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Über die Autorin
Mirjam Pressler, (1940–2019), geboren in Darmstadt, studierte an der Hochschule für Bildende Künste in Frankfurt am Main und verbrachte ein Jahr in einem Kibbuz in Israel. Sie lebte als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in der Nähe von München. Für ihre Bücher wurde sie mit vielen Preisen ausgezeichnet. Bei Beltz & Gelberg erschienen zahlreiche ihrer Kinder- und Jugendbücher, u.a. Novemberkatzen, Bitterschokolade, Malka Mai, Für Isabel war es Liebe, Die Zeit der schlafenden Hunde, Golem stiller Bruder, Nathan und seine Kinder, Ein Buch für Hanna, Wer morgens lacht und Ich sehne mich so. Die Lebensgeschichte der Anne Frank. Für ihr Gesamtwerk wurde sie mit der Carl-Zuckmayer-Medaille und mit dem Deutschen Bücherpreis ausgezeichnet. Den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises erhielt sie sowohl für ihr Gesamtwerk als auch für ihre Arbeit als Übersetzerin.
Impressum
Dieses Buch ist erhältlich als:
ISBN 978-3-407-78293-9 Print
ISBN 978-3-407-74307-7 E-Book (EPUB)
© 1998 Gulliver
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
© 1994 Beltz & Gelberg
Neue Rechtschreibung
Einbandtypographie: Max Bartholl, b3K
Einbandbild: Eva Schöffmann-Davidov
Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza
Printed in Germany
14 15 16 17 22 21 20 19
Weitere Informationen zu unseren Autor_innen und Titeln
finden Sie unter: www.beltz.de
Wenn das Glück kommt, muss man ihm
einen Stuhl hinstellen
wurde mit dem
Deutschen Jugendliteraturpreis und mit dem
Zürcher Kinderbuchpreis
»La vache qui lit« ausgezeichnet.

1.
Wenn man nicht beißen kann,
soll man die Zähne nicht zeigen

Zwei Kartoffeln sind noch übrig. Sie sind fast weiß und glasig und haben schwärzliche Stellen, trotzdem hätte ich gern noch eine. Oder alle beide. Vorsichtig strecke ich die Hand aus. Da spüre ich auch schon den Tritt gegen mein Schienbein und einen Moment lang wird mir schwarz vor den Augen. Nicht weil es so wehtut, sondern vor Wut. Aber ich reiße mich zusammen und ziehe die Hand schnell zurück.
»Wenn man nicht beißen kann, soll man die Zähne nicht zeigen«, sagt Tante Lou immer. Duro ist nun mal zu groß für mich, da hat Beißen keinen Sinn. Sie ist schon vier zehn, nächste Ostern geht sie weg. Sie will nach dem Heim eine Lehre als Schneiderin anfangen, hat sie gesagt. Sie nimmt die Schüssel, lässt die beiden Kartoffeln auf ihren Teller rutschen und kippt dann den Rest Senfsoße darüber. Inge, am anderen Tischende, hat alles mitgekriegt. Sie zieht die Augenbrauen hoch und zuckt ganz leicht mit den Schultern.
Am Tisch nebenan steht Fräulein Urban auf und schwingt die Glocke, die immer neben ihrem Teller steht. Eine stumpfgelbe Messingglocke mit ziseliertem Blumenmuster und einem schwarzen Holzgriff. Unser Tisch ist sofort still, weil wir das Klingeln nicht überhören können. Ein Tisch nach dem anderen wird ruhig, bis auch die Letzten im Speisesaal den Mund halten.
»Alle herhören«, sagt Fräulein Urban. »Die Mädchen der Fünften und Sechsten kommen um halb zwei in den Handarbeitssaal. Alle!«
Renate, die Einzige aus unserem Zimmer, die bei mir am Tisch sitzt und auch in die Sechste geht, duckt sich neben mir. Ganz klein sieht sie plötzlich aus, als hätte Duro sie ebenfalls ans Schienbein getreten. Aber Renate würde nie den Versuch wagen, sich an den letzten Kartoffeln zu vergreifen.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, flüstere ich ihr zu. »Handarbeitssaal ist nicht schlimm. Da will sie nur mit allen etwas besprechen. Vielleicht machen wir ja einen Klassenausflug nach Amerika, eine Floßfahrt auf dem Mississippi.«
Renate findet das nicht komisch, sie lacht auch nicht. Vielleicht hat sie ja nie »Huckleberry Finn« gelesen. Sie zieht den Kopf noch tiefer zwischen die Schultern und ich ärgere mich, dass ich überhaupt etwas zu ihr gesagt habe. Und ich ärgere mich auch über sie. Ich habe ihr doch nichts tun wollen, ich doch nicht!
Von mir aus soll sie den Mund halten, so lange sie will. Ich dränge mich niemandem auf. Nie. Ein wichtiger Satz in meinem Gedankenbuch heißt: »Man sollte nie jemand anlachen, der vorher nicht wenigstens gelächelt hat.«
Ich habe heute weder Tischdienst noch Spüldienst, deshalb bin ich schon kurz vor eins in unserem Zimmer. Ich setze mich aufs Bett und fahre vorsichtig mit dem Finger über die Beule, die an meinem Schienbein wächst. Bestimmt habe ich bald einen blauen Fleck. Diese fette Kuh! Ich ziehe mir die Schuhe aus. Natürlich kriege ich den rechten Schuh nicht vom Fuß. Heute Morgen ist der blöde Schnürsenkel gerissen, zum dritten Mal, und ich habe ihn verknotet. Jetzt geht der Knoten nicht durch die Öse und ich muss ihn wieder aufnesteln. Das abgerissene Ende schiebe ich in den Schuh, dann lege ich mich aufs Bett.
Ganz fest drücke ich das Gesicht in meine schöne, rotbraune Tagesdecke und denke an Tante Lou. Ich denke immer nur an Tante Lou. An wen denn sonst? Es gibt Gedanken, die wehtun, bei denen mir übel wird. Solche Gedanken will ich nicht, die schiebe ich schnell weg. Gedanken an Tante Lou aber sind schön. Als würde mitten in einem Unwetter der Himmel aufreißen, so dass man einen Streifen blauen Himmel sieht. Einmal, als wir im Taunus waren, Tante Lou und ich, haben wir einen Regenbogen gesehen. Tante Lou ist ganz feierlich geworden und hat mir ein Lied vorgesungen, auf Polnisch. Ich habe nicht alles verstanden, aber es war schön. Unhörbar, nur in meinem Kopf, summe ich die Melodie vor mich hin.
Um halb zwei sagt Elisabeth: »Los, wir müssen gehen.« Ich streichle noch einmal unauffällig über meine Tagesdecke, dann stehe ich auf und gehe in den Handarbeitssaal. Den abgerissenen Schnürsenkel halte ich in der Hand.
Im Handarbeitssaal ist es voll. Alle sind da, alle Mädchen aus der Fünften und der Sechsten. Über dreißig. Sie sitzen auf Stühlen, Tischen und sogar auf den Fensterbänken. Es ist ziemlich laut. Auf einem Tisch an der Wand, neben der Tür zum Kofferspeicher, hockt Inge. Sie winkt mir zu und klopft mit der anderen Hand neben sich. Da ist noch ein Platz frei.
Auf der großen Platte zum Zuschneiden stehen drei Pappkartons. Fräulein Urban hat die Hände darauf gelegt und wartet, dass endlich alle still sind.
»Vielleicht haben wir Care-Pakete aus Amerika bekommen«, flüstert Inge. »Stell dir vor, Halinka, Care-Pakete mit Schokolade und Erdnussbutter.«
»Es gibt keine Care-Pakete mehr«, flüstere ich zurück. »Schon lang nicht mehr.«
Inge zuckt mit den Schultern. »Vielleicht passiert ja ein Wunder, wer weiß.«
In meinem Gedankenbuch steht: »Man sollte nie auf Wunder hoffen, es sei denn, man kann sich drauf verlassen, dass sie wirklich eintreten.« Diesen Satz habe ich damals aufgeschrieben, als Tante Lou zum zweiten Mal zu meinem Vormund gegangen ist und mich wieder nicht gekriegt hat. Dabei war sie so sicher gewesen, weil sie doch eine feste Arbeitsstelle gefunden hatte.
Fräulein Urban hebt eine Hand. »Ruhe!«, ruft sie. »Hört mal alle her! Ich habe einen tollen Vorschlag für euch!« Inge rutscht etwas näher zu mir und sagt leise: »Von wegen toll! Wenn die einen Vorschlag hat, kann er nur saublöd sein.«
Inge kann Fräulein Urban nicht leiden. Ich glaube, sie trauert immer noch Frau Maurer nach, der Leiterin vom Kinderheim Hildegardis, in dem wir beide früher gewesen sind. Mir gefällt Fräulein Urban besser, wenn man da überhaupt von gefallen sprechen kann. Zumindest fragt sie nicht dauernd, was man denkt, und sie will einen auch nicht ständig in den Arm nehmen und küssen.
Fräulein Urban klatscht jetzt ein paar Mal in die Hände und alle werden still. Sie erzählt uns von einem Verein, der »Müttergenesungswerk« heißt. Den hat Frau Elly Heuss-Knapp gegründet, die Frau unseres Bundespräsidenten. 1950, also vor zwei Jahren. Von dieser Frau Heuss-Knapp habe ich nie gehört, doch der Name Theodor Heuss kommt mir bekannt vor, wahrscheinlich vom Radio, aber was genau ein Bundespräsident ist, weiß ich nicht. Fräulein Urban sagt, diese Frau Heuss-Knapp sei eine gute Frau und klug und mildtätig. Und wir sollten für das Müttergenesungswerk Geld sammeln, sagt sie, damit die armen Mütter genesen können und damit Frau Heuss-Knapp sich freut.
»Was heißt das, genesen?«, fragt Inge.
Fräulein Urban erklärt ihr, was das heißt, nämlich gesund werden. Ich weiß das, denn ich war schon mal in so einem Heim. Das nennt man auch Sanatorium und dort bekommt man jeden Tag dick Butter aufs Brot und viel Milch zu trinken und nach dem Mittagessen muss man stundenlang gut eingepackt in einem Liegestuhl im Freien liegen, sogar wenn’s kalt ist. Mir hat es in dem Heim nicht gefallen, weil ich niemanden gekannt habe, außer Hannelore, aber die ist bald gestorben. Genesen bin ich trotzdem. Kein Wunder bei so viel Butter! Und außerdem hat mich Tante Lou einmal im Monat besucht. Fast ein halbes Jahr war ich dort. Und vor zwei Jahren, als Frau Heuss-Knapp – wieso hat sie eigentlich zwei Nachnamen? – dieses Dingsbums gegründet hat, bin ich gerade ins Heim gekommen. Nicht in dieses, sondern ins Kinderheim Hildegardis, zu den Kleinen. In dieses hier bin ich erst letztes Jahr nach den Osterferien gekommen, zusammen mit einer ganzen Gruppe aus dem früheren. Wie lange ich noch bleiben muss, weiß niemand. Wenn ich Glück habe, findet Tante Lou einen Mann zum Heiraten. Sonst kann es noch Jahre dauern. Daran will ich lieber nicht denken. Das kann ich mir nicht vorstellen und das will ich mir auch nicht vorstellen.
Ich schaue aus dem Fenster, über die Köpfe von Susanne, Claudia und der Neuen aus der Fünften hinweg, deren Gesichter ich gegen die Helligkeit draußen kaum erkennen kann, nur dunkle, verschwommene Flecken. Der Himmel hinter ihnen ist blau mit ein paar weißen Wolken und nur noch der Wipfel der großen Kastanie im Schulhof ist zu sehen.
»Die Mütter sollen allein in ihr Genesungsheim fahren«, sagt Fräulein Urban, »ohne Kinder, damit sie die Verantwortung einmal los sind. Denn Mütter mit mehreren Kindern sind alle überlastet und müssen viel zu viel arbeiten.« »Für unsere Mütter hat sie dieses Dingsheim da aber nicht gegründet«, sagt die Neue aus der Fünften. »Für unsere Mütter nicht.«
»Halt den Mund«, sagt Susanne laut. Sie hat keine Mutter mehr.
»Eure Mütter sind etwas anderes«, sagt Fräulein Urban. »Aber stellt euch zum Beispiel mal eine Mutter mit fünf kleinen Kindern vor, die von morgens bis abends rennt und macht und tut und für ihre Kinder kocht und wäscht, die braucht dann doch mal Erholung, damit sie nicht zusammenbricht.«
Ich kann mir keine Mutter vorstellen, die den ganzen Tag kocht und wäscht, geschweige denn, dass sie von morgens bis abends macht und tut, was immer das heißen mag. Solche Mütter kenne ich nicht. Eigentlich kenne ich überhaupt nicht viele Mütter, nur meine, und die würde ich, um die Wahrheit zu sagen, lieber nicht kennen. »Halt den Mund«, schimpft Tante Lou, wenn ich so etwas sage. »Deine Mutter hat viel Schweres mitgemacht und es einfach nicht verkraftet.« Was das Schwere ist, sagt sie aber nie. »Warum benimmt sie sich dann so gemein, wenn sie doch genau weiß, wie das ist?«, habe ich einmal gefragt. Tante Lou hat mich auf ihren Schoß gezogen und mich gestreichelt, und geweint hat sie auch ein bisschen. Dann hat sie gesagt: »Deine Mutter hat eine kranke Seele. Schläge treffen nicht nur von außen, Halinkale, die gehen tiefer, die treffen auch die Seele. Wenn jemand Schlimmes und Grausames erlebt, dann wird er dadurch nicht automatisch ein besserer Mensch. Genauso gut kann es sein, dass er selbst schlimm und grausam wird.« Mehr hat sie aber nicht sagen wollen.
Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich bin mir nicht sicher, ob Tante Lou Recht hat. Es könnte sein. Schließlich ist sie erwachsen und ich nicht. Trotzdem kann ich mir jetzt schon meine eigenen Gedanken machen. Und wenn ich es mir genau überlege, finde ich es umgekehrt richtiger: Wenn jemand selbst erlebt hat, dass Schläge auch die Seele treffen, dann darf er andere erst recht nicht schlagen. »Wer sich fünf Kinder anschafft, ist selber schuld«, sagt Inge giftig. »Ich will überhaupt keine Kinder.«
Ich weiß nicht, ob ich Kinder will, und wenn, dann nur zwei. Meine Mutter hat bloß mich und sie hat nie den ganzen Tag getan und gemacht. Was sie jetzt so tut, weiß ich nicht. Geht mich ja auch nichts an. Jetzt nicht mehr. Für mich gekocht hat sie jedenfalls selten, als ich noch bei ihr war. Das hat auch die Frau von der Fürsorge gesagt.
»Sie kümmert sich nicht um das Kind«, hat sie gesagt, »man muss ihr das Sorgerecht nehmen. Sie lässt das Kind verwahrlosen.«
Es gibt Wörter, bei denen ich Bauchweh kriege und fast weinen muss. Einfach so. Egal, um was es wirklich geht. Das Wort »verwahrlosen« gehört dazu. Ich hebe unauffällig die Hand zum Mund und beiße mir fest in den Daumenballen. Das hilft immer, wenn ich schnell an etwas anderes denken will.
Fräulein Urban redet weiter. »Es ist in der Tat ein gutes Werk«, sagt sie, »und es lohnt sich, wenn man sich dafür einsetzt. Deswegen sollten sich möglichst viele von euch freiwillig zum Sammeln melden. Also, wer will mitmachen?«
Tante Lou hat keine Kinder. Vielleicht kriegt sie noch welche, jetzt, wo sie Uncle Sam Silver hat. Nein, hoffentlich nicht. Ich will nicht, dass sie eigene Kinder hat. Es könnte ja sein, dass sie dann keine Zeit mehr hat, an mich zu denken, wenn sie den ganzen Tag tun und machen muss.
Es wird laut, alle reden durcheinander. »Meine Mutter braucht kein Müttergenesungswerk«, sagt Inge zu mir. »Die liegt jeden Tag bis mittags im Bett, jedenfalls hat sie das früher immer gemacht. Und deine?«
Ich kann mich nicht mehr erinnern, bis wann meine Mutter morgens im Bett gelegen hat. Ich weiß nur, dass ich abends immer lange warten musste, bis sie endlich eingeschlafen war. Dann konnte mir nichts mehr passieren. Aber das geht Inge nichts an. Das geht keinen was an.
Ich verstehe Inge nicht. Sie sagt immer, was ihr gerade einfällt. Einfach so, ohne jede Vorsicht. Und einmal, als Duro gesagt hat: »Deine Mutter ist eine Amihure«, da hat sie geantwortet: »Stimmt, aber was kann ich dafür? Glaubst du etwa, dass mir das gefällt?« Inge gehört wirklich zu den eigenartigsten Mädchen im Heim. Bei ihr weiß ich nie, ob ich sie gut finden soll oder blöd.
Ich gebe ihr jedenfalls keine Antwort.
Ich will nicht an meine Mutter denken, lieber an Tante Lou. Und falls die jemals fünf Kinder hat und viel arbeiten muss, dann möchte ich schon, dass sie sich erholt. Natürlich möchte ich das. Deswegen melde ich mich dann doch. Als Erste. »Ich will sammeln.«
»Klar«, flüstert Elisabeth so laut, dass alle es hören können. »Den Zigeunern liegt das Betteln im Blut, das weiß doch jeder.«
Ein paar Mädchen kichern. Fräulein Urban bekommt eine Falte zwischen den Augenbrauen, aber sie tut, als hätte sie nichts gehört. Ich lasse mir auch nicht anmerken, dass ich es gehört habe. Das ist das Beste. Soll ich etwa sagen, dass wir gar keine Zigeuner sind, sondern Juden? Lieber nicht. Ich glaube, Juden sind noch schlimmer als Zigeuner. Ich senke den Kopf und knote den abgerissenen Schnürsenkel wieder fest. Das ist gar nicht so einfach. Ich muss die beiden Enden eine Öse tiefer zusammenknoten, damit ich den Schuh später wieder ausziehen kann. Jetzt lässt sich allerdings keine Schleife mehr binden, es reicht nur noch zu einem Knoten.
»Wer hinterher am meisten Geld in der Büchse hat, bekommt einen Preis«, sagt Fräulein Urban.
»Was für einen Preis?«, fragt Inge.
»Eine Überraschung. Die Ortsvorsitzende des Müttergenesungswerks hat einen Preis gestiftet.«
Das wirkt. jetzt melden sich auch andere Freiwillige.
Inge mag trotzdem nicht sammeln, auch nicht für einen Preis. »Ich lass mich nicht zum Betteln schicken«, sagt sie mit bösem Gesicht. »Deswegen bin ich schließlich ins Heim gekommen, damit mich meine Mutter nicht mehr zum Betteln schicken kann.«
»Das hier ist kein Betteln«, sagt Fräulein Urban, »das ist Spendensammeln. Für einen guten Zweck. Und außerdem musst du ja nicht mitmachen. Es handelt sich um eine freiwillige Aktion. Aber wenn du nicht sammelst, kannst du natürlich auch keinen Preis gewinnen.«
Sie redet noch eine ganze Weile über Frau Heuss-Knapp und das Müttergenesungswerk und was für eine gute und löbliche Sache das sei, und dann sagt sie endlich: »Wer sich zum Sammeln gemeldet hat, bleibt bitte hier. Die anderen können in ihr Zimmer gehen. Aber nicht zu viel Lärm machen, schließlich ist noch Mittagsruhe.«
Fünfzehn Mädchen bleiben übrig. Aus unserem Zimmer nur ich und Elisabeth. Natürlich. Renate ist beinahe stumm und sagt nur das Allernötigste, Dorothea geht fast nie raus, weil sie sich nicht von fremden Leuten anstarren lassen will, Rosemarie ist zu faul für alles, Jutta hasst jede Art von Unternehmungen mit mehr als zwei Leuten und Susanne würde »anderen« nie im Leben einen Gefallen tun, auch wenn sie was dafür bekäme. »Andere« sind für sie alle Erwachsenen und Nichtheimkinder. Auf die hat sie einen Hass, sagt sie. Uns tut sie allerdings auch nur selten einen Gefallen. Warum sie so ist, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat sie ihre Gründe dafür. Richtig gemein ist sie aber nicht. Wenn man sie in Ruhe lässt, lässt sie einen auch in Ruhe. Susanne war schon mit mir im Hildegardis, aber damals waren wir nicht im selben Zimmer. Sie hat noch eine kleine Schwester dort, die sie alle vier Wochen besuchen darf.
Jetzt macht Fräulein Urban die Pappkartons auf. Sammelbüchsen sind darin. Jede von uns bekommt eine. Weil sich weniger Mädchen gemeldet haben, als Fräulein Urban erwartet hat, bleibt einer der Kartons zu.
Die Büchsen sind aus Metall, haben einen Griff und im Deckel einen Schlitz, in den man das Geld werfen kann. Der gewölbte Deckel ist verplombt, damit man ihn nicht aufmachen kann. Klar, wer gibt schon Mädchen aus dem Heim offene Sammelbüchsen? Ich hätte die Dinger sogar mit einem Vorhängeschloss gesichert. Die Büchsen sind knallrot und mit schwarzen Buchstaben steht »Müttergenesungswerk« darauf.
»Gesammelt wird heute und morgen«, sagt Fräulein Urban. »Am Samstag Morgen werden die Büchsen abgeholt. Ihr habt für diese zwei Tage von halb drei bis fünf Ausgang, Herr Breitkopf weiß Bescheid. Übrigens, ihr könnt überall sammeln, in Häusern oder auf der Straße, wo ihr wollt. Ich wünsche euch viel Erfolg. Und dass ihr euch ordentlich benehmt! Dass mir keine Klagen kommen!«

2.
Fünf Minuten im Garten Eden sind besser
als ein ganzes Leben in der Hölle

Ich ziehe allein los, die anderen gehen zu zweit oder zu dritt. Ich wäre sowieso mit keiner gegangen, aber es hat mich auch niemand gefragt.
Herr Breitkopf, der Hausmeister, hat uns das Tor aufgeschlossen. Sein Name passt überhaupt nicht zu ihm. Er ist klein, jedenfalls für einen Mann, und sein Kopf ist so schmal, dass die Augen aus lauter Platzmangel ganz eng zusammenstehen. Aber seine Schultern sind breit. Er ist nicht nur der Hausmeister vom Heim und von der Schule, sondern auch der Sportwart des Hallenturnvereins. Dienstags abends trainieren sie immer in unserer Halle, ein paar Mädchen aus dem Heim gehen regelmäßig hin. Ich war auch mal dort, weil Herr Sauer, unser Turnlehrer, gesagt hat, es würde mir vielleicht Spaß machen. Hat es aber nicht. Erstens mag ich Geräteturnen nicht so gern und zweitens war Herr Breitkopf viel zu zackig, mit Trillerpfeife und so. Herr Breitkopf und seine Frau haben eine Wohnung im Souterrain. Frau Breitkopf ist für den Spüldienst zuständig, deshalb können wir sie alle nicht leiden. Spüldienst ist der schlimmste Dienst im Heim.
Die Sonne scheint und zwei Häuser weiter bellt ein Hund. Ich habe ihn noch nie gesehen, immer nur gehört. Manchmal bellt er sogar noch spät abends, wenn wir schon im Bett liegen. Auch diesmal sehe ich ihn nicht, er kläfft hinter der verschlossenen Haustür. Groß und schwarz und ein bisschen unheimlich stelle ich mir den Hund vor, weil er eine laute, tiefe Stimme hat.
Ich hätte gerne einen Hund. Nicht so einen kleinen Kläffer wie der Hund von Tante Lous Hauswirtin, der jeden anbellt, der in die Wohnung kommt, sondern einen großen, wilden, schwarzen, unheimlichen Hund, der glühende Augen und ein gesträubtes Fell bekommt, wenn mich jemand schlagen will. Ich müsste nur »Fass!« sagen und schon würde er zubeißen. So einen Hund könnte es wirklich geben, jedenfalls eher als den Knüppel-aus-dem-Sack. Dieses Märchen gefällt mir trotzdem sehr gut. Einen Esel-streck-dich kann ich mir zwar nicht vorstellen, alles andere aber sehr gut. Manchmal wünsche ich mir ein Tischlein-deck-dich und manchmal den Knüppel-aus-dem-Sack. Ich wüsste viele, auf die ich meinen Knüppel loslassen würde. Auf Duro natürlich, aber vor allem gegen Elisabeth. Vielleicht müsste der Knüppel sie sogar so lange schlagen, bis sie tot wäre. Aber so was darf man noch nicht mal denken, sonst bekommt man eine schwarze Seele. Tante Lou sagt, man muss auf sein Herz und seine Seele aufpassen, weil die wichtiger sind als alles andere. Die hat gut reden.
Ein alter Mann kommt mir entgegen. Ich halte ihm meine Büchse hin.
»Was soll denn das?«, fragt er.
»Für das Müttergenesungswerk«, sage ich und erkläre ihm die Sache mit den armen Müttern, die sich unbedingt mal erholen müssen, und dass Frau Elly Heuss-Knapp, die Frau unseres Bundespräsidenten, ihnen dabei helfen wird. Allerdings nur, wenn genügend Menschen mit gutem Herzen etwas spenden. Die Mütter würden dann in spezielle Heime kommen, ohne die Sorge um ihre vielen Kinder. Ich spreche langsam und deutlich und stottere überhaupt nicht, obwohl ich das alles doch zum ersten Mal erzähle.
»Ich habe auch immer gearbeitet«, sagt der Mann mürrisch. »Und erholt habe ich mich nur ein einziges Mal, im Krankenhaus, als ich an meinem Leistenbruch operiert worden bin. Lass mich doch mit so was in Ruhe.«
Ich lasse ihn in Ruhe. Aber nach ein paar Schritten drehe ich mich um und schreie ihm nach: »Denken Sie doch mal an Ihre eigene Mutter! Was die immer für Sie gewaschen und gekocht hat! Und dabei waren Sie bestimmt ein ganz ekelhaftes Kind!«
Er hebt drohend die Faust. Ich drücke die Büchse fester an mich und renne die ganze Strecke bis zum Bahnhof. Atemlos komme ich an. Am Bahnhofsplatz sind nicht so viele Leute, wie ich gedacht habe. Aber im Moment ist mir das egal. Ich gehe in die Halle hinein und bleibe vor der Tafel mit den Abfahrtszeiten der Züge stehen. Dabei weiß ich auswendig, wann samstags Züge zu Tante Lou fahren. Um 14.27 Uhr und um 19.48 Uhr. Es gibt auch noch einen um 17.15 Uhr, aber der fährt nur werktags außer Samstag.
Als ich aus dem Bahnhofsgebäude komme, hat sich der Himmel plötzlich bezogen. Drüben biegen Claudia und die Neue aus der Fünften um die Ecke. Beide schlenkern ihre roten Sammelbüchsen. Neben ihnen geht Susanne, ohne Büchse. Wie hat sie es geschafft, aus dem Heim zu kommen, ohne dass sie sich zum Sammeln gemeldet hat? Und warum geht sie überhaupt mit? Vermutlich hat sie nur die günstige Gelegenheit für einen zusätzlichen Ausgang genutzt. Wenn sie erwischt wird, bekommt sie wieder Pfortendienst. Na ja, das geht mich alles nichts an. Aber treffen möchte ich sie nicht. Deshalb laufe ich schnell die Wilhelmstraße hinauf bis zur großen Kreuzung. Dort gibt es ein paar Läden. Auf der einen Seite der Straße eine Bäckerei und eine Metzgerei, und gegenüber, in einem halb zerbombten Haus, ein Kleidergeschäft. Vor der Metzgerei riecht es verlockend nach Wurst. Ich stelle mich neben den Eingang und halte den Leuten meine Büchse unter die Nase. »Für das Müttergenesungswerk«, sage ich. »Für die vielen Mütter, die dringend eine Erholung brauchen und einfach kein Geld haben. Die sich keine Ferien leisten können. Denken Sie doch nur an Ihre eigene Mutter.«
Eine Frau sagt: »Da brauche ich nur an mich selbst zu denken, ich kann mir auch keine Ferien leisten.« Trotzdem zieht sie ihr Portemonnaie heraus und steckt mir einen Groschen in die Büchse. Das Geldstück scheppert laut. Mein erstes Geld! Ich sage so freundlich »Danke«, wie ich kann. Sie hat nämlich bestimmt nichts mehr vom Müttergenesungswerk, sie ist zu alt für kleine Kinder.
Mir wird schlecht von dem Geruch nach Wurst. Schlecht vor Hunger. Warum muss immer Duro die letzten Kartoffeln kriegen? Die ist doch sowieso viel dicker als ich. Ich lehne mich an die Hauswand und versuche mir einzubilden, dass es hier nicht nach Wurst riecht, sondern nach gerösteter Grießsuppe. Die kann ich nämlich nicht ausstehen. Wenn ich geröstete Grießsuppe bloß rieche, vergeht mir sofort der Appetit. Seltsamerweise fällt mir jetzt absolut nicht ein, wie geröstete Grießsuppe riecht. Zum Glück isst Inge geröstete Grießsuppe besonders gern und tauscht jedes Mal meinen Teller Suppe gegen eine halbe Portion Margarine vom nächsten Frühstück.
Eigentlich sollte ich weggehen und mir einen anderen Platz suchen, aber ich kann es nicht. Der Wurstgeruch hält mich fest, als hätte er Hände. In Büchern steht manchmal, jemand wäre gefesselt von etwas. Ich – ich bin gefesselt von dem Geruch der Wurst. Drinnen in der Metzgerei höre ich die Stimme der Verkäuferin: »Was darf’s denn sein?« Sie hat eine unangenehme Stimme, ziemlich schrill und durchdringend. Jedenfalls ist nur sie zu hören, während ich die Antworten der Kunden nicht verstehe. Die sind nur ein Murmeln. »Was darf’s denn sein?«
Ein Kasseler Rippchen, würde ich sagen, und zwar schön groß und dick. Kasseler Rippchen habe ich erst einmal in meinem Leben gegessen. Und damals konnte ich es noch nicht mal richtig genießen, das war nämlich auf der Fahrt vom Sanatorium zum Kinderheim Hildegardis, mit der Frau von der Fürsorge. Ich hatte solche Angst vor dem Heim, dass ich fast nichts runterbrachte. Aber den Namen habe ich mir gemerkt. Ob Nichtheimkinder oft Kasseler Rippchen bekommen? Keine Ahnung, ich weiß nicht, wie sie leben. »Das Kind kennt keine normalen Familienverhältnisse«, hat die Frau von der Fürsorge zum Richter gesagt.
Geldstücke fallen in meine Büchse. Allmählich klingt das Scheppern schon dumpfer, der Boden der Büchse muss jetzt bedeckt sein. Viele Leute geben mir was. Ich habe inzwischen den Trick raus. Ich ziehe meine Backen ein bisschen zwischen die Zähne, reiße die Augen weit auf und schiebe die Schultern etwas höher. Man muss richtig armselig und bedauernswert aussehen, damit die Leute Mitleid bekommen. Dann geben sie eher was. Besonders Mütter mit hübsch angezogenen Kindern werfen schnell eine oder zwei Münzen in meine Büchse, dann ziehen sie ihre Kinder von mir weg, als könnten die sich bei mir anstecken. Früher habe ich auch manchmal gebettelt, wenn ich Hunger hatte, aber da haben mich die Leute oft weggejagt. Jetzt kann mich keiner wegjagen, jetzt habe ich die Büchse in der Hand. Ich tue ein gutes Werk. Schaut nur her, ihr anderen! Ihr könntet euch ein Beispiel an mir nehmen!
Der Platz neben der Metzgerei ist gut, weil sehr viele Leute Fleisch und Wurst kaufen. Immer wieder höre ich die Frau hinter der Theke fragen: »Was darf’s denn sein? Darf’s sonst noch was sein?«