flüsterte Cyr ins Mikrophon seines Recorders, »gebiert grauenvolle Träume, wie Francisco Goya wohl äußerst zutreffend bemerkte. Im verkrampften Traum kann auch der besonnene Träumer zu einem Berserker werden; das Stammhirn eines gesunden Wesens wie Atlan schließt daher in der Schlafphase der schnellen Augenbewegungen körperliche Aktivitäten aus. Der Schlafende lebt seine Träume aus, wenn dieser Block ausfällt.« Cyr überlegte: Bisher hatte sich Atlan, von winzigen Zuckungen abgesehen, wie eine Dreißig-Tonnenstatue verhalten. »REM-Parasomnie heißt das Schlagwort, verursacht durch einen Schaden des Stammhirns. Was geschieht, wenn der Arkonide durch Vergiftungen, einen nicht erkannten Schlaganfall oder eine krankhafte Störung des Zentralen Nervensystems zu einem Traumtäter wird?«

Er hob die Schultern. Niemand rechnete damit. Und was war, wenn das Unberechenbare geschah? Atlan war so lange gefährdet, wie er in kontrollierter Agonie in der Flüssigkeit des transparenten Beckens schwebte. Und so lange schwebte auch er, Cyr, in der Gefahr, psychogen zu erblinden.

Wie Schriftzeichen einer tibetanischen Gebetsmühle wirbelten aufgeregte Gedanken, Empfindungen, Fragen und immer wieder Fetzen von Furcht durch Aescunnars Kopf: die ANNALEN DER MENSCHHEIT, ehrgeiziges Projekt der Historischen Fakultät und, ohne dass er es wissen konnte, des Statthalters Atlan, die Sitzungen mit dem Psychotherapeuten, düstere Vorahnungen Rogier Chavasses, die Erklärungen der Ärzte, die Atlan behandelten, die letzten Bilder von Atlans Bericht – das Begräbnis der Amazone, der Mutter seines weißblonden Sohnes, der Untergang Mo’enshotharros und die Existenz bogenschießender Kentauren. Plötzlich ertönte neben Cyrs rechtem Ohr ein leises Knacken. Einen Atemzug später hörte er, aus den Stereokopfhörern, Oemchèn Orbs beruhigende Stimme:

»Ich sehe, dass du wach bist, Liebster. Wie geht es deinen Augen?«

»Seit ich die Filterbrille trage, gab es keinen Blink mehr, schon zwei Tage lang. Was tut Atlan?«

»Ghoum-Ardebil hat vor kurzer Zeit die Solarlampen ausschalten lassen. Die Flüssigkeit im Glassarg wurde ausgetauscht, die SERT-Haube ist nicht aktiviert, und Atlan schläft und schweigt, wie seit achtundvierzig Stunden. Du hast nichts versäumt, Cyr.«

»Das sagst du! Ich hoffe, dass ich bald wieder vor meiner technischen Ausrüstung sitzen und alle Informationen so verwerten kann, wie es geplant war. Wie hältst du’s aus ohne mich?«

»Mit Hilfe unserer Freunde, Julian Tifflor und deinen Studenten und Magistern – vorübergehend bist selbst du zu ersetzen.«

»Vorübergehend!« Cyr grinste; an der Tüchtigkeit und Belastbarkeit seiner langjährigen Freundin hatte nie der geringste Zweifel bestanden. Ihm blieb in seinem abgedunkelten Krankenzimmer nur die akustische Teilnehmerschaft an Atlans Erzählungen. Die Ärzte hatten untersagt, die beiden Monitoren am Fußende des Bettes einzuschalten, die Cyr Aescunnar mit der Außenstelle der Historischen Fakultät der Chmorl-Universität verbanden. »Wenigstens hab’ ich dreimal nacheinander ausgeschlafen. Ich könnte mittelgroße Bäume ausreißen.«

»Und … deine Augen?«

»Die Therapeuten haben versprochen, ein Programm zu schreiben, das mich in einigen hypnosuggestiven Sitzungen oder Anwendungen von der Thyphlophobie, also der Angst vor dem Erblinden, vollständig heilen soll. Ich weiß, es ist kein medizinisches Problem.«

Etwas so kontinuierliches wie Licht, ruhelos wie alle optischen Eindrücke, entsprach den ruhelosen Gedanken. Blinde, selbst vorübergehend ohne diesen Seh-Sinn, dachten anders. Die Lichtquellen befanden sich stets außerhalb des Individuums; innerhalb des Bewusstseinsgewölbes, in dem Atlans Erinnerungen umherzuckten wie Fledermäuse, blieben sowohl Erinnerungen als auch deren akustische Erklärungen – in mündlicher wie in schriftlicher Form – dunkel und mysteriös; kryptisch. Beides würde die Fortführung der ANNALEN DER MENSCHHEIT entscheidend gefährden: jede Störung von Atlans kathartischen Träumen und die Unfähigkeit Cyr Aescunnars, aus erzählten Erinnerungen mehr zu machen als nur eine bedeutungslose Variante bestimmter Ausschnitte der terranischen Vorgeschichte.

»Haben sie gesagt, wann du geheilt und entlassen wirst?« Oemchèns Stimme zitterte vor Sorge. Cyr, seit Tagen fast ausschließlich auf seinen Gehörsinn und die Erkenntnisfähigkeit jenseits der Phantasie angewiesen, hörte die Untertöne. Er versuchte die Freundin zu beruhigen.

»In ein paar Tagen, höchstens einer Woche. Anfang November, haben sie gesagt.«

»Ich besuch’ dich morgen – Halt! Ich sehe, dass Atlan wieder in der Regenerationsflüssigkeit schwimmt. Die SERT-Haube hat sich in Bewegung gesetzt. Bist du auf Empfang geschaltet?«

»Die ganze Zeit über, Liebstes. Seid ihr bereit?«

»Ja. Sarough Viss, Djosan Ahar und Drigene sind bei mir, und alle Geräte laufen. Wir sind auch mit deiner Fakultät verbunden, und alles ist so, als ob du hier wärst.« Oemchèn kicherte. »Nur sauberer, aufgeräumter und übersichtlicher.«

»Still«, rief Cyr. »Ich höre die Atemzüge. Atlan fängt wieder zu erzählen an!«

Cyr versuchte sich zu entspannen und schloss die Augen. Die Dunkelheit schien nicht nur den Gehörsinn zu schärfen, sondern auch Cyrs Beziehung zu dem bewusstlosen Arkoniden zu verändern: Er lauschte förmlich in Atlan hinein und musste die subtilen Stimmschwankungen richtig interpretieren, um erkennen zu können, was Atlan bewegte.

Ein Eindruck huschte durch seine Überlegungen: Warum war er so wichtig, fragte sich Cyr, dass der unberechenbare Verstand gerade jetzt diese Erinnerung ausstieß? Bei einer der letzten Untersuchungen waren einige Tropfen einer starken Atropin-Lösung in seine Augen geträufelt worden. Über die Reaktion – die er nicht kannte – schienen die Ärzte erschrocken gewesen zu sein; sie schwiegen bis heute, und auch dem Medorobot hatte er keine Antwort entlocken können. Was war die Wahrheit, abgesehen davon, dass er auf beiden Augen – altersbedingt – kurzsichtig war?

Atlan begann zu sprechen. Mehr als viereinhalb Jahrtausende lagen die Erlebnisse zurück, von denen Atlan berichten würde. Die ersten Worte waren nicht mehr als ein wenig verständliches Murmeln, dann festigte sich die Stimme, und Atlan begann klar zu sprechen.

1.

 

 

»Auf diesem Planeten ist der Tod allgegenwärtig. Die barbarischen Bewohner von Larsaf Drei, hilflos dem blind waltenden Schicksal ausgeliefert, götter-, götzen- und magiegläubig, nehmen Krankheiten und Kriege, Hungersnöte und namenloses Elend als naturgegebene, unverrückbare Bestandteile ihres Lebens hin.«

Ich erkannte trotz meines geschwächten Zustandes die angenehm modulierte Stimme Ricos. Ich hörte jedes Wort, aber in dem zähen Brei meines langsam erwachenden Verstandes brauchte ich endlos lang, um zu begreifen, was er sagte. Vor meinen Augen bewegten sich Bilder und Farben, die wenig Sinn ergaben.

»Sie richten ihre Augen zum Himmel und versuchen, ein göttliches Prinzip zu erkennen. Die Sonne, die auf ihre Welt strahlt, ist die einzige Sicherheit dafür, dass Pflanzen und Früchte wachsen. Götter und Götzen sind überall; es hilft, wenn man sie verehrt, anbetet und ihnen opfert – oder auch nicht. Unfähig, klare Vorstellungen von wirklichen, physikalisch leicht zu erklärenden Mechanismen entwickeln zu können, trotz deiner und meiner Bemühungen seit Jahrtausenden, starren die Menschen an allen Punkten der Planetenoberfläche in die Höhe und ahnen, dass sie verloren sind.«

Als ich glaubte, den Sinn der Worte einigermaßen verstanden zu haben, stieß ich einen Laut aus, der mich selbst erschreckte. Meine Lippen waren gefühllos, in jeder Körperzelle nistete die Mattigkeit der ersten Stunden nach dem Aufwachen. Rico begriff, dass ich eine Frage hatte stellen wollen.

»Das Ende der Welt deiner barbarischen Freunde, Kristallprinz Atlan, scheint nahe zu sein. Da sie nur ihren eigenen, lokal eingeschränkten Lebensbereich kennen, wissen sie nicht, was ich weiß: An elf Stellen rund um den Planeten breiten sich verhängnisvolle Wolken aus und wachsen wie wuchernde Giftpilze. Unter ihnen, im Zwielicht, liegt feuchtkalter tödlicher Schatten.«

In meinem Verstand schien Seltsames vor sich zu gehen. Die Worte waren wie Zeichen, in Holz geschnitzt oder in Ton gestochen. Ich konnte sie von allen Seiten betrachten und setzte sie, viel zu langsam, zu Sätzen zusammen, die eine Bedeutung hatten; aber ich erkannte sie noch nicht und schlief ein, als Rico die Antigravliege in den Bereich der Reanimationsmaschinen zurückbrachte. Mein Schlaf dauerte lange und war von ganz anderer Art als die lange Phase nach meiner Rückkehr von …? Wovon eigentlich?

 

In Abschnitten von vierundzwanzig Stunden kräftigten sich Körper und Verstand. Namen und Begriffe wurden deutlich und verloren die Bedeutung nicht mehr. Ich sprach undeutlich, aber mein Gehör und meine Augen arbeiteten zuverlässig. Odysseus. Aieta Demeter. Penelopeia. Das Hapiland unter User-Maat-Rê, Ne-Tefnacht und Heri-Mentet … ich betrachtete schweigend die riesige, dreidimensionale Karte des Planeten, verschiedene Ausschnitte davon, einige bewegte Szenen, die Ricos Spionsonden aufgefangen hatten; durch die kuppelförmige Halle voller Schaltpulte und Monitoren klang Musik. Alte arkonidische Polyphonie, Musik aus den Palästen des Hapilandes, Schäferflöten und seltsame Chöre, deren Herkunft ich nicht erkannte. Erinnerungen wurden deutlicher, meine Haut bräunte sich, ich konnte Nahrung zu mir nehmen und viele Bildfolgen beschäftigten Verstand, Phantasie und Erinnerungsvermögen; ich stellte richtige Verknüpfungen her. Als ich stehen konnte, ohne dass Knie und Schenkel zitterten, fragte ich:

»Warum bin ich geweckt worden, Rico?«

»ES gab den Befehl, Gebie… Atlan-Anhetes. ES leitete eine Entwicklung ein, die alle anderen Schläfer, das Schiff und viel Ausrüstung umfasst.«

Ich sah: Das große Schiff, die CHARIS, umgebaut und bisher in einem Feldkokon versiegelt, hatte größere Udjat-Augen am Bug erhalten und hieß nun AXT DES MELKART. Ich erkannte das Schiff wieder und erinnerte mich an viele tüchtige Ruderer und den erfahrenen Kapitän Nestor.

»Ptah-Sokar, deinen Rômetfreund, wirst du in drei Tagen treffen. Er und Nestor, die drei Seefahrer aus Uschu-Djarh, Iqarat und Gubla, Nestors Ruderer – sie sind alle geweckt worden und werden über ihre Kräfte sieben Tage nach dir verfügen können.«

»Warum hat ES uns alle geweckt – weißt du das?«

Rico deutete auf die Weltkarte und sagte:

»In zwei Tagen, wenn du wieder völlig hergestellt bist, bekommst du alle Erklärungen.«

»Wir müssen also wieder einmal für ES schuften.« Ich legte meine Hand auf den Zellschwingungsaktivator, der die Leistung von Reizstoffen, Schwingungsgeneratoren, Aktivierungsduschen und Kraftnahrung verstärkte. »Es liegen also unangenehme Zeiten vor uns.«

»Diesmal auch vor mir.«

Ricos Subroboter hatten die AXT DES MELKART perfekt ausgerüstet: Bier, Wein, Honig und verschiedene Öle waren haltbar gemacht und in Behältern verstaut worden, die wie Tonkrüge aussahen. Segel, Riemen, Nahrungsmittelvorräte, Gewürze, Kleidung und Waffen waren in einer Halle neben der Terrasse gestapelt. MELKART war, wie ich von Rico erfuhr, eine Gottheit, die in Iqarat, Gubla und anderen Häfen, bis nach Uschu-Djarh, den Hafenstädten, aus denen Tabarna, Sa’Valer und Mah-Dhana kamen, verehrt wurde. Odysseus’ Nachfahren hielten Melkart für den Göttersohn Herakles, einem überaus starken und den Menschen freundlich gesinnter Olympier. Ich kontrollierte die Ausrüstung, deren Teile, hundertmal ausprobiert, seit Jahrtausenden sicherer Bestandteil unserer Logistik waren, ebenso wie Karten, Höhenphotos, Funkarmbänder und ein ungewöhnlich großer, leistungsfähiger Robot-Adler.

 

Ptah-Sokar, der Rômet, trug ebenso wie ich einen weißen Overall, als wir vor den Schaltpulten saßen und die holografische Planetenkarte betrachteten. Rico näherte sich uns zwischen zwei Speicherblöcken; er war, abgesehen von Seefahrerstiefeln, Rock und Gürtel, in eine Jacke gekleidet, die mehr als auffällig verziert war: Auf dem Rücken, den Schultern, Ärmeln und den Vorderteilen glänzten Darstellungen aller Mondphasen, wobei das Gestirn das Aussehen von Göttergesichtern erhalten hatte. Mein Freund mit der hellen braunen Haut und den dunklen Augen fragte:

»Willst du Chons verkörpern, Rico? Unseren Mondgott? Oder hast du nur vor, möglichst viele Barbaren zu erschrecken?«

»Ich bin Ocir-Khenso, der Mondrobot.« Rico war stolz auf sein Aussehen; sein schwarzes Haar fiel nackenlang, und er glich einem breitschultrigen, großen Hapilandbewohner. »ES hat den Ruderern, den Steuermännern, Kapitän Nestor und mir klare Befehle gegeben.«

Er nahm einige Schaltungen vor, und plötzlich veränderte sich das Aussehen der Planetenkarte. Ich zählte elf Punkte, verteilt über alle Kontinente, die langsam wie eine Bakterienkultur zu wachsen begannen, sich ausbreiteten und über den Landmassen schwebten, in der Höhe von rund 18 000 Tameri-Königsellen, zweitausend Ellen höher als der höchste Berg der Welt. Rico sagte:

»ES versicherte mir auf seinem halb positronischen, halb akustischen Weg, dass er dir alle wichtigen Informationen geben wird. Unsere Aufgabe wird sein, die elf Wolken aufzulösen. Höhenströme und der normale Austausch der Lufthülle können die Wolken nicht beeinflussen, nur ihre Ränder werden bewegt. Ihr erkennt die Probleme?«

Ich nickte, holte Vergrößerungen auf Nebenschirme, las die vielen Messungen der Sonden ab, und eine halbe Stunde später meinte Rico:

»Die folgende lange Sequenz habe ich zufällig aufnehmen können. Meine Sonden schwebten unter einer der nächstgelegenen Sporenwolke, als ich die Siedlung um Malemba entdeckte. Die Vorgänge sind aufschlussreich; nehmt euch Zeit zum Betrachten und Analysieren.«

»Wo ist dieser Ort?«

»Dort, wo ein Mann nur zu seinen Füßen Schatten wirft, am Großen Strom, in Malembi-Malemba, Stadt der tausend Seelen.«

»Wann?« Ptah-Sokar schob das ölglänzende Haar in den Nacken. »Lange her, bei Sachmet?«

»Im Jahr der blutroten Wolke, als die letzte Königsfigur gegossen worden war. Vor fünf Monden, Atlan.«

Schweigend sahen und hörten wir zu. Mir war klar, dass sich die Geschehnisse im Schatten einer jener Wolken abspielten, unter denen zuerst die Vegetation, dann die Fauna und schließlich die Menschen ausstarben.

2.

 

 

Wieder sank die furchtbare Nacht herab. Trügerische Farben des aufflammenden Sonnenuntergangs schmolzen auf dem dorrenden Laubwerk. Ein heulender, kalter Sturmstoß rüttelte an den Baumriesen am Ufer. Schwefliggelbe Nebelschwaden bildeten sich wie Leichentücher um die fernen Berggipfel. In der Luft fauchte und knisterte es plötzlich; ein Schauer aus eigroßen Körnern milchig weiß gefrorenen Wassers drosch prasselnd über die Binsen und das ufernahe Wasser des Stromes hinweg und zerschmetterte die Nester der Wasservögel, scheuchte Schlangen und Frösche auf, vernichtete die Brut und die Schalen der letzten Eier. In Malemba herrschte die angstvolle Stille der nackten, ausweglosen Furcht.

N’seragi, der König und Häuptling, Herrscher über das Leben von zehnmal hundert Menschen in Malemba und mehr als dreimal soviel in den Bergwerken, den Lichtungen, auf den Inseln des Großen Stromes und in der Tiefe der Wälder, starrte regungslos in den Sonnenuntergang.

Sein Blick, der König hatte in zwei ganzen Monden ein Viertel seines Gewichts verloren, ging zwischen den letzten Hütten hindurch, über Uferfelsen und Sand, über das scheinbar kochende Wasser und bis hin zur furchtbaren Sonne des Abends. N’seragi, dessen Haar grau geworden war, schüttelte sich vor Angst. Aber er versuchte, diese tiefe Furcht nicht jedermann zu zeigen. Hinter sich hörte er schleppende Schritte. Er wandte sich nicht um.

»O N’seragi«, sagte mit rauer Stimme der alte, weißbärtige Zauberer, »nun ist auch O’geba gestorben.«

»Hatte er einen guten Tod?«, fragte N’seragi leise. Mit scheinbar unerschütterlicher Ruhe nahm er unbewegt zur Kenntnis, dass sein jüngster Sohn gestorben war. Es würden noch viel mehr Menschen sterben; solche, deren Tod er bedauerte, und andere, deren Sterben er ohne innere Anteilnahme mit ansehen konnte.

»Er starb im Schlaf. Sein Geist war verwirrt. Bevor der wahre Tod ihn packte, sagte er ein paar klare Worte.«

»Welche?«

Die Stimme des Königs klang, als käme sie als Echo aus einer finsteren, tiefen Höhle, in der sich die Erdschlange versteckte.

»Er hat gesagt, dass er der erste der letzten Sterbenden ist.«

Im rotglühenden Licht drehte sich der König um. Vor drei Monden war er ein riesiger, muskelstarrender Mann mit breitem Brustkasten und viel Fett unter der Haut gewesen, mit kraftstrotzenden Schenkeln. Jetzt hing die Haut in Falten von seinem Körper. Das Haar auf seinem kantigen Schädel war grau und weiß an den Schläfen wie im Nacken. Seine Schultern waren nach vorn gesackt. Seine Haltung drückte tiefste Verzweiflung aus. Er starrte in die alten, klugen Augen des Zauberers M’cobo; er kannte ihn seit der Zeit, in der sie an den Brüsten derselben Amme gesäugt worden waren.

»Der erste der letzten Sterbenden«, wiederholte der König. Er wusste seit einigen Mondrunden, dass er ein Herrscher ohne Macht, ein König ohne Land, ein Befehlender ohne Gefolgsleute war. Oder es in wenigen Tagen sein würde. »Weißt du eine Rettung?«

»Einen neuen Zauber«, sagte M’cobo. Der König spuckte aus.

»Viel halte ich von deinem Zauber, alter Freund«, fauchte er verdrossen. »Aber jeder Zauber versagt gegenüber der blutroten Wolke.«

Der Alte bohrte seinen Blick in die Augen des Königs. Sie erkannten, auf wortlose Art und Weise, dass sie am Ende waren. M’cobo hatte die schönsten Jungfrauen des Stammes, geschmückt und mit Messing behängt bis zur Unkenntlichkeit und bis zum körperlichen Zusammenbruch, geopfert und verbrannt. Die Wolke verharrte unbeweglich an ihrem Platz. Unter ihr verwandelte sich der Tag in Nacht, wurde aus Wärme eisige Kälte, verkehrte sich das Wetter in ein mörderisches Gegenteil.

»Ich glaube, du hast recht!«, brummte der Zauberer. »Nimm den Rest deines Volkes, lass sie einen Zug bilden. Befiehl ihnen, nach Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang zu wandern. Bis sie ein anderes Land finden …«

»… oder alle gestorben sind.«

Wieder jagte kalter, kreiselnder Wind durch die Stadt. Er riss Staub mit und jagte die Körner gegen die Wedel der graubraunen Palmen. Mit einem knallenden Laut fiel eine Nuss zu Boden und zersprang mit hölzernem Klappern.

»Natgonflake rächt sich an uns. Wir haben ihn beleidigt. Was haben wir getan, dass er uns so grausam straft?«, fragte sich der König. Er zog das Leopardenfell um seine Schultern. Er sah, dass in der Stadt die Palmöl-Lampen angezündet wurden. Aber die Dunkelheit griff nach jedem Licht und machte es bedeutungslos. Aus den Wäldern kam das Rasseln der Lakoli, der Signaltrommeln. Schweigend hörten die Männer zu, die nach ihrer Erfahrung uralt waren, nicht aber nach Jahren.

»Was sagen sie, die Signaltrommeln?«

Die Ziegen geben keine Milch mehr. Unzählbar viele Krokodile wandern nach Süden. Sie töten alles, was sie auf ihrem Weg finden. Die Feuer der Gussöfen sind erloschen. Zehn Kanus sind gekentert. Die Flusspferde haben Männer gefressen und unter das Wasser gezogen. Helft uns. Wir hungern. Alles verdorrt. Fremde berichten, dass auch ihr Stamm im Sterben liegt.

»Gehen wir zu den Feuern zurück!«, brummte der König. Er sprach seine Gedanken nicht aus. Nur ein winziger Funke Hoffnung brannte in seinem Herzen. Er sagte sich, dass er eines Tages, an anderer Stelle, mit den Resten seines Volkes neu anfangen musste. Aber was sie zurückließen, war viel – zuviel. Es waren Bestandteile einer blühenden Stadt, die Handel mit anderen Stämmen trieb, die zu Fuß oder mit Kanus auf dem Großen Strom zu erreichen waren. Seit sein Geschlecht herrschte, waren die Hütten prächtiger und die Handwerker reicher geworden.

»Gehen wir. Ehe wir uns die Beine brechen in der Finsternis«, sagte der Zauberer. Die Männer packten einander an den Handgelenken und halfen sich über den Pfad, bis sie unter den mächtigsten Ästen des Baumes standen, der den Mittelpunkt des Platzes bildete. Überall brannten Öllampen und loderten Feuer. Aber die Menschen, die sich im Bereich der zuckenden Flammen bewegten, schlichen dahin, als wären sie Geister von Verstorbenen. N’seragi ließ sich auf einen Schemel fallen. Seine Blicke glitten hierhin, dorthin, hefteten sich auf die Fronten der Hütten und auf die träge hängenden Netze der Fischer. Niemand wagte es, sich dem Häuptling zu nähern. Hinter N’seragi stand der Zauberer in seinem Schmuck: Affenfelle, Messingringe, weißgekalkte Stiefel mit magischem Binsengeflecht, den Rasseln, Federn und dem Jaguarschädel, der seinen Kopf halb bedeckte. Der König und sein Freund wirkten wie geschnitzte, geschmückte Totemgestalten.

Wieder hämmerten Krieger auf die ausgehöhlten Baumstämme. Scharf und hell wie das Geräusch brechender Äste klangen die Antworten der Lakoli durch den verlassenen Wald.

Wir können nicht helfen. Unsere Kanus brauchen wir selbst. Wir verlassen in langen Karawanen Malemba. Unsere Messingöfen sind kalt, unsere Kinder sterben. Wir gehen nach Süden. Natgonflake straft uns grausam …

Die Nächte waren ebenso furchtbar wie die Tage. Alles hatte sich umgekehrt. Weder Tag noch Nacht verdienten ihre Namen. Über dem Land lag die Wolke; sie wuchs von Tag zu Tag. Tagsüber senkte sie sich herunter, bis sie über den Wipfeln der Urwaldriesen zu schweben schien. In den Nächten zog sie sich in den Himmel zurück; rings um ihre Ränder wurden die Himmelslöcher sichtbar, blinkende, kleine Lichter.

Stunden später ging der König hinüber zum Versammlungshaus und ergriff den schweren Schlegel. Ein donnernder Gongschlag hallte durch die Stadt. Erschrocken liefen die Menschen zusammen. N’seragi kletterte auf die Plattform und sah, dass selbst die polierten Schmuckfiguren aus Kupfer und Messing ihren Glanz eingebüßt hatten. Und er rief:

»Wir verlassen den Ort! Wir gehen nach Süden. Packt alles zusammen. Jedes Kanu wird gebraucht.«

»Unsere Vorräte sind erschöpft!«, versetzte eine alte Frau. Mehr Menschen scharten sich um die Stufen zum Versammlungshaus. Der Wind riss ab; nur das Murmeln der Menschen blieb. Der Häuptling rief:

»Auch deshalb gehen wir. Unterwegs finden wir Essen: Beeren, Früchte, Tiere und Fische.«

»Und unser Besitz? Die Sklaven?«, schrie ein anderer. Malemba, noch vor drei Monden eine reiche, blühende Stadt, war verödet. Die Ernte verdorrte am Halm, die Früchte an den Bäumen schrumpften zu nussartigen Beeren zusammen, die niemand essen konnte, und wenn er sie trotzdem kaute, vom Hunger geplagt, kehrte sich ihm der Magen um.

»Wir nehmen alles mit, was wir tragen können, bei Natgonflake!«, dröhnte N’seragi. »Alles!«

»Wohin gehen wir?«

Hinter dem König hob der Zauberer beschwörend die Arme. Der Widerschein vieler Flammen zuckte auf seinem schwarzen Gesicht und dem Zierat seiner Kleidung.

»So weit, dass dort, wo wir anhalten, wieder Sonne und Schatten sind und wir den Mond sehen, wenn seine Rinde angefressen wird. Erinnert euch, wie es vorher war!«

In einer lang zurückliegenden Nacht hatten sie zwischen den Sternenlöchern einen langen weißen Feuerschein gesehen. Dann war diese Erscheinung abgerissen; hohles Fauchen hatte sich ausgebreitet, nur einige Augenblicke lang. Am nächsten Morgen schwebte über Malemba eine kleine Wolke, die nachts nur ein paar Sterne verdeckte. Der Mittelpunkt der Wolke, die bald einen wandernden Schatten warf, war dunkelrot und undurchdringlich für die Blicke der angstvollen Schwarzhäutigen. Die Ränder faserten aus wie ein schlechtgesäumtes Stück Stoff. Die Größe der roten Wolke nahm zu.

»Wann machen wir uns auf den Weg?« Einige junge Krieger schrien und schwenkten die Speere.

»Nicht alle zugleich. Die Familien sollen zusammenbleiben. Die Alten gehen in die Kanus. Die Jungen rudern«, befahl der König. Seine Hoffnungslosigkeit war inzwischen so tief, dass es ihn nur noch am Rand berührte, wenn er an die Verluste dachte: Werkstätten, voll von Werkzeug und Erz, viele Hütten, in denen Künstler Wachs modellierten und Ton formten; all die angesammelten Reichtümer, die aus Malemba eine Schatzkammer machten, groß genug, um alles und jeden zu kaufen: Sklaven, Sklavinnen, ausgedehnte Felder und Bewässerungskanäle, und all das Holz, das darauf wartete, geschnitzt und verkauft zu werden.

»Die Königskrieger warten morgen auf mich«, befahl der Häuptling. »Gleich nach Sonnenaufgang, mit Waffen und Vorräten. Auch die Sklaven sollen mitgenommen werden, die sich um die Waffen kümmern und ums Essen.«

In der Menge schweißglänzender schwarzer Körper schlugen die Krieger ihre Schwerter gegen die Schilde.

»Wir haben Natgonflake beleidigt«, stöhnte der Zauberer. »Wir haben alles versucht, ihn gnädig zu stimmen. Er ist voll Wut. Also werden wir ihm trotzen!«

»Ah n’dau!«, schrien erschrocken einige hundert Menschen.

»Die ersten Familien gehen morgen.« N’seragi hoffte, dass diese einzige Lösung, der letzte Ausweg, tatsächlich das Überleben des Volkes sichern konnte. Hütten waren schnell gebaut, woanders gab es Wild, und in einem halben Jahr trugen auch die neu gehackten Acker. »Und ich werde der letzte sein, zusammen mit wenigen Kriegern.«

»Ah n’dau!«, stimmten sie zu.

Von Tag zu Tag war die Wolke gewachsen. In den Schatten darunter drängte von allen Seiten kühle Luft, sank ab und jaulte kreiselnd dicht über dem Boden. In der Umgebung der Wolke und ihres grausamen Schattens schwand die Wärme. Der Boden trocknete aus, wurde hart, rissig und unfruchtbar. Wütende Regengüsse wechselten sich mit Tagen ab, in denen es bitter kalt war, aber kein Lufthauch wehte. Die Tiere, zuerst unruhig und hilflos, flüchteten. Bald waren die triefenden Wälder ohne jedes Wild. Die Jäger waren tagelang unterwegs und kamen mit leeren Händen zurück. Der Hunger fing an, als Vorratskammern und gemauerte Kornspeicher leer waren. N’seragi schüttelte sich und streckte den Arm aus. Für wenige Herzschläge gelang es ihm wieder, Macht und Autorität auszustrahlen. Die Masse der Körper wich ein wenig zurück. Seine Stimme klang wie ferner Donner. Er schrie:

»Wir werden zurückkommen, wenn wir einen neuen Platz gefunden haben. Dann holen wir jeden Balken und jeden Metallbarren zurück. Malemba wird neu entstehen, schöner und mächtiger. N’dau!«

Der Ruf wurde lauter. »N’dau!«

»Morgen sehen wir wieder die Wolke, die uns Natgonflake geschickt hat. Blickt nicht in die Höhe. Kümmert euch darum, eure Habseligkeiten zusammenzupacken. Die Wanderung durch den Wald und auf dem Großen Strom wird lange dauern, aber nach all dem Übel wird es für uns ein leichtes sein. Geht, versucht zu schlafen. Ich habe euch gesagt, was zu tun ist, ich werde auch morgen befehlen. Denkt daran, dass wir mächtiger sind als Natgonflake!«

Jetzt schrien sie alle. »N’dau!«

Den Zauberer hinter seinen Schultern, stieg der König von den Bohlen der Plattform hinunter in den aufgewühlten Sand. Er versuchte, in seiner Haltung und im Ausdruck des breiten. Gesichts den Bewohnern etwas von der Hoffnung mitzuteilen, die er seit einigen Atemzügen spürte. Vor ihm bildete sich eine Gasse. Mit wuchtigen Schritten schob er sich auf den Königskral zu. Als er aufwachte, wusste N’seragi, dass sich nichts geändert hatte. Malemba war verloren. Der Morgen war wie jeder andere seit dem ersten Tag der Strafe Natgonflakes. Am Horizont zeichneten sich zuerst graue, dann rosafarbene und zuletzt weiße Streifen und Wolken ab. Hinter den Baumwipfeln schob sich die oberste Rundung der blutroten Scheibe hoch. Im erbarmungslosen Licht sahen dreimal tausend Kinder, Jungfrauen, Krieger, Jäger, Handwerker und Greisinnen, wie erbarmungslos der Götze zugeschlagen hatte. Die Felder waren grau und trocken. Die Pflanzen waren verdorrt und lagen flach auf pulverigem Erdreich. Nirgendwo gab es Spuren von Wasser und Feuchtigkeit. Die Vögel, die jeden Sonnenaufgang mit lärmendem Geschrei begrüßt hatten, schwiegen. Stille und Bewegungslosigkeit breiteten sich um Malemba aus, beherrschten die Wege zwischen den Bäumen mit gelben Blättern, zwischen knochentrockenen Lianen und verfaulenden Schmarotzerpflanzen. Hinter den Zäunen gab es nur die Spuren von Ziegen und Rindern; kein Tier hatte die Zeit überlebt. Überall stiegen kleine Staubwolken hoch. Die Feuer unter den Schmelzen waren erloschen. Wind nahm die Asche mit und wirbelte sie umher. Es fehlten alle Geräusche, die vom Fleiß der Handwerker und der Sklaven erzählten. Seit zwei Monden war keine einzige Handelskarawane nach Malemba gekommen; sonst waren es mehr als vierzig im Lauf eines Mondes.

»Verflucht sei Natgonflake«, stöhnte der König. Er band das breite Lendentuch, schob den Dolch in den Gürtel und warf sich das Schwert mit der eisernen Schneide auf den Rücken. Dann hob er die Sklavenpeitsche auf und stapfte hinaus.

Der frühe Morgen mit seiner Kälte empfing ihn. Auf dem Platz zwischen den Hütten standen vierhundert Krieger und Jäger der Königsgarde. »N’dau, N’seragi!«, begrüßten sie ihn.

»D’haro, M’anja und O’damomo! Zu mir!«

Die Anführer traten vor. Jeder Krieger trug Waffen und soviel Gepäck mit sich, wie er schleppen konnte, ohne sich selbst zu erschöpfen. Von Horizont zu Horizont, so weit die Augen schauen konnten, schwebte die Wolke über dem Land am Großen Strom. In der Richtung des Sonnenaufgangs hingen dünne und dicke Fäden aus dem Rand herunter und berührten wirbelnd den Boden, viele Tagesmärsche entfernt. In den Augen der Krieger war Furcht. Immer wieder wurde ihr Blick wie magisch von der riesigen Fläche angezogen. Die Strahlen der Sonne zuckten fast waagrecht, aber sie wärmten nicht. Im grellen Licht sahen sie das Ausmaß der Verwüstungen. Der Sturm hatte eine Gasse bis zum Strom gerissen. Dort lagen die riesigen Baumstämme kreuz und quer übereinander wie das Spielzeug eines Dämonen.

»O’damomo«, sagte der König und zeigte auf das Wasser. »Du nimmst vier Kanus und paddelst stromab. Ich weiß, dass dort im Süden, nach soviel Tagesmärschen, die Wolke ihr Ende hat.« Er hielt beide Hände mit gespreizten Fingern hoch. »Jede Nacht gibst du uns Signale.«

Die Krieger und Jäger O’damomos, die jeden Pfad in den Wäldern kannten, nahmen ihr Gepäck auf und liefen zu den Kanus. Wenige Zeit später blitzten ihre Speere ein letztes Mal auf. Die Kanus bogen in die Strömung und verschwanden hinter den Felsen. Zehn Tage würde es dauern, bis die Männer O’damomos den Rand der Wolke und des Schattens erreicht hatten. Der Häuptling wandte sich an die beiden Anführer.

»Für euch gilt dasselbe. Ihr werdet länger brauchen. Denkt daran – wir suchen den Platz für eine neue Stadt!«

Zweimal fünfzig Krieger brachen auf. Die Sonnenscheibe stieg höher und näherte sich der Wolke. Sofort breitete sich ein böses Zwielicht aus. Das Brausen eines kochendheißen Sturmes näherte sich und schüttelte die blattlosen Äste der Gewächse. Von Sonnenuntergang her näherte sich eine biegsame Säule. Wieder jagte eine Windhose auf Malemba zu, riss das rote Pulver hoch, das einst gute Muttererde gewesen war, warf giftigen Schlamm ins Wasser des Flusses, schmetterte das Gemisch von Staub und Wasser gegen die schwankenden Hütten und verschüttete einen trockenen Kanal. Der König schüttelte sich und fing seinen traurigen Gang durch die Stadt an. Er stellte die Gruppen zusammen, die den Spähern, Jägern und Kriegern folgen würden. Die Sonne kletterte über den Rand der Wolke. Zwielicht wurde von Dämmerung abgelöst, die den ganzen Tag herrschte; zehn oder fünfzehn Tagesmärsche weit in alle Himmelsrichtungen. Tag um Tag verging.

Kinder und Greise starben, ausgezehrt zu Skeletten mit unnatürlich dicken Bäuchen. Es gab nur sauberes Wasser; die tiefen Brunnen waren noch nicht vergiftet. Das unersetzliche Erz wurde versteckt und vergraben, die Brennöfen zerstört, denn das Geheimnis der Handwerker von Malemba musste gewahrt bleiben. Nachts hämmerten Signaltrommeln aus drei verschiedenen Richtungen. Die Krieger berichteten, dass sie durch leeres, verwüstetes Land ungehindert vorankamen. Aber selbst die Fische waren ausgerottet oder in eine Gegend geflüchtet, in der es am Tag Sonne und nachts Dunkelheit gab.

Hunderte von Menschen begrub man in flachen Gräbern. Die Sklaven, die das Geheimnis der Schrift kannten, lebten noch. Auch die Handwerker erhielten etwas mehr vom dahinschwindenden Essen. Nach sechzehn Tagen rasselten die Trommeln:

»O’damomo hat ein Ufer gefunden, einen Hügel und gutes Land. Holz und viel Schatten, denn auch hier wütete Natgonflake mit seiner Wolke. Aber hier ist Sonne. Folgt dem Weg, den M’anja markiert. Morgen treffen wir zusammen.«

Wolkenmassen trieben im feuchten Sturm unter der Wolke in wilden Kreisen. Sintflutartiger Regen stürzte in der Dunkelheit herunter. Die Wasserfluten tränkten die Dächer der Hütten und ließen sie einstürzen. Menschen ertranken in den gurgelnden Bächen zwischen den Hütten; Wasser schwemmte den Rest des Bodens davon und verwandelte jeden Fuß des Landes zwischen Malemba und dem Ufer in einen schwarzen Mahlstrom aus Schlamm und den Resten der Bäume, ertrunkenen Tieren, Trümmern der Werkstätten und Knochen aus aufgerissenen Gräbern. Die Brennöfen brachen nieder, die Plattform des Versammlungshauses wurde von dem rauschenden Schlammgießbach umgestürzt. Das Dach des prächtigsten Gebäudes der Stadt sank zusammen. Götzen und ihre Altare, unzählige Kostbarkeiten und die gegossenen, verzierten Messingstatuen versanken in Schlamm und Geröll.

Beim ersten Tageslicht, nach einer Nacht voller Schrecken, erloschen die letzten Öllampen im verwüsteten Malemba. Der Zug der Flüchtlinge formierte sich. Eine Gruppe Krieger ging voraus, dann folgten einzelne Familien mit ihren Sklaven. Sie zerrten und schleppten das wenige Gepäck; Hunger nagte in ihren Eingeweiden. König N’seragi hockte in seinem nassen Thronsessel und stierte schweigend auf den Zug, der sich an ihm vorbeiwälzte und zwischen triefenden Stämmen verschwand. Dutzend um Dutzend, Greise, Kinder und junge Menschen, halb verhungert oder mit allen Zeichen der Schwäche, Sklaven mit schweren Säcken, Männer mit Werkzeugen, Sklavinnen, die ihre Herrin auf der Trage schleppten – ein langer, schweigender Zug des Elends.

Es gab keine Holzkohle für die Gussöfen. Das Wachs für Kunstwerke war von den Hungernden gegessen worden. Die Wasserfluten hatten den zähen Lehm der Formen in Schlamm verwandelt. Die Tafeln, auf denen Schrift und Zahlen festgehalten wurden, lagen unter den Trümmern. Einige Künstler und Handwerker waren gestorben. Der König ahnte, dass viele Fähigkeiten aus Malemba unwiederbringlich verloren sein würden, wenn die Karawane der Armut die Sonne erreichen würde. Wie er wusste – denn sonst wären nicht die vielen Handelskarawanen hierher gekommen –, waren sie die einzigen, die in diesem Teil des Landes unter der südlichen Sonne Messing formen und gießen konnten, nur hier war das Geheimnis des geschmiedeten Eisens bekannt; nur sie zählten, rechneten und schrieben.

Die Sonne verschwand über der Wolke. Im Zwielicht verschwanden die Letzten aus Malemba. Nur eine Gruppe junger Krieger und Jäger wartete reglos. Der König stand auf, raffte seine Waffe an sich und winkte den Kriegern.

Fünfzehn Tage lang schleppten sich viertausend Schwarzhäutige auf gewundenen Pfaden nach Süden. Sie fanden Pilze, schlangen sie hinunter; viele starben daran. Schlangen, Würmer und Insekten wurden mit Heißhunger gegessen. Wieder ein paar Gräber zwischen den Baumwurzeln. Der Zug watete durch eine Furt in dreckigem Wasser, verschwand zwischen den Bäumen des jenseitigen Ufers. Hoffnungslosigkeit und die Ahnung des qualvollen Todes lagen über den Menschen. Jeden Tag starben mehr. Die Jäger schwärmten aus und erlegten eine Gazelle. Das Fleisch wurde heruntergeschlungen, noch ehe es richtig gebraten war. Die Gräber wurden zahlreicher und flacher. Rücksichtslos trieben Krieger die Menschen vorwärts. Schwangere Frauen brachen zusammen und brachten sterbende Kinder zur Welt. Noch ehe der Zauberer eingreifen konnte, sonderte sich eine Gruppe ab und fing an, Menschenfleisch zu essen; Krieger speerten die Abtrünnigen.

Unbarmherzig wurden die Menschen weitergetrieben. Sie schleppten sich im trüben Licht dahin, wanderten im Fackellicht, erfrischten sich im Strom und versuchten, glitschige Tiere mit den Händen zu fangen. Wieder starb ein Handwerker, ein Händler, ein Künstler, der die schönsten Plastiken geschaffen hatte. N’seragi, im letzten Teil der Elendskarawane, schluckte Furcht und Entsetzen herunter. Hunderte waren gestorben, noch viele andere würden auf dem langen Weg sterben.

Am sechzehnten Morgen erwartete eine Überraschung die Verhunderten. Die Jäger hatten Tiere gefangen und gebraten, hatten Fische gefunden – und sie schrien aufgeregt der Spitze des Zuges entgegen. Bratengeruch erfüllte die Luft. Die Bäume trugen grüne Blätter, obwohl über den Köpfen der Menschen sich der Himmel in eine blaue, wolkenreiche und eine dunkelrote Hälfte spaltete. Die Luft roch frisch und kühl. Wie Rasende stürzten sich die Menschen auf den Braten. Trotz des Essens starben noch immer Entkräftete. Schwärende Wunden waren zu sehen, und die Menschen ließen sich kraftlos zu Boden fallen. Der König stapfte durch die Reihen und trieb die Stärksten mit Tritten und Hieben des Speerschafts hoch.

»Weiter! Noch einen Tag! Dort werden wir die neue Stadt bauen!«

N’seragi war sicher, dass die Wolke wuchs und sie bald eingeholt haben würde. Auf ihrem schlimmen Weg waren sie durch die Gebiete von vier Stämmen gekommen. Sie waren ebenso leer und verwüstet wie Malembas Umgebung, und nur wenige Männer waren so stark, dass sie den Kriegern und N’seragi folgten.

»Auf die Beine! Es geht um unser Leben! Und um unsere Kinder!«, schrie der König und versammelte einige hundert Männer und junge Frauen um sich. Sie gingen entlang des Ufers weiter. Das Wasser wimmelte von Fischen. Immer wieder schoben sich Jäger zwischen den Zweigen hindurch, Jagdbeute auf den Schultern. Wieder schwelten und flammten Feuer. Endlich überschritten die Flüchtlinge die Grenze zwischen nasser Kälte und wohltuender feuchter Wärme. Sie blinzelten halb erschrocken, halb voll neuer Hoffnung in der grellen Lichtfülle.

»Gehorcht! Oder meine Krieger treiben euch vorwärts!« Die Stimme N’seragis hallte unter den Ästen. Je weiter sie nach Süden vorstießen, desto mehr wuchs ihre Hoffnung. Es würde trotzdem lange dauern, bis die Hütten standen, bis Holzkohlenfeuer unter den Schmelzen loderten. Der Zauberer, dessen zäher Körper den Verzweiflungsmarsch am besten überstanden hatte, stützte sich auf seinen abgewetzten Speer.

»Es scheint, als hätte Natgonflake erlaubt, dass wir uns retten!«, brummte er heiser. Der Häuptling nickte.

»Aber nicht einmal du weißt, wie die nächsten Monde sein werden. Wir müssen erwarten, dass noch viele sterben.« Die Blicke, mit denen sich die erfahrensten und mächtigsten Männer des Knotenpunktes vieler Handelskarawanen maßen, zeigten die wahren Gedanken ohne Barmherzigkeit; niemand würde die Wahrheit aussprechen.

Die Wolke wuchs weiter, würde die Leute von Malemba bald einholen, selbst wenn sie eine neue Stadt errichtet hatten. Natgonflake, der Götze Malembas, vergaß niemals: Hungersnot und Tod würden sich abermals ausbreiten. Nicht nur N’seragis Stamm, hier im Herzen der Dunklen Welt, würde auf endlose Wanderschaft gehen, und die Suche nach neuem Lebensraum war der Todfeind jeden Reichtums. Die Wanderungen würden nie enden, und Lesen, Schreiben und viele andere Künste würden vergessen werden: Das nackte Überleben war mächtiger. Einst hatte N’seragi daran gedacht, aus Malemba einen Mittelpunkt neuer Kenntnisse, Erfahrungen und Wissenschaften zu machen. Wie ein Schössling sollte die Stadt wachsen, bis eines Tages ein Götterbaum daraus geworden war. Der König wandte sich ab und stöhnte. »Damit ist es vorbei!«

Die eklige braune Färbung des Großen Stromes verlor sich. Neue Feuer, an denen sich Bratenstücke drehten, wurden angezündet. Eine Gruppe ausgemergelter Schwarzer schleppte sich aus dem Wald und folgte den Jägern. Trotz des Sonnenlichts hing über dem Wald der Hauch des schleichenden Todes.

3.

 

 

Oemchèn Orb fuhr mit beiden Händen durch ihr nackenlanges schwarzes Haar und wandte sich an Scarron, die neben ihr an Aescunnars Schreibtisch saß. Scarrons Blick richtete sich unverändert auf Atlan, der auf unsichtbaren Energiegittern in der fast durchsichtigen Nährflüssigkeit schwebte; sie wurde konstant auf der Plazenta-Temperatur der Arkoniden gehalten. Oemchèn sah erstaunt, dass auf Atlans Schädel ein zentimeterkurzer Haarflaum gewachsen war; ein weiteres Zeichen für den stabilen Zustand seiner Physis. Das goldene Ei des Aktivators auf seiner Brust schien zu leuchten. Leise sagte sie:

»Alle glauben fest, dass in absehbarer Zeit Atlan aufwachen, herumlaufen und mit uns lachen wird. Manchmal siehst du aus, als würde dich die Sorge auffressen.«

Die letzten Worte Atlans erstarrten auf der Printplatte. Sämtliche Monitoren waren aktiviert; die Hologramme tauchten den großen Raum in glühende Farbe. Über der Karte der verschwundenen Erde, in langgezogener Mercatorprojektion, lag über dem Kongogebiet Zentralafrikas ein roter, milchiger Kreis. Scarron Eymundsson, Atlans Freundin, hob die Schultern. Sie schien den alten Ara-Arzt Ghoum-Ardebil nicht zu sehen, der am gegenüberliegenden Ende der Verbindung, in dem sterilen Raum der Intensivstation, die Instrumentenanzeigen kontrollierte und mit MASTERCONTROL abstimmte, dem Großrechner Sol Towns. In Atlans Erzählung war eine jener Pausen eingetreten, die erfahrungsgemäß nicht lange dauerten.

Drigene, der einzige Überlebende des Mucy-Planeten, kam aus der halbrobotischen Küche und brachte Kaffee und Fruchtsäfte. Hinter den verdunkelten Glasflächen sank der Abend über diesen Teil Gäas. Scarron schaltete, die Holografien wechselten langsam in der Projektionsbühne und zeigten Funde und Rekonstruktionen aus der Zeit um 1250 vor der Zeitwende; die meisten Informationen zeigten Kleinkulturen entlang der Ufer des Mittelmeeres.

»Mit jedem Wort erholt sich Atlan etwas mehr.« Oemchèn versuchte die junge Biologin zu trösten. »Es kann in der gesamten Provcon-Faust nicht mehr für ihn getan werden; denk dran, wie oft ihn der Aktivator schon aus schlimmen Situationen gerettet hat.«

»Du verstehst meine Sorgen, Oemchèn.« Scarron schwang den Sessel zur Seite; Drigene setzte sich und tippte einige Kennworte in ein Keyboard: Afrika, Messingfiguren, Äquator, 1000 v.d.Z.? Dogon? »Es dauert schon so lange, seit Atlan dort hineingelegt wurde …«

»Und alles ist von Woche zu Woche besser geworden.« Oemchèn schob einen Regler vor und speicherte den letzten Text der Printplatte. »Hör zu, was er erzählt – es wird uns alle ablenken und erstaunen.«

Scarron nickte schweigend und drückte Oemchèns Hand. Der Arkonide holte tief Luft und begann wieder zu sprechen.

 

Keiner von uns würde diese Stunde je vergessen. Es waren Momente tiefer, unwiederholbarer Eindringlichkeit. Fünfundzwanzig Personen – dreiundzwanzig Männer und zwei Frauen – befanden sich im Mittelpunkt des mächtigen dunklen Tempels, der von betäubendem Sontjer-Weihrauch erfüllt war. Die Säulen mit farbigen Binsenkapitellen und Lotosverzierungen schienen mit dem sternübersäten Firmament zu verschmelzen. Jede Bewegung und jeder Laut hatten eine Bedeutung, die über jedes vorstellbare Maß hinausgingen.