Michael Wuliger
Der koschere Knigge
Trittsicher durch die
deutsch-jüdischen Fettnäpfchen
Sachbuch
Mit Illustrationen von Ruth Lewinsky
Fischer e-books
Michael Jonathan Wuliger wurde 1951 in London geboren, wuchs in Wiesbaden auf und lebt heute in Berlin als Feuilletonredakteur der »Jüdischen Allgemeinen«. Er geht so gut wie nie in die Synagoge, isst gern Serrano-Schinken und hört lieber Georges Brassens als Giora Feidman. Sein jüdisches Idol ist Krusty der Clown aus der TV-Serie »Simpsons«.
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ISBN 978-3-10-400138-8
Über deutsch-jüdische Verständigung sind schon Hunderte Bücher geschrieben worden: »Gesammelte Studien zur Theatergeschichte des deutsch-jüdischen Verhältnisses« etwa, »Jüdische Kassenärzte rund um die Synagoge« oder »Deutsch-jüdische Geschichte und Hirnforschung«. Aber keines dieser sicherlich verdienstvollen Druckwerke hat Gebrauchswert für den Alltag. Die wesentliche Frage wird dort nicht angesprochen: Wie verhalte ich mich, wenn ich am Arbeitsplatz, bei einer Party oder im Tennisclub einen Juden persönlich kennenlerne?
Das kann schneller passieren, als Sie denken. Zwar leben in Deutschland nicht, wie laut einer Umfrage die meisten Bundesbürger glauben, bis zu 5 Millionen Kinder Israels. Es sind nur rund 200 000. Doch auch damit steht die Chance, einem von ihnen leibhaftig zu begegnen, statistisch immerhin bei 1:400 – doppelt so hoch wie ein Dreier mit Zusatzzahl im Lotto. Schon morgen könnte Ihnen ein Jude über den Weg laufen. Für diesen Fall ist dieser kleine Band gedacht. Tragen Sie ihn immer bei sich.
P. S. Den jüdischen Lesern, die das Buch nur gekauft haben, um zu erfahren, was hier mal wieder alles falsch dargestellt wird, sei versichert: Ihre Gemeinde ist nicht gemeint. Dort geht es selbstverständlich anders zu.
Juden kannten Sie bisher nur von »Stern«-Titelbildern, aus ZDF-Geschichtsdokus oder Woody-Allen-Filmen. Herr Blumberg, der Ihnen bei der Geburtstagsparty eines Kollegen vorgestellt wird und vom Gastgeber vorher bereits avisiert wurde (»Er ist Jude, aber sehr nett«), wird Sie deshalb möglicherweise enttäuschen. Er trägt weder einen schwarzen Hut noch Schläfenlocken. Wenn er einen Bart hat, dann in der modischen Drei-Tage-Variante. Er spricht Hochdeutsch ohne jiddischen Akzent. Eine Uzi hat er auch nicht umgeschnallt. Eigentlich wirkt er ganz normal.
Lassen Sie sich Ihre Überraschung nicht anmerken. »Sie sehen gar nicht so aus«, ist kein guter Gesprächseinstieg. »Ich wollte immer schon mal einen Juden kennenlernen« auch nicht. Am besten, Sie schneiden das Thema zunächst überhaupt nicht an. Selbst wenn Sie seit Jahren darauf brennen, zu erfahren, ob fromme Juden ihre Kopfbedeckung auch beim Duschen anbehalten und ob man am Sabbat wenigstens die Klospülung betätigen darf: Beim allerersten Kennenlernen empfehlen sich als Eisbrecher zunächst unverfängliche Themen wie Jugendkriminalität, Bahnverspätungen und Erderwärmung. Ihr jüdisches Gegenüber wird das zu schätzen wissen. Er hat schließlich noch andere Eigenschaften und Interessen. Das Judentum kann warten bis nach dem dritten Bier.
Wenn Sie Ihre Neugier dann nicht länger zügeln können und mehr oder minder elegant die Unterhaltung auf das Thema übergeleitet haben (»Blumberg heißen Sie: Wie der jüdische Nobelpreisträger für Medizin 1976?«), zeigen Sie weiter Fingerspitzengefühl. Im deutsch-jüdischen Dialog kommt es leider immer wieder zu Fauxpas, die man mit genügend Wissen und Sensibilität vermeiden kann. Hier ein paar erste Tipps:
Sie dürfen ruhig »Jude« sagen. Das Wort an sich ist nicht beleidigend, auch wenn es vielen Deutschen immer noch schwer von der Zunge geht. Ein Ersatzbegriff wie »Sinti und Roma« bei den Zigeunern ist leider noch nicht gefunden worden. Hilfsweise wird deshalb gerne statt des Nomens das Adjektiv verwendet, kombiniert mit unverfänglichen Hauptwörtern. Allerdings haben Ausdrücke wie »jüdischer Herkunft«, »jüdischen Glaubens«, »Kind jüdischer Eltern« oder »in einer jüdischen Familie aufgewachsen« eine etwas komplizierte Metrik, bei der Sie leicht ins Stottern kommen können. Falls Sie übrigens taubstumm, pardon, sprech- und hörbehindert sein sollten: Das traditionelle Zeichen für Jude in der Gebärdensprache – eine per Zeigefinger nachgemachte krumme Nase – ist mittlerweile nicht mehr politisch korrekt. Stattdessen wird die Hand vom Kinn auf die Brust gezogen, Symbol für den Bart, den fromme Juden tragen.
Judentum ist keine Frage der Bruchrechnung. Wenn Sie einen Juden kennenlernen, fragen Sie ihn nicht als Erstes, ob er »Volljude« ist. Selbst wenn zehn Prozent aller Deutschen jüdische Vorfahren haben (es stand in »Bild am Sonntag«, muss also stimmen): Verweisen Sie nicht gleich am Anfang des Gesprächs auf eine Großtante namens Sarah, die Sie möglicherweise zu einem »Sechsteljuden« macht. Falls Sie es doch tun, erwarten Sie bitte nicht, dass Ihr jüdischer Gesprächspartner deshalb sofort mit Ihnen Brüderschaft trinkt.
Erzählen Sie keine jüdischen Witze. Erstens besteht dabei das Risiko, dass Sie, einmal in Schwung gekommen, statt jüdischer Witze Judenwitze erzählen. Das trübt die Stimmung. Zweitens laufen Sie Gefahr, Ihren Gesprächspartner zu langweilen: Der kennt die Witze nämlich alle schon – und besser erzählt.
Nicht alle Juden sind reich. Statistisch betrachtet ist der Wohlstand unter ihnen genauso ungleich verteilt wie beim Rest der Bevölkerung. Deshalb sollten Sie bei einer Diskussion über die Auswirkungen von Hartz IV einem anwesenden Juden nicht freundlich auf die Schulter klopfen und sagen: »Aber Sie betrifft das ja zum Glück nicht!«
Falls Ihr Gegenüber, ob weiblich oder männlich, ein Goldkettchen um den Hals mit einem klassischen jüdischen Symbol trägt, bezeichnen Sie dieses bitte nicht als »Judenstern«. Es heißt »Davidstern«. Der andere Begriff weckt unangenehme Erinnerungen. Außerdem wurde der Judenstern nicht um den Hals, sondern auf der Brust getragen.
Da wir gerade bei sprachlichen Feinheiten sind: Wenn die Rede von Gotteshäusern ist, sprechen Sie bitte nicht doppelt gemoppelt von »jüdischen Synagogen«. Es gibt keine anderen.
Verbreiteten Klischees zum Trotz sind die meisten Kinder Israels genauso dumm wie das Gros der übrigen Menschheit. Die Chancen, dass Ihr Gesprächspartner, weil Jude, Experte für die Frankfurter Schule ist, weil von denen ja auch viele Juden waren, sind relativ gering. Wahrscheinlicher ist, dass er Adorno für einen italienischen Rotwein hält.
Aus der Tatsache, dass Juden 2000 Jahre lang verfolgt wurden, ergibt sich nicht automatisch, dass Ungerechtigkeiten aller Art ihr beliebtester Gesprächsstoff sind. Vermeiden Sie deshalb möglichst, Ihr derzeitiges brennendstes Anliegen – seien es Atommülltransporte, Robbenbabys oder die Lage in Tibet – einem jüdischen Gesprächspartner mit den Worten nahezubringen: »Gerade Sie als Jude sollten doch verstehen … «
Und schließlich müssen Sie, wenn Sie Ihren neuen jüdischen Bekannten ein paar Tage später beim Einkaufen im Supermarkt zufällig wiedersehen, ihn nicht zwingend mit »Schalom« begrüßen. Ein freundliches »Guten Tag« reicht völlig aus.
Die Fettnäpfchen hätten wir abgehakt. Jetzt kommen die Minenfelder. Eines davon liegt auf 31 Grad nördlicher Breite, 35 Grad östlicher Länge. Es ist mit 22145 Quadratkilometern knapp größer als Hessen, macht aber wesentlich mehr Schlagzeilen: Israel. Mit kaum einem anderen Thema können Sie so schnell so viele atmosphärische Störungen in der Kommunikation hervorrufen.
Das fängt schon bei der Herkunft Ihres jüdischen Gesprächspartners an. Merke: Nicht alle Juden sind Israelis. Sagen Sie also nicht, wenn es um den gegenwärtigen israelischen Regierungschef geht: »Ihr Ministerpräsident«. Herr Blumberg ist, wie Sie, als deutscher Staatsbürger Frau Merkel untertan. Darauf legt er großen Wert. Schließlich wohnt er nicht in Galiläa, sondern im Ruhrgebiet. Hier ist er aufgewachsen und zur Schule gegangen, hier steht seine Doppelhaushälfte, hier fühlt er sich daheim.
Dass in Deutschland die Einkommen höher sind als in Israel, die Umgangsformen weniger ruppig und die Nachbarvölker umgänglicher, hat damit natürlich rein gar nichts zu tun. Als junger Mann hatte Blumberg sogar einmal überlegt, nach Israel zu übersiedeln. Aber das heiße Klima dort verträgt er gesundheitlich nicht. Außerdem wäre sein deutsches Vordiplom an der Universität Tel Aviv nicht anerkannt worden. Er wollte auch seine Eltern nicht allein lassen. Der Mutter ging es damals nicht so gut; sie lag im Krankenhaus. Und der Vater brauchte dringend Hilfe im Familienunternehmen. So ist Blumbergs Zionismus touristischer Natur geblieben: Er macht, wenn es in Deutschland im Dezember kalt ist, regelmäßig Urlaub im sonnigen Eilat am Roten Meer.
Darüber unterhält Ihr jüdischer Gesprächspartner sich auch gerne mit Ihnen. Weniger lieb sind ihm politische Debatten über den Nahostkonflikt. Zumal er mit Palästinensern persönlich keine Probleme hat. Der Physiotherapeut, der regelmäßig Blumbergs Bandscheiben behandelt, ist auch einer. Netter Mensch. Heißt Tarik, wohnt seit zwanzig Jahren in Deutschland und ist längst eingebürgert. Vor zwei Jahren war Tarik mit seinem deutschen Pass sogar mal in Israel, um sich das Haus in Haifa anzuschauen, in dem seine Großeltern früher lebten. Als er es fotografieren wollte, schaute eine Israelin aus dem Fenster und fragte ihn, was er da mache. »Das Haus hat meiner Familie gehört«, sagte Tarik. »Aha«, sagte die Frau. »Also die Wasserleitungen, die Sie hier eingebaut haben, sind völlig marode.« Blumberg und Tarik haben herzlich gelacht.
Bei Deutschen ist das anders. Die werden immer gleich grundsätzlich. Nichts nervt Blumberg mehr, als in Bekenntniszwang gebracht zu werden, wenn die israelische Armee gerade mal wieder Gaza bombardiert hat, ein Minister in Jerusalem wegen Korruption verhaftet wurde oder am Sabbat Ultraorthodoxe Steine auf Autofahrer werfen. Abends meldet es die Tagesschau, am nächsten Morgen im Büro, kaum hat Blumberg seinen Mantel aufgehängt, fragt auch schon ein Kollege: »Was ist denn bei Euch schon wieder los?«