image
image











Collect 5

image






Collect 5

Verlag Voland & Quist, Dresden und Leipzig, 2006

© by Verlag Voland & Quist – Greinus und Wolter GbR

Umschlaggestaltung: Mario Helbing und Marcel Theinert

Gestaltung und Satz: Tropen Studios, Leipzig

ISBN: 978-3-86391-054-9

www.voland-quist.de

Inhalt

Vorwort

Spider Wie alles anfing

Tube Interviews

michaEbeling Flammende Liebesschatten an den Brandmauern der Unwirklichkeit

Volker Strübing Mein schöner kalter Krieg

Uli Hannemann Unterschicht

Tube Ich war einmal ein kleiner Gott

Spider Warum ich mich nicht mehr rasiere

Uli Hannemann Wie ich mal an einer Revolution teilgenommen habe

michaEbeling Ausflug nach Irgendwo

Spider Carola, Svenja und Silke

Volker Strübing Der Pierre Brice von Berlin Marzahn

Tube Tube rennt

Uli Hannemann Deutschstunde

Spider Hinter dem Kopfende

michaEbeling Heißer Sommer

Uli Hannemann Die Hermannstraße

Tube Ich rette die Welt

Volker Strübing Dörte und Norbert

Spider Gestern ist was Merkwürdiges passiert

Uli Hannemann Das bürgerliche Feuilleton

Tube Wahrsagerin!

Spider Weiterlaufen ist am besten

Uli Hannemann Die Nummer von dem Tier

Spider Shopping

Volker Strübing Die Katze ist weg!

Uli Hannemann Anprobe

michaEbeling Scheißedaswollteichnicht

Uli Hannemann Das Röckchen

Spider Morgen werde ich mich dafür hassen, ich Schlampe

Tube Was wäre, wäre ich Kosmonaut geworden?

Nachwort

Uli Hannemann

Vorwort

Dem vorliegenden Buch zum zehnjährigen Bestehen der Berliner Lesebühne »LSD – Liebe Statt Drogen«, möchte ich ein paar einleitende Worte voranstellen.

Warum gerade ich?

Die Antwort ist ganz einfach: Obwohl nach Lebensjahren das älteste, so bin ich nach Dienstjahren doch das jüngste Mitglied bei LSD. Das Nesthäkchen, der Praktikant, der Stift, Azubi, Lehrling. Einer, der die Launen der Kollegen abfedert, indem er ihnen jeden Wunsch von den aufgesprungenen Dichterlippen abliest und auch durchaus mal bewusst den Prügelknaben mimt.

Mein Aufgabenbereich ist groß: Vor den Veranstaltungen die Koffer mit den Texten und dem Verbandszeug tragen. Die Ausdrucke der Kollegen noch mal in Schönschrift abschreiben und ordentlich auf den Tisch legen, so dass ihnen ein Handgriff genügt, bevor sie ans Mikrofon treten. Im Winter die Stühle anwärmen oder, wenn wie so oft die Lehne fehlt, diese durch meine eigenen Arme ersetzen. Im Sommer den erhitzten Dichtern den Schweiß von der Stirn wischen, ihnen Bier holen, die Tränen der Freude, Wut, Enttäuschung oder unkontrollierten Trunkenheit mit dem Tresenschwamm trocknen, den Bühnentisch stets mit frischen Schnittblumen, Kerzen und Salzstangen bestücken. Den Wirt vom Zosch ärgern. Vorworte schreiben.

Über die Frühgeschichte von LSD weiß ich wenig zu berichten – schließlich war ich damals noch gar nicht dabei. Meinen Einwand, dass ich folglich denkbar ungeeignet für die Erstellung dieser Zeilen sei, wusste Volker Strübing zu entkräften, indem er mir inmitten eines Hagels saftiger Backpfeifen, jedoch garniert mit einem verzeihenden Lächeln, einen zerknüllten Schmierzettel mit Informationen an den Kopf warf. Das half mir, mich zu erinnern: Ich bin der Stift.

Die allererste Veranstaltung fand am 4. Juli 1996 im »Café Nova« unter dem Titel »Supernova« statt. Die Frühmitglieder waren Uwe Beneke, Gunar Klemm, Sabine Mylius, Klaus Schwarz, Spider, Tube sowie Volker Strübing. Auch wird von einem gewissen André Lange gemunkelt, doch die einstmals scharfen Konturen präzisen Faktenwissens verschwammen im Laufe der Jahre offenbar zunehmend im dichter werdenden Bierdunst, wo sie sich am Ende ganz auflösten. Zurück blieb nur das rudimentäre Echo des diffusen Hauchs einer leisen Ahnung, was und wie es gewesen sein könnte.

Peanuts. Anfang September 1996 zog die von der nur ein Jahr älteren »Reformbühne Heim & Welt« beeinflusste Veranstaltung unter dem neuen Titel »Ein Keller Buntes« in den kleinen Veranstaltungskeller der Schankwirtschaft Zosch in der Tucholskystraße, wo sie seither beheimatet ist. 1999 erfolgte schließlich die Umbenennung in »LSD – Liebe Statt Drogen«, weil der alte Name »zu ostig« klang.

Der dritte Termin im Zosch sah den ersten Auftritt von micha-Ebeling, der schon kurz darauf regelmäßig mitwirkte. Man vergaß jedoch, ihn offiziell aufzunehmen und holte das erst 2005 im Rahmen der 9-Jahresfeier mit dem bekannten »Ritual« (Dichtertaufe in einem Zuber voll Gurkenwasser, Metaphern und Branntwein) nach. Bis heute durchgehalten haben die Gründungsmitglieder Spider, Tube und Volker Strübing. Sabine Mylius und Uwe Beneke schieden dagegen sukzessive aus, später folgten Klaus Schwarz und Gunar Klemm in den verdienten Vorruhestand. Für Gunars Nachfolge bestimmten Tube und Volker im Sommer 2000 Uli Hannemann, der bis heute einzigen Stimme des Westens der Bühne. Sie vergaßen jedoch, ihre Kollegen davon in Kenntnis zu setzen, die sich daher mindestens ein Jahr lang über den vermeintlichen Dauergast wunderten. Bereits im Herbst zuvor war Klaus Schwarz durch Ivo Smolak (Gesang) und Sascha Kross (Gitarre) ersetzt worden. Diese entwickelten als musikalisches Duo Ivo & Sascha bei LSD ihr Konzept von sich bestens in die Vorleseprosa einfügenden (selbst-)ironischen deutschsprachigen Songs, und trugen so nach nur kurzer Anlaufphase entscheidend zu einem ganz eigenen Akzent dieser Bühne bei.

Was unterscheidet LSD darüber hinaus von ähnlichen Lesebühnen?

Der Charakter der Lesebeiträge bedient meines Erachtens fast noch konsequenter als anderswo die Sparte Humor. Das kann man schön finden oder nicht – es wird sich ohnehin nicht ändern. Auffällig finde ich auch unsere sich hervorragend zu einem bunten Ensemble ergänzende Vielfalt. Jeder Leser – Ivo & Sascha stets als ein Act gesehen – bringt seine völlig eigene Farbe in die Veranstaltung. Genau das ist unsere ganz große Stärke – das behaupte ich jetzt mal einfach ganz frech, auch wenn sich nun bestimmt wieder die Mahner, Winsler und Kleingläubigen aus ihren Rattenlöchern recken und tröten, ich könne ja gar nicht anders, ich müsse in einem Vorwort natürlich schreiben, wie toll wir seien. Das ist richtig.

Erwähnen möchte ich, ehe es mir entfällt, noch kurz die erstaunliche Wesensverwandtschaft der LSD-Akteure in einem heiklen Punkt: Wir sind alle extrem vergesslich.

Weitere Besonderheiten betreffen die Atmosphäre: Das selbst in den Sommermonaten treue Publikum ist relativ jung, auch wenn sich in letzter Zeit die Tendenz zu verstärken scheint, mit uns zusammen alt werden zu wollen. Bei aller offensiven Amüsierwilligkeit ist es von wohlwollender Geduld, wozu bestimmt auch die Übersichtlichkeit und intime Atmosphäre der Räumlichkeiten beitragen. Andererseits setzt dieser Rahmen der Resonanz der Veranstaltung manchmal doch zu enge Grenzen – es gibt Abende, an denen wir uns vor und auf der Bühne aneinanderschmiegen wie Sardinen im Biersud.

Damit direkt in Verbindung steht möglicherweise ein anderes Phänomen: Das konsequente Ignorieren von LSD durch die Öffentlichkeit. Nahezu jeder Beitrag, der sich mit Berliner Lesebühnen befasst, scheint eine Art LSD-Filter durchlaufen zu haben. So prophezeite Volker Strübing: »Selbst wenn wir uns am Abend auf der Bühne kollektiv mit Benzin überschütten und anzünden, erscheint am nächsten Tag nur eine Randnotiz: ›Kellerbrand in Mitte‹.« Zugleich aber erfährt ausnahmslos jeder von uns Anerkennung an anderer Stelle: Sei es auf seiner jeweiligen Zweit- oder gar Drittbühne, von der »Chaussee der Enthusiasten« über »Lokalrunde« und »Reformbühne« bis hin zu den »Surfpoeten«, sei es über eigene Veröffentlichungen in Buch- oder CD-Form, als Kolumnist oder international erfolgreicher Slammer und Auftrittskünstler. So kippte das Befremden über ein letztlich belangloses Detail, auf das man überdies ohnehin keinen Einfluss hat, schnell in unterschwelligen Stolz: Schließlich nährt sich der stetige Besucherandrang bei LSD seit nunmehr zehn Jahren ausschließlich von der Mundpropaganda zufriedener Zuhörerinnen und Zuhörer. Und das ist doch schließlich auch was …

Ach ja, fast hätte ich es vergessen: Mit dem vorliegenden Buch inklusive einer CD mit Livemitschnitten aus dem Zosch wollen wir unser Stammpublikum an viele schöne gemeinsame Stunden erinnern, Interessierte an Lesebühnenliteratur heranführen, Begeisterungsfähige begeistern, und nicht zuletzt uns auch ein bisschen selber feiern – wir haben’s verdient. Hoch sollen wir leben! Prost!

Spider

Wie alles anfing

»Entschuldigung, hast du vielleicht mal eine Zigarette?«

Ich fingerte die halbvolle Schachtel aus der Jackentasche und hielt sie ihr hin. Einer hübschen jungen Lady sah ich das Geschnorre gerne nach. Sonst war ich da härter.

»Wenn du die demnächst rauchst, dürfte ich dann dabei sein?«

Verdammte Passivraucher. Es wurden immer mehr. Zu geizig für eigene Zigaretten, setzten sie sich zu den Aktivrauchern an die Tische in der Kneipe, fuhren sie bei der Bahn in den Raucherabteilen mit, manche gingen mit einem ins Bett, bloß wegen der Zigarette danach. Ich habe mal beobachtet, wie vier Erwachsene passiv bei zwei Schulkindern mitgeraucht haben, die in der großen Pause hinter der Turnhalle hustend ihre ersten Zigaretten probierten. »Wenn wir hier mitrauchen dürfen, verpetzen wir euch auch nicht.«

Die EU-Gesundheitsminister hatten sie auf die Idee gebracht. Es stand auf allen Schachteln. Passivrauchen war noch schädlicher, und man musste nichts selber machen. Viel bequemer als Aktivrauchen, und viel preiswerter.

Preisbewusstsein, das war auch wieder so ein Trend. Es war zum Kotzen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn sich irgendwo ein Besoffener auf den Bürgersteig erbrach, wurde er von preisbewussten jungen Menschen umringt, denen vom Gestank der Kotze übel wurde, und die sich nun ebenfalls entleerten, um dann bekleckert nach Hause zu wanken, ohne selber auch nur einen einzigen Cent für einen Tropfen Alkohol ausgegeben zu haben. Dieses Passivsaufen war der totale Blödsinn. Passivrauchen war wenigstens noch ungesund. Aber die Leute wollten immer öfter ein Laster ohne Risiko. Dann kamen diese Passivraser in Mode. Die eierten immer und immer wieder an derselben Radarfalle vorbei, bis sie mal mitgeblitzt wurden, wenn ein anderer zu schnell war, oder an einer Ampel, wenn einer bei Rot fuhr. Dann konnten sie mit einem Strafzettel prahlen, ohne überhaupt was riskiert zu haben. Unsportlich so was!

Es gab sogar Passivkriminelle. Wenn irgendwo ein Taschen- oder Ladendieb ertappt wurde, mit Tumult und Handgemenge, und »Haltet ihn!« gerufen wurde, dann rannten die einfach auch weg. Bloß wegen des Adrenalins, und wenn man sie verfolgte und erwischte, dann stellte sich heraus, dass sie gar nichts getan hatten. Da hatten sie auch keine Strafe zu befürchten. Alles verweichlichte immer mehr. Ich habe mal nach einem Banküberfall acht Leute in verschiedene Richtungen weglaufen sehen. Einer war der Räuber mit dem Geld, die anderen wollten bloß den Nervenkitzel. Eigentlich war Passivrauchen noch harmlos. Es gab wirklich Dekadenteres. Wahrscheinlich wollte die hübsche junge Lady wirklich bloß Geld sparen. Ich steckte mir sofort eine an und blies ihr den Rauch direkt ins Gesicht. Was für Augen. Sie lächelte dankbar. Sie hörte gar nicht mehr auf mit Lächeln. Funkenentladungen knisterten zwischen unseren Körperteilen. Ich wusste nicht, wie ich sie ansprechen sollte. War sie so eine, die Passivsex bevorzugte, oder aktiven? Oder interpretierte ich das alles völlig falsch?

»Was machst du heute Abend?«, fragte ich.

»Ich gehe zu LSD – Liebe Statt Drogen«, sagte sie.

»Was ist das?«

»Da kann man sich Geschichten vorlesen lassen«, erklärte sie, »man braucht also nicht selber lesen.«

Eine Passivleserin. Ich hätte es wissen müssen. Klar sie rauchte passiv, also las sie auch passiv. Aber dieses Lächeln … Damit kriegte sie mich rum. Ging ich eben mit zum Passivlesen. LSD – Liebe Statt Drogen. Es blieb nicht bei einem Mal. Wir trafen uns öfter. Wir sind jetzt seit zehn Jahren zusammen. Aber an das Passive habe ich mich nicht gewöhnen können. Wenn ich sowieso jeden Dienstag dahin ging, konnte ich auch gleich selber Aktivlesen, beschloss ich. Und so fing alles an.

Tube

Interviews

Ich hatte grade ein Ei verzehrt, als plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung, für mich also völlig unvermittelt und überraschend, das Telefon klingelte. Wobei – klingelte kann ich eigentlich nicht sagen. Eher: düdelte. Denn klingeln im klassischen Sinne, wo ein Klöppel gegen eine Glocke haut, tun die mikroprozessorgesteuerten Fernsprechendgeräte unseres digitalen Zeitalters ja nicht mehr. Sie düdeln eben, und das ISDN düdelte bei mir noch mal.

Eines der angenehmsten Merkmale des ISDN ist, dass, bevor man den Hörer abnimmt, auf dem Display die Nummer von dem erscheint, der das Düdeln durch Eingabe meiner Telefonnummer provoziert hat.

Ich schaute nach: 040, gefolgt von diversen anderen Ziffern, die ich hier aus Gründen der Diskretion mal unerwähnt lasse. Hamburg also. Ich ging im Geiste all meine Bekannten in dieser Stadt durch und war sofort fertig. Null. Ein Überraschungs-ISDN. Bestimmt verwählt, dachte ich und nahm ab.

»Hallo?«

Eine Frau war dran und fragte, ob ich eine Firma sei. Ich verneinte und glaubte, damit sei die Sache abgehakt. Verwählt, ich bin nicht die Firma, doch die Frau sagte: Na, prima. Ich wäre genau der Richtige für sie. Ob ich nicht Lust hätte, an einer kurzen Umfrage für so ein Statistikinstitut teilzunehmen. Meine Telefonnummer sei sozusagen ausgewürfelt, durch Vorgabe einer Rumpfnummer mit randomisierter Permutation der Endziffern völlig kontextfrei erwählt worden, das Interview sei anonym und würde nur ein geringes Quantum der Gegenwart konsumieren.

Ich glaube, die Dame hat sich etwas umständlicher ausgedrückt, als ich es hier im Prinzip gerade wiedergegeben habe, aber ungefähr das hat sie gesagt, und ich willigte ein, bei diesem Interview mitzumachen, weil ich mir so dachte: Ja, da sitzt die arme Frau jetzt in Hamburg rum, kriegt ein paar läppische Euro für jedes erfolgreiche Telefonat, da werde ich ihr doch mal zu ein paar läppischen Euro verhelfen.

Und sie stellte Fragen nach Alter, Hautfarbe, Geschlecht, sexueller Ausrichtung, Verdienst und Beruf. Dabei kam heraus, dass ich ein 18-jähriger, schwuler Dunkler bin, der von Beruf Telefoninterviewer ist und damit etwas über 25.000 Euro pro Monat verdient.

Ohne Neid im Tenor ging sie zur nächsten Frage über. Wie viele Stunden pro Tag höre ich Radio?

Achtung! Vorsicht Falle!

Verdeckte Ermittler der GEZ könnten hinter solchen Umfragen stecken! Und, um neben Warmduscher und Turnbeutelvergesser nicht auch noch als GEZ-Zahler beschimpft zu werden, war die korrekte Antwort natürlich: Nein, ich habe kein Radio. Nein, auch keinen Fernseher. Einen Videorekorder? Ja, hab ich. Nein, ich hab wirklich keinen Fernseher. Doch, zum Videogucken nehme ich den Recorder immer zu Freunden mit …

Ob ich trotzdem manchmal Radio höre? Ja, bei Freunden. Mein Lieblingsradiosender?

»Tja, Radio 86,5«, fiel mir spontan ein. Das war jedenfalls die Frequenz, worauf der Westberliner Polizeifunk zu hören war, wenn man sein Radio geöffnet und ein kleines Schräubchen so verdreht hatte, dass es auf dieser Wellenlänge empfangen konnte. Zumindest hat das zu DDR-Zeiten so funktioniert, und ich saß manchmal stundenlang vor meinem modifizierten Empfangsgerät und lauschte den spannenden Verbrechen, die die da drüben zu bekämpfen hatten.

Die Hamburgerin am Telefon zeigte sich verblüfft und fragte, was das denn für ein Sender sei, Radio 86,5, den kenne sie nicht, der stehe gar nicht auf ihrer Liste.

Na ja, das ist mehr so ein regionaler Hörfunk. Und: Warum ich den so besonders mag? Wegen der interessanten Informationen. Musik? Nee, kommt da eigentlich nicht … Nö. Eher nie.

Damit war das Interview auch schon erledigt, die Dame bedankte sich, versicherte mir, dass all meine Daten anonym behandelt und auf gar keinen Fall im Zusammenhang mit der Telefonnummer weitergegeben würden.

Eine halbe Stunde später klopfte jemand an meine Wohnungstür, ich öffnete und da stand ein geschäftsmäßig gekleideter Mensch, der zu mir meinte, dass ich doch so aussähe, als würde ich ’ne ganze Menge Kohle verdienen, und er wüsste, wie man das Geld perfekt anlegen und dabei auch noch jede Menge Steuern sparen könne.

Ich erklärte dem Kerl, dass es doch ganz gut wäre, besonders viele Steuern zu bezahlen, das ist ja schließlich auch für die Sozialhilfeempfänger gedacht, und die sollten, wenn’s nach mir ginge, dreifaches Gehalt kriegen. Was er sich überhaupt einbilde, dass er Steuern sparen will, um damit denen, die nicht arbeiten wollen, auch noch das ganze Geld wegzunehmen. Darüber könnte er ja mal vielleicht nachdenken. Und ich hab die Tür zugeknallt.

Da düdelte auch schon wieder das Telefon.

Ein weiteres Merkmal des Standard-Euro-ISDN-Anschlusses ist, dass man mindestens drei verschiedene Rufnummern zur Verfügung hat, unter denen man erreichbar ist.

Der Anruf kam aus Hamburg. Die Telefonnummer war, wie mir die Interviewerin am anderen Ende der Leitung versicherte, rein zufällig von einem Computer durch wahlfreie Vertauschung der Endziffern generiert worden. Ob ich nicht Lust hätte, an so einer Umfrage, völlig anonym natürlich, teilzunehmen.

Klar, logisch! Das machte ich doch gerne.

Diesmal war ich 98 Jahre alt, von Beruf Rentner, Radio und Fernsehen kannte ich nicht. Da glaubte ich überhaupt nicht dran, das war doch alles Betrug, die Menschen in solch kleine Kisten reinzustecken und das ganze dann »Television« zu nennen. Nein, früher hätte man sich so was nicht getraut, und auch das Telefon, das hielt ich für ein lustiges Spielzeug, das sich mein 70-jähriger Sohn neulich angeschafft hätte, der aber gerade nicht da sei, und überhaupt, dass doch alle total spinnen heutzutage …

Ein halbe Stunde später klopfte jemand an der Tür, der sich mir als Vertreter eines renommierten Bestattungsinstitutes bekannt machte und mir die neueste Eichensargkollektion seines Unternehmens vorstellen wollte.

michaEbeling

Flammende Liebesschatten an den Brandmauern der Unwirklichkeit

»Sredzkistraße 29«, tönt es aus dem Lautsprecher.

»29? Is det die Kneipe oder privat?«, frage ich nach, weil mir einfällt, dass da auch eine Bar im Haus ist.

»Nein, ich hab hier nichts weiter zu stehen.«, gibt das Frollein Auskunft.

»Allet Klärchen – Sredzki 29, janz privee, danke.«

Leichte Wehmut überkommt mich, als ich den Franzclub, der in einen Dornröschenschlaf versetzt scheint, hinter mir lasse. War er nicht ein Fährschiff, das die Erinnerungen der Traumtänzer geduldig zwischen Vergangenheit und Gegenwart für ein paar Groschen hin- und herschipperte?

»Bla Bla« steht über der Gruft zu meiner Linken, in der die Großstadtvampire und die gegen das Tageslicht immunen Daywalker gemeinsam darauf hinzechen, von einem gnädigen Bladerunner enthauptet und damit von ihrem erbärmlichen Wiedergängerdasein erlöst zu werden.

Sanft gleite ich weiter durch die schreiende Graustille der irrlichternden Illuminationen.

Aus dem Hauseingang mit der richtigen Nummer löst sich schnellen Schrittes eine Gestalt und steigt ein, als ich so bremse, dass der Griff der hinteren rechten Wagentür in der Lücke zwischen zwei parkenden Autos zur Ruhe kommt.

»Hallo«, sagt eine unglaubliche, weibliche Stimme, die mich schon in ihren Bann zieht, noch ehe ich irgendwelche Konturen des dazugehörenden Gesichtes im Rückspiegel wahrnehmen kann. »Ich möchte ins Kino Balász, das ist …«

»Ich fahr dich ins Balász.«, sage ich mit einer Stimme, die ihr suggerieren soll, dass ich sie nicht nur ins Balász bringen würde, sondern mit ihr auch einmal um die Welt fahren würde – für den halben Preis, versteht sich.

»Was willst du dir denn ansehen?«, frage ich, als ich auf der abschüssigen Zielgeraden die erlaubten 50 km/h wegen der Ampelschaltungen unerheblich überschreite. Politik fängt bei mir im Straßenverkehr an. Ich wähle Grün. »Schwarze Tränen«, nennt sie mir den Titel des Films. Die Straße ist hell erleuchtet. Ich kann ihr Gesicht jetzt gut im Rückspiegel sehen, sie ist wunderhübsch. Sie hat ihre Mütze, die sie wie eine frierende Pariserin auf der Rue St. Denise aussehen ließ, abgesetzt. Ich kriege weiche Knie. Das heißt, nur eins, denn mit Rechts muss ich ja bremsen und Gas geben. Sie hat Philosophie studiert, lässt sie mich im weiteren Verlauf des Gesprächs wissen, und mit ein paar gekonnt platzierten Plattitüden bin ich im Rennen.