Kapitel Sieben

I

Juli 1880

Der letzte Tag des Monats.

Conner und seine Männer standen an der Kreuzung und sahen dem Wagen der Baltimore Armory hinterher. Norris stand mit juckenden Fingern neben seinem Arbeitgeber. Die Kisten waren abgeladen worden und jetzt stemmten die Männer die Deckel auf. 50 Revolver. Und Pulver und Kugeln, dachte Norris. »Wenn wir nicht übers Ohr gehauen worden sind, Mr. Conner, dann wird sich hier bald einiges ändern.«

Conner sah zerstreut aus. »Ich will doch sehr hoffen, dass wir nicht übers Ohr gehauen wurden. Der Wagen ist für meinen Geschmack etwas zu schnell weggefahren.« Aber gerade, als er seine Zweifel artikulierte, brachen einige der Männer in Jubelgeschrei aus.

»Heilige Scheiße, Mr. Conner!«, freute sich einer. »Sind alle da, alle 50!«

Norris lächelte erleichtert. Der Hilfsarbeiter kam mit einem in Teerpappe gewickelten Bündel herbeigeeilt; er schlug es auf und enthüllte einen Kaliber-36-Revolver, der vom Schmieröl glänzte. »Habt ihr sie gezählt, Junge?«

»Ja, Sir, Mr. Norris, Sir! 50!«

»Was ist mit Pulver, Zündhütchen und Kugeln?«, fragte Conner.

Ein anderer rief von den Kisten herüber. Er hob eine Kiste an. »Pulver, Kugeln und, wie’s aussieht, Hunderte von Minié-Geschossen, Sir!«

»Gott sei Dank«, murmelte Conner.

Norris bezweifelte, dass Gott großes Interesse an diesem Unterfangen hatte. Aber mit 50 Revolvern und genug Munition konnten sie Lowen und seine Leute in der Tat auslöschen. »Gibt einem doch ’n gutes Gefühl, wenn man weiß, dass man in Amerika noch ehrliche Geschäfte machen kann.«

Conner wirkte noch immer abwesend, trotz der erfolgreichen Lieferung. Er hatte was getrunken, als das neulich passiert ist, erinnerte Norris sich. Weiß wahrscheinlich gar nicht genau, was er gesehen hat. Zwei Monster, hatte er gesagt. Hatten seine Frau Bonnie umgebracht, außerdem Jake Howeth und seine Frau und seinen Sohn. Lowen und seine Juden!, hatte Conner am nächsten Tag gebrüllt. Haben sie mit ihrer schwarzen Magie beschworen! Norris glaubte natürlich nicht daran. Wahrscheinlich hatten nur zwei von Lowens Männern einen Überfall gemacht. Und das spielte jetzt sowieso keine Rolle mehr. Nicht mit FÜNFZIG brandneuen Schießeisen ... »Ladet die Kisten auf den Wagen, Männer«, befahl er. »Wir fahren zurück zum Lager und machen die Waffen bereit.«

Conner ging zu den Kisten. »Da sollte noch eine sein«, sagte er mit einer gewissen Beklommenheit.

»Noch mehr Revolver, Sir?«

»Nee. Was ... anderes, das ich bezahlt hab.«

»Meinen Sie vielleicht das hier, Mr. Conner?«, rief ein junger Mann, der ein Fell um die Schultern trug, begeistert und zeigte auf die zuletzt geöffnete Kiste.

Sie war voller Dynamit.

»Wofür brauchen Sie das denn, Mr. Conner?«, fragte Norris.

Ein weiterer Teil seiner Anspannung fiel von Conner ab, als er den Sprengstoff sah. »Gehört zu meinem Plan, Norris. Mit diesen Kanonen werden wir jeden einzelnen Juden in Lowensport abknallen – jeden Juden bis auf einen.« Er zeigte auf das Dynamit. »Mit Gavriel Lowen hab ich was Besonderes vor.«

Norris fragte nicht weiter, aber wer – oder was – auch immer Conners Frau getötet hatte, hatte damit nur den Hass dieses Mannes geschürt. »Wann legen wir denn los mit Ihrem Plan?«

»Ich denke, wir warten noch ’n paar Tage, machen Lagepläne und stellen Trupps zusammen, damit wir’s auch richtig angehen, so wie damals im Krieg.«

»’ne gute Idee, Mr. Conner.«

Das Klappern von Pferdehufen erregte ihre Aufmerksamkeit; sie blickten die Straße hinunter und sahen zwei Reiter näherkommen.

»John Reid und sein Junge«, stellte Norris fest. »Auf ’m Rückweg von Salisbury.«

»Ah, yeah. Hab sie da vor ’ner Woche hingeschickt, um noch ’n paar Schaufelblätter zu kaufen. Wenn wir Lowens Leute ausradiert haben, werden wir ’ne Menge zu graben haben.«

»Stimmt, aber ...« Norris kniff die Augen zusammen. John Reids Gesicht war voller Besorgnis, als er vom Pferd stieg.

»Howdy, Mr. Conner, Mr. Norris.«

Die beiden nickten ihm zu. »Hast du die Schaufelblätter, Reid?«

»Kein Problem, Sir. Nur ...«

»Was ist los?«, fragte Norris. »Siehst aus, als würde dich was beunruhigen.«

Reid zögerte. »Na ja, Sir, sehen Sie ... als wir die Schaufelblätter in der Schmiede geholt haben, hat uns der Mann – sein Name war Hawberk –, er hat uns erzählt, dass sein Bruder als Dockarbeiter im Hafen arbeitet, das war, nachdem ich erwähnt hab, dass unser Lager in der Nähe von Lowensport liegt, Sir.«

»Yeah?«

»Und, sehen Sie, als ich Lowensport sagte, da kannte dieser Bursche Hawberk den Namen und fragt mich, ob das ’ne Judenstadt ist, wie er gehört hat, und ich sag: ja, ist es, aber wir selbst leben da nicht direkt. Ich hab ihm versichert, dass wir keine Juden sind.«

»Komm auf den Punkt, Reid«, drängelte Norris.

»Na ja, Sir, es war Hawberks Bruder, wie schon gesagt, der uns erzählt hat, dass er den Namen kennt, weil vor Kurzem war nämlich ’n Dampfschiff in Salisbury und der Käpt’n – ’n Ire – meinte, dass sein letzter Stopp in Lowensport ist.«

»Ein Dampfschiff?«, fragte Norris.

»Ja, Sir, ’n Dampfschiff mit ’ner Fracht, die von Gavriel Lowen bezahlt worden ist, deswegen erzähl ich Ihnen das ja. Klingt gar nicht so gut, wenn man mal drüber nachdenkt.«

Nein, tatsächlich nicht, dachte Norris. »Hat der Mann gesagt, was das für ’ne Fracht ist?«

»Nee, Sir, nur ’n paar Fässer mit irgendwas.«

»Könnten Waffen sein«, murmelte Conner. »Vielleicht will Lowen genau das Gleiche mit uns machen, was wir mit ihm vorhaben.« Er rang die Hände. »Wann soll diese Lieferung in Lowensport ankommen, Reid? Haben Sie da was gehört?«

»Nächste Woche, sagt Hawberk.«

Norris nahm Conner beiseite. »Sir, das ändert alles. Klingt für mich so, als hätte Lowen tatsächlich Waffen in dieser Lieferung.«

Conner nickte grimmig. »Was bedeutet, dass wir ihn und seine Leute töten müssen, bevor das Schiff hier ankommt.« Er sah Norris in die Augen. »Deshalb werden wir keinen Tag mehr warten. Rufen Sie alle Männer zur Besprechung im Lager zusammen.«

»Und wann werden wir’s tun, Sir?«

»Wir tun es heute Nacht. Wir bringen sie alle um. Heute Nacht.«

II

Gegenwart

Am nächsten Morgen hatte Judy Seth um 11:30 Uhr aus dem Haus gescheucht. »Komm schon!«, hatte sie ihn mit vorgetäuschter Begeisterung gelockt. »Das wird großartig!«

»Ich habe nichts dagegen einzuwenden«, hatte Seth gesagt. »Ich bin nur froh, dass es dir besser geht.«

In Wahrheit fühlte Judy sich schlechter als je zuvor; sie fühlte sich bis ins Innerste verdorben. Einmal Cracknutte, immer Cracknutte, diese Worte verfolgten und quälten sie. Aber sie musste ihn bis Mittag aus dem Haus haben. »Ich muss unbedingt noch welche von diesen Maryland-Krebsen essen, sonst sterbe ich!«

Eigentlich hatte sie überhaupt keinen Appetit, und es deprimierte sie nur noch mehr, wie überzeugend sie lügen konnte. Am Morgen, bevor Seth aufgewacht war, war sie wieder in den Keller geschlichen und hatte das restliche Crack geraucht. Lass dir nichts anmerken, ermahnte sie sich verzweifelt, als sie mit Seth nach Somner’s Cove fuhr. Sie wusste, dass sie ihre ganze Konzentration aufbringen musste, um dem Mann, den sie liebte, diese Komödie – diese Lüge – vorzuspielen.

Das touristengerechte Küstenambiente des Restaurants verlieh dem Laden eine anheimelnde Atmosphäre, aber es waren keine Touristen zu sehen, nur ein paar einheimische Arbeiter, die hauptsächlich an der Theke saßen.

»Es freut mich, dass dir die Krebse schmecken«, sagte Seth und bestellte ein Dutzend.

»Heute sind Screwdriver im Angebot – zwei zum Preis für einen«, informierte sie die Kellnerin.

Seth lachte erleichtert und bestellte zwei Eistee. Judy saß ihm auf der furnierten Holzbank gegenüber, ganz auf die schwere Aufgabe konzentriert, normal zu wirken. Aber sie wäre fast in Tränen ausgebrochen, als Seth fortfuhr: »Es ist ein unglaublich erhebendes Gefühl für so einen Ex-Säufer wie mich, wenn ich merke, dass ich überhaupt kein Interesse mehr an Alkohol habe, keine Gier, kein Verlangen, gar nichts. Wahrscheinlich ist es bei dir mit Drogen genauso, hm?«

Judy rang sich ein Lächeln ab und nickte. Weiterreden! Normal wirken! »Ich habe mir nie was aus den Florida-Krebsen gemacht, die es in Tampa gab. Zu viel Aufwand und viel zu teuer.«

»Ich habe irgendwo gelesen, dass diese Stadt früher die Blaukrabben-Hauptstadt des Landes war, und ebenso die Austern-Hauptstadt. Wo wir gerade von Austern reden – ich werde ein paar bestellen.« Er grinste anzüglich. »Du weißt ja, was man sagt.«

Judy brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er meinte. »Oh, ja. Ein Aphrodisiakum. Wir können hinterher ausprobieren, ob’s stimmt.« Aber es quälte sie, wieder lügen zu müssen, sich selbst eingestehen zu müssen, dass das Wiederaufflammen ihrer Cracksucht ihren Sexualtrieb völlig zum Erliegen gebracht hatte. Auch das werde ich vortäuschen müssen. »Bin gleich wieder da, ich muss nur mal ... du weißt schon.«

Seth zeigte ihr die Richtung zu den Toiletten.

In der Damentoilette bekam sie einen so heftigen Zitteranfall, dass sie beinahe zusammengebrochen wäre. Mein Gott, mein Gott, mein Gott! Wie sollte sie das nur durchstehen? Sie machte sich vor dem Spiegel zurecht und sah, dass ihr Gesicht durch die Drogen bereits schmaler geworden war. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie wieder so ein ausgemergeltes Drogengerippe war wie vor zwei Jahren? Das darf nicht passieren, betete sie. Bitte, Gott, lass es nicht so weit kommen! Gib mir Kraft ... Sie wusch sich das Gesicht, wartete, bis sie sich etwas beruhigt hatte, doch dann wurde ihr wieder schlecht, als ihr die Details dieser Scharade einfielen. Jetzt in diesem Moment sind zwei Vergewaltiger in unserem Keller. Was wollten sie wohl da unten? Die restlichen Fässer waren genauso wertlos wie die, die sie bereits gestohlen hatten. Und ich habe sie reingelassen ... Sie wusste, dass dort unten neues Crack auf sie warten würde, wenn sie am Nachmittag nach Hause kam. Das wird das letzte sein, schwor sie sich. Sie berührte das silberne Kreuz an ihrem Hals und fragte sich, wie schnell sich diese zierliche Kette wohl in eine Schlinge verwandeln würde ...

Als das Essen kam, aß Judy absichtlich sehr langsam. Vom Geschmack der köstlichen Meeresfrüchte nahm sie kaum etwas wahr. Sie lächelte und nickte sich durch die Unterhaltung, die hauptsächlich darin bestand, dass Seth ihr die zukünftigen Level des zweiten Spielteils beschrieb; alle Bemerkungen, die sie machte, musste sie sich mühsam zusammenformulieren, denn das Verlangen nach Drogen nahm schon wieder zu. Als Seth schließlich etwas merkte, fragte er: »Es geht dir doch besser, oder?«

»Ja, doch«, log sie. »Aber mir steckt wohl noch irgendwas in den Knochen. Wahrscheinlich eine kleine Erkältung oder so.«

»Vielleicht sollten wir lieber nach Hause fahren, damit du dich hinlegen kannst.« Er nahm ihre Hand. »Schlaf ist das Allheilmittel der Natur, sagt man.«

»Ja, vielleicht ist das eine gute Idee.« Ein Blick auf das Schiffschronometer an der Wand verriet ihr, dass es bereits nach zwei war.

Seth zahlte, dann schlenderten sie hinaus, sein Arm um ihre Hüfte gelegt. Der wunderschöne Sonnentag flimmerte vor Hitze. Eine plötzliche Besorgnis regte sich in ihr, als Seth den Tahoe aufschloss. Und wenn die Typen noch im Keller sind? Was ist, wenn sie noch da sind, wenn wir nach Hause kommen? Aber dann zuckten ihre Augen zur Seite, als ein Fahrzeug vorbeifuhr: ein großer schwarzer Lieferwagen.

Derselbe wie letzte Nacht, mit dem ihr maskierter Vergewaltiger in das Feld gefahren war. Eine Aufschrift auf der Seite machte Werbung für irgendwelche Produkte. Ihr Herz wurde schwer, als sie daran dachte, wer darin saß; aber zumindest konnte sie beruhigt sein. Wenn sie jetzt in der Stadt sind, dann heißt das, dass sie im Haus fertig sind. Sie versuchte, das Nummernschild zu lesen, gab aber auf, als der Wagen um eine Ecke bog. Er schien zum Hafen zu fahren.

Den Fahrer hatte sie nicht erkennen können.

III

Asher Lowen erhob sich von seinem Bürostuhl, als er das mürrische Brummen des Lieferwagenmotors hörte; es war schon fast ein Uhr morgens. Konnte es sein, dass er einen Moment lang gefürchtet hatte, sie seien doch erwischt worden?

Nein.

Asher wusste, dass sein Gott ihn und all seine Unternehmungen beschützte.

»Sorry für die Verspätung, Asher«, sagte Nutjob, als sie durch die Hintertür das Haus der Hoffnung betraten. »Die Scheißfähre hatte ’ne Panne, dauerte ’ne Stunde, bis sie wieder fuhr.«

»Ist schon okay, aber habt ihr ...«

»Wir haben die Leiche«, sagte D-Man, »kein Problem. Aber ... den Schädel haben wir nicht.«

Ashers Gesicht wurde ausdruckslos.

»Ich hab um kurz nach zwei versucht, Sie auf ’m Handy zu erreichen, um Ihnen Bescheid zu sagen, aber ...«

»Ich war bei einem Gebetstreffen«, sagte Asher. »Habt ihr überall im Keller nachgesehen?«

»Yeah.«

»Auch unter den restlichen Fässern? Habt ihr sie weggerückt, habt ihr ...«

»Wir haben sie zur Seite gerückt und wir haben jeden Zentimeter im Keller mit dem Detektor untersucht«, versicherte D-Man ihm. »Er ist nicht da.«

Aber ich weiß, dass er da ist, dachte Asher. Ich weiß es. Sein Blick fiel auf den Schmortopf; die Dämpfe seines Inhalts waren mittlerweile verbraucht. »Meine Visionen sagen mir, dass er dort ist. Also muss er dort auch sein.«

D-Man ließ die Schultern hängen. »Dann sagen Sie uns, wo wir sonst noch suchen sollen, denn er ist nicht da

Asher strich sich übers Kinn. »Vielleicht gibt es noch einen weiteren Keller, von dem wir nichts wissen.«

»Ja, vielleicht, aber ich glaub nicht. Draußen sind keine andern Türen.«

»Dann vielleicht eine Tür im Haus«, überlegte Asher. »Die Frau. Ihr könntet die Frau fragen, wenn sie mehr Crack braucht. Gebt ihr was im Austausch für die Information.«

D-Mans Frustration war nicht zu übersehen. »Meinetwegen«, seufzte er. »Ich frag sie morgen.«

»Gut.«

Nutjob wich ein paar Schritte von der Tür zurück, ein unbehagliches Stirnrunzeln auf seinem ungepflegten Gesicht. »Da kommt er ...«

Ein dünner, hagerer Schatten fiel auf den Boden, als der Golem den Raum betrat. Sein glänzendes, lehmbedecktes Gesicht war ausdruckslos. Über seiner Schulter hing ein in ein Tuch gehüllter Leichnam. Asher betrachtete die Kreatur mit ehrfürchtigem Stolz. Noch ein Beweis für die Macht des Melech S’mol. Über 100 Jahre alt und noch immer leistet er uns gute Dienste.

»Bei dem Ding krieg ich jedes Mal ’ne Gänsehaut«, murmelte D-Man.

»Bitte, du verletzt die Gefühle unseres Dieners«, scherzte Asher. Er zeigte auf den Tisch und die knochendürre Gestalt legte die Leiche dort ab. »Es wird dich bestimmt überraschen, zu erfahren, dass dieses Ding einst einen Namen hatte, D-Man. Er hieß Yerby.«

»Yerby«, flüsterte D-Man mit abgewandtem Blick.

»Nun ruhe«, befahl Asher dem Wesen. Der Golem trottete zu seiner Kiste, legte sich hinein und schloss den Deckel.

»Er hat das ganze Buddeln erledigt«, sagte D-Man. »Hat uns auf jeden Fall ’ne Menge Muskelschmalz gespart.«

»Er dient uns gut, genau wie er meinen Vorfahren gedient hat«, meinte Asher. »Doch nichts hält für ewig. Er ist alt, aber jetzt ...« Er legte die Hand auf die verhüllte Leiche, dann zog er das Laken herunter. »Dieser wird noch stärker und frischer sein, noch vitaler, genau wie Gavriel Lowen es im Sinn hatte. Unsere Vorsehung wird sich bald erfüllen, und ihr Männer habt gute Arbeit geleistet.«

D-Man und Nutjob schluckten beim Anblick der Leiche, einer wohlgeformten Frau, noch immer in ihrem Leichenhemd. Auch nach so langer Zeit im Boden hätte man sie fast für schlafend halten können.

»Stinkt gar nicht«, bemerkte Nutjob.

»Und sieht noch fast lebendig aus«, ergänzte D-Man.

»Die Magie der neuen Zeit, Männer«, erklärte Asher. »Einbalsamierung. Und wenn die Nacht kommt, wird sie noch viel mehr als nur fast lebendig sein.« Er führte sie durchs Treppenhaus zurück zur Cafeteria, in der noch nie etwas zu essen zubereitet worden war. Als sie den Raum betraten, waren einige Süchtige an den Öfen gerade damit beschäftigt, Kokainbase zu Crack zu verbacken. Bei der Erhitzung entstand ein knackendes Geräusch, von dem die Droge ihren Namen hatte. Aber auf der anderen Seite des Raumes ...

Asher streckte die Hand aus. »Sehet meine Magie ...«

Ein Teil des Lehms aus einem der gestohlenen Fässer war bereits verarbeitet worden. Klumpenweise entnahmen die Helfer ihn und füllten ihn nach und nach in Metallgefäße. Anschließend wurde Wasser beigefügt und der Lehm solange gemörsert, bis er ausreichend mit dem Wasser vermischt war. Dann begann der ganze Prozess von vorn, immer und immer wieder. »Das ist hilna, Männer, der heilige verfluchte Lehm aus der Moldau, unserem Heimatfluss. Gavriel Lowen lebte nicht lange genug, um die Lieferung zu erhalten, doch nun ... haben wir seinen Schatz geborgen, um sein großes Werk zu vollenden.«

D-Man und Nutjob begriffen kaum etwas von seinen Worten. »Können wir ... können wir ...«, begann D-Man.

»Ihr dürft nun gehen, meine guten Freunde«, sagte Asher, während einige Süchtige weiteren Lehm in die Metallgefäße füllten. »Und denkt immer daran, dass wahrer Glaube angemessen belohnt wird ...«

IV

Am nächsten Morgen wachte Judy wieder in eiskaltem Schweiß auf; zitternd gierte sie nach Crack, aber immerhin hatte sie es geschafft, nichts mehr zu rauchen, nachdem sie aus dem Restaurant zurückgekommen waren. Als sie die Augen öffnete, saß Seth auf der Bettkante und sprach in sein Handy: »Du machst wohl Witze! Was zur Hölle machen wir nur falsch?« Eine angespannte Pause. »Ich weiß, verdammt. Ja, du hast recht. Ich nehme den ersten Flieger.«

»Was ist los?«, fragte Judy, nachdem sie sich aus den Tiefen des Schlafes herausgekämpft hatte.

»Ich muss nach Tampa – heute noch. Neue Probleme mit dem Programm.« Er eilte ins Bad, um zu duschen.

Ich sehe so scheiße aus, sagte sie ihrem Spiegelbild. Früher oder später wird er merken, dass mehr dahinter steckt als eine Erkältung.

»Warum kommst du nicht mit?«, fragte er, als er sich nach dem Duschen abtrocknete und dann schnell anzog. »Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, aber ...«

»Ich bleibe hier und halte die Stellung«, antwortete ihre Sucht für sie. »Ich fühle mich immer noch nicht ganz fit.«

Mit einem besorgten Blick hielt er inne und strich ihr über die Wange. »Ist wirklich alles in Ordnung? Ganz ehrlich?«

»Es ist nur eine Erkältung«, wehrte sie ab. »Ich komme schon klar.« Dann flitzte sie aus dem Zimmer. »Ich mach dir schnell Kaffee.«

Unten erledigte sie verbissen die Routine des Kaffeekochens, dann packte sie ihm sein Laptop in die Tasche. Ich werde den Mist aus meinem Körper bekommen, während er weg ist, schwor sie sich. Sie wusste, dass im Keller 20 Cracksteine auf sie warteten. Die rauch ich noch weg, und wenn er nach Hause kommt, höre ich damit auf. Aber das war wieder nur ihre Sucht, die da sprach – und tief im Inneren wusste sie es auch; sie hatte in der Vergangenheit schon viele ähnliche Schwüre geleistet und nie einen davon gehalten.

»Verdammt, so ein Schlamassel«, sagte er, als er mit dem Koffer nach unten kam. »Wenn wir diesen Fehler nicht in den Griff kriegen, verpassen wir womöglich den Veröffentlichungstermin von Teil II.« Er küsste sie flüchtig und sagte: »Tut mir leid, dass das jetzt alles so kurzfristig ist.« Er hatte bereits sein Gepäck geschnappt und war auf dem Weg zur Tür.

Judy, noch im Morgenmantel, folgte ihm benommen. »Gute Reise und ruf mich an, wenn du da bist.«

»Mach ich, mach ich und ... verdammt!«, rief er. »Ich muss den Wagen nehmen, um zum Flughafen zu kommen. Du wirst hier festsitzen!«

»Mach dir keine Sorgen«, beruhigte sie ihn. »So habe ich wenigstens einen Grund, mit dem Fahrrad zu fahren.«

»Okay, mach’s gut – und achte darauf, dass die Alarmanlage eingeschaltet ist. Ich liebe dich!« Und dann fuhr er davon.

Ich liebe dich auch, dachte sie, aber ihre Willenskraft bröckelte bereits. Als der Tahoe außer Sicht war, lenkte eine Übelkeit erregende Trance sie zurück ins Haus, wo sie den Schlüssel holte, dann ging sie wieder hinaus und schloss die Kellertür auf. Aber ihr Körper krümmte sich in seiner Gier zusammen; sie konnte gar nicht schnell genug die Kellertreppe hinuntergehen.

Sie schwenkte die Taschenlampe und suchte hektisch nach dem, was die Männer dort zurückgelassen haben mussten. Da, in einer Lücke zwischen zwei Fässern, glänzte die Plastiktüte. Sie schnappte sie und starrte sie an, dann schrie sie laut: »Dieses verlogene Schwein!« Die Tüte enthielt nur drei Crackkristalle, nicht die versprochenen 20. Weinte sie tatsächlich, als sie den ersten Brocken anzündete? Um sich selbst, oder weil sie wusste, dass diese drei mageren Stücke kaum eine Stunde reichen würden? Sie erschauderte, als sie inhalierte und die Dämpfe sie zunächst mit wundersamen Versprechen lockten, die Wirkung sie dann aber wieder einmal enttäuschte. Es war nie gut genug, nie so wie der allererste Rausch, aber es zwang einen trotzdem, es immer wieder zu tun. Die krankhafte Euphorie fühlte sich an wie eine Zunge, die über ihr nacktes Gehirn leckte. Gott, das ist so gut und doch so schrecklich ... Das zweite Stück verschwand ebenso schnell, danach saß sie zusammengekauert auf dem Boden und versank für 20 Minuten in ihrem Rausch. Heb das letzte Stück auf – TU es!, schrie sie in Gedanken. Sie steckte Tüte und Pfeife in die Tasche, während sie sich innerlich ankreischte. Sie wollte gerade aus dem Keller fliehen, als ein Gedanke durch die glitzernde Benommenheit an die Oberfläche trieb.

Die Männer. Was haben sie hier gemacht? Warum wollten sie unbedingt hier rein? Sie leuchtete mit der Taschenlampe umher. Haben sie noch mehr Fässer mitgenommen? Sie sah sofort, dass noch alle sechs da waren.

Aber ... etwas sah anders aus, oder?

Die Fässer sind bewegt worden.

Dessen war sie sich plötzlich sicher. Die Fässer waren in dem feuchtkalten Raum bewegt worden. Warum?, fragte sie sich. Warum um alles in der Welt ...? Die Geheimtür war noch immer geschlossen und unsichtbar. Die haben sie offensichtlich nicht entdeckt. Sie sah sich im Strahl der Lampe genauer um und entdeckte problemlos die Fußabdrücke und – na großartig, dachte sie sarkastisch – das winzige Ende eines Joints. Sie schob mit dem Fuß etwas Erde darüber.

Aber warum hatten sie die Fässer bewegt? Fast als ob ... als ob sie etwas darunter gesucht hätten ...

Sie saß oben und weinte eine Stunde lang, dann schlief sie krampfartig zwei weitere. Im Wachen und im Halbschlaf betete sie, aber die Gebete kamen ihr kraftlos vor, unaufrichtig. Gott, vergib mir in meinem Zustand der Ungnade. Meine Sünden sind abscheulich, aber ich weiß, dass dein Erbarmen unendlich ist. Nimm diese Last von mir, ich flehe dich an. Aber noch während die Worte verklangen, verzehrte sie sich nach diesem letzten Brocken Crack.

Schließlich zwang sie sich, zu duschen, dann zog sie ein Sommerkleid an ohne etwas darunter; sie wollte sich nicht eingezwängt fühlen. Aber ... Was mache ich nur? Das Verlangen nach diesem letzten Stück verbiss sich in ihr wie die Klauen einer Bärenfalle. Ich habe das alles schon einmal durchgemacht, ich schaffe es nicht nochmal. Zum zweiten Mal fantasierte sie davon, sich umzubringen; und dann dachte sie:

Wenn ich es nicht schaffe aufzuhören, werde ich es tun, ganz bestimmt.

Aber wie? Es gab keine Waffe im Haus und keine Möglichkeit, sich selbst zu ersticken. Sie konnte sich nicht vorstellen, sich selbst die Kehle durchzuschneiden, sie wusste, dass sie dafür nie den Mut haben würde.

Der Keller. Da unten gab es ein Seil.

So werde ich es tun – WENN ich nicht aufhören kann.

Aber da blieb immer noch dieses letzte Stück in der Tüte. Das wird das letzte Stück sein, das ich jemals rauchen werde, so oder so. Sie beschloss, hinaus in die Felder zu gehen, es dort zu rauchen und dann die Pfeife tief hinein in die Rutenhirse zu werfen.

Schon war sie zur Tür hinaus. Ging über den Vorplatz, dann über die Straße. Der breite Wirtschaftsweg schien sie einzusaugen, genau wie sie bald den Rauch aus der Pfeife einsaugen würde. Sie ging eilig weiter, versuchte an nichts zu denken. Das letzte Stück, das letzte Stück, das letzte Stück. Sie ging einen halben Kilometer in das Feld hinein, ohne es bewusst zu merken. Die Finger der einen Hand rieben über ihr Silberkreuz, die der anderen über die Cracktüte. Vergewissere dich, dass keine Arbeiter in der Nähe sind, riet ihr schließlich ihre Paranoia. Mit wachsamen Augen ging sie weiter, dann bog sie in den schmalen Fußweg ein, der nach Osten führte. Gleich darauf blieb sie stehen. Ihre Menschlichkeit huschte davon; sie öffnete das Tütchen, füllte die Pfeife. Sie starrte sie an, hasste sich selbst.

»Nein!«, rief sie plötzlich. Sie dachte an ihre Vergewaltiger und daran, was sie ihr angetan hatten. Sie dachte an die Vergangenheit und daran, was sie sich selbst angetan hatte, und dann sah sie ein Bild von sich selbst, wie sie nachts durch dunkle Straßen schlich, auf der Suche nach einem Freier. Sie erinnerte sich an das lüsterne Grinsen, wenn sie zu einem Fremden in den Wagen stieg; sie erinnerte sich an die widerlichen Gerüche und den ekelhaften Geschmack, und dann, ganz am Ende, sah sie sich selbst an einem Strick baumeln. »Nein!«, schrie sie wieder und warf die Pfeife so weit sie konnte hinaus ins Feld. Ich werde kein Junkie sein und ich werde mich nicht umbringen! Die Glaspfeife flog sich überschlagend wie in Zeitlupe in hohem Bogen, dann verschwand sie unwiederbringlich.

Stille folgte, wie die Stille nach einer Explosion. »Ich werde kein Crack rauchen«, flüsterte sie. Sie stapfte davon, weiter den Pfad entlang, nicht daran denkend, dass sie bald die seltsame kreisförmige Lichtung erreichen würde, die nur einige 100 Meter vor dem Friedhof lag, wo sie zum Oralsex gezwungen worden war. Sie ging schnell, joggte fast, als wäre ihre Sucht ihr auf den Fersen. Sich noch immer kaum ihrer Handlungen bewusst, trat sie auf die Lichtung ...

... und hätte beinahe laut aufgeschrien.

Ein Mann stand dort. Bei ihrem Kommen drehte er sich um. Judys Herz machte einen Satz, denn für einen Moment dachte sie, es müsse einer der Maskierten sein ...

»Oh, Sie sind’s, Miss ... Tut mir leid, ich habe Ihren Namen vergessen.«

»Judy Parker«, brummte sie, noch halb erschrocken. »Seth Kohns Lebensgefährtin. Sie sind Mr. Croter, der Makler, der Seth Lowen House verkauft hat.«

»Ja, ja, freut mich, Sie zu sehen«, sagte er; aber er machte einen abwesenden Eindruck, als er so über die Lichtung wanderte. »Was treibt Sie hierher?«

»Ich ... habe einen Spaziergang gemacht«, erwiderte sie und versuchte, ihren Puls wieder zu beruhigen. »Ich war vor ein paar Tagen schon mal hier, als Seth gearbeitet hat.«

»Tatsächlich? Hm, dann möchte ich Sie etwas fragen. Diese Steinkreise – als Sie vor Kurzem hier waren, haben die so ausgesehen ... wie jetzt?«

Mühsam lenkte Judy ihre Aufmerksamkeit auf seine Worte. Wovon redet er? Aber dann sah sie die zehn Kreise aus Steinen auf dem Boden, die in einem großen Kreis angeordnet waren, und den elften Kreis in der Mitte. Sie schaute genauer hin und stellte fest, dass sie mit etwas bekleckst waren, etwas Dunklem, das leicht glänzte.

»Nein, haben sie nicht«, antwortete sie langsam. »Es waren nur nackte Steine. Ist das ...?«

»Ich weiß, es sieht wie Blut aus«, meinte Croter. Sie bückten sich beide, um die Steine genauer in Augenschein zu nehmen. Könnte auch Farbe sein, sagte Judy sich, aber warum sollte jemand ...

»Ich bin letzte Nacht hier vorbeigefahren«, erklärte Croter, »und habe Lichter im Feld gesehen. Lichter, die genau von hier zu kommen schienen ...«

Und vor zwei Nächten habe ich hier draußen auch Lichter gesehen, erinnerte sich Judy.

»... also dachte ich mir, ich schaue mir das mal an.« Sein Gesicht wurde ausdruckslos. »Ja. Jemand hat Blut über diese Steine gegossen.«

»Innerhalb der letzten zwei Tage«, fügte Judy hinzu. Eine merkwürdige Sache. War das wirklich Blut? Aber plötzlich erbleichten sie beide, als eine Brise einen furchtbaren Gestank über die Lichtung wehte.

»Riecht wie was Totes«, keuchte Croter. Mit verkniffenem Gesicht ging er zur Wand aus Rutenhirse und schob eine Handvoll Halme auseinander. »Heilige Scheiße!«

Mit angehaltenem Atem schaute Judy hin. Ihr Magen zog sich zusammen. »Bah, ekelhaft!«, rief sie, als sie den Haufen kopfloser Tierkadaver sah. Es schienen fünf oder sechs zu sein. Genau wie auf dem ... »Sie werden es nicht glauben, aber vor ein paar Tagen habe ich einen alten Friedhof nicht weit von hier entdeckt, und auch da lagen tote Hunde. Kopflose Hunde.«

Croter winkte sie zum Ausgang der Lichtung. »Ich denke, das erklärt, wo das Blut herkommt.«

Die Seltsamkeit des Ganzen – und das Ekelhafte daran – lenkte Judys Gedanken endlich ein bisschen ab. Croter führte sie den Pfad entlang, zurück zum breiten Wirtschaftsweg. »Sehr merkwürdig, sehr merkwürdig«, sagte er. Am Hauptweg bog er nach Norden ab, weg von Lowen House. »Mein Wagen steht gleich da vorne, ich kann Sie nach Hause fahren.«

»Ja, danke«, murmelte sie. Beim Gehen blickte sie über die Schulter, in die Richtung, in die sie die Crackpfeife geworfen hatte. Ich höre auf! Also denk nicht mehr dran! Croters alter blauer Pontiac parkte ein Stück weiter den Weg entlang, hinter einer Ausbuchtung des Feldes. Judy folgte ihm zum Wagen, befingerte ihr Kreuz und versuchte, das quälende Verlangen, das in ihren Nerven tobte, zu bändigen. Gott sei Dank hat er mich nicht gesehen.

»Vielleicht sollten wir die Polizei benachrichtigen, ich meine, wegen der toten Hunde und des Blutes.«

Er hielt ihr die Wagentür auf. »Das bringt nicht viel, nicht hier. Die Polizei taugt nichts. Aber genug davon. Wie gefällt es Ihnen und Seth in dem Haus?«

»Es ist großartig«, sagte sie ohne viel Enthusiasmus. »Aber es ist eingebrochen worden.«

»Was?!«

»Ja, und das war auch ziemlich seltsam. Sie waren doch dabei, als das alte Dampfschiff auf Seths Grundstück gefunden wurde, oder?«

»Ja, sicher. Da gab es dieses Erdbeben vor langer Zeit, bei dem der Fluss umgelenkt wurde. Befand sich etwas Wertvolles auf dem Schiff?«

»Eigentlich nicht«, sagte Judy. »Es waren ein paar alte Transportfässer an Bord und Seth hat einige Männer dafür bezahlt, dass sie die Fässer in unseren Keller schafften. Hat sich aber als Zeit- und Geldverschwendung herausgestellt.«

Croter startete den Wagen und sah sie an. Sein Davidstern funkelte. »Was war in den Fässern?«

Judy lachte humorlos. »Zerbrochene Teller, zerbrochene Murmeln und Kohlenstaub.«

Croter machte ein langes Gesicht.

»Jedenfalls«, fuhr sie fort, »ist vor einigen Nächten jemand in unseren Keller eingestiegen und hat vier der Fässer mitgenommen. Seth hat Anzeige erstattet.«

»Warum sollte jemand zerbrochene Teller, Murmeln und ...«

»Oh, ich habe vergessen zu sagen, dass auch noch vier Fässer Lehm dabei waren.«

»Lehm?«, fragte Croter mit plötzlich veränderter Stimme.

»Ja. Ist das zu glauben?« In Gedanken fügte sie hinzu: Und ist es zu glauben, dass ich die Diebe später wieder in den Keller gelassen habe? »Das waren die Fässer, die gestohlen wurden. Die vier Fässer mit Lehm. Ich finde, das und die kopflosen Hunde und die blutbespritzten Steine sind eigentlich genug Seltsamkeiten für eine Woche.«

Croter schwieg, als er vom Wirtschaftsweg auf die Straße bog. Er schien tief in Gedanken versunken zu sein.

»Vielleicht ist es irgendein Farmeraberglaube oder so etwas«, überlegte Judy. »Für eine glückliche Ernte.«

»Das Blut, meinen Sie?«

»Ja, sicher. Ich kann mir keinen anderen Grund denken, warum jemand ein paar Steinkreise mit Blut bespritzen sollte.«

Croter hielt vor dem Haus. Er antwortete nicht, sondern sah sie nur an. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als hätte er vor irgendetwas Angst.

»Vielen Dank fürs Mitnehmen, Mr. Croter«, sagte sie und stieg aus. Er nickte nur, formte lautlose Worte mit den Lippen und fuhr davon.

Was ist mit ihm los?, wunderte sie sich über sein plötzliches seltsames Benehmen. Noch seltsamer war natürlich der Rest: kopflose Hunde und blutige Steine. Aber als sie ins Haus ging, tat sie es zumindest in dem Bewusstsein, dass sie fest entschlossen war, kein Crack mehr zu nehmen, auch gar keins mehr hatte und ihr deshalb die Aussichten auch nicht mehr so schrecklich vorkamen. Aber ich weiß natürlich, dass es nicht so einfach ist. Die seltsamen Entdeckungen auf der Lichtung hatten sie ein wenig von ihrer Sucht abgelenkt. Plötzlich klingelte irgendwo ein Telefon. Mein Handy. Ich habe es oben liegen lassen, fiel ihr ein. Sie rannte die Treppe hinauf. Das muss Seth sein. Schon der Gedanke an ihn machte sie glücklich. Sie stürzte durch die Schlafzimmertür ...

Die raue Hand packte sie am Hals und drückte ihren Schrei ab. Das Gesicht hinter der Strumpfmaske war nur Zentimeter von ihrem entfernt, als sich die Finger in ihre Kehle gruben. »Nicht schreien, sonst bring ich dich um.«

Ihre Augen traten vor; sie nickte und die Finger ließen los.

»Das war bestimmt gerade Sethy-Baby am Telefon«, sagte er. Ja, diesmal war es der Magere, der mit dem langen Haar. Der Stinker ... Ein struppiger Voll- oder Kinnbart beulte die Strumpfmaske aus. »Wann kommt er zurück?«

»In ein paar Minuten«, keuchte sie und dann traten ihre Augen wieder vor, als sich die Finger erneut in ihren Hals gruben. Sie konnte nicht atmen.

»Is’ nur so, dass wir ihn heute Morgen gesehen haben, wie er auf die Schnellstraße nach Salisbury gebogen ist, also verarsch mich nicht. Wann kommt er zurück?«

Ihre Stimme klang, als würden sich Steine aneinander reiben. »Morgen vielleicht. Oder in ein paar Tagen. Er ist in Tampa.«

Er stieß sie aufs Bett. »Gut. Genug Zeit für uns beide, um ’n bisschen Spaß zu haben.« Seine drahtigen Muskeln spannten sich, als er ihr das Sommerkleid vom Leib riss. »Ungezogenes Mädchen, keine Unterwäsche und gar nix! Gefällt mir.«

Judy saß zitternd auf dem Bett. Seths Worte gingen ihr durch den Kopf. Lass die Alarmanlage eingeschaltet ... Wie blöd war sie eigentlich?

»Warst bestimmt stinkig, als du gesehen hast, dass wir dir nur drei Steine dagelassen haben, hm?«

»Sie haben gesagt, Sie würden 20 dalassen«, antwortete sie trotz ihrer Angst.

Er öffnete seinen Gürtel. »Wir waren ja selber mächtig stinkig. Weißt du, wir haben nämlich nicht gefunden, was wir gesucht haben.«

»Was um alles in der Welt haben Sie denn gesucht?«, trotzte sie ihm ein weiteres Mal. »Sie haben doch schon die vier Fässer mit Lehm genommen – wofür auch immer. Und ich hab den verdammten Keller unverschlossen gelassen, wie Ihr Freund es verlangt hat. Warum haben Sie die Fässer verrückt? Haben Sie was darunter gesucht?«

Das zusammengequetschte Gesicht lächelte. »Verdammt clever, Süße. Yeah, haben wir. Aber ’s war nicht da. Wir haben mit so ’nem Detektording gesucht. Darum werd ich dir sagen, was wir gesucht haben, damit du uns helfen kannst.«

Hätte ich doch eine Waffe, schoss es ihr durch den Kopf. Wie gern würde ich das Schwein umbringen ...

»Wir suchen ’n Schädel. Der is’ schon vor Langem verbuddelt worden und der muss im Keller sein. Aber wir haben jeden Zentimeter untersucht und er is’ nicht da.«

Ein Schädel. »Der Schädel von Gavriel Lowen«, fiel ihr die makabre Schilderung wieder ein. »Wozu?«

KLATSCH!

Die schwielige Hand schlug sie mitten ins Gesicht.

»Geht dich nix an. Ich stell hier die Fragen.«

Ihr halbes Gesicht brannte von dem Schlag. »Der Schädel ist nicht hier!«, schrie sie. »Der ist doch in den Ruinen des alten Sägewerks in der Stadt begraben!«

»Du weißt ’ne Menge, aber nicht alles. Jemand hat ihn vor langer Zeit ausgegraben und hier verbuddelt«, sagte er.

Judy zuckte zusammen. »Warum zur Hölle sollte jemand ...« Aber sie biss sich auf die Lippe und verschluckte ihren Einwand.

»Und jetzt halt die Klappe und hör zu.« Dreist trat er näher, zwischen ihre Knie, während sie zurückgelehnt auf der Bettkante saß. »Da muss noch ’n anderer Keller sein, stimmt’s?«

Die Geheimkammer!, wurde ihr schlagartig klar. Er weiß nichts von ihr! Diese mumifizierte Hand ist da begraben, also muss der Schädel auch da sein ... Ein primitiver Instinkt riet ihr, die Information preiszugeben, da er sie mit Sicherheit dafür belohnen würde, aber stattdessen sagte sie: »Ich weiß nichts von einem anderen Keller im Haus.«

»Dann such ihn!«, schrie er sie mit hoher Stimme an; das ganze Haus schien zu zittern. »Vielleicht gibt’s irgendwo im Haus ’ne Tür oder ’ne Falltür oder so was.«

»Okay, okay«, stieß sie hervor. »Ich werde suchen. Das kann tatsächlich sein; wir wohnen erst seit einer Woche hier und haben noch nicht alle Ecken durchstöbert.«

»Und wir suchen auch ’n kleines Holzkästchen mit ’m Stück Papier drin ...«

Die Mesusa, dachte sie.

»... und irgend so ’n Kerzenständer und ’ne Holzschüssel ...«

Judy wusste etwas, das er nicht wusste, und es war etwas, das er dringend haben wollte. Was bedeutet, dass er mich wahrscheinlich nicht umbringen wird ... »Ich seh mich mal um.«

»Mach das ...« Er zeigte mit dem Finger auf sie. »... und find den Scheiß, dann geben wir dir 50 Cracksteine.«

Trotz ihrer Entschlossenheit, damit aufzuhören, schien ihre Sucht bei seinen Worten aufzukeuchen.

»Und für ’n Anfang geb ich dir das hier.« Er holte eine Tüte aus der Tasche, die mindestens zehn Kristalle enthielt. Er warf sie aufs Bett. »Kapiert?«

»Ja.«

»Braves Mädchen. Aber bevor ich abhau, musst du trotzdem noch den Stoff bezahlen ...«

Allmächtiger Gott, nicht schon wieder. Er zog seine Jeans bis zu den Knien herunter und entblößte übertrieben große Genitalien.

»Is’ für ’ne Nutte ja keine große Sache.« Er gluckste. »Jetzt leg dich auf ’n Bauch. Mein Kumpel hat dich in deine Fotze genagelt, jetzt besorg ich’s dir in ’n Arsch.«

Judy erstarrte. Sie saß da und konnte angesichts der widerlichen Szene und dieser obszönen Genitalien nur die Augen aufreißen und glotzen. Und dann übernahmen unzusammenhängende Befehle ihres Gehirns die Kontrolle; blitzschnell beugte sie sich vor, nahm einen Hoden in den Mund und ...

Er schrie wie ein kastriertes Walross.

... biss zu, bis sie den Hoden in ihrem Mund zerplatzen spürte. Seine Schreie gellten in ihren Ohren. In einem weiteren unbewussten Impuls lehnte sie sich zurück, zog ihre Knie bis zum Kinn hoch und stieß dann ihre Füße so fest sie konnte nach vorne. Ihre nackten Fersen trafen ihn an der Stirn.

Der Mann flog nach hinten und krachte auf den Boden.

Nicht aufhören! Nicht nachlassen! Sofort stürzte Judy sich auf den schreienden und wild um sich schlagenden Mann, in fiebriger Raserei griff sie gleichzeitig mit einer Hand nach seinem Hodensack und mit der anderen nach der Nachttischlampe.

»Ich bring dich um, ich bring dich um!«, tobte er undeutlich, aber dann wurde sein Wutgeschrei zu einem lauten Winseln, als sie den zweiten Hoden mit aller Kraft zusammenquetschte. Das Adrenalin verlieh ihr eine absurde Stärke. Er zuckte und schlug mit den Füßen aus, als das kleine Organ in ihrer Handfläche aufplatzte, und dann ...

ZACK, ZACK, ZACK!

... schlug sie ihm mit der anderen Hand mehrmals die Nachttischlampe auf den Kopf.

Sie schlug eine ganze Weile auf ihn ein.

Als sie damit fertig war – und der Mann augenscheinlich tot –, ließen die Impulse noch nicht nach. Sie stürzte ins Bad, dachte: Fingerabdrücke! und zog sich schnell ein Paar Gummihandschuhe über, dann riss sie eine Mülltüte aus der Spenderbox. Eine Sekunde später stülpte sie die Tüte über seinen Kopf. Sie riss eine Packung Strümpfe auf, schlang einen davon fachgerecht um seinen Hals und verschnürte ihn fest.

So, dachte sie und ließ sich rückwärts gegen den Kleiderschrank sinken. Sein Kopf war ein Stück vom Teppich entfernt auf dem nackten Boden gelandet und jetzt konnte er in die Mülltüte bluten. Mit Papiertüchern wischte sie das bisschen Blut auf, dass auf den Boden gespritzt war. Sie zog seine Hosen hoch, stopfte die Tücher hinein und schnallte seinen Gürtel wieder zu.

Und dann: Stille.

Nackt saß sie auf dem Bett und blickte auf ihn hinab. Die Plastiktüte bewegte sich nicht – keine Anzeichen von Atmung. Ja, er ist tot, das Schwein ist tot. Trotzdem beobachtete sie ihn weiter, viele Minuten lang. Für einen kurzen Moment bewegte sich die Tüte – und sie schrie auf –, aber dann hörte sie ein gedämpftes, feuchtes Klicken, das einen Augenblick später wieder aufhörte. Das Todesröcheln, dachte sie.

Und dann kam der nächste schrille Laut und wieder schrie sie und meinte, ihr Herz müsse explodieren – aber dann lachte sie atemlos, als ihr klar wurde, dass es ihr Handy war.

»Hi, Liebling«, sagte Seth, als sie dran ging. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich ohne Probleme in Tampa angekommen bin.«

»Oh, gut, gut«, sagte sie.

»Ich bin jetzt in der Firma und wir sind schon fleißig bei der Arbeit. Jimmy glaubt, das Problem vielleicht schon gefunden zu haben.«

Judy musste sich Mühe geben, nicht schwer zu atmen. »Tatsächlich? Was ist es denn?«

»Die Pixelcodes für die neuen Gegner sind falsch alloziert worden. Wir müssen sie nur neu allozieren.«

Normal klingen, normal klingen ... »Wie lange wird das dauern?«

»Mindestens einen Tag, vielleicht zwei.«

»Oh ... aber ... du fehlst mir.«

»Du fehlst mir auch, aber es geht leider nicht anders.«

»Ich weiß ...«

»Aber ich ruf dich heute Abend an und erzähl dir, wie’s vorangeht. Wie steht’s zu Hause?«

Judy fühlte sich, als wäre sie 1000 Kilometer weit weg. Sie betrachtete die magere Leiche auf dem Fußboden, die Tüte über ihrem Kopf. »Hier ist alles bestens, Liebling.«

»Wie geht’s dir? Du klingst ein bisschen ... angestrengt.«

Ich hab gerade ein Arschloch in unserem Schlafzimmer umgebracht – oh, und ich hab ihm eins seiner Eier abgebissen und das andere zermatscht, hörte sie sich schon sagen. Aber sie antwortete: »Ich war mit dem Fahrrad unterwegs.«

»Dann geht es dir wohl besser.«

Sie sah zu, wie die Mülltüte von innen rot wurde. »Ja, viel besser.«

»Gut, gut. Ich ruf dich später noch mal an. Mach dir einen schönen Abend.«

»Ich liebe dich!«, platzte sie heraus.

»Ich liebe dich auch«, erwiderte er mit einem leisen Lachen. »Und denk dran, dass du die Alarmanlage eingeschaltet lässt!« Dann legte er auf.

»Da kannst du dermaßen einen drauf lassen, dass ich diese Scheiß-Alarmanlage nie wieder ausschalten werde!«, murmelte sie. Aber ihr Blick ruhte unverwandt auf der schmuddeligen Leiche. Was jetzt? Die Polizei rufen? Nein, sie wusste bereits, dass sie das nicht tun würde.

Aber was sollte sie tun?

Ich warte bis heute Nacht, krächzten ihre Gedanken, und dann schleppe ich ihn tief, tief, tief in die Felder, wo dieser dreckige Hurensohn verrotten kann. Sie legte sich aufs Bett und stellte sich das groteske Bild vor: eine nackte Frau, die mit Gummihandschuhen auf dem Bett lag, davor eine stinkende Leiche mit einer Mülltüte über dem Kopf. Noch habe ich es nicht überstanden, dachte sie und rollte sich in Fötusstellung zusammen. Der hier war tot, aber da war immer noch der große Kahle, der sie im Keller vergewaltigt hatte; der würde sich sicher bald bei ihr melden. Und es geht nicht nur um mich. Sie wissen von Seth, haben gedroht, ihn auch umzubringen ...

Sie nickte entschlossen, während ihr der kalte Schweiß ausbrach. Wenn der Große kommt, um nach seinem Kumpel zu suchen, muss ich ihn auch töten ...

Und trotzdem ... Damit war das Problem noch nicht gelöst, nicht wahr? Ihr Unterbewusstsein schien sie bei den Ohren zu packen und ihren Blick zum Kissen zu lenken.

Dort lag die Tüte mit dem Crack.

Sie nahm sie in die Hand, starrte sie an, zählte zehn Kristalle. Seth wird noch einen oder zwei Tage brauchen, bis er nach Hause kommt. Ich kann das rauchen und dann endgültig damit aufhören ...

Und da war es wieder, ihr patentiertes Crackraucher-Versprechen, das Versprechen, das immer eine Lüge war. Sie hatte heute einen Stein weggeworfen, zusammen mit der Pfeife, aber jetzt blickte sie auf zehn Steine.

Sie schluchzte abgehackt, als sie sich hochstemmte und nach unten trottete, um nach etwas zu suchen, das sie als Crackpfeife benutzen konnte ...