Johanna Spyri




Vom This, der doch etwas wird

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-944869-54-4


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Kapitel 1 - Alle gegen einen



Wenn man den Seelisberg von der Rückseite her besteigt, kommt man auf eine frische, grüne Wiese. Man bekommt fast Lust, sich dort unter die friedlich weidenden Tiere zu mischen und auch einmal ein wenig von dem schönen, weichen Gras zu kosten. Die sauberen, wohlgenährten Kühe ziehen lieblich läutend immer hin und her. Denn jede trägt am Hals ihre Glocke, damit man immer hört, wo sie ist. So kann sich keine Kuh unbemerkt dorthin verlaufen, wo die von Sträuchern bedeckte Felswand liegt, über die sie hinunterstürzen könnte. Es ist außerdem ein ganzes Rudel Buben dort, die schon acht geben können. 

Aber die Glocken sind doch notwendig und tönen so freundlich hin und her, daß keiner sie entbehren möchte. Am Bergabhang stehen hie und da vereinzelt die kleinen, hölzernen Häuser, und nicht selten rauscht daneben ein schäumender Bach ins Tal hinab. 'Am Berghang' heißt es hier oben und mit Recht, denn nicht eines der Häuschen steht auf ebenem Boden. Es ist, als wären sie irgendwie an den Berg hingeworfen worden und da hängengeblieben. Man begreift gar nicht, wie sie da oben an den Hang hingebaut werden konnten. Vom Weg unten sehen sie alle gleich nett und freundlich aus mit den offenen Galerien und der kleinen, hölzernen Treppe am Haus. Steigt man aber hinauf und kommt in ihre Nähe, so sieht man, daß ein großer Unterschied zwischen ihnen ist. Gleich die zwei ersten am Hang sehen in der Nähe ganz verschieden aus. Sie stehen nicht weit voneinander, und zwischen ihnen stürzt der größte Bergbach der Gegend, der schäumende Schwemmebach, hinunter.

Am ersten Häuschen blieben auch an den schönsten Sommertagen alle die kleinen Fenster immer fest geschlossen, und die einzige Luft, die hineindrang, kam durch die Löcher der zerbrochenen Scheiben. Das war aber nicht viel, denn die Löcher waren wieder mit Papier verklebt, damit man im Winter drinnen nicht frieren mußte. An dem hölzernen Treppchen waren die Stufen alle halb abgebrochen. Und die Galerie war so zerfallen, daß es ein Wunder war, daß alle die kleinen Kinder, die da herumrutschten und stolperten, nicht Arme und Beine brachen. Sie hatten jedoch alle gesunde Glieder, aber recht unsaubere. Die Kinder waren alle mit Schmutz überdeckt, und ihre Haare hatten noch nie einen Kamm gesehen. Vier dieser kleinen Schlingel krochen den Tag über da herum, und am Abend kamen vier größere Kinder dazu. Drei kräftige Buben und ein Mädchen, die auch nicht besonders sauber und ordentlich aussahen, aber doch ein wenig besser als die Kleinen. Denn sie konnten sich doch schon selbst waschen.

Das Häuschen über dem Bach drüben hatte einen ganz anderen Charakter. Da sah es schon unten vor der kleinen Treppe so sauber und aufgeräumt aus, als sei der Erdboden ein ganz anderer als dort drüben. Die Stufen sahen immer so aus, als wären sie eben gescheuert worden. Und oben auf der Galerie standen drei schöne Nelkenstöcke und dufteten den ganzen Sommer lang ins Fenster hinein. Eines von den kleinen, hellen Fenstern stand offen und ließ die schöne, sonnige Bergluft herein. Dort konnte man meistens eine noch kräftig aussehende Frau sitzen sehen, mit schönem, weißem Haar, das sie sehr ordentlich unter das schwarze Häubchen zurückgestrichen hatte. Sie flickte gewöhnlich an einem Männerhemd aus grobem, festem Stoff, das aber immer sauber gewaschen war. 

Die Frau selbst sah auch in ihrem einfachen Gewand so adrett und reinlich aus, als wäre noch nie etwas Unsauberes an sie herangekommen. Es war Frau Vizenze, die Mutter des jungen Sennen, des fröhlichen Franz Anton mit den kräftigen Armen. Der machte den Sommer über in der oberen Sennhütte seine Käse, und erst im Spätherbst zog er wieder zur Mutter herunter, um den Winter bei ihr zu verbringen. Denn dann butterte er in der unteren Sennhütte, die ganz nahe lag. Da über den reißenden Schwemmebach kein Steg führte, waren die zwei Häuschen ganz getrennt. Und Frau Vizenze kannte Leute, die viel weiter weg wohnten, besser, als diese Nachbarn über dem Bach, zu denen sie nur etwa einmal am Tag stumm hinüberschaute. Gewöhnlich schüttelte sie dann in bedenklicher Weise den Kopf, wenn sie die schwarzen Gesichter und schmutzigen Fetzen drüben an den Kindern sah. Sie schaute aber nicht oft hinüber, denn der Anblick gefiel ihr nicht. Lieber betrachtete sie, wenn das Feierabendstündchen kam, ihre roten Nelken auf der Galerie oder sie schaute über den grünen, sonnigen Abhang hinunter, der vor ihrem Häuschen zum Tal hinabstieg.

Die verwilderten Kinder über dem Bach gehörten dem Hälmli-Sepp, wie er genannt wurde, der seine Arbeit außer Haus beim Holzfällen oder Heumachen suchte. Außerdem trug er auch Lasten den Berg hinauf. So war er meistens unten im Tal oder auf den Wegen in der Umgebung. Die Frau hatte genug daheim zu tun. Aber sie schien anzunehmen, so viele kleine Kinder könne man nicht in Ordnung halten, und später würde es dann von selbst besser. So ließ sie alles gehn, wie es ging. Und in der schönen, reinen Luft blieben sie auch alle gesund und munter und ließen sich's, auf dem Grasboden herumrutschend und krabbelnd, wohl sein. Zur Sommerzeit waren die vier Größeren den ganzen Tag draußen, um die Kühe zu hüten. Denn da geht es nicht zu wie auf den Hochalmen, wo die ganze Herde zusammen weidet und nur von einem oder zwei Hirten bewacht wird.