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Stefan Bachmann

Die Wedernoch

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Hannes Riffel

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2013 bei

HarperCollins, Publishers Inc,

New York, erschienenen Originalausgabe:

›The Whatnot‹

Copyright © 2013 by Stefan Bachmann

Mit freundlicher Genehmigung

von HarperCollins Children’s Books,

a division of HarperCollins

Publishers, New York

Die deutsche Erstausgabe erschien

2014 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration von Thierry Lafontaine

Copyright © 2013 Thierry Lafontaine/Imaginism Studios

 

 

Der Übersetzer dankt Laura Gutmann und Simon Weinert für die tatkräftige Unterstützung.

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24332 1 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60430 6

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

 

 

 

[5] Für meine Familie, die mich zu dem gemacht hat, der ich bin.

[7] Inhalt

Prolog  [11]

ERSTES KAPITEL

Wilde Jagd  [21]

ZWEITES KAPITEL

Hettie im Land der Nacht  [45]

DRITTES KAPITEL

Das Geschenk der Sylphe  [59]

VIERTES KAPITEL

Die fröhliche Gesellschaft  [78]

FÜNFTES KAPITEL

Mister Millipede und die Fee  [96]

[8] SECHSTES KAPITEL

Die Belusiten  [117]

SIEBTES KAPITEL

Die Vögel  [142]

ACHTES KAPITEL

Das Haus des Rebellen  [153]

NEUNTES KAPITEL

Der bleiche Junge  [167]

ZEHNTES KAPITEL

Die Stunde der Melancholie  [179]

ELFTES KAPITEL

Das Feengefängnis  [193]

ZWÖLFTES KAPITEL

Der Maskenball  [221]

[9] DREIZEHNTES KAPITEL

Die Geister von Siltpool  [241]

VIERZEHNTES KAPITEL

Das vierte Gesicht  [262]

FÜNFZEHNTES KAPITEL

Tar Hill  [272]

SECHZEHNTES KAPITEL

Ein Abglanz von Neid  [280]

SIEBZEHNTES KAPITEL

Puppenspieler und Marionetten  [295]

ACHTZEHNTES KAPITEL

Die Stadt des Schwarzen Gelächters  [310]

NEUNZEHNTES KAPITEL

Pikey im Land der Nacht  [327]

[10] ZWANZIGSTES KAPITEL

Lügen  [355]

EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL

Wahrheiten  [372]

EPILOG

[405]

[11] Prolog

 

Niemand bemerkte den Soldaten. Dunkel und gebückt stand er in der Mitte des Ballsaals vor dem Hintergrund der grellen Beleuchtung, und niemand schenkte ihm Beachtung. Bunte Kleider wirbelten um ihn her. Rockschöße flogen. Gelächter und Geplauder hallten von den Wänden wider, und die mechanischen Dienstmädchen stürzten mit ihren schweren Tabletts voller Gläser und roten Johannisbeertörtchen direkt auf ihn zu, aber er rührte sich nicht. Sein Gesicht war kreidebleich. Unter den Augen hatte er dunkle Ringe, und seine Uniform war schlammbespritzt.

Auch Mr. Jelliby bemerkte ihn anfangs nicht. Er war vollauf damit beschäftigt, sich Sorgen zu machen und ein wenig verärgert zu sein. Mr. Jelliby lehnte am Kamin und beobachtete die Gäste, die sich auf die Tanzfläche begaben. Die Herren trugen Galauniformen mit klirrenden Schwertern und Tapferkeitsmedaillen, obwohl die meisten von ihnen noch nie in eine Schlacht gezogen waren. Rote [12] Schärpen spannten sich über ihre Brust. Die Damen lächelten und flüsterten. Was für heitere Vögel, dachte Mr. Jelliby. Wie glücklich sie sind. Jedenfalls heute Abend noch.

In dem Ballsaal war es heiß. Die großen Fenster waren mit Eis beschlagen, aber hier drinnen kam man sich vor wie in einem Ofen. Kerzen flackerten, das Kaminfeuer loderte, und die Kronleuchter brannten so hell, dass die Luft darum herum flimmerte. Unter der Decke hing schwerer Qualm. Mr. Jelliby fuhr sich über die Schläfen, wie um die grauen Haare dort abzureiben. Der Duft der roten Johannisbeertörtchen stieg ihm in die Nase. Er konnte das Öl in den Gelenken der Diener riechen und die feuchten Umhänge und Überschuhe, die im Zimmer nebenan in dampfenden Haufen übereinanderlagen. Das Orchester spielte sich allmählich warm. Die liebe Ophelia stand über ein Sofa gebeugt und versuchte, Lady Halifax zu beschwichtigen, die allem Anschein nach jeden Moment in die Luft zu gehen drohte. Mr. Jelliby verspürte das dringende Bedürfnis, sich hinzusetzen. Er wandte sich vom Kamin ab, schaute sich nach einem geeigneten Fluchtweg um…

Und in dem Moment entdeckte er den Soldaten.

Gütiger Himmel! Mr. Jelliby kniff die Augen zusammen. Wie weit war es mit der Welt gekommen, dass jemand in einem solchen Aufzug das Haus eines Lords betreten durfte? Der Mantel des jungen Burschen starrte vor [13] Schmutz. Die Wolle war völlig durchnässt, die Knöpfe hatten jeden Glanz verloren, und der Kragen war von irgendetwas ganz schwarz… Wäre der Soldat direkt von einem Schlachtfeld gekommen, hätte Mr. Jelliby es ja noch verstehen können, aber der Wyndhammer-Ball fand zur Feier der Mobilmachung statt. Der Krieg hatte noch nicht einmal angefangen.

»Ganz schön was los, finden Sie nicht auch?«, sagte Lord Gristlewood, der plötzlich neben Mr. Jelliby stand und ihn aus seinen Gedanken riss. Mr. Jelliby zuckte ein wenig zusammen. Verflixt.

Lord Gristlewood war ein dickleibiger Mann mit blassen, geschwollenen Händen, bei deren Anblick Mr. Jelliby an Leichenteile denken musste, die in einem Glasgefäß voller Chemikalien schwammen. Noch schlimmer allerdings war, dass Lord Gristlewood zu den Leuten gehörte, die glauben, dass jeder sie mag, obwohl niemand sie leiden kann.

»Absolut«, sagte Mr. Jelliby. Sein Blick glitt über die versammelten Gäste, wobei er sich demonstrativ von Lord Gristlewood abwandte.

Doch der Lord ließ sich nicht abwimmeln. »Ah, schauen Sie sich unsere Jungs an… über die Maßen tapfer, alle miteinander. Englands ganzer Stolz. Tausend brüllende Trolle können diesen Männern keine Angst einjagen.«

[14] Mr. Jelliby presste die Lippen aufeinander.

»Finden Sie nicht?«, wollte Lord Gristlewood wissen.

»Nein, eigentlich nicht«, sagte Mr. Jelliby ganz leise in sein Glas hinein und hoffte, dass Lord Gristlewood ihn nicht hören konnte.

»Wie meinen?«

»Oh – na ja – das hoffe ich doch sehr!«

Lord Gristlewood lächelte. »Aber natürlich! Kopf hoch, altes Haus. Heute ist schließlich ein Festtag.«

»Allerdings.« Mr. Jelliby stellte sein Glas mit einem lauten Klirren auf dem Kaminsims ab. »Wenn ich ehrlich sein darf, altes Haus, sehe ich keinen Grund zum Feiern. Wir stehen unmittelbar vor einem Bürgerkrieg.«

Lord Gristlewoods Lächeln wirkte plötzlich nicht mehr ganz so überzeugend.

Mr. Jelliby war nicht zu bremsen. »Ab morgen heißt es dann nur noch: ›Liefern Sie den Schmuck Ihrer Frauen ab!‹ und ›Ihr Diener soll sich freiwillig melden!‹ und ›Alles zum Wohle des Königreichs!‹ und lauter solchen Unfug. Und bald darauf treffen in Säcken und auf Karren die ersten Leichen ein, und eine davon ist dein Diener, und niemand tanzt mehr. Gegen die Feen zu kämpfen wird alles andere als vergnüglich sein.«

»Was sind Sie doch für ein Schwarzseher!«, rief Lord Gristlewood. »Jetzt aber! So weit kommt es bestimmt [15] nicht. Die Feen sind ein zügelloses Volk. Sie haben keinen Anführer und sind ein unorganisierter Haufen. Wir werden mit ihnen fertigwerden, wie wir schon mit den Franzosen fertiggeworden sind. Dank unseres überlegenen Intellekts. Sollen sie doch kommen, sage ich. Sollen sie sich doch mit allem, was sie haben, auf uns stürzen. Wir werden nicht zurückweichen.« Lord Gristlewood stieß ein nervöses Lachen aus und stapfte davon – offenbar hatte er beschlossen, einen weniger deprimierenden Gast mit seiner Gegenwart zu beehren.

Mr. Jelliby seufzte und griff wieder nach seinem Glas. Drehte es langsam hin und her. Trank einen Schluck. Über den funkelnden Rand hinweg sah er den Soldaten, der finster und einsam unter den Tanzenden stand.

Mr. Jelliby beobachtete ihn eine Weile. Dann lächelte er. Natürlich! Der junge Mann war schüchtern! Warum hatte er daran nicht schon früher gedacht? Zweifellos war der Soldat zutiefst verängstigt und fragte sich, wie er eine der Damen am besten zum Tanz auffordern sollte. Mr. Jelliby beschloss, ihm aus der Patsche zu helfen. Irgendwo gab es doch bestimmt eine ebenso unglückliche Tochter vornehmer Herkunft, die im Idealfall über keinen Geruchssinn verfügte.

Mr. Jelliby schob sich durch die Menge und nahm Kurs auf die Tanzfläche in der Mitte des Raumes. Während er [16] zwischen den ganzen Kleidern hindurchschlüpfte, hatte er das Gefühl, auf einem Meer aus Zuckerwatte zu treiben. Immer mehr Paare begannen zu tanzen. Der Ballsaal schien sich mit jedem Augenblick mehr zu füllen, allerdings nicht unbedingt mit Menschen, sondern mit Hitze und Gelächter. Mr. Jelliby begann der Kopf zu schwirren.

Er war keine zehn Schritte weit gekommen, als Lady Maribeth Skimpshaw – die in einer Parfümwolke dahinschwebte – lächelnd seinen Arm nahm. Dabei entblößte sie ihr rosarotes Zahnfleisch und bleckte ihre falschen Zähne. Mr. Jelliby hatte gehört, dass sie in jungen Jahren beim Theater gewesen war, also hatte sie ihre echten Zähne bestimmt für Mohnblumenwasser und verbotene Feengetränke in Zahlung gegeben.

»Lord Jelliby! Wie wunderbar, dass ich Ihnen über den Weg laufe! Ihrer Gattin fällt noch der Arm ab, wenn sie nicht bald aufhört, Lady Halifax Luft zuzufächeln. Die Närrin glaubt, jemand hätte eine ihrer Perlenbroschen gestohlen, dabei hat sie wahrscheinlich nur vergessen, wie viele sie heute Abend angelegt hat. Aber egal! Ich habe Sie gekapert, und das allein zählt.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Also. Ich weiß, dass Sie furchtbar viel zu tun haben, schließlich müssen Sie sich um Ihren Grundbesitz kümmern und Ihr Geld zählen und dergleichen, aber ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen.«

[17] »Ach du liebe Zeit, hoffentlich nicht.«

»Wie bitte?«

»Hoffentlich fällt Ophelia nicht der Arm ab. Soll ich Ihnen ein Törtchen holen?«

»Nein, Lord Jelliby. Hören Sie mir überhaupt zu?« Ihre Finger schlossen sich fester um seinen Arm. »Es geht um den jungen Herrn Skimpshaw. Ich möchte Sie um einen Gefallen für ihn bitten.«

Ach, verflixt noch mal. Seit Mr. Jelliby zum Lord ernannt worden war, baten ihn andauernd irgendwelche Leute um einen Gefallen. Sie hatten es auf Posten in der Regierung abgesehen, oder er sollte bei einem Admiral, den er kaum kannte, ein gutes Wort für sie einlegen oder ihnen einen nichtmechanischen Diener überlassen, den er doch bestimmt nicht mehr brauchte. Es trieb ihn zur Raserei. Nur weil er London vor der völligen Vernichtung bewahrt und die Königin ihm ein Haus und ein paar steinige Äcker in einem abgelegenen Winkel von Lancashire geschenkt hatte, wollte er nicht sein ganzes Leben damit zubringen, Aristokraten gegenüber großzügig zu sein. Eigentlich sollte man meinen, sie könnten allein mit ihren Problemen fertigwerden.

»Es tut mir furchtbar leid, Mylady, aber Sie werden es später noch einmal versuchen müssen. Jemand ist dringend auf meinen Beistand angewiesen, und…« – Mr. Jelliby riss [18] sich aus Maribeth Skimpshaws Klauen los – »…und ich muss wirklich weiter!« Er setzte seinen Weg in die Saalmitte fort, wobei er Rosenduft und seidene Schleifen hinter sich herzog.

Das Orchester spielte jetzt mit voller Lautstärke, und auf der Tanzfläche wirbelte alles in herrlichem Walzertakt herum. Mr. Jelliby konnte den Soldaten kaum noch erkennen. Zwischen den sich drehenden Menschen und den leuchtend bunten Röcken erhaschte er immer nur einen kurzen Blick auf ihn. Das Gesicht des jungen Mannes war kreidebleich. Er wirkte völlig erschöpft.

»Lord Jelliby? Ach, Arthur Jelliby!«, rief jemand von der anderen Seite des Raumes.

Mr. Jelliby beschleunigte seine Schritte.

Und dann lief urplötzlich ein Rascheln durch den Saal, wie wenn der Wind vor einem Unwetter durch die Baumkronen fährt. Seinen Anfang nahm es auf der Tanzfläche, und es breitete sich aus, bis es die entferntesten Winkel des Ballsaals erreicht hatte. Das Rascheln schwoll an. Rufe wurden laut, und dann ertönte ein Schrei. Die Leute wichen vor Mr. Jelliby zurück und drückten sich mit dem Rücken an die Wand.

Mr. Jelliby blieb wie angewurzelt stehen.

Der junge Soldat war keine fünf Schritte mehr von ihm entfernt. Er war allein, ganz allein auf dem auf Hochglanz [19] polierten Parkett. Er hatte die Hand erhoben und weit von sich gestreckt. Sie hielt einen blutigen Lumpen umklammert.

Mr. Jelliby ließ ein leises Hüsteln hören.

Der Lumpen war blau, die Farbe Englands, die Farbe der Armee. Fetzen einer roten Schärpe hingen daran. Eine blutbespritzte Medaille. Der junge Soldat öffnete den Mund, brachte jedoch keinen Ton hervor. Er starrte nur den Lumpen in seiner Hand an, einen Ausdruck gelinder Überraschung auf dem aschfahlen Gesicht.

Im Ballsaal war es totenstill geworden. Niemand sagte ein Wort. Niemand bewegte sich. Die mechanischen Dienstmädchen waren alle mit einem Quietschen stehengeblieben. Die alten Damen starrten den Soldaten so durchdringend an, dass ihnen die Augen aus den Höhlen zu fallen drohten. Lady Halifax lag lang hingesteckt auf einem Kanapee, das Gesicht so rot wie ein Apfel.

Mr. Jellibys erster Gedanke war: Gütiger Himmel, er hat jemanden getötet! Aber er konnte niemanden sehen, der verletzt gewesen wäre. Niemandem schien ein Stück seiner Uniform zu fehlen, und zwischen den Bahnen aus Samt und Seide waren auch keine Wunden sichtbar.

»Junger Mann«, sagte Mr. Jelliby unsicher und trat einen Schritt auf den Soldaten zu. »Junger Mann, was in…«

Aber ihm blieb keine Zeit, seine Frage ganz [20] auszusprechen, denn der Soldat begann sich plötzlich zu verwandeln. Vor Mr. Jellibys Augen quoll ihm Blut zwischen den Zähnen hervor und rann ihm über das Kinn. Leuchtend rote Risse bildeten sich im Stoff seiner Uniform. Er wurde von einem Krampf geschüttelt, einmal, zweimal, als würde er mit großer Wucht von etwas Unsichtbarem getroffen.

Und dann… dann sank er ganz langsam zu Boden. Schwarze Blütenblätter lösten sich von seinem Mantel, von seinen Armen, von seinen Wangen. Wie von weit her waren Schüsse zu hören. Und bevor der Soldat auf dem Parkett aufschlug, schien er sich aufzulösen, sich in Asche zu verwandeln – in Asche, Rauch und Schießpulver.

Dann war er fort, und die Damen fingen an zu schreien.

Mr. Jelliby hörte Glas splittern. Die Lampen waren so heiß, so unvorstellbar heiß! Jetzt konnte er die Törtchen nicht mehr riechen. Nur noch die Angst, die sich in der flimmernden Luft ausbreitete und alles unter sich zu ersticken drohte.

[21] ERSTES KAPITEL

Wilde Jagd

In jener Nacht, als die Fee mit dem sich schälenden Gesicht ihm das linke Auge stahl, träumte Pikey Thomas von Pflaumen und Karamelläpfeln.

Es war ein wunderschöner Traum. Er lag nicht mehr frierend in seiner Höhle unter der Apotheke. Das alte Holzschild mit den darauf aufgemalten Händen und Weißdornblättern knarrte nicht mehr über ihm, und kein Eis bedeckte sein Gesicht. Im Schlaf war Pikey wohlig warm, er hatte sich vor einem Kanonenofen zusammengerollt, Pflaumen kamen aus der Finsternis auf ihn zugeschwebt, und er aß einen Karamellapfel, der einfach nicht kleiner zu werden schien.

Wenn irgend möglich, träumte er immer von Karamelläpfeln. Und – im Winter – von Kanonenöfen. Und von Pflaumen und Pasteten und von lauten, glücklichen Stimmen, die seinen Namen riefen.

Tap-tap. Tap-tap. Weit, weit weg, auf der anderen Seite [22] seiner Augenlider, betrat eine Gestalt die vor Kälte starre Gasse.

Pikey biss in seinen Apfel. Er hörte die Schritte, aber er gab sich alle Mühe, sich deswegen keine Sorgen zu machen. Wer immer es auch war, er würde bald wieder fort sein. Aus der Glockengasse stolperten öfter mal Leute in die Gasse, an der sich die Apotheke befand, aus dem Rinnstein und dem Abwassergraben und all den anderen Spalten zwischen den alten Häusern von Spitalfields. Keiner von ihnen blieb jemals lange.

Tap-tap. Tap-tap.

Pikey drehte und wand sich unter seiner Decke. Geh weg, dachte er. Weck mich nicht auf. Aber die Schritte kamen immer näher, hinkten langsam über das Pflaster.

Tap-tap. Tap-tap.

Pikey war plötzlich nicht mehr wohlig warm. Die Pflaumen fielen noch immer herab, aber jetzt brannten sie, wenn sie seine Haut berührten, wie Eiszapfen. Er versuchte, noch einmal von seinem Apfel abzubeißen. Doch der verwandelte sich plötzlich in Asche und wurde davongeweht.

Tap-tap. Tap-tap.

Es schneite. Vom Himmel fielen keine Pflaumen mehr, sondern Schneeflocken. Sie wurden in seine kleine Höhle hereingeblasen, und plötzlich erfüllte der Geruch von fauligem Wasser und einem tiefen, moosigen Brunnen Pikeys [23] Nase. Die alte Rinshi warf sich gegen ihre Kette und machte einen mordsmäßigen Krawall, bellte etwas an und hörte wieder auf, von einem Moment auf den nächsten. Etwas knarrte, Metall scharrte über Metall.

Pikey sah das Blut, bevor er die Gestalt sah, Blut und immer mehr Blut, das zwischen den Steinen hindurch und auf ihn zufloss. Dann war die Gasse von Schreien erfüllt.

Pikey Thomas rannte um sein Leben.

Es war ein klarer, heller Tag, die Kälte so scharf wie ein Messer, aber trotzdem konnte er fast nichts sehen. Die Schnur, die die Klappe über seinem schlimmen Auge hielt, war verrutscht. Der uralte Lederflicken klatschte ihm ins Gesicht, raubte ihm die Orientierung. Pikey prallte gegen ein Abflussrohr, wirbelte unbeholfen herum, rannte weiter. Hinter sich hörte er ein Glöckchen bimmeln; es war ihm dicht auf den Fersen und schepperte wie wild. Vor ihm befand sich der Abwassergraben. Er sprang hinein und rutschte schnell wie der Blitz über den gefrorenen Schmutz hinweg. Der Graben endete in einem rostigen Gitter. Pikey sprang darüber hinweg und lief, ohne zu zögern, weiter. Seine Finger griffen nach der Augenklappe, mühten sich verzweifelt, die Schnur festzubinden, aber sie wollte einfach nicht halten, und er durfte auf keinen Fall stehenbleiben. Alles würde nur noch schlimmer werden.

[24] Die Pflasterfee brachte ihn in der Bluebottle Street zu Fall.

Gerade rannte er noch, einen Kanten Schwarzbrot unter der Jacke, eine Straße entlang, die so leer und eisig war wie alles in London. Sein Verfolger war zwei oder drei Ecken hinter ihm. Pikey war sich sicher, dass er ihm entkommen würde. Und dann spürte er das Beben unter seinen Füßen, das Poltern der Pflastersteine, während eine winzige Fee durch ihre Geheimgänge raste. Sie schob in dem Moment einen Stein nach oben, als Pikey den Fuß darauf setzen wollte.

Pikey stieß einen überraschten Schrei aus und schlitterte auf eine Hauswand zu. Sein Kopf krachte gegen Stein. Schmerz durchzuckte ihn, und er hörte eine boshafte Stimme leise singen: »Tolpatsch, Tolpatsch, da oben tapst ein Tollpatsch!«

Pikey fuhr herum und stieß sich von der Wand ab.

Das Feenwesen lugte unter dem angehobenen Pflasterstein hervor; schwarze Knopfaugen funkelten. Es war ein Irrwisch, der von Kopf bis Fuß kaum fünf Zentimeter maß. Hinter seinen spitzen Ohren wuchsen einige mit Rauhreif überzogene Zweige, und ein grässliches Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Es war ein ausgesprochen gelbes, von zahllosen spitzen Zähnen gespicktes Grinsen.

[25] »Halt die Klappe«, zischte Pikey. Er rannte auf die kleine Kreatur zu, fest entschlossen, sie unter seinen Füßen zu zerquetschen. Aber er war zu langsam. Die Fee zog den Pflasterstein wie einen Hut nach unten und war fort.

Pikey erstarrte. Er blickte die Straße zurück und lauschte, um sich zu vergewissern, dass ihm noch ein paar Sekunden blieben. Dann trat er mit dem Stiefelabsatz dreimal auf dem Boden auf, jedes Mal ein wenig leiser, so dass es sich anhörte, als ginge er davon. Die Fee tauchte mit einem Grinsen wieder auf. Und Pikey sprang, direkt auf den Pflasterstein. Ein schrilles Quieken ertönte. Der Pflasterstein krachte nach unten. Die eingeklemmte Hand der Fee zuckte verzweifelt.

»Geschieht dir recht«, sagte Pikey, aber ihm blieb keine Zeit, seinen kleinen Triumph auszukosten. Das Bimmeln des Glöckchens kam immer näher, wurde von den Hauswänden zurückgeworfen. Einen Augenblick später schlitterte ein riesenhafter Polizist in Blau und Purpur um die Ecke. Ein Bleigesicht.

»Dieb!«, rief das Bleigesicht, seine Stimme seltsam tonlos unter seinem eisernen Halbhelm. »Dieb!« Aber bevor der Polizist Pikey sehen konnte, hatte dieser wieder die Beine in die Hand genommen und glitt mit pochendem Herzen unter einem Torbogen hindurch und eine steile Treppe hinunter.

[26] Das Bleigesicht kam die Bluebottle Street entlanggestürmt und fuchtelte wild mit seiner Glocke. Pikey warf sich flach auf den grobkörnigen Stein der Treppe, gerade mal so weit unten, dass er noch die Straße sehen konnte. Er schaute zu, wie die schwarzen Stiefel vorbeistapften. Und erlaubte sich ein vorsichtiges Lächeln. Der Polizist stürmte direkt auf die Pflasterfee zu. Noch fünf Schritte, dann würde er flach auf der Nase liegen. Drei. Zwei… Doch der Polizist rannte weiter, unaufhaltsam dem anderen Ende der Bluebottle Street und dem rußig dahinströmenden Verkehr auf der Aldersgate entgegen.

Oh. Pikey wischte sich die Nase ab. Anscheinend bin ich doch fester auf die Fee draufgetreten, als ich dachte.

Er lehnte sich mit dem Rücken an die schleimig feuchte Wand und wartete, bis das Bimmeln des Glöckchens im Lärm der Dampfkutschen und Menschen unterging. Dann lief er die Treppe hoch auf die Straße, die Hände in den Hosentaschen – ein Junge, der allem Anschein nach gerade erst aufgestanden war und jetzt Streichhölzer verkaufen ging oder Schuhe oder das neueste Extrablatt ausrufen.

Was natürlich nicht stimmte. Er hatte sich gerade erst sein Abendessen geklaut, und jetzt suchte er sich einen ruhigen Ort, um es zu verspeisen. Bleigesichter konnten ganz schön lästig sein; und Pflasterfeen genauso, vor allem, weil sie, zusammen mit allen anderen Feen, eigentlich schon vor [27] Monaten aus der Stadt verbannt worden waren. Aber es gab nichts, womit Pikey nicht fertigwurde.

Er machte sich auf den Weg zurück nach Spitalfields, wobei er die Orte mied, wo die Bleigesichter und die Werber überall in ihren bunt angestrichenen Rekrutierungsbuden lauerten und sich auf jeden stürzten, den sie sahen. »Für Königin und Vaterland!«, brüllten sie dann durch ihre Flüstertüten. »Für England – lasst uns die gefährlichen Feen ausrotten! Tretet vor, ihr Männer mit kräftiger Konstitution!« Pikey wusste nicht, ob er eine kräftige Konstitution hatte, aber er wusste, dass er nicht in den Krieg ziehen konnte. Vor einem Jahr hätte er es noch getan. Er war erst zwölf, aber er hätte sich ohne zu zögern freiwillig gemeldet. Bei der Armee gab es zu essen. Und dicke Mäntel und bunte Banner und laute, fröhliche Lieder, bei denen die Füße von selbst anfingen zu marschieren, auch wenn sie nicht wussten, wohin. Und man bekam eine Muskete, um auf Feen zu schießen, was für Pikey recht verlockend klang. Aber das war früher. Vor jener verschneiten Nacht in der Gasse, wo sich die Apotheke befand, bevor das Blut zwischen den Pflastersteinen hindurchgesickert war und die hinkenden Schritte näher gekommen waren, direkt auf ihn zu, ganz gleich, wie tief er sich in die Finsternis zurückgezogen hatte. Bevor alles anders geworden war und er nicht mehr wusste, was er war.

[28] Aus einer Gasse heraus beobachtete Pikey, wie eine Gruppe von Jungen, die noch keine vierzehn waren, sich über den Tisch eines Werbers beugten und auf dickem braunen Papier ihre Kreuzchen machten. Hinterher händigte das Bleigesicht jedem von ihnen einen Mantel aus und ein Paar riesiger, abgewetzter Stiefel. Anschließend wurden die Jungen auf einen Karren geladen, der knarrend davonfuhr.

Das Bleigesicht in der Bude ließ wieder den Blick über die Passanten schweifen; die Augen hinter den dunklen Schlitzen in seinem Helm waren nicht zu erkennen. Pikey hastete weiter. Die Jungen würden bald kämpfen müssen, irgendwo oben im Norden. Gegen Wälder und Flüsse und flüsternden magischen Unfug. Er fragte sich, ob ihre Stiefel, wenn sie erst tot waren, den Weg zurück nach London finden würden. Wo sie dann wieder anderen Jungen ausgehändigt werden würden.

Er ging eine Straße nach der anderen entlang, schlüpfte in dunkle Seitengassen, wenn er die Rufe der Bleigesichter hörte, und eilte im Schatten der schiefen, rußgeschwärzten Häuser weiter. Früher waren das einmal die Villen einer Feengilde gewesen, der Seidenweber. Jetzt hausten die Taschendiebe darin, die Aderlasser und die Ärmsten der Armen. Manchmal beugte sich eine Frau aus einem Fenster, oder ein anderer Junge auf der Straße entdeckte Pikey und [29] rief ihm ein höhnisches »Hey, Pikey!« zu, das alles andere als nett klang. Dann machte Pikey immer, dass er weiterkam.

Pikey war nicht sein richtiger Name. Thomas allerdings auch nicht. »Pikey« sagten die Leute zu Fremden, und weil Pikey ein Gesicht hatte, das so braun war wie ein alter Penny (ob vom Schmutz oder weil er wirklich von weit her kam, wusste niemand so genau), war der Name hängengeblieben. Thomas wiederum war der Name auf der Kiste, in der er zwölf Jahre zuvor auf einer Türschwelle in Putney gefunden worden war: Thomas GmbH. Kräcker und Kekse. Erste Qualität.

Die Leute hatten das lustig gefunden – dass der Name auf einer Kekskiste gestanden hatte. Pikey fand daran überhaupt nichts komisch.

Auf dem Platz vor der St. Paul’s Cathedral, wo es von Tauben nur so wimmelte, wurde er von einer Bande von Jungen angequatscht.

»Du kriegst ’nen halben Penny, wenn du uns deine Augenhöhle zeigst«, knurrte der älteste und größte von ihnen. Er trug einen blauen Mantel mit Messingknöpfen, der ihm viel zu weit war, und Stiefel, aus denen die Zehen herausschauten. Anscheinend war er der Anführer.

Die anderen Jungen umringten Pikey, stupsten ihn an, [30] kamen mit ihren schmutzigen Gesichtern immer näher. »Ja, zeig uns deine Augenhöhle! Was hast du denn gemacht? Hast du was ausgefressen? Hat Jenny Greenteeth es dir rausgerissen und trägt es jetzt um den Hals?«

Hätte Pikey eine Augenhöhle gehabt, wäre er sofort auf das Angebot eingegangen. Für einen halben Penny konnte er sich eine anständige Mahlzeit kaufen, in einer stickig warmen Kneipe sitzen und Kartoffeln mit Soße und grauem gesottenen Hammelfleisch essen, bis er platzte. Aber er hatte keine Augenhöhle, und den Jungen würde nicht gefallen, was sie sähen.

»Verpisst euch. Lasst mich in Ruhe.«

»Ach, Pikey, sei doch nicht so. Nur ganz kurz! Was meint ihr, Jungs, können wir da bis in sein Gehirn reinschauen? Ich reiß ihm die Klappe runter, und dann sehen wir den gelben Matsch, den er im Kopf hat.«

Zustimmendes Gemurmel wurde laut. Der Anführer der Bande trat einen Schritt vor und streckte die Hand nach Pikeys Augenklappe aus. Pikey machte sich auf eine Prügelei gefasst.

»Ich hab gesagt, verpisst euch!« Seine Stimme wurde kalt und hart, wie es sich für einen richtigen Straßenjungen gehörte, aber so klein, wie er war, verfehlte es seine Wirkung. Der Junge mit den Messingknöpfen kam immer näher.

Pikey duckte sich und wollte wegrennen, aber zwei von [31] den Jungen packten ihn an den Armen und drehten sie ihm auf den Rücken.

»Du bleibst, wo du bist«, flüsterte einer von ihnen dicht an seinem Ohr.

»Hilfe!«, krächzte Pikey. Hier gab es mehr als genug Menschen. Irgendjemand würde ihn bestimmt hören. Oder sehen. Auf dem Platz vor St. Paul’s war immer eine Menge los, selbst im Winter, selbst wenn der Himmel allmählich schwarz wurde. Straßenhändler priesen von ihren Handkarren hinunter ihre Waren an – Salat, Kohlköpfe und merkwürdig aussehende Wurzeln. Krämer feilschten, Diener kauften. Eine rot und golden gestreifte Apfelweinbude, vor der sich eine lange Schlange gebildet hatte, stand keine zehn Schritte entfernt. Die konnten doch nicht alle taub sein!

»Hilfe, ein Dieb!«, rief er.

Niemand schaute auch nur in seine Richtung.

»Hör auf rumzuheulen wie ’ne Schwuchtel. Wir wollen nur ’nen kurzen Blick drauf werfen. Halt’s Maul, hab ich gesagt! Halt’s Maul, oder wir kriegen alle Ärger!« Der Anführer rammte Pikey eine schwere Faust in die Magengrube, und sein nächster Schrei ging in einem erstickten Keuchen unter.

Für einen Moment hing er da, die Arme noch immer hinter dem Rücken. Er spürte, wie der Anführer die Schnur aufknotete, die seine Augenklappe hielt, und sie wegzog.

[32] »Wir wollen nur mal kurz…«

Pikey schloss die Augen und warf sich mit ganzer Kraft nach hinten. Sein Kopf schlug gegen den Kopf eines der Jungen, die ihn festhielten, und sie gingen beide zu Boden. Pikey landete auf dem Bauch des anderen Jungen, hörte ihn loskreischen – Musik in seinen Ohren – und sprang wieder auf, eine Hand auf dem schlimmen Auge, während er mit der anderen wild um sich schlug.

Der Anführer spuckte aus. »Du miese kleine Ratte. Dich schlag ich kurz und…« Er stürzte sich auf Pikey, wobei die Schuhnägel an seinen Stiefeln laut auf dem Pflaster aufschlugen.

»Zeig’s ihm!«, riefen die Jungen und bildeten einen Ring. »Reiß ihm das andere Auge aus!«

Pikey hatte keine Zeit nachzudenken. Er warf beide Hände hoch, um sich schützen…

Der Junge in dem Mantel mit den Messingknöpfen blieb wie angewurzelt stehen. Die anderen Jungen verstummten.

Zu spät wurde Pikey klar, was er getan hatte. Alle konnten jetzt das Auge sehen, vor dem er die Klappe getragen hatte. Er spürte die Kälte darüber hinwegstreichen. Er wusste, was jetzt alle anstarrten – einen flachen, leeren Augapfel, der so grau war wie der eisige Himmel. Pupillenlos. In nichts einem gewöhnlichen blinden Auge ähnlich. Nur endloser wabernder Nebel.

[33] Einen Moment lang blickte Pikey auf zwei Welten gleichzeitig, und sein Gehirn schrie buchstäblich vor Anstrengung. Auf einer Seite befand sich London – da war es kalt und dunkel und voller Menschen, die schattenhaften Ameisen glichen. Auf der anderen Seite jedoch erhob sich ein großer, abgestorbener Wald über einer dicken Schneeschicht. Aus jener Welt konnte er nichts hören. London dagegen hörte er nur allzu gut. Laute Stimmen. Das Klappern einer gasbetriebenen Straßenbahn. Das Fluchen des Anführers der Bande, der langsam zurückwich.

»Er hat sich bei den Feen angesteckt«, sagte der Junge mit den Messingknöpfen. »Er hat die Feenkrankheit!«

Jetzt wurden doch die ersten Leute aufmerksam. Pikey wirbelte herum und sah, wie Männer und Frauen stehenblieben und ihn anstarrten – eine verschleierte Dame in einem Bombasinmantel, die behandschuhten Finger vor den Mund geschlagen. Das Flüstern breitete sich aus wie ein Lauffeuer. Aus dem Winkel seines guten Auges sah Pikey Männer dem Spinnennetz aus Straßen entgegeneilen, das sich an den Platz anschloss, zur Mündung der Fleet Street, wo die Bleigesichter standen. Irgendwo ganz in der Nähe begann ein Glöckchen zu bimmeln.

Pikey presste sich die Faust in das umwölkte Auge. Nicht noch einmal, dachte er. Das vorhin hat mir gereicht. Und dann rannte er los, drängte sich zwischen den Menschen [34] hindurch, der breitesten Straße entgegen, die er sehen konnte. Vier Bleigesichter marschierten ihm entgegen und an ihm vorbei, auf die Schreie und die sich ausbreitende Panik zu. Pikey hatte seine Augenklappe verloren, hatte sie in der Hand des Jungen mit den Messingknöpfen zurückgelassen, aber das war ihm jetzt egal. Er zog den Kopf ein und rannte, so schnell er konnte.

Er rannte, bis ihm der Atem im Brustkorb rasselte. Er rannte, bis seine Muskeln brannten und seine Beine sich anfühlten, als wären sie voller Wasser. Und als er schließlich den Blick vom Pflaster hob, stellte er fest, dass er sich in einem Teil von London befand, in dem er noch nie gewesen war.

Er hatte die völlig falsche Richtung eingeschlagen. Bestimmt war er meilenweit weg von Spitalfields und der Apotheke. Die Nacht brach herein. Die ordentlichen Menschen wurden immer weniger und die unordentlichen immer mehr – die Verkommenen, die Säufer, die grellbunt gekleideten Stutzer und die Frauen in den Reifröcken, die so stark geschminkt waren, dass sie alptraumhaften Clowns glichen. Über ihm waren die Straßenlaternen von einem schwachen rötlichen Heiligenschein umgeben. Die Flammenfeen, die in ihnen gewohnt hatten, bevor der Bann sie vertrieben hatte, waren durch Schwefelbirnen ersetzt worden, die ein hässliches Licht verbreiteten, das wie Blut [35] aussah. Aber wenigstens hatte es jetzt mit dem Geklopfe und Gespucke ein Ende, keine leuchtenden Feen versuchten mehr, die Aufmerksamkeit der Menschen auf der Straße auf sich zu ziehen. Pikey war froh darüber.

Blöde Feen! Geschah ihnen recht, dass sie verjagt worden waren! Er konnte sich noch daran erinnern, dass es in Spitalfields nur so von ihnen gewimmelt hatte – Feen mit Wirbelsäulen, Feen mit tintenschwarzen Augen und zwiebelweißer Haut, mit Köpfen aus Rankenfußkrebsen oder Dornen und mit viel zu vielen Fingern. Man konnte nirgendwohin gehen, ohne auf welche zu stoßen, und Pikey hatte aufgehört zu zählen, wie oft er in seiner Höhle unter der Apotheke mit zusammengeknoteten Schnürsenkeln oder mit Nesseln in den Haaren aufgewacht war. Tja, jetzt wurden die Feen rausgeworfen, und er hoffte, dass sie alle in einem Brombeergestrüpp landeten.

Er eilte weiter, musterte jeden, dem er begegnete, misstrauisch und wischte sich immer wieder die Nase ab. In den Kneipen brannte helles Licht, und rauhe Kriegslieder schallten zu den Fenstern heraus. Ein Stück vor ihm ging eine Tür auf, und eine große Faust kam zum Vorschein, die einen schmutzigen, schwatzenden Dummkopf am Kragen hielt und ihn auf dem grünlichen Eis des Rinnsteins absetzte. Nicht ganz so weit entfernt stellte ein Straßenzirkus seine Requisiten auf. Ein Leierkastenmann spielte [36] sein misstönendes Lied. Pikey sah eine Dame, die einen Miniatur-Heißluftballon neben sich herzog, in dessen Korb ein Opernglas, ein Fächer und andere Unentbehrlichkeiten lagen. Jemand anderes trug ein Paar neumodischer mechanischer Schuhe, die mit Kohle angetrieben wurden und den Fuß anhoben, so dass man das nicht selbst tun musste. Der Mann trampelte wie ein zwei Tonnen schwerer Elefant durch die Gegend, und Pikey machte einen großen Bogen um ihn.

Schließlich ging er etwas langsamer und kramte in seiner Tasche nach dem Brot. Die Hand, die er bisher vor das umwölkte Auge gehalten hatte, hatte er sinken lassen, aber das war ihm egal. Er bezweifelte, dass er hier auffallen würde. Die Straßen wurden breiter. Die Menschenmengen lösten sich auf, und bald herrschte völlige Stille. Die Luft wurde so schwer, als lastete der ganze Schnee, der sich in den Wolken angesammelt hatte, auf der Stadt. Nur hin und wieder fuhr eine Dampfkutsche vorbei. Pikey betrachtete die hoch aufragenden Steingebäude mit ihren Türmchen und Giebeln und den schmiedeeisernen Toren, die die Bewohner Londons vor den Feen schützen sollten.

Er kam um eine Ecke, und obwohl er nun endgültig nicht mehr wusste, wo er war, entging ihm nicht, dass hier reiche Leute wohnen mussten. Die Häuser erstrahlten in hellem Lichterschein. Fast hätte man meinen können, dass [37] es in ihnen keine Böden oder Wände gab, sondern dass sie nur leere Hüllen waren, in denen kleine Sonnen brannten.

Allmählich nahm der Verkehr wieder zu. Dick eingepackte Damen und Herren stolzierten die Straße entlang, schwangen Spazierstöcke und verbargen ihre flüsternden Röcke unter schweren Pelzen. Dampfkutschen und mechanische Vierspänner klapperten vorbei und ließen kohlschwarze Rauchschwaden zurück. Alle hatten sie dasselbe Ziel – einen großen Palast von einem Haus, vier Stockwerke hoch und mit einem grünen Metalldach, dessen Fenster bis ganz oben goldene Löcher in die Nacht stanzten.

Pikey näherte sich dem Haus, während er weiter an seinem Brot nagte. Hinter einem Laternenpfahl blieb er stehen und beobachtete, wie eine große, fette Dame die Treppe zur Tür hinaufstieg. Sie trug einen filigranen Hut, der die Form einer Fliege hatte und vor Diamanten strotzte. Glücklich wirkte sie allerdings nicht. Sie wirkte sogar ziemlich sauer. Pikey fragte sich, wie jemand, der so viele Diamanten besaß, sauer sein konnte. Und in dem hell erleuchteten Haus war es wahrscheinlich wunderbar warm…

»Ah, der Wyndhammer-Kriegsball«, sagte ein dickleibiger Gentleman, der an dem Laternenpfahl vorbeischritt. Eine erstaunlich hochgewachsene Dame ging an seiner Seite, und er hatte alle Mühe, mit ihr Schritt zu halten. »Da ist bestimmt ganz schön was los, meinst du nicht auch?«

[38] Nach einer Weile bemerkte Pikey das verräterische Rot-und-Blau eines Bleigesichts, schlüpfte hinter ein Kutschrad und ging neben ihm her, während es über das Pflaster rumpelte. Das Kutschrad war größer als er, und er konnte sich, selbst wenn er aufrecht ging, dahinter verstecken. Das Bleigesicht marschierte vorbei. Sobald es verschwunden war, eilte Pikey zu dem riesigen Haus zurück und schwang sich über das Eisengeländer auf die Treppe, die zum Dienstboteneingang hinunterführte. Er wollte noch nicht fortgehen. Zwar wurde es kälter, aber das Licht, das durch die Fenster fiel, war einfach zu verlockend. Es leuchtete auf sein Gesicht herab, und fast glaubte er, seine Wärme spüren zu können. Die Scheiben waren beschlagen, so warm war es da drin.

Er setzte sich auf die viertoberste Stufe und knabberte weiter an seinem Brot. Es war steinhart und voller grober Kerne, die wahrscheinlich kein Mehl waren. Pikey fand, dass es großartig schmeckte.

Die letzte Kutsche war abgefahren. Musik drang ganz schwach auf die Straße heraus – ein Orchester. Er hörte gedämpftes Gelächter und laute, fröhliche Stimmen.

Und dann hörte er, aus dem Halbdunkel am Fuß der Treppe, etwas anderes. Ein Trippeln und Kratzen, wie Messer, die rasch über Stein schrammten. Er richtete sich auf.

War das eine Ratte? Die Fenster der Dienstboten waren [39] dunkel. Bestimmt hatten alle in der Küche zu tun, wo sie putzten und kochten und riesige Berge von Schweinekoteletts und exotischem Obst auftürmten.

Eine Dampfkutsche bog mit flammenden Scheinwerfern auf die Straße ein. Das Licht glitt über das Geländer und warf ein Streifenmuster an die Wand. In der Schwärze am Fuß der Treppe glomm ein Augenpaar. Zwei riesige silberfarbene Kugeln, in einem Moment sichtbar, im nächsten wieder weg.

Eine Fee.

Pikey rutschte eine Stufe höher und spannte die Muskeln an, bereit, sofort die Flucht zu ergreifen. Wieder das gleiche Geräusch, ein lautes Flattern, begleitet von einem Wimmern wie von einem Kind.

Eine weitere Dampfkutsche knatterte vorbei. Die beiden Silberkugeln leuchteten erneut auf, als die Scheinwerfer darüberstrichen, und verschwanden wieder in der Dunkelheit. Was auch immer sich da am Fuß der Treppe befand, begann, sich zu bewegen.

Es kam langsam näher, wie unter Schmerzen, ein blasses, schlankes Ding mit schweren schwarzen Flügeln, die es wie ein Cape hinter sich herschleifte.

Pikeys Herz setzte einen Schlag aus. Das war keine Pflasterfee.

Die Kreatur hatte riesige Flügel aus dunklen, zerzausten [40] Federn, und zwischen blauen Lippen blinkten zahllose Zähne. Alle paar Sekunden zuckte eine schwarze Zunge darüber hinweg. Als Pikey die Fee jedoch genauer ansah, hatte er nicht den Eindruck, dass sie ihm gleich das Bein abnagen würde. Sie sah eher so aus, als würde sie jeden Moment zu einer Pfütze zerfließen. Einer der Flügel hing schlaff herab, die Federn zerquetscht, der Knochen entsetzlich verrenkt.

Pikey beobachtete, wie die Fee sich langsam die Stufen heraufschleppte. Sein Stück Brot hielt er hinter dem Rücken versteckt. Die Kreatur sah zwar nicht gefährlich aus, aber Feen konnten ihr Äußeres nach Belieben verändern. So schnell würde er nicht auf irgendwelchen Humbug hereinfallen.

»Junge?«, sagte die Fee mit hoher, pfeifender Stimme. »Junge?«

Wie ein kleines Kind, dachte Pikey und runzelte die Stirn.

»Junge?« Sie erreichte die siebente Stufe und streckte flehentlich eine feingliedrige Hand aus.

»Was willst du von mir?«, fragte Pikey in barschem Tonfall. Er ließ das Brot in der Tasche verschwinden und warf einen Blick in die Runde, um sich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe war. Mit Feen gemeinsame Sache zu machen war gefährlich. Wenn irgendjemand auch nur nach [41] Zaubersprüchen oder Wichtelkräutern roch, landete er ruckzuck in Newgate, und Pikey hatte gehört, dass es dort einen freundlich aussehenden alten Mann mit einer Metzgerschürze gab, der unablässig weinte, während er den Sträflingen die Fingernägel herauszog, aber er verhörte einen, bis man schlichtweg alles gestand. Dann wurde man in ein anderes Gefängnis gebracht. Oder gehängt. So oder so, es ging einem an den Kragen. Pikey hatte schon den ganzen Tag das Gefühl, dass es ihm an den Kragen ging, und allmählich hatte er die Nase voll.

Die Fee kam weiter die Treppe herauf, die runden Augen wie gebannt auf Pikey gerichtet.

»Was denn?«, fauchte Pikey. »Mein Brot kriegst du nicht, wenn du das meinst. Dafür bin ich weit gerannt. Hau ab!«

»Junge«, wiederholte die Fee. »Flügel.«

»Ja, sieht gebrochen aus. Pech gehabt.« Wahrscheinlich hatte ein Diener sie im Keller beim Stehlen ertappt und ihr mit der Pfanne eins übergezogen. Geschah ihr recht.

»Hilf mir.« Die Fee hatte jetzt die Stufe direkt unter Pikey erreicht und sah ihn mit ihren großen spiegelblanken Augen an, die mit jedem Atemzug größer zu werden schienen.

»Ich helf dir nicht.« Pikey wandte das Gesicht ab, doch sein Blick schweifte sogleich wieder zu der Fee zurück. Er wollte nicht böse sein. Aber für eine Fee würde er nicht [42] seinen Hals riskieren. Gut möglich, dass sie aus einem der erleuchteten Fenster beobachtet wurden. Jeden Moment konnte ein Straßenkehrer vorbeikommen. Pikey durfte auf keinen Fall mit dieser Kreatur gesehen werden. Es war auch so schon schwierig genug, am Leben zu bleiben, wenn man ein Auge hatte, das wie eine Regenpfütze aussah.

»Bitte, hilf mir!« Die Stimme klang jetzt wie die eines Menschen; so sehr er sich dagegen wehrte, Pikey verspürte einen Stich im Herzen. Die Fee bestand nur aus Knochen, ein paar dünne Stöckchen, in papierene Haut gewickelt. Und sie hatte Schmerzen. Nicht einmal ein Bleigesicht würde er so seinem Schicksal überlassen.

Er holte tief Luft, beugte sich vor und nahm den verletzten Flügel in die Hand. Die Fee zuckte kaum merklich zusammen, wich aber nicht zurück.

»Na schön«, sagte Pikey. »Aber wenn uns jemand sieht, schubs ich dich weg und hau ab. Ist das klar?«

Die Federn zwischen Pikeys Fingern fühlten sich glatt und fettig an, sonderbar unstofflich, wie Rauch. Vorsichtig tastete er den Knochen ab. Er verstand nicht viel vom Rumdoktern, aber Bobby Blacktop, der Sohn des alten Apothekers, war vor einem Jahr von einer gasbetriebenen Straßenbahn überfahren worden und hatte sich beide Beine gebrochen. Dabei hatte Pikey das ein und andere gelernt.

Plötzlich setzte die Fee sich auf. Ihre Ohren zuckten, [43] als würden sie etwas wahrnehmen, das Pikey nicht hörte. »Schnell«, zischte sie. »Schnell!«

»Stell jetzt bloß nicht noch irgendwelche Forderungen! Was soll denn die Eile? Wo musst du denn hin?« Pikeys Finger fanden das Gelenk und renkten es wieder ein. »Es war nur rausgerutscht, das ist alles. Besser so? Geht’s jetzt wieder?«

Die Augenlider der Fee glitten ganz kurz über ihre Pupillen. Blitzschnell breitete sie ihre Flügel aus. Unwillkürlich wich Pikey zurück. Die Fee sah ihn noch einen Moment lang an, während ihre Zunge über ihre Zähne hinwegglitschte. Dann wirbelte sie herum und hüllte sich in ihr Gefieder. Eine Windbö fuhr über sie hinweg, gefolgt von einem vielstimmigen Flüstern, und dann war die Fee fort.

Sie löste sich nicht direkt auf. Im ersten Moment dachte Pikey das, aber es war eher so, dass sie in einer Falte verschwand, als wären die Treppe und die Straßen und ganz London nur auf einen hauchdünnen Schleier aufgemalt, und die Fee wäre einfach dahintergeschlüpft.

Pikey starrte die Stelle an, wo sie gerade noch gewesen war. Dann stand er hastig auf. Unten in den Dienstbotenräumen gingen Lichter an. Er hörte aufgeregte Stimmen, das Klappern von Metall. Eine Hand machte sich an den Rüschenvorhängen vor dem Fenster zu schaffen.

Nichts wie weg, dachte Pikey. Er sprang über das [44] Geländer und lief die Straße entlang, wobei er sich im Schatten der Häuser hielt.

Er war erst wenige Schritte weit gekommen, als ihn eine heftige Erschütterung fast von den Füßen riss. Er stolperte. Die Erschütterung wurde stärker, pochte und stampfte lauter als alle Dampflokomotiven am Bahnhof King’s Cross zusammen.

Pikey wandte sich um. Es war das Haus. Auf den Fensterscheiben breiteten sich rasend schnell Risse aus. Die Mauern erbebten und schwollen an, als drückte etwas von innen dagegen. Und dann barsten mit einem gespenstischen Geräusch sämtliche Scheiben. All die hell erleuchteten Fenster explodierten, und ein Goldregen prasselte herab. Das Dach wurde himmelwärts geschleudert. Es hagelte Steine, Glas, grünes Metall und Fetzen bunter Seide. Pikey stieß einen gellenden Schrei aus und rannte auf die Straße, wobei er den herabfallenden Trümmern auswich.

Ein ölbetriebener Lastwagen wich ihm aus. Dampfkutschen hupten und spuckten schwarzen Qualm. Männer beugten sich aus ihren Fahrzeugen, um Pikey anzuschreien, doch sie brachten keinen Ton heraus. Aller Augen richteten sich auf Wyndhammer House.

Aus dem Innern hallten schrille Schreie auf die winterliche Straße, gefolgt von einem weiteren durchdringenden Knall. Und dann begann das Haus einzustürzen.

[45] ZWEITES KAPITEL

Hettie im Land der Nacht

Sechs Tage und sechs Nächte waren Hettie und der Feenbutler unter den kahlen Ästen des Alten Landes gewandert, doch die Hütte, auf die sie zuhielten, schien, seit sie sie zum ersten Mal erblickt hatten, noch kein Stück näher gekommen zu sein.

Allerdings hätte Hettie nicht mit Sicherheit sagen können, dass es sechs Nächte gewesen waren. Sie hatte das Gefühl, dass es in dieser Welt immer Nacht war oder jedenfalls ein gleichbleibend grauer Abend. Der Himmel war fortwährend bewölkt. Der Mond nahm ab und nahm zu, aber unter ging er nie. Sie stapfte der Fee in der Wolljacke hinterher, über Wurzeln und Schneeverwehungen, und die kleine gemauerte Hütte blieb unerreichbar. Hinter einem Fenster brannte Licht. Die schwarzen Bäume bildeten darum herum eine kleine Lichtung. Manchmal meinte Hettie, Rauch aus dem Schornstein aufsteigen zu sehen, aber wenn sie dann genauer hinsah, konnte sie nichts mehr erkennen.

[46] »Wohin gehen wir?«, wollte sie wissen, zum hundertsten Mal seit ihrer Ankunft. Sie bemühte sich, ihre Stimme möglichst barsch und ausdruckslos klingen zu lassen, damit der Feenbutler ja nicht dachte, sie hätte Angst. Besser, er glaubte, dass sie ihm eine kleben konnte, wenn sie nur wollte. Und was für eine!

Doch ihr Begleiter schenkte ihr keine Beachtung, sondern lief einfach weiter, während seine Rockschöße im Wind flatterten.

Hettie starrte wütend auf seinen Rücken und kickte mit ihrem Fuß trotzig Schnee in seine Richtung. Manchmal fragte sie sich, ob er über sie Bescheid wusste. Wohl eher nicht. Sie vermutete, dass er hinter dem Uhrwerk, das das grüne Okular auf einer Seite seines Gesichts einfasste, genauso verloren und verängstigt war wie sie. Trotzdem hatte sie kein Mitleid mit ihm. Blödes Feenwesen. Es war seine Schuld, dass sie hier war. Seine Schuld, dass sie nicht gesprungen war, als ihr Bruder Bartholomew nach ihr gerufen hatte. In jener Nacht in Wapping wäre es ihr vielleicht gelungen, sich in Sicherheit zu bringen. Nach Hause zurückzukehren.

Sie schlang die Arme um sich; durch die Ärmel ihres Nachthemdes konnte sie die roten Linien spüren, mit denen die Feen sie gezeichnet hatten, damit sie ein Portal sein konnte. Nach Hause. Beinahe hätte sie losgeheult. Sie stellte [47] sich vor, wie ihre Mutter in ihrer Wohnung an der Krähengasse auf ihrem Stuhl saß, den Kopf in den Händen vergraben. Sie stellte sich Bartholomew vor, den Kohleeimer, das Schrankbett. Die Kräuter, die über dem Kanonenofen trockneten. Mäuschen in ihrem karierten Kleid. Blöde Feenwesen. Blöder Butler und blöder Mr. Lickerish und blödes Portal, das in eine andere Welt führte, einen aber nicht mehr in die eigene zurückließ.

Sie blieb stehen, um einen Moment zu verschnaufen, und dabei fiel ihr auf, dass sie die Zähne so fest zusammengebissen hatte, dass sie weh taten. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Nase und schaute auf.

Die Hütte war noch immer weit, weit weg. Im Wald herrschte Totenstille. Der Feenbutler machte beim Gehen fast kein Geräusch, und die ganze verschneite Welt schien den Atem anzuhalten.

Hettie kniff die Augen zusammen und betrachtete die Hütte. Irgendetwas stimmte nicht. Obwohl in dem Fenster ein Licht brannte, wirkte sie leer und verlassen. Und wie die Bäume sich gleichsam davon abzuwenden schienen… Hettie schloss die Augen und lauschte auf ihren Herzschlag und das Flüstern des Windes. Sie malte sich aus, wie es wäre, zwischen den Bäumen hindurchzurennen, immer schneller und immer schneller. Sie blieb stehen, wandte der Hütte den Rücken zu, und als sie sich wieder umdrehte, [48] kam es ihr kurz so vor, als wäre da vor ihr in der Ferne kein Haus, sondern eine rostende, bissige Mausefalle, in der eine Kerze brannte, die ihr zuzwinkerte und sie näher lockte, wie ein Köder.

»Los, komm schon.« Der Feenbutler stand plötzlich neben ihr, packte sie und schleifte sie hinter sich her. »Wir haben nicht ewig Zeit. Komm jetzt, hörst du!«

Sie stolperte ihm nach. Die Hütte sah wieder ganz normal aus und stand still und abweisend auf ihrer Lichtung.