Johanna Spyri




Heidi kann brauchen, was es gelernt hat

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-944869-48-3


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Kapitel 1 - Reisezurüstungen



Der freundliche Herr Doktor, der den Entscheid gegeben hatte, daß das Kind Heidi wieder in seine Heimat zurückgebracht werden sollte, ging eben durch die breite Straße dem Hause Sesemann zu. Es war ein sonniger Septembermorgen, so licht und lieblich, daß man hätte denken können, alle Menschen müßten sich darüber freuen. Aber der Herr Doktor schaute auf die weißen Steine zu seinen Füßen, so daß er den blauen Himmel über sich nicht einmal bemerken konnte. Es lag eine Traurigkeit auf seinem Gesichte, die man vorher nie da gesehen hatte, und seine Haare waren viel grauer geworden seit dem Frühjahr. Der Doktor hatte eine einzige Tochter gehabt, mit der er seit dem Tode seiner Frau sehr nahe zusammen gelebt hatte und die seine ganze Freude gewesen war. Vor einigen Monaten war ihm das blühende Mädchen durch den Tod entrissen worden. Seither sah man den Herrn Doktor nie mehr so recht fröhlich, wie er vorher fast immer gewesen war.

Auf den Zug an der Hausglocke öffnete Sebastian mit großer Zuvorkommenheit die Eingangstür und machte gleich alle Bewegungen eines ergebenen Dieners; denn der Herr Doktor war nicht nur der erste Freund des Hausherrn und dessen Töchterchen, durch seine Freundlichkeit hatte er sich, wie überall, die sämtlichen Hausbewohner zu guten Freunden gemacht.

"Alles beim alten, Sebastian?" fragte der Herr Doktor wie gewohnt mit freundlicher Stimme und ging die Treppe hinauf, gefolgt von Sebastian, der nicht aufhörte, allerlei Zeichen der Ergebenheit zu machen, obschon der Herr Doktor sie eigentlich nicht sehen konnte, denn er kehrte dem Nachfolgenden den Rücken.

"Gut, daß du kommst, Doktor", rief Herr Sesemann dem Eintretenden entgegen. "Wir müssen durchaus noch einmal die Schweizerreise besprechen, ich muß von dir hören, ob du unter allen Umständen bei deinem Ausspruche bleibst, auch nachdem nun bei Klärchen entschieden ein besserer Zustand eingetreten ist."

"Mein lieber Sesemann, wie kommst du mir denn vor?" entgegnete der Angekommene, indem er sich zu seinem Freunde hinsetzte. "Ich möchte wirklich wünschen, daß deine Mutter hier wäre; mit der wird alles gleich klar und einfach und kommt ins rechte Geleise. Mit dir aber ist ja kein Fertigwerden. Du lässest mich heute zum dritten Male zu dir kommen, damit ich dir immer noch einmal dasselbe sage. -

"Ja, du hast recht, die Sache muß dich ungeduldig machen, aber du mußt doch begreifen, lieber Freund" - und Herr Sesemann legte seine Hand wie bittend auf die Schulter seines Freundes -, "es wird mir gar zu schwer, dem Kinde zu versagen, was ich ihm so bestimmt versprochen hatte und worauf es sich nun monatelang Tag und Nacht gefreut hat. Auch diese letzte schlimme Zeit hat das Kind so geduldig ertragen, immer in der Hoffnung, daß die Schweizerreise nahe sei und daß es seine Freundin Heidi auf der Alp besuchen könne; und nun soll ich dem guten Kinde, das ja sonst schon so vieles entbehren muß, die langgenährte Hoffnung mit einemmal wieder durchstreichen - das ist mir fast nicht möglich."

"Sesemann, das muß sein", sagte sehr bestimmt der Herr Doktor, und als sein Freund stillschweigend und niedergeschlagen dasaß, fuhr er nach einer Weile fort: "Bedenke doch, wie die Sache steht. Klara hat seit Jahren keinen so schlimmen Sommer gehabt, wie dieser letzte war. Von einer so großen Reise kann keine Rede sein, ohne daß wir die schlimmsten Folgen zu befürchten hätten. Dazu sind wir nun in den September eingetreten, da kann es ja noch schön sein oben auf der Alp, es kann aber auch schon sehr kühl werden. Die Tage sind nicht mehr lang, und oben bleiben und da die Nächte zubringen kann Klara doch nun gar nicht. So hätte sie kaum ein paar Stunden oben zu verweilen. Der Weg von Bad Ragaz dort hinauf muß ja schon mehrere Stunden dauern, denn zur Alp hinauf muß sie entschieden im Sessel getragen werden. Kurz, Sesemann, es kann nicht sein! Aber ich will mit dir hineingehen und mit Klara reden, sie ist ja ein vernünftiges Mädchen, ich will ihr meinen Plan mitteilen. Im kommenden Mai soll sie erst nach Ragaz hinkommen; dort soll eine längere Badekur unternommen werden, so lange, bis es hübsch warm wird oben auf der Alp. Dann kann sie dort von Zeit zu Zeit hinaufgetragen werden, da wird sie diese Bergpartien erfrischt und gestärkt, wie sie dann sein wird, ganz anders genießen, als es jetzt geschähe. Du begreifst auch, Sesemann, wenn wir noch eine leise Hoffnung für den Zustand deines Kindes aufrechterhalten wollen, so haben wir die äußerste Schonung und die sorgfältigste Behandlung zu beobachten."

Herr Sesemann, der bis dahin schweigend und mit dem Ausdrucke trauriger Ergebung zugehört hatte, fuhr jetzt auf einmal empor:

"Doktor", rief er aus, "sag es mir ehrlich: Hast du wirklich noch Hoffnung auf eine Änderung dieses Zustandes?"

Der Herr Doktor zuckte die Achseln. "Wenig", sagte er halblaut. "Aber komm, denk einmal einen Augenblick an mich, lieber Freund! Hast du nicht ein liebes Kind, das nach dir verlangt und sich auf deine Heimkehr freut, wenn du weg bist? Nie mußt du in ein verödetes Haus zurückkehren und dich allein an deinen Tisch hinsetzen. Und dein Kind hat's auch gut daheim. Muß es auch vieles entbehren, was andere genießen können, so ist es in manch anderem auch vor vielen bevorzugt. Nein, Sesemann, ihr seid nicht so sehr zu beklagen, ihr habt es doch recht gut, so zusammenzusein; denk an mein einsames Haus!"

Herr Sesemann war aufgestanden und ging nun mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, wie er immer zu tun pflegte, wenn ihn irgendeine Sache stark beschäftigte. Auf einmal stand er vor seinem Freunde still und klopfte ihm auf die Schulter.

"Doktor, ich habe einen Gedanken: Ich kann dich nicht so sehen, du bist ja gar nicht mehr der alte. Du mußt ein wenig aus dir heraus, und weißt du, wie? Du sollst die Reise unternehmen und das Kind Heidi auf seiner Alp besuchen in unser aller Namen."

Der Herr Doktor war sehr überrascht von dem Vorschlage und wollte sich dagegen wehren, aber Herr Sesemann ließ ihm keine Zeit. Er war so erfreut und erfüllt von seiner neuen Idee, daß er den Freund unter den Arm faßte und nach dem Zimmer seines Töchterchens hinüberzog. Der gute Herr Doktor war für die kranke Klara immer eine erfreuliche Erscheinung, denn er hatte sie von jeher mit einer großen Freundlichkeit behandelt und ihr jedesmal, wenn er kam, etwas Lustiges und Erheiterndes zu erzählen gewußt. Warum er das jetzt nicht mehr konnte, wußte sie wohl und hätte so gern ihn wieder froh gemacht. Sie streckte ihm gleich die Hand entgegen, und er setzte sich zu ihr hin. Herr Sesemann rückte seinen Stuhl auch heran, und indem er Klara bei der Hand faßte, fing er an von der Schweizerreise zu reden und wie er sich selbst darauf gefreut hatte. Über den Hauptpunkt aber, daß sie nun unmöglich mehr stattfinden könnte, glitt er eilig hinweg, denn er fürchtete sich ein wenig vor den kommenden Tränen. Dann ging er schnell auf den neuen Gedanken über und machte Klara darauf aufmerksam, wie wohltätig es für ihren guten Freund wäre, wenn er diese Erholungsreise unternehmen würde.

Die Tränen waren wirklich aufgestiegen und schwammen in den blauen Augen, wie sehr sich auch Klara Mühe gab, sie niederzudrücken, denn sie wußte, wie ungern der Papa sie weinen sah. Aber es war auch hart, daß nun alles aus sein sollte, und den ganzen Sommer hindurch war die Aussicht auf die Reise zum Heidi ihre einzige Freude und ihr Trost gewesen in all den langen, einsamen Stunden, die sie durchlebt hatte. Aber Klara war nicht gewohnt zu markten, sie wußte recht gut, daß der Papa ihr nur versagte, was zum Bösen führen würde und darum nicht sein durfte. Sie schluckte ihre Tränen hinunter und wandte sich nun der einzigen Hoffnung zu, die ihr blieb. Sie nahm die Hand ihres guten Freundes und streichelte sie und bat flehentlich:

"O bitte, Herr Doktor, nicht wahr, Sie gehen zum Heidi, und dann kommen Sie, um mir alles zu erzählen, wie es ist dort oben und was das Heidi macht und der Großvater und der Peter und die Geißen, ich kenne sie alle so gut! Und dann nehmen Sie mit, was ich dem Heidi schicken will, ich habe schon alles ausgedacht und auch etwas für die Großmutter. Bitte, Herr Doktor, tun Sie's doch; ich will auch gewiß unterdessen Fischtran nehmen, soviel Sie nur wollen."

Ob dieses Versprechen der Sache den Ausschlag gab, kann man nicht wissen, aber es ist anzunehmen, denn der Herr Doktor lächelte und sagte: "Dann muß ich ja wohl gehen, Klärchen, so wirst du uns einmal rund und fest, wie wir dich haben wollen, Papa und ich. Und wann muß ich denn reisen, hast du das schon bestimmt?"

"Am liebsten gleich morgen früh, Herr Doktor", entgegnete Klara.

"Ja, sie hat recht", fiel hier der Vater ein; "die Sonne scheint, der Himmel ist blau, es ist keine Zeit zu verlieren, für jeden solchen Tag ist es schade, den du noch nicht auf der Alp genießen kannst."

Der Herr Doktor mußte ein wenig lachen: "Nächstens wirst du mir vorwerfen, daß ich noch da bin, Sesemann; so muß ich wohl machen, daß ich fortkomme."

Aber Klara hielt den Aufstehenden fest; erst mußte sie ihm ja noch alle Aufträge an das Heidi übergeben und ihm noch so vieles anempfehlen, das er recht betrachten und ihr dann davon erzählen sollte. Die Sendung an das Heidi konnte ihm erst später zugeschickt werden, denn Fräulein Rottenmeier mußte erst alles verpacken helfen; sie war aber eben auf einer ihrer Wanderungen durch die Stadt begriffen, von denen sie nicht so schnell zurückkehrte.

Der Herr Doktor versprach, alles genau auszurichten, die Reise, wenn nicht am Morgen früh, so doch womöglich noch im Laufe des folgenden Tages anzutreten und dann bei seiner Heimkehr getreulich Bericht zu erstatten über alles, was er gesehen und erlebt haben würde.

Die Diener eines Hauses haben oft eine merkwürdige Gabe, die Dinge zu erfassen, die im Hause ihrer Herren vor sich gehen, lange bevor diese dazu kommen, ihnen Mitteilung davon zu machen. Sebastian und Tinette mußten diese Gabe in hohem Grade besitzen, denn eben, als der Herr Doktor, von Sebastian begleitet, die Treppe hinunterging, trat Tinette ins Zimmer der Klara ein, die nach dem Mädchen geschellt hatte.

"Holen Sie diese Schachtel voll ganz frischer, weicher Kuchen, wie wir sie zum Kaffee haben, Tinette", sagte Klara und deutete auf die Schachtel hin, die schon lange bereitgestanden hatte. Tinette erfaßte das bezeichnete Ding an einer Ecke und ließ es verächtlich an ihrer Hand baumeln. Unter der Türe sagte sie schnippisch:

"Es ist wohl der Mühe wert."

Als der Sebastian unten mit gewohnter Höflichkeit die Türe aufgemacht hatte, sagte er mit einem Bückling:

"Wenn der Herr Doktor wollten so freundlich sein und dem Mamsellchen auch einen Gruß vom Sebastian bestellen."

"Ah, sieh da, Sebastian", sagte der Herr Doktor freundlich; "so wissen Sie denn auch schon, daß ich reise?"

Sebastian mußte ein wenig husten.

"Ich bin… ich habe… ich weiß selbst nicht mehr recht… ach ja, jetzt erinnere ich mich: Ich bin eben zufällig durch das Eßzimmer gegangen, da habe ich den Namen des Mamsellchens aussprechen gehört, und wie es so geht, man hängt dann so einen Gedanken an den anderen an und so… und in der Weise…"

"Jawohl, jawohl", lächelte der Herr Doktor, "und je mehr Gedanken einer hat, je mehr wird er inne. Auf Wiedersehen, Sebastian, der Gruß wird bestellt."

Jetzt wollte der Herr Doktor gerade durch die offene Haustür enteilen, aber er traf auf ein Hindernis: Der starke Wind hatte Fräulein Rottenmeier verhindert, ihre Wanderung weiter fortzusetzen; eben war sie zurückgekehrt und wollte ihrerseits durch die offene Tür eintreten. Der Wind hatte ihr weites Tuch, in das sie sich gehüllt hatte, aber dergestalt aufgebläht, daß es gerade so anzusehen war, als habe sie die Segel aufgespannt. Der Herr Doktor wich augenblicklich zurück. Aber gegen diesen Mann hatte Fräulein Rottenmeier von jeher eine besondere Anerkennung und Zuvorkommenheit an den Tag gelegt. Auch sie wich mit ausgesuchter Höflichkeit zurück, und eine Weile standen die beiden mit rücksichtsvoller Gebärde da und machten einander gegenseitig Platz. Jetzt aber kam ein so starker Windstoß, daß Fräulein Rottenmeier auf einmal mit vollen Segeln gegen den Doktor heranflog. Er konnte eben noch ausweichen; die Dame aber wurde noch ein gutes Stück über ihn hinausgetrieben, so daß sie wieder zurückkehren mußte, um nun den Freund des Hauses mit Anstand zu begrüßen. Der gewalttätige Vorgang hatte sie ein wenig verstimmt, aber der Herr Doktor hatte eine Art und Weise, die ihr gekräuseltes Gemüt bald glättete und eine sanfte Stimmung darüber verbreitete. Er teilte ihr seinen Reiseplan mit und bat sie in der einnehmendsten Weise, ihm die Sendung an das Heidi so zu verpacken, wie nur sie zu packen verstehe. Dann empfahl sich der Herr Doktor.

Klara erwartete, daß sie erst einige Kämpfe mit Fräulein Rottenmeier zu bestehen haben würde, bevor diese ihre Zustimmung zum Absenden all der Gegenstände geben werde, die Klara für das Heidi bestimmt hatte. Aber diesmal hatte sie sich getäuscht: Fräulein Rottenmeier war ausnehmend gut gelaunt. Sogleich räumte sie alles weg, was auf dem großen Tische lag, um die Dinge alle, die Klara zusammengebracht hatte, darauf auszubreiten und dann vor ihren Augen die Sendung zu verpacken. Es war keine leichte Arbeit, denn die Gegenstände, die da zusammengerollt werden sollten, waren vielgestaltig. Erst kam der kleine dicke Mantel mit der Kapuze, den Klara für das Heidi ausgesonnen hatte, damit es im kommenden Winter die Großmutter besuchen könnte, wann es wollte, und nicht warten müßte, bis der Großvater kommen konnte und es dann in den Sack eingewickelt werden mußte, damit es nicht erfriere. Dann kam ein dickes, warmes Tuch für die alte Großmutter, damit sie sich darin einhülle und nicht frieren müsse, wenn der Wind wieder so schaurig um die Hütte klappern würde. Dann kam die große Schachtel mit den Kuchen; die war auch für die Großmutter bestimmt, daß sie zu ihrem Kaffee auch einmal etwas anderes als ein Brötchen zu essen habe. Jetzt folgte eine ungeheure Wurst; die hatte Klara ursprünglich für den Peter bestimmt, weil er doch nie etwas anderes als Käse und Brot bekam. Aber sie hatte sich jetzt anders besonnen, denn sie fürchtete, der Peter könnte vor Freuden die ganze Wurst auf einmal aufessen. Darum sollte die Mutter Brigitte diese bekommen und erst für sich und die Großmutter einen guten Teil davon nehmen und dem Peter den seinigen in verschiedenen Lieferungen abgeben. Jetzt kam noch ein Säckchen Tabak; der war für den Großvater, der ja so gern ein Pfeifchen rauchte, wenn er am Abend vor der Hütte saß. Zuletzt kam noch eine Anzahl geheimnisvoller Säckchen, Päckchen und Schächtelchen, welche Klara mit besonderer Freude zusammengekramt hatte, denn da sollte das Heidi allerhand Überraschungen finden, die ihm große Freude machen würden. Endlich war das Werk beendet, und ein stattlicher Ballen lag reisefertig an der Erde. Fräulein Rottenmeier schaute darauf nieder, in tiefsinnige Betrachtungen über die Kunst zu packen versunken. Klara ihrerseits warf Blicke froher Erwartung darauf hin, denn sie sah das Heidi vor sich, wie es vor Überraschung in die Höhe springen und aufjauchzen würde, wenn das ungeheure Paket bei ihm anlangte.

Jetzt trat Sebastian herein und hob mit einem starken Schwung den Ballen auf seine Schulter, um ihn unverzüglich nach dem Hause des Herrn Doktors zu spedieren.

Kapitel 3 - Eine Vergeltung



Am anderen Morgen in der Frühe stieg der Herr Doktor vom Dörfli den Berg hinan in der Gesellschaft des Peter und seiner Geißen. Der freundliche Herr versuchte ein paarmal mit dem Geißbuben ein Gespräch anzuknüpfen, aber es gelang ihm nicht, kaum daß er als Antwort auf einleitende Fragen unbestimmte, einsilbige Worte zu hören bekam. Der Peter ließ sich nicht so leicht in ein Gespräch ein. So wanderte die ganze schweigende Gesellschaft bis hinauf zur Almhütte, wo schon erwartend das Heidi stand mit seinen beiden Geißen, alle drei munter und fröhlich wie der frühe Sonnenschein auf allen Höhen.

"Kommst mit?" fragte der Peter, denn als Frage oder als Aufforderung sprach er jeden Morgen diesen Gedanken aus.

"Freilich, natürlich, wenn der Herr Doktor mitkommt", gab das Heidi zurück.

Der Peter sah den Herrn ein wenig von der Seite an.

Jetzt trat der Großvater hinzu, das Mittagsbrotsäckchen in der Hand. Erst grüßte er den Herrn mit aller Ehrerbietung, dann trat er zum Peter hin und hing ihm das Säckchen um.

Es war schwerer als sonst, denn der Öhi hatte ein schönes Stück von dem rötlichen Fleische hineingelegt. Er hatte gedacht, vielleicht gefalle es dem Herrn droben auf der Weide und er nehme dann gern sein Mittagsmahl gleich dort mit den Kindern ein. Der Peter lächelte fast von einem Ohr bis zum andern, denn er ahnte, daß da drinnen etwas Ungewöhnliches versteckt sei.

Nun wurde die Bergfahrt angetreten. Das Heidi wurde ganz von seinen Geißen umringt, jede wollte zunächst bei ihm sein, und eine schob die andere immer ein wenig seitwärts. So wurde es eine Zeitlang mitten in dem Rudel mit fortgeschoben. Aber jetzt stand es still und sagte ermahnend: "Nun müßt ihr artig vorauslaufen, aber dann nicht immer wiederkommen und mich drängen und stoßen. Ich muß jetzt ein wenig mit dem Herrn Doktor gehen." Dann klopfte es dem Schneehöppli, das sich immer am nächsten zu ihm hielt, zärtlich auf den Rücken und ermahnte es noch besonders, nun recht folgsam zu sein. Dann arbeitete es sich aus dem Rudel heraus und ging nun neben dem Herrn Doktor her, der es gleich bei der Hand faßte und festhielt. Er mußte jetzt nicht mit Mühe nach einem Gespräch suchen wie vorher, denn das Heidi fing gleich an und hatte ihm so viel zu erzählen von den Geißen und ihren merkwürdigen Einfällen und von den Blumen oben und den Felsen und Vögeln, daß die Zeit unvermerkt dahinging und sie ganz unerwartet oben auf der Weide anlangten. Der Peter hatte im Hinaufgehen öfters seitwärts auf den Herrn Doktor Blicke geworfen, die diesem einen rechten Schrecken hätten beibringen können; er sah sie aber glücklicherweise nicht.

Oben angelangt, führte das Heidi seinen guten Freund gleich auf die schönste Stelle, wohin es immer ging und sich auf den Boden setzte und umherschaute, denn da gefiel es ihm am besten. Es tat, wie es gewohnt war, und der Herr Doktor ließ sich gleich auch neben Heidi auf den sonnigen Weideboden nieder. Ringsum leuchtete der goldene Herbsttag über die Höhen und das weite grüne Tal. Von den unteren Alpen tönten überall die Herdenglocken herauf, so lieblich und wohltuend, als ob sie weit und breit den Frieden einläuteten. Auf dem großen Schneefelde drüben blitzten funkelnd und flimmernd goldene Sonnenstrahlen hin und her, und der graue Falknis hob seine Felsentürme in alter Majestät hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf. Der Morgenwind wehte leise und wonnig über die Alp und bewegte nur sachte die letzten blauen Glockenblümchen, die noch übriggeblieben waren von der großen Schar des Sommers und nun noch wohlig ihre Köpfchen im warmen Sonnenscheine wiegten. Obenhin flog der große Raubvogel in weiten Bogen umher, aber er krächzte heute nicht. Mit ausgebreiteten Flügeln schwamm er ruhig durch die Bläue und ließ sich's wohl sein. Das Heidi guckte dahin und dorthin. Die lustig nickenden Blumen, der blaue Himmel, der fröhliche Sonnenschein, der vergnügte Vogel in den Lüften, alles war so schön, so schön! Heidis Augen funkelten vor Wonne. Nun schaute es nach seinem Freunde, ob er auch alles recht sehe, was so schön war. Der Herr Doktor hatte bis jetzt still und gedankenvoll um sich geblickt. Wie er nun den freudeglänzenden Augen des Kindes begegnete, sagte er:

"Ja, Heidi, es könnte schön sein hier, aber was meinst du? Wenn einer ein trauriges Herz hierher brächte, wie müßte er es wohl machen, daß er an all dem Schönen sich freuen könnte?"

"Oh, oh!" rief das Heidi ganz fröhlich aus. "Hier hat man gar nie ein trauriges Herz, nur in Frankfurt."

Der Herr Doktor lächelte ein wenig, aber das ging schnell vorüber. Dann sagte er wieder: "Und wenn einer käme und alles Traurige aus Frankfurt mit hier heraufbrächte, Heidi; weißt du da auch noch etwas, das ihm helfen könnte?"

"Man muß nur alles dem lieben Gott sagen, wenn man gar nicht mehr weiß, was machen", sagte das Heidi ganz zuversichtlich.

"Ja, das ist schon ein guter Gedanke, Kind", bemerkte der Herr Doktor. "Wenn es aber von ihm selbst kommt, was so ganz traurig und elend macht, was kann man da dem lieben Gott sagen?"

Das Heidi mußte nachdenken, was dann zu machen sei; es war aber ganz zuversichtlich, daß man für alle Traurigkeit eine Hilfe vom lieben Gott erhalten könne. Es suchte seine Antwort in seinen eigenen Erlebnissen.

"Dann muß man warten", sagte es nach einer Weile mit Sicherheit, "und nur immer denken: jetzt weiß der liebe Gott schon etwas Freudiges, das dann nachher aus dem anderen kommt, man muß nur noch ein wenig still sein und nicht fortlaufen. Dann kommt auf einmal alles so, daß man ganz gut sehen kann, der liebe Gott hatte die ganze Zeit nur etwas Gutes im Sinn gehabt; aber weil man das vorher noch nicht so sehen kann, sondern immer nur das furchtbar Traurige, so denkt man, es bleibe dann immer so."

"Das ist ein schöner Glaube, den mußt du festhalten, Heidi", sagte der Herr Doktor. Eine Weile schaute er schweigend auf die mächtigen Felsenberge hinüber und in das sonnenleuchtende grüne Tal hinab, dann sagte er wieder:

"Siehst du, Heidi, es könnte einer hier sitzen, der einen großen Schatten auf den Augen hätte, so daß er das Schöne gar nicht aufnehmen könnte, das ihn hier umgibt. Dann möchte doch wohl das Herz traurig werden hier, doppelt traurig, wo es so schön sein könnte. Kannst du das verstehen?"