Cover

Table of Contents

Title Page

Impressum

Zum Verlieben ähnlich

Die Autorin

 

 

 

 

 

Ria Karlotti

 

Zum Verlieben ähnlich

 

 

Erotikroman

 

 

 

 

Ashera Verlag

In der Reihe DAS ROSENROTE SCHLÜSSELLOCH bereits erschienen:

 

SINNESLUST 1 – Hrsg. Alisha Bionda, Anthologie

SINNESLUST 2 – Hrsg. Alisha Bionda, Anthologie

DIE HERRIN DER DORNEN – Karl-Georg Müller, BDSM-Erotik-Roman

MOON OF WITCHCRAFT – Sophia Rudolph, Fantastischer Erotikroman

 

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erste Auflage im April 2022

 

Copyright © 2022 dieser Ausgabe by Ashera Verlag

Hauptstr. 9

55592 Desloch

ashera.verlag@gmail.com

www.ashera-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder andere Verwertungen – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Verlags.

Covergrafik: AdobeStock

Innengrafiken: AdobeStock

Szenentrenner: AdobeStock

Coverlayout: Atelier Bonzai

Redaktion: Alisha Bionda

Lektorat & Satz: TTT

Vermittelt über die Agentur Ashera

(www.agentur-ashera.net)

 

 

Auf Zehenspitzen schlich Silke aus dem Kinderzimmer. Im Stillen verfluchte sie die Türangel, die ihren letzten Versuch, sich davonzustehlen, durch lautes Quietschen zunichtegemacht hatte. Das Kind, das sie gute zwanzig Minuten lang in den Schlaf gesungen hatte, war wieder aufgewacht und hatte greinend nach einem weiteren Gutenachtlied verlangt. Allerdings brauchte es nicht eines, sondern drei Lieder und ein Märchen, bis Jakob endlich wieder die Augen zufielen. Inzwischen fühlte sich Silke gerädert und wäre am liebsten auf direktem Weg ins Bett gegangen. Aber heute hatte sie noch etwas vor.

Im Zeitlupentempo, Millimeter für Millimeter, drückte sie die Tür auf, immer darauf gefasst, das unsägliche Knarren und gleich darauf hinter sich die Stimme ihres Sohnes zu hören. Sobald der Spalt groß genug war, dass sie hindurchschlüpfen konnte, schob sie sich hinaus auf den Flur und machte sich daran, die Tür ebenso langsam, wie sie sie zuvor geöffnet hatte, wieder zu schließen. Lautlos drückte sie die Klinke.

Geschafft!

Aufatmend verharrte die geplagte Mutter einen Augenblick vor der Zimmertür ihres Sohnes. In die Erleichterung über die gelungene Flucht mischte sich schlechtes Gewissen über das Ausmaß dieser Erleichterung. Jakob war doch ihr geliebter Junge – ein Wunschkind, mit dem ihr größter Traum in Erfüllung gegangen war! Dennoch fühlte sie sich durch den allabendlichen stundenlangen Frondienst an seinem Bett eingeengt und belastet.

Vielleicht war es deswegen eine gute Idee gewesen, sich heute mit Marina zu verabreden. Trotz ihrer Müdigkeit war der Gedanke, einmal ohne die Kinder etwas mit ihrer besten Freundin zu unternehmen, durchaus verlockend. Silke hätte es zwar vorgezogen, gemeinsam essen zu gehen und danach in eine Bar oder vielleicht sogar in einen Club – wie früher, in ihren wilden Zeiten – aber da Marina dieser Chansonabend so viel bedeutete, hatte sich Silke in ihr Schicksal gefügt. Hauptsache, sie kam wieder einmal unter Menschen!

Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie sich beeilen musste, wenn sie nicht im Hausfrauenoutfit auf das Konzert gehen wollte. Rasch machte sie sich auf den Weg ins Bad, vorbei an ihrem Ehemann Paul, der im Wohnzimmer vor dem Fernseher saß und ihr einen mitfühlenden Blick zuwarf.

»Das hat mal wieder gedauert! Tut mir leid, dass ich es dir nicht abnehmen konnte, aber er besteht ja leider darauf, dass du ihn ins Bett bringst.«

»Ja, leider.« Silke seufzte. Früher hatte sie die Mütter verachtet, die ihre Kinder verzärtelten und nach der Pfeife der Nachkommenschaft tanzten. Nie hätte sie geahnt, wie kurz der Ast war, auf dem man als Mutter saß, und um wie viel länger derjenige der lieben Kleinen.

 

Im Badezimmer angekommen, warf sie einen kritischen Blick in den Spiegel. Nun ja. Verglichen mit ihrem Aussehen vor fünf Jahren, bevor sie mit Jakob schwanger geworden war, fiel ihr Anblick jetzt eher bescheiden aus. Aber damals war sie auch noch keine dreißig, Stammgast im Fitnessstudio, bekam regelmäßig ihre sieben Stunden Schlaf, und ihre Freizeit gehörte ihr allein. Natürlich sah man da anders aus.

Inzwischen hatte der Schlafmangel feine Fältchen unter ihren Augen hinterlassen, ihre Haut war blass, und das lange blonde Haar hätte dringend einer Wäsche bedurft. Aber dafür war jetzt keine Zeit. Es musste auch so gehen.

Entschlossen griff Silke zur Bürste und bearbeitete ihr Haar so lange, bis es ihr seidig glänzend über die Schultern fiel. Mit einigen schnellen, geschickten Handgriffen gestaltete sie eine ansprechende Hochsteckfrisur, dann zauberte sie mit Make-up und Rouge etwas Farbe auf ihre Wangen. Silbergrauer Lidschatten, Kajalstift und Mascara brachten ihre blau-grauen Augen gekonnt zur Geltung; die vollen Lippen betonte sie dezent mit Lippenstift in unaufdringlichem Rosé. An ihren Ohrläppchen befestigte sie zarte silberne Ohrringe, die zu ihrer Halskette passten. Schnell noch Parfum aufgetragen, in eine elegante schwarze Bluse mit halbtransparenten Ärmeln und enge Jeans geschlüpft, und das Ergebnis konnte sich durchaus sehen lassen. Zufrieden trat Silke einen Schritt zurück und betrachtete ihr Spiegelbild. Die äußerliche Verwandlung übertrug sich auf ihre Stimmung – die Müdigkeit war mit einem Mal von ihr abgefallen, und sie fühlte sich jung und unternehmungslustig.

Als sie hinter Paul trat, um sich mit einem Kuss auf die Wange von ihm zu verabschieden, wandte er sich zu ihr um und stieß einen anerkennenden Pfiff aus.

»Donnerwetter, siehst du spitzenmäßig aus! So sollte ich dich eigentlich nicht allein unters Volk lassen.«

»Musst du aber.« Silke grinste geschmeichelt. »Ich bin dann mal weg!«

»Hab einen schönen Abend, mein Schatz!«, rief Paul ihr nach.

Mit Schwung schlug sie die Tür hinter sich zu.

 

 

»Ich habe schon befürchtet, du wärest bei deinen Männern hängengeblieben.« Marina wartete bereits am vereinbarten Treffpunkt.

Silke umarmte die Freundin. »Keine Sorge! Unseren gemeinsamen Abend lasse ich mir nicht entgehen! Ich weiß gar nicht, wann wir uns zuletzt zu zweit gesehen haben.«

»Jahre muss das her sein«, bestätigte Marina nachdenklich. »Wenn ich mich recht erinnere, hast du Jakob damals noch gestillt und warst den ganzen Abend unruhig, weil du Sorge hattest, dass er das Fläschchen nicht von Paul annehmen würde.«

»Puh, bin ich froh, dass diese Zeit vorüber ist!« Silke schüttelte sich. Trotz seiner abendlichen Eskapaden war Jakob mit seinen vier Jahren unvergleichlich pflegeleichter als während der Babyzeit. Seit er die Kita besuchte, hatte sie zwei Vormittage in der Woche für sich. Natürlich widmete sie diese Zeit zwangsläufig in erster Linie der Hausarbeit, putzte die Wohnung, wusch und bügelte die Wäsche – aber sie empfand allein schon die Tatsache, sich allein zu Hause aufhalten und in Ruhe ihren Verrichtungen nachgehen zu können, als ungewohnten Luxus.

»Das Lokal ist dort an der Ecke.« Marina deutete mit der Hand in eine Richtung. »Komm, gehen wir hinein und sichern uns einen guten Platz!«

 

Kurz darauf machten es sich die beiden Freundinnen an einem kleinen Bistrotisch gemütlich – sofern man angesichts der harten Holzstühle von gemütlich sprechen konnte. Der Tisch, den sie ausgewählt hatten, befand sich im vorderen Drittel des Kellerlokals und bot einen guten Blick auf die schlichte Bühne, auf der Klavier und Mikrofon schon bereitstanden. Nachdem sie beim Kellner Getränke bestellt hatten, wandte sich Silke an ihre Freundin. »Sag mir noch einmal, wie du auf die Sängerin kommst! Ich weiß, du hast es mir schon erzählt, aber ich habe es leider vergessen.«

»Alzheimer – schon mit dreiunddreißig?«, feixte Marina. Aber dann kam sie der Bitte nach. »Ich kenne Daria nicht persönlich, aber wir sind gemeinsam in einer Facebookgruppe. Dort sind alle begeistert von ihr, und sie macht wirklich einen sehr sympathischen Eindruck. Ich habe mir ihre Lieder auf YouTube angehört – großartig, sage ich dir! Aber das wirst du gleich selbst erleben.«

Mit einem Kopfnicken deutete sie zur Bühne, wo sich eine junge Frau mit feuerroter Kurzhaarfrisur und Jeans-Latzhose soeben ans Klavier setzte. Die Sängerin, eine attraktive Blondine Ende zwanzig, trat ans Mikrofon. Sie trug die glatten blonden Haare offen und in der Mitte gescheitelt, wie es in den 1960er Jahren Mode gewesen war. Ein enges Jeanstop gab den Blick auf ihren Nabel frei, den ein glitzerndes Piercing schmückte. Dazu kombinierte sie einen gewagt kurzen Minirock, der über und über mit einem wilden Muster in leuchtenden Farben bedeckt war. Bewundernd glitt Silkes Blick über die schlanken gebräunten Waden hinunter zu den Füßen, die in hochhackigen Riemchensandaletten steckten, auf denen Silke keine zwei Meter unfallfrei hätte gehen können. Die Zehennägel der jungen Frau leuchteten in demselben satten Rot wie ihre wohlgeformten Fingernägel.

»Was für eine Schönheit«, flüsterte Silke ihrer Freundin zu.

Die bedachte sie mit einem merkwürdigen Blick. »Eigentlich sieht sie aus wie du.«

»Bist du verrückt?« Silke stieß ein Lachen aus, das über das Murmeln im Publikum deutlich zu hören war. Die Sängerin wandte sich suchend um und ließ ihren Blick über die Zuschauer schweifen. Offenbar wollte sie erkunden, wer so laut gelacht hatte. Silke fühlte das Blut in ihre Wangen schießen und machte sich auf ihrem Stuhl klein.

Wie peinlich! Hoffentlich entdeckt sie mich nicht!

Gleich darauf blickte ihr Daria direkt ins Gesicht. Silke warf der Sängerin ein entschuldigendes Lächeln zu, doch die junge Frau blieb ernst. Sie neigte nur leicht den Kopf, als wolle sie Silke begrüßen. Dann wandte sie sich wieder ihrem Publikum zu.

Marina beugte sich zu ihrer Freundin hinüber. »Ich glaube, ihr ist es auch aufgefallen«, murmelte sie.

»Was denn?« Silke war froh, dass der peinliche Moment überstanden war.

»Eure Ähnlichkeit!«, flüsterte Marina fasziniert. »Schau sie doch genau an! Ihr habt dieselbe Haarfarbe und denselben Haarschnitt – nur dass du die Haare heute nicht offen trägst. Ihre Augen scheinen blau zu sein wie deine. Und eure Gesichtszüge – man könnte euch für Zwillinge halten! Unglaublich, so etwas habe ich noch nie gesehen!«

Zweifelnd musterte Silke die Künstlerin. Ob sie ihr tatsächlich so ähnlich sah? Natürlich unterschieden sich ihre Aufmachungen deutlich voneinander – neben der schillernden Sängerin kam sich Silke langweilig und bieder vor. Aber das Gesicht … es mochte sein, dass Marina Recht hatte.

»Spannend! Glaubst du, wir können nachher kurz mit ihr reden?«, raunte sie der Freundin zu.

Diese nickte entschlossen. »Unbedingt!«

Als die Rothaarige die ersten Töne am Klavier anschlug, verebbte das gedämpfte Stimmengewirr im Raum. Silke lehnte sich auf dem ungemütlichen Stuhl zurück, versuchte, das Drücken der Holzstreben gegen ihren Rücken auszublenden, und ließ die Musik auf sich wirken.

Nach einem kurzen instrumentalen Intro stimmte die Sängerin in das Lied ein. Ihre Stimme ließ Silke erschauern – volltönend, melodiös und auf eine Art und Weise präsent, der man sich nicht entziehen konnte. Sie sang auf Deutsch, und dabei so eindringlich und gefühlvoll, als spräche sie ein Gedicht für ihren Liebsten. Unbewusst hielt Silke den Atem an.

Ein kurzer Seitenblick auf Marina bewies ihr, dass auch die Freundin nicht unbeeindruckt blieb. Sogleich wandte sich Silke wieder der Sängerin zu und ließ sich von der Musik forttragen. Darias klangvolle Stimme und die poetischen Worte zogen sie in ihren Bann. Alles, was Silke üblicherweise beschäftigte – ihr Alltag zwischen Jakob und dem Teilzeitjob als Werbetexterin, der Haushalt, Playdates mit Freundinnen und deren Kleinkindern – trat in den Hintergrund. Silke war nur noch im Hier und Jetzt, ging in der Musik auf. Bei einem besonders traurigen Lied, das von Liebe und Abschied handelte, traten Tränen in ihre Augen. Ein anderer Song – eine Ode an die körperliche Liebe, die die Sängerin mit tiefer, erotischer Stimme vortrug – ließ sie erbeben. Auf ihren Armen bildete sich Gänsehaut. Eine Vielfalt an Gefühlen erfüllte Silke und überwältigte sie beinahe.

 

Als sich die Musikerinnen hinter die Bühne zurückzogen, um eine Pause einzulegen, wandte sich Silke Marina zu. Doch ihr fehlten die Worte – zu sehr stand sie noch unter dem Bann der Musik. Auch die Freundin wirkte tief beeindruckt.

»Daria ist ein Wahnsinn, oder? Ich hatte es schon aufgrund ihrer Videos angenommen, aber live ist sie einfach unglaublich«, bemerkte Marina schließlich.

»Ja«, bestätigte Silke. »Noch nie ist mir Musik so unter die Haut gegangen.«

»Man sieht es dir an«, erwiderte Marina lächelnd. »Richtig mitgenommen wirkst du.«

Um wieder ein wenig zu sich zu kommen, bestellte Silke noch ein Bier. Ungeduldig wartete sie auf die Fortsetzung des Konzerts.

Endlich betraten die beiden Künstlerinnen wieder die Bühne. Der zweite Teil der Darbietung stand dem ersten in nichts nach. Wieder ließ sich Silke von der Kraft der Musik fortschwemmen und ging ganz und gar darin auf.

Als die Vorstellung zu Ende war, fühlte sie sich tief bewegt und beinahe erschöpft.

»Komm, gehen wir!«, schlug sie vor.

»Jetzt schon?«, fragte Marina verblüfft. »Ich dachte, wir wollten noch auf Daria warten und mit ihr reden.«

»Ich weiß nicht …« Silke war die Vorstellung, sich der Sängerin persönlich zu nähern, plötzlich nicht mehr geheuer. Eine seltsame Scheu hatte von ihr Besitz ergriffen. »Daria braucht nach der Anstrengung sicher Ruhe. Wir wären ihr wahrscheinlich nur lästig.«

»Unsinn!« Marinas Tonfall duldete keinen Widerspruch. »Ich habe in die Facebookgruppe geschrieben, dass ich ihr heutiges Konzert besuche, und sie hat mich ausdrücklich dazu aufgefordert, nachher zu ihr zu kommen, damit wir uns endlich persönlich kennenlernen. Und außerdem – mich interessiert die unheimliche Ähnlichkeit zwischen euch. Womöglich seid ihr entfernt verwandt. Willst du das nicht herausfinden?«

Silke kannte ihre Freundin gut genug, um zu wissen, wann Widerstand zwecklos war. Also fügte sie sich in ihr Schicksal.

Kurze Zeit später erschienen die beiden Musikerinnen im Lokal. Marina erhob sich von ihrem Stuhl und winkte sie zu sich. Die beiden bemerkten die Geste und steuerten auf ihren Tisch zu. Silkes Herz klopfte heftig. Gleichzeitig schalt sie sich für ihre Nervosität. Was sprach schon dagegen, einige Worte mit dieser Ausnahmekünstlerin zu wechseln?

Marina übernahm die Vorstellung, gab sich als Darias Facebookkontakt zu erkennen und stellte Silke den beiden Frauen vor. Daria reichte Silke die Hand und warf ihr einen langen, prüfenden Blick zu. Ihre Finger lagen zart und schmal zwischen Silkes, und Silke spürte mit Schrecken, wie sie zu schwitzen begann. Hastig zog sie ihre Hand zurück.

»Du … du singst großartig – ihr seid großartig!«, beeilte sie sich mit einem Seitenblick auf die Pianistin, die sich als Beate vorgestellt hatte, zu beteuern.

»Setzt euch doch zu uns! Trinken wir etwas gemeinsam!«, lud Marina die Künstlerinnen ein. Diese kamen dem Angebot gerne nach. Daria setzte sich auf den Stuhl neben Silke, Beate nahm ihr gegenüber Platz.

Nachdem sie ihre Getränke bekommen und einander zugeprostet hatten, zückte Marina ihr Handy.

»Darf ich ein Foto von euch machen? Ich kann noch immer nicht fassen, wie ähnlich ihr einander seht! Das ist einfach unglaublich!«

Daria lächelte Silke zu. »Mir ist es auch aufgefallen. Vorhin schon, als ich auf der Bühne stand.«

Silke errötete. »Du bist viel schöner als ich«, murmelte sie.

»Das stimmt nicht.« Daria betrachtete eingehend ihr Gesicht. »Würdest du einmal dein Haar öffnen bitte?«

Unsicher griff Silke nach ihrer Haarspange und löste sie. Hoffentlich war ihr Haar nicht allzu fettig! Sie hätte es doch waschen sollen.

»Darf ich?« Die Sängerin hob die Hände an Silkes Kopf. Mit zarten Bewegungen drapierte sie ihr Haar auf dieselbe Weise, wie sie selbst es trug. Dann schenkte sie Silke ein strahlendes Lächeln.

»Nein, Silke – du bist schöner!«

Silke wusste nicht, was sie sagen sollte. Sprachlos erwiderte sie Darias Lächeln.

»Foto, Foto!« Marina hüpfte vor Aufregung beinahe auf ihrem Stuhl.

Daria schlang einen Arm um Silkes Schulter, und die beiden wandten sich der Fotografin zu. Die betätigte mehrmals den Auslöser, dann zeigte sie sich zufrieden.

»So«, erklärte sie unternehmungslustig. »Jetzt versuchen wir, eurem Geheimnis auf die Spur zu kommen.«

Dankbar fügte sich Silke der Moderation durch die Freundin. Pflichtschuldig tauschte sie mit Daria Informationen über ihre jeweilige Abstammung, Verwandte und die Familiengeschichte aus. Zu Marinas Verblüffung fand sich keinerlei Hinweis auf eine Verwandtschaft. Dafür brachte das Kreuzverhör andere interessante Details über das Leben der Sängerin zutage:

Wie sich herausstellte, war Daria achtundzwanzig Jahre alt – also ein ganzes Stück jünger als ihr Alter Ego – und gelernte Grafikerin. Allerdings hatte sie ihren Beruf vor einem Jahr an den Nagel gehängt, um sich ganz der Musik zu widmen. Silke wagte nicht, sie nach ihrer familiären Situation zu fragen. Aber anscheinend wusste die Doppelgängerin ihre Gedanken zu lesen.

»Beate und ich sind seit drei Jahren zusammen«, erklärte sie und ergriff zärtlich die Hand der rothaarigen Pianistin. »Wir führen eine offene Beziehung«, setzte sie hinzu.

Silke schluckte. Eine Lesbe – das hätte sie nicht gedacht! Unsicher schweifte ihr Blick zu Beate, die ebenfalls lächelte. Mit einem liebevollen Seitenblick auf Daria drückte sie deren Hand.

»Genau«, bestätigte sie. »Bei uns ist alles erlaubt und nichts verboten – außer Unehrlichkeit.«

Silke wusste mit dieser Information nicht viel anzufangen. In traditionellen Verhältnissen aufgewachsen, war ihr ein Beziehungsmodell wie das der beiden Frauen völlig fremd. Hilfesuchend schaute sie ihre Freundin an, die ebenfalls ein wenig verunsichert wirkte.

»Ihr hattet einen anstrengenden Abend«, sagte Marina und spielte mit ihrem leeren Glas. »Wir wollen euch nicht aufhalten, ihr seid sicher müde.«

Dankbar ergriff Silke den Strohhalm. »Ich muss sowieso gehen«, erklärte sie. »Jakob wacht oft in der Nacht auf, und wenn ich dann nicht bei ihm bin, beruhigt er sich nicht wieder.«

»Schade!« Daria wirkte ehrlich enttäuscht. »Gibst du mir deine Nummer? Wir könnten uns nochmal treffen und in Ruhe plaudern.«

»Sicher«, beeilte sich Silke zu erwidern und diktierte der Sängerin ihre Telefonnummer. Innerlich bebte sie vor Stolz. Nie hätte sie gedacht, dass sich eine Frau wie Daria für sie interessieren könne! Nachdem die blonde Musikerin Silkes Nummer in ihr Handy getippt hatte, stand sie auf und umarmte ihre Doppelgängerin.

»Bis bald!«, flüsterte sie der Überraschten ins Ohr.

Die nickte nur, reichte Beate zum Abschied die Hand und bahnte sich einen Weg zwischen den Tischen und Stühlen hindurch zum Ausgang.

Draußen atmete sie tief die kühle Luft ein.

»Das war vielleicht ein Abend!«, stellte Marina fest, als sie unmittelbar hinter Silke das Lokal verließ. »Daria und du, ihr liegt voll auf einer Wellenlänge, nicht wahr? Man spürt fast die good vibrations zwischen euch!«

Silke nickte nachdenklich. »Ja. Sie hat mich heute wirklich überwältigt! … Aber jetzt muss ich nach Hause, es ist schon spät. War toll, dich zu sehen, Liebes! Danke, dass du mich mitgenommen hast!« Hastig umarmte sie die Freundin und machte sich auf den Weg.

Bevor sie um die Ecke bog, fiel ihr noch etwas ein. Sie blieb stehen, wandte sich um und rief der Davoneilenden nach: »Schickst du mir die Fotos bitte?«

Mit hochgerecktem Daumen gab Marina zu erkennen, dass sie Silkes Bitte nachkommen würde. Zufrieden setzte Silke ihren Weg fort.

 

 

In dieser Nacht schlief sie unruhig. Die eindringlichen Melodien von Darias Chansons verfolgten sie bis in ihre Träume. Wieder und wieder fühlte sie die kühle, zarte Hand der Sängerin durch ihr Haar fahren.

Am nächsten Tag konnte sie es kaum erwarten, Paul von ihrem Erlebnis zu berichten.

»Und sie sieht wirklich aus wie du? Das kann ich mir kaum vorstellen!«, meinte ihr Ehemann ungläubig.

»Ja, wirklich – überzeug dich selbst!«, bestätigte Silke und hielt ihm ihr Handy vor die Nase.

Mit gerunzelter Stirn betrachtete Paul das Foto der beiden Frauen. »Tatsächlich!«, meinte er dann. »Die Ähnlichkeit ist frappierend! Wenn man genau hinsieht, ist Darias Nase zwar eine Spur schmäler als deine, und dein Gesicht kommt mir ein wenig voller vor als ihres … aber wenn ihr euch gleich anziehen und frisieren würdet, sähet ihr einander zum Verwechseln ähnlich!«

Die Worte ihres Mannes erfüllten Silke mit Stolz. Eine Frau wie Daria als Doppelgängerin schien ihr ein unverdientes Privileg. Ob sich die Künstlerin bei ihr melden würde? Interessant wäre es schon, mehr über sie herauszufinden. Mit jemandem, der ihr so ähnlich sah, musste sie doch auch andere Gemeinsamkeiten haben!

Offenbar konnte Daria Silkes Gedanken auch über einige Entfernung hinweg lesen, denn wenige Minuten später traf eine WhatsApp Nachricht auf Silkes Handy ein.

‚Ich habe mich sehr gefreut, dich gestern kennenzulernen! Vielleicht hast du Lust, dich auf einen Kaffee mit mir zu treffen?‘

Silke zögerte keinen Augenblick. Rasch speicherte sie Darias Nummer auf ihrem Mobiltelefon. Dann beantwortete sie die Nachricht.

‚Die Freude war ganz auf meiner Seite! Deine Musik hat mich tief berührt, du singst wirklich großartig! Gerne können wir uns treffen. Bei mir geht es am besten an einem Dienstag oder Freitag vormittags. Da habe ich arbeitsfrei, und mein Sohn ist in der Kita.‘

Nachdem sie die Nachricht abgeschickt hatte, betrachtete Silke noch einmal das Foto. Wie Zwillingsschwestern sahen die beiden strahlenden Frauen auf dem Bild aus, und die Geste, mit der Daria ihren Arm um sie legte, machte beinahe einen liebevollen Eindruck. Entschlossen klickte Silke auf Weiterleiten und schickte der Sängerin das Foto.

Ihre Reaktion traf keine zwei Minuten später ein.

‚Danke, das ist ja toll geworden! Jetzt verstehe ich, warum Marina so hin und weg war: Erst auf dem Foto kann ich die Ähnlichkeit zwischen uns richtig erkennen. Ein unglaubliches Gefühl, eine Doppelgängerin zu haben, nicht wahr?‘

Während Silke noch damit beschäftigt war, die Nachricht zu lesen, kündigte sich mit einem hellen Ping! eine weitere an.

‚Am Dienstag habe ich einen fixen Probetermin, aber wollen wir uns am Freitag treffen? Kennst du das Café Schuhmacher?‘

Verblüfft starrte Silke auf das Display. Mit einem so kurzfristigen Termin hatte sie nicht gerechnet! Offenbar war Daria sehr an diesem Treffen gelegen. Geschmeichelt bestätigte sie Termin und Treffpunkt.

‚Cool! Dann also am Freitag im Café Schuhmacher! Zehn Uhr passt?‘

Daria antwortete mit einem Daumen nach oben und einem Küsschen-Emoticon. Zufrieden steckte Silke ihr Handy weg. Sie war äußerst gespannt auf Freitag!

 

 

Als sie die Tür zum Kaffeehaus aufstieß, kam ein Schwall kalter Luft mit ihr in den Raum. Umständlich spannte Silke ihren tropfnassen Regenschirm ab, verstaute ihn im Schirmständer neben der Tür und zog sich die Jacke aus. Im Lokal herrschte wohlige Wärme; der verlockende Duft von Kaffee und Süßem lag in der Luft. Suchend blickte sie sich um. Etliche Tische waren besetzt, aber Daria konnte sie nirgends entdecken. Dabei war sie absichtlich knapp gekommen, denn sie hasste es, wie bestellt und nicht abgeholt allein in einem Lokal zu sitzen und zu warten. Offenbar war ihre Rechnung diesmal nicht aufgegangen. Beherzt steuerte sie auf einen kleinen Tisch zu, der in einer Nische am Fenster stand. Sofort erschien eine Kellnerin und reichte ihr die Karte. Silke vertiefte sich in die Liste unterschiedlicher Kaffeezubereitungen und überlegte, ob sie einen Kuchen dazu essen oder lieber auf ihre schlanke Linie achten sollte. Nachdem sie sich für einen Cappuccino und gegen den Kuchen entschieden und ihre Bestellung aufgegeben hatte, warf sie einen Blick auf die Uhr. Schon zehn Minuten nach zehn! Gegen die aufkeimende Ungeduld ankämpfend, lehnte sie sich auf der gemütlichen, rotgepolsterten Bank zurück und warf einen Blick aus dem Fenster auf die regennasse Straße. Bei diesem Wetter waren nur wenige Menschen unterwegs. Unter ihren Regenschirmen hasteten sie über den Gehsteig. Plötzlich tauchte zwischen all den schirmbewehrten Passanten eine Person ohne Schirm auf. Zielsicher steuerte die zierliche Frau das Café Schuhmacher an. Silkes Herz schlug höher. Daria!

 

Sobald die Sängerin das Lokal betreten hatte, machte sich Silke durch Winken bemerkbar. Daria winkte zurück, hängte ihre weinrote Jacke aus grobem Wollstoff an den Kleiderständer und kam zum Tisch. »Entschuldige bitte. Ich bin leider nicht gerade berühmt für mein perfektes Timing«, sagte sie mit einem schiefen Grinsen.

Silke winkte ab. »Kein Problem. Aber sag mal, warum bist du denn bei diesem Sauwetter ohne Schirm unterwegs?«

Darias blondes Haar war dunkel vor Nässe. Wie ein Helm klebte es an ihrem Kopf, und aus den Strähnen tropfte Wasser auf ihre türkisfarbene, mit Ethno-Mustern verzierte Tunika. Wo ihr Körper von der Jacke bedeckt gewesen war, war die Kleidung trocken geblieben, aber ab der Mitte der Oberschenkel war der weite lilafarbene Rock klatschnass. Vom Saum, der der jungen Frau fast bis zu den Knöcheln reichte, troff Regenwasser. Silke hoffte, dass wenigstens Darias Füße in den braunen Wildlederstiefeln trocken geblieben waren.

Achselzuckend ließ sich die Künstlerin auf den Stuhl an der anderen Seite des Tisches fallen.

»Ich habe eine Aversion gegen Regenschirme – ich weiß selbst nicht warum. Und es ist ja nur Wasser.«

»Wenn du meinst … schau mal, hier ist die Karte! Ich habe schon bestellt.« Silke schob die Speisekarte über den Tisch.

Daria warf einen kurzen Blick darauf, dann winkte sie die Kellnerin herbei und bestellte einen doppelten Espresso und eine vegane Nusstorte. Jetzt tat es Silke leid, dass sie sich für Enthaltsamkeit entschieden hatte.

Verstohlen betrachtete sie ihr Gegenüber. Die Künstlerin trug lange Ohrringe mit Anhängern aus türkisblauem Glas. Ihren Hals schmückte ein türkisfarbenes Seidenband, an dem ein großer Anhänger aus demselben farbigen Glas baumelte und den Blick des Betrachters unweigerlich in das geschwungene Dekolleté lenkte, in dem der Busenansatz gerade zu erahnen war.

Daria bemerkte ihren Blick. »Es ist unglaublich, oder?«

»Was?«, stammelte Silke verwirrt. Sie fühlte sich ertappt.

»Na unsere Ähnlichkeit! Wir könnten wirklich Schwestern sein.«

»Ach so!« Silke lehnte sich erleichtert zurück. Warum war sie in der Gegenwart dieser Frau so unsicher? Dabei verhielt sich Daria ihr gegenüber äußerst natürlich und freundlich!

Die Kellnerin, die Kaffee und Kuchen servierte, unterbrach ihre Gedanken.

»Isst du nichts?«, fragte Daria verwundert, als sie feststellte, dass vor Silke nur eine Tasse abgestellt wurde.

»Ich … ich muss auf meine Figur achten. Die ist nicht mehr das, was sie einmal war.« Silke senkte die Lider, riss sie aber sofort wieder auf, als Daria hell auflachte.

»Bist du verrückt? Du siehst großartig aus! Kein Gramm zu viel! Na los, schau noch einmal in die Karte und such dir eine Torte aus. Du lebst nur einmal – genieß es!«

Pflichtschuldig griff Silke nach der Speisekarte und studierte das Angebot an Mehlspeisen. Nach einigem Zögern entschied sie sich für einen Obstkuchen – der hatte vermutlich weniger Kalorien als die deftige Schokoladentorte, mit der sie zunächst geliebäugelt hatte.

»Du verstehst es, das Leben zu genießen, nicht wahr?«, nahm sie den Faden wieder auf, nachdem sie der Kellnerin ihre Bestellung diktiert hatte.

»Oh ja«, bestätigte Daria im Brustton der Überzeugung. »Ich bin bekennende Hedonistin!«

»Hedonistin?« Zu ihrer Schande war sich Silke der Bedeutung des Wortes nicht sicher.

Doch Daria schien sie nicht für ihre Wissenslücke zu verachten.

»Der Hedonismus war ursprünglich eine philosophische Strömung bei den alten Griechen. Er besagt im Großen und Ganzen, dass das Leben umso besser verläuft, je mehr Lust und Freude man dabei empfindet. Ich habe dieses Prinzip zu meinem persönlichen Lebensmotto auserkoren.«

Bewundernd betrachtete Silke ihr Gegenüber. Die Selbstsicherheit, mit der sich Daria durch die Welt bewegte, ihre Natürlichkeit, die Freude, die sie ausstrahlte – all das vermittelte den Eindruck, dass die Künstlerin völlig in ihrer Mitte ruhte. Im Vergleich zu ihr kam sich Silke langweilig und unscheinbar vor. Bedrückt biss sie sich auf die Lippen.

Daria schien ihren Stimmungswandel instinktiv wahrzunehmen.

»Was ist los?«, fragte sie besorgt. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«

»Aber nein«, wehrte Silke rasch ab. »Es ist nur … ich fühle mich neben dir so … so banal.«

»Banal?« Daria riss die Augen auf. »Wie kommst du denn darauf?«

»Sieh uns doch an!« Unglücklich deutete Silke erst auf ihr Gegenüber, dann auf sich selbst. »Du bist strahlend, farbenfroh und lebendig in deiner gesamten Erscheinung. Wie ein Schmetterling oder ein Paradiesvogel. Ich dagegen … « Sie blickte an sich herab.

Als sie sich vor dem Weggehen im Spiegel betrachtet hatte, war sie noch der Meinung gewesen, dass die zartrosa Bluse und die schwarzen Jeans sie gut kleideten. Aber nun erschien ihr die eigene Aufmachung unerträglich brav und langweilig.

Daria ergriff ihre auf dem Tisch liegende Hand und drückte sie. »Du dagegen – was?«, fragte sie mit ernster Stimme und schaute Silke eindringlich an.

Die spürte zu ihrem Entsetzen Tränen aufsteigen. Hastig blinzelte sie sie weg. Plötzlich sehnte sie inbrünstig die tröstende Süße ihres Obstkuchens herbei. Aber die Kellnerin war noch nicht wieder erschienen.

»Was, Silke?«, drängte Daria und drückte noch einmal ihre Hand. »Was findest du an dir nicht in Ordnung?«

Silke verbiss sich ein Schluchzen. »Mein Leben ist durch und durch mittelmäßig. Ich arbeite, verbringe meine Freizeit mit Mann und Kind, putze die Wohnung, wasche die Wäsche, treffe mich mit Freundinnen auf dem Spielplatz – und das ist es. Mehr habe ich nicht zu bieten. Nichts an mir ist aufregend, interessant, außergewöhnlich. Ich bin so ziemlich das genaue Gegenteil von dir.«

Jetzt entkam ihr doch eine Träne und rollte langsam ihre Wange herunter.

Daria wischte sie sanft mit dem Daumen fort.

»Du siehst dich in einem völlig falschen Licht, Silke«, erklärte sie ruhig. »Jetzt werde ich dir einmal sagen, wie ich dich sehe.«

Sie unterbrach für einen Moment, während die Kellnerin den Teller mit dem Obstkuchen vor Silke abstellte. Dankbar ließ die ihre Gabel in den weichen Teig sinken.